Robert Musil
Essays
Robert Musil

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Theater

Symptomen-Theater
[1922]

Wien hört sich gern eine Theaterstadt nennen: seine Feuilletonisten wiederholen es ihm so oft, wie sich nur ein Feuilletonist wiederholen kann; in Wahrheit ist es eine Schauspielerstadt. Wenn man zuhört, was vom Glanz vergangener Zeiten erzählt wird, sind es Namen von Schauspielern, niemals Theaterdirektoren (Laube aus besondren Gründen ausgenommen), und niemals Dichter. Darin liegt ein Symptom, das nicht nur Wien angeht. Dieser Kult des Schauspielers nämlich führt schließlich dahin, daß das Theater keine Schauspieler hat!

Wenn ich Leistungen aufzählen wollte, die nach längerer Zeit noch in mir haften, so wäre beinahe kein Wiener Schauspieler darunter. Nur Gäste. Aber wesentlich daran ist auch: Nicht der Schauspieler kommt aus Berlin, sondern die Leistung. Ich wüßte auch hier eine große Zahl von Darstellern zu nennen; aber wenn ihnen Kraft oder Glück zur Flucht fehlen, werden sie schließlich brave kultivierte Bühnenbeamte. Dabei wird in Wien sicher doppelt soviel über die Schauspieler geschrieben und geredet als in Berlin. Aber in einer falschen Richtung. Als Herr Z., der ein jüngerer, manchmal ausgezeichneter und manchmal völlig versagender Schauspieler ist, in Büchners Dantons Tod einen S. Just schuf, der stärkeren Eindruck machte als Moissis Danton, wird – dessen bin ich sicher, auch ohne es geprüft zu haben – der größere Teil der Kritik das nicht oder nur halb bemerkt und geschrieben haben: »Einen prächtigen S. Just schuf . . .«, statt zu sagen, er schuf einen femininen, aus fetter weiblicher Anlage pervertierten Mörder. Ein andermal spielte Herr K., der ein sehr vielseitiger und stets beträchtlicher Darsteller ist, den Jago als braven Durchschnittskerl, und das Maß der Gemeinheit eines solchen reichte gerade für einen Jago aus; aber der größere Teil der Kritik bemerkte nicht, daß K. damit etwas wenigstens für Wien Neues geschaffen und auch eine moralische Frage aufgeworfen hatte, ja Herr K. wurde getadelt, während Ferdinand Bonn, der vor ihm den Jago in einer anderen Aufführung mit den ältesten Salben geschmiert hatte, von den gleichen Schriftstellern beinahe über den damals wundervoll als Othello mitspielenden Moissi gestellt worden war. Ich könnte viele solcher Beispiele anführen, und wie soll ein junger Schauspieler da nicht ermatten? Um es kurz zu sagen: es handelt sich um den Unterschied zweier Prinzipien. Nach deren einem ist das Theater als ein Stück geistigen Lebens zu behandeln, vornehmlich auf dem Weg über die Literatur zusammenhängend mit allen Kräften des Lebens bis zur Quantentheorie, zur Religion oder zur Politik, während das andere im Theater etwas Besonderes sieht – das Theater. Die Theaterleistung wird bei diesem zweiten, in Wien zur Höhe gebildeten Prinzip immer wieder nur auf Theaterleistungen bezogen: die des X. erinnert immer an die des Y. oder ist ihr ebenbürtig oder untergeordnet, und mag es auch mit dem gewähltesten schriftstellerischen Ausdruck verbrämt sein (was es überdies selten ist), so führt dieses ewige Rückbeziehen des Schauspielers auf den Schauspieler, das sich wie eine besondere Kultur, die Kultur eben einer Theaterstadt vorkommt, diese Benützung äußerst ungenauer schauspielerischer Maßeinheiten dahin, daß das Neue, Einmalige, der Lebenswert irgendeiner Leistung nicht bemerkt wird, wenn sie klein ist, oder in der allgemeinen Relieflosigkeit des Urteils aus beliebigen guten Alltagserscheinungen nicht genug hervorspringt. So schließt sich der Bogen von einer Stadt, in der die Schauspieler nicht zu ihren höchsten Leistungen gelangen, zurück zu einer mit literarischer Atmosphäre, die dem Schauspieler untergeordnet wird. Die soziale Formel dafür ist etwa: dritte oder vierte Generation eines Geschlechts von echten Theaterliebhabern, die das Theater zerstören, weil sie es isoliert überwerten; mehr noch als deren Gegenstand ist der Schauspieler Symptom ihrer Neigung.

Und es ist ja an sich eine Plattheit, wenn ich sage, daß die Entwicklung der Schauspielkunst von der der Dichtung abhängt, aber warum, um Gottes willen! setzt man sie auch andernorts und nicht nur in Wien in Gegensatz zu ihr? Warum sagt man, unsere Dichter schrieben Dramen, die sich nicht für die Schauspieler eignen, und fragt nie, ob sich nicht vielleicht unsere Schauspieler ungenügend für die Dichter eignen? Warum verlangt man, daß sich der Dichter den »Bedürfnissen« des Schauspielers anpasse, ohne zu erörtern, daß es da auch eine Frage der Grenzen gibt? Warum wirken unsere besten Schauspieler, wenn sie in neuen Stücken auftreten, schließlich doch am liebsten in solchen von Hans Müller, Anton Wildgans, Sudermann oder der mittelmäßigen Franzosen? Ich maße mir nicht an, mehr tun zu können, als dieses Problem zu berühren, und nicht einmal seinen ganzen Umriß vermag ich zu zeigen; es wäre aber auch vollkommen genug, wenn hieran überhaupt erst einmal die Problematik des Theaters erkannt würde.

Maeterlinck war es, der vor vielen Jahren in seinem Buch Weisheit und Schicksal den Gedanken aussprach, daß es eine gedankenarme Konvention sei, was wir auf unserem Theater Tragik nennen, die uns nichts mehr angeht. Mord, Totschlag, Vernichtung, diese tragischen Schlüsse, Eifersucht, Zorn, Verzweiflung und die andren pathetischen Affekte spielen im gehobenen, wahren und seelisch wachsamen Leben keine wichtige Rolle, sondern gehören mehr in das schiefe Gebiet des desequilibrierten Lebens, das in der Kaltwasserheilanstalt, oder in schwereren, aber darum nicht weniger mesquinen Fällen in der Rubrik »Gerichtssaal« endet. Ohne Zweifel vollziehn sich die wichtigen Entscheidungen zwischen zwei Menschen öfter in einem Schweigen oder in einem Wort als in einem Schrei oder der sichtbaren Aktion ihrer Körper, und auch für große und tiefe Leidenschaften ist es nicht kennzeichnend, sich unmittelbar in Ausbrüchen zu entladen, sondern sie erfassen einen Menschen zuinnerst, wo die Quellen seiner Tätigkeit in der Welt und seines Bildes von der Welt sind, die sie färben. Große Leidenschaften sind niemals nur persönlich, sondern enthalten immer etwas Objektives, und dieses ist es, was die Liebe Dantes größer macht als die eines unglücklichen Dienstmädchens, das ins Wasser geht; an sich, müßte man sagen, wären beide unermeßlich. Solchen Gedanken stattgegeben, erscheint unser Theaterspiel als Anachronismus; einen solchen Anachronismus zugegeben, erscheint seine hartnäckige Ausübung mit einem so großen Apparat, wie es der des Theaters ist, als eine ganz merkwürdige sozialpathologische Tatsache. Der größere Teil unserer tragischen Dramatik stellt nichts dar als eine Bemühung, die Dinge so umzustellen, daß der Tod ans Ende kommt. Es ist natürlich nicht zu übersehen, daß das Sterben, die Grenze des Daseins, als eines der metaphysikschwangersten Erlebnisse, dieses Hinkriechen an den Abgrund und Hinunterblinzeln geboren hat, woher ja dem tragischen Theater wohl seine Ausnahmestellung unter den Künsten zukam als einer besonders hohen, die es in keiner Weise mehr rechtfertigt; aber man darf auch nicht übersehen, daß Tod und Leidenschaft auf dem Theater heute zu formalen Konventionen erstarrt sind, die so notwendig erscheinen wie die Drei- oder Vierzahl der Akte und fast so wenig bis auf den Grund gefühlt werden wie die Symbole des Links- und Rechtsgehens auf der Straße, die auch einmal einen Zusammenhang mit Himmel und Erde gehabt haben. Sie sind gedankenlos weitergesponnene Gewohnheiten, und der gefährlichste Verbündete der in ihnen befangenen Dichtung ist der Schauspieler selbst.

Im Theater spannen sich zwei Sphären ineinander; die eine ist Dichtung, die andre heißt Theater und ist ein Gemisch von Angst und Vorurteilen mit den berechtigten Bedürfnissen des Schauspielers. Es bleibe fern, diese zu kränken, denn das Schauspiel als ein Gemeinsames muß auf sie Rücksicht haben, aber wie menschlich seltsam sind sie doch oft, wenn sie sich in dem Verlangen nach einer »Rolle« ausdrücken?! Der Schauspieler will durch sie Gelegenheit finden, ein vehementes Scheinleben auf der Bühne zu entfalten. Er will sich gebärden, schluchzen, schreien, herumfahren, in fremde Gestalten hinein- und aus seinem bürgerlichen Ich herausfahren können. Er will gut sein, böse sein, traurig, wild, heroisch, neidisch, grausam, edel – alles in einem Ausmaß, das ihm sein privates Leben nicht bietet, er will wirken können, oder, wie man kurz sagt, in seinem Element sein. Nun sind wir aber im Leben nicht gut, sondern gutmütig. Nicht böse, sondern geschäftstüchtig. Wir sind nicht traurig, sondern schlecht aufgelegt. Nicht wild, sondern nervös oder ohne Gleichgewicht. Das Element des Schauspielers besteht also aus Elementen, die es nicht gibt. Diese elementaren Ausbrüche ergreifen in der Tat nicht das Gemüt, sondern im Zuschauer bereitliegende Vorstellungen vom Gemüt und erst mit Hilfe dieser ergriffenen Vorstellungen die Zuschauer selbst, und ebensowenig kommen sie direkt aus der Person des Schauspielers. Er spielt weder sich selbst, noch irgend etwas, das er je freiherumlaufen gesehen hat, sondern eben Rollen, das heißt etwas, das ein Dichter geschrieben hat, weil unzählige Schauspieler ähnliches gespielt haben, die es gespielt haben, weil andre Dichter es geschrieben hatten, die es geschrieben hatten, weil es andre Schauspieler gespielt gehabt hatten. Man spielt Kettenauffassungen und Effekttraditionen, nicht Leidenschaften, sondern Leidenschaften spielende Schauspieler, nicht Menschen, sondern Spiegelmenschen und im ganzen irgendeinen träg kreisenden Zustand der Tradition.

Ich habe einmal Wegener den alten Raschhoff in Sudermanns Stück Die Raschhoffs spielen sehn, und das war so: er machte einen verdammt gemütlichen Ostelbier aus der Figur, breit auf der Zunge, breit über der Brust, der verdammt ungemütlich werden kann und auch mal ein Glas Wein oder Weib verträgt, ohne einen Rausch zu kriegen. Es war ein gewinnender alter Bursche, – man braucht freilich von so einem nur ein Haar zu sehen und man weiß den ganzen Kerl, man hat ihn schon irgendeinmal hundertmal gesehn, und nur darum heimelt er an – aber man müßte lügen, wollte man nicht zugeben, daß er trotz Sudermann ein vollkommenes kleines Genrebild war. Es wäre also töricht, übersehen zu wollen, daß Schauspieler oft in schlechten Stücken ihre besten Leistungen erreichen, fast als wären sie unabhängig von der Dichtung. Wie gelingt ihnen aber das?

Dieses Problem des Schauspielers ist für uns paar Dichter, welche neue Inhalte mit dem Instrument der Bühne verwirklichen wollen, das schwierigste; wir haben es nicht leicht, einen Widersacher richtig in die Rechnung einzustellen, der nicht bloß unsere Hemmung, sondern auch unser Ansporn ist. Man vergißt immer, wenn man ernst über das Theater schreibt, daß dazu doch auch Posse, Operette und selbst noch Variété gehören. Welche zwischen Bordell und Irrenhaus liegende Tätigkeit steckt doch in ihnen! Ist nun anzunehmen, daß in einem Schauspieler, der die Rolle irgendeines »Mucki« in einem solchen Schilddrüsenstück kreiert, etwas vorgeht, das mit der Kunst des Schauspiels noch zu tun hat? Es ist nicht nur anzunehmen, sondern die Annahme ist wichtig. An ihr erkennt man das Wesen einer Rolle gleichsam an ihrer unteren Grenze. Dieser Operettenmucki trägt irgendwelche menschlichen Züge, gerade so viel, daß er vom Zuschauer als ein bekannter Typus erkannt wird, und was noch hinzukommt, benützt den Anlaß als Thema zu unerschöpflichen Variationen des Fratzenschneidens mit Gesicht, Körper und Seele. Dieses Ohrfeigengeben und ‑empfangen, über Tische Steigen, in Schränke Schlüpfen und unter Betten Kriechen ist ohne Zweifel ein Ursprung unserer Schauspielerei. Es steckt auch in ihr, wenn die Klassiker gespielt werden. Elemente wie Eifersucht, Stolz, Wehrlosigkeit eines Geradlinigen gegen Krummes, Reue eines vom Zorn Betrogenen, aus denen sich z. B. die Figur des Othello zusammensetzt, jugendliches Ungestüm im Romeo, der Geiz Harpagons, der Tiefsinn Hamlets, die leidende Lieblichkeit Ophelias, die Kindlichkeit Desdemonas, die Sinnlichkeit Salomes sind längst von ihren Trägern unabhängig geworden, treiben sich selbständig, sozusagen als vazierende mimische Bedürfnisse umher, die eine Art pathetisches Repertoire darstellen, aus dem der Durchschnittsschauspieler den allabendlichen Genuß seiner selbst gerade so schöpft wie der Durchschnittsschriftsteller seine Bücher.

Und wenn Wegener, der ein bedeutender Schauspieler ist, den Ökonomierat Raschhoff spielt, so geschieht, auf einer höheren Stufe, auch nichts anderes, als daß er den vom Schriftsteller angedeuteten Typus wie einen Rahmen zu einer Improvisation benützt. So ein Kerl, ein alter Schwerenöter und Ostelbier, das läuft auch ohne Sudermann in Berlin und in der Literatur herum und läßt sich finden; es genügt, wenn der Schriftsteller die Tonart anschlägt, die Töne macht Wegener selbst, und ist einer kein Wegener, so kopiert er einen, und da ein springlustiger alter Bock ganz fern dem Leben keines Mannes liegt, wird jeder sich ein wenig seines Ichs noch in die unselbständigste Kopie legen fühlen; darum sind solche Rollen beim Schauspieler beliebt. Es geschieht also nichts anderes, als was beim Mucki geschieht, nur wird die Freude an der schauspielerischen Beweglichkeit zum »Gestalten«, das heißt, sie wird der Leitidee eines beobachteten Typus oder einer dem Schauspieler eingebildeten Gestalt strenger untergeordnet. Nun sollte man freilich glauben, daß dies an einigen Punkten nicht stimmen kann, nämlich dort, wo die »Rolle« etwas tut oder sagt, was ganz lächerlich, sentimental und unmöglich ist, was nicht nur in den Dramen von Sudermann vorkommt. Aber der Schauspieler versteht es, solche Stellen unwahrnehmbar zu gestalten, sie wirken nicht als Störung, sondern als lebloser Fleck, als sich wieder lösende Stagnation des Spiels, die gar nicht bemerkt wird. Es entsteht auf diese Weise bei bedeutenden Schauspielern sogar etwas in seiner Art Vollkommenes aus Elementen der Alltäglichkeit, eine Leistung mit allen Attributen der Vollendung.

Aber sie fügt dem, was schon ist, ja was gewöhnlich schon banal ist, weil es Typus ist, im Grunde nicht das kleinste hinzu. Der Schauspieler verfügt ja nicht über eine mystische, außermenschliche Spezialkraft, sondern er wird sich auch nur – und im wesentlichen gar nicht viel anders, als es der Dichter selbst macht – zuerst mit Hilfe seiner Lebenserfahrungen und ‑reflexionen irgendeinen Totaleindruck von der ihm aufgegebenen Figur zurechtlegen oder eine Totalabsicht, und aus diesen entfaltet sich dann anscheinend halbbewußt oder, wie es heute heißt, intuitiv seine Handlung. Mögen aber noch so viele feine oder tiefe Beobachtungen und Absichten dareingehn, mehr als die Wiedergabe eines Typus und seine Ausstattung mit allerhand »Zügen« und »Auffassungen« kann da eigentlich nicht herauskommen, außer der Schauspieler wird sein eigener Dichter. Denn der Zeichensprache des Schauspielers, dem eigentlich Mimischen also, einschließlich der Mimik des Sprachklangs, aber mit Ausschluß des Wortsinns, ist nur das zugänglich, was mehr oder weniger schon typisch ist, »auf ein Zeichen hin« verstanden wird; nur solches sieht man schon von außen und kann man mit den Mitteln der Mimik verständlich machen. Und da der Schauspieler den Dichter ja nicht verbessern, sondern nur ergänzen und mit dem Schein des Lebens überhauchen kann, so entsteht dabei für empfindliche Ohren und Augen eigentlich nur, je größere Gemeinplätze er mit seiner Kunst füllt, eine desto gräßlichere Ehe von Leben und Tod. Das heitere Genre ist dagegen viel unempfindlicher als das tragische »Genre«, aber ich glaube, daß bei beiden von daher im letzten Grunde das Flüchtige der Schauspielkunst kommt, und nicht von der Einmaligkeit der Leistung, denn auch die großen Eindrücke des Lebens sind nur einmal.

Ich übersehe nicht, daß noch ein Zweites im Spiel ist. Der Schauspieler, welcher den Typus gestaltet, auf welchen der Schriftsteller hingewiesen hat, versetzt sich hinein und durchsetzt ihn, bis er an der Oberfläche herausschaut; Ergebnis ein Stück Leben, wie es geht und steht, ein Genrelebchen, aber mit einem geheimnisvollen zweiten Gesicht, einem durchblickenden inneren Gesicht, dem des Schauspielers; etwas Schleierndes bleibt über dem Reiz dieser Kunstleistung liegen. Wenn man sich diesem Reiz bis zum letzten hinzugeben sucht, so gerät man an das pantomimische Element des Lebens. Es gibt einen Punkt in Geschehnissen und Leidenschaften, wo man sich nur durch ein Achselzucken, ein Lächeln, Fortgehen, durch Handeln, einen körperlichen Ausdruck befreien kann. Eingespannt in fünftausendjährige, niemals zu Ende geführte Überlegungen, der Fern- und Nahwirkung unzähliger, zu jedem Ereignis möglicher Standpunkte ausgesetzt, wie es gerade die kräftigsten, am wenigsten einfältigen Geister unter uns sind, erlöst zuweilen nichts als den Geist schweigen zu heißen und sich darauf zu besinnen, daß man als Körper, als Ding unverantwortlich, einmalig und absolut ist wie eine wandernde Wolke oder der Kreis, den ein Habicht in der Luft gezogen hat. Indem wir die Achseln zucken statt zu denken, fühlen wir uns in eine innerste Umwallung zurückkehren. Die Planeten kreisen, die Elemente vereinigen sich nach Gesetzen, die wieder mit anderen Gesetzen zusammenhängen; aber in jedem Gesetz, das wir kennen, kommt ebenso wie in uns etwas vor, das eben so ist, wie es ist, irgendeine Konstante, eine Tatsache, ein irrationaler, einmaliger, unbekümmert selbstseiender Teil, und das Irrationale der Mimik berührt sich mit diesem Pantomimischen der Welt; Abenteuer und Ignorabimus vereinigen sich in der Sekunde einer gelungenen Gebärde.

Etwas weit hergeholt zu sein, muß diese Auffassung vom Schauspieler scheinen, etwas welt- und bühnenfremd. Aber ich meine, daß kein großer Mensch sein Leben für eine Sache einsetzen könnte, die weniger grundsätzlich wäre, und so müßte es wohl auch für den großen Schauspieler gelten, abgesehen davon, daß das Exemplarische, Vorbildliche, was seinem Wesen zugehört, der Reiz der Person, das schauspielerische Ich, von dem oft gesprochen wird, nichts sind als ein sozialerer Ausdruck für das, wovon eben die Rede war. Hierin ist der Schauspieler in der Tat unabhängig vom Dichter und wächst über ihn hinaus; dieser meint etwas, und der Schauspieler ist es, woher wohl auch dessen Selbstgefühl als eines vom Dichter bloß bedienten Herrn eine gewisse Rechtfertigung empfängt. Aber auch da, wo der Darsteller über den größten Dichter hinaus ins Imaginäre wachsen kann, ist seine Leistung im Verhältnis zur begleitenden des Dichters mindestens ebenso reaktiv wie aktiv; denn so wie der Mensch manchmal ausdrückt, daß er mit einem anderen nicht länger gehen will, indem er, in trotzigem Abstand folgend, hinter ihm drein mit-geht, erhält das Unsagbare erst seinen Inhalt durch die vorangeeilten Versuche des Sagens.

Es ist der verbindende Gegensatz des Dichters zum Schauspieler, das mimisch Absolute immer wieder ins Relative des großen geistigen Zusammenhangs einfangen zu müssen, damit es sich zu vollbefrachteter Irrationalität loslösen kann, und man darf nicht übersehn, daß dies in gewissem Sinn ein tödlicher Gegensatz ist. Denn der Schauspieler muß mehr als jeder andere Künstler aus einer plötzlichen Eingebung heraus schaffen und wird zu Asche, wenn man von ihm die Auslegung eines dichterischen Ideenmosaiks verlangt. Er wird also nur in einer literarisch aufs feinste durchdrungenen Atmosphäre impulsiv und doch dichterisch handeln können, und da diese unserem Theater fehlt (daß sie in höchstem Grade theatermäßig sein kann, hat Stanislawski gezeigt), so stehen Schauspielkunst und Dichtkunst heute in einem überaus unglücklichen Verhältnis. Wir haben weit mehr bedeutende Schauspieler als Dramatiker, und wie die Dinge liegen, beherrscht der Schauspieler nicht mit Unrecht die Bühne; die Kehrseite davon ist aber, daß er nicht nur den Dichter, sondern auch die Dichtung überschattet, die Stücke verdrängt, welche dem Theater neue Antriebe geben könnten, und jene geradezu konsumiert, welche wie Alkoholmißbrauch erst einen großen Gebärdenrausch hervorrufen und mit der Zeit die geistige Zerstörung.

Es ist ein wenig lächerlich, ich weiß es wohl, mit solchen Bußforderungen dem lebenden Theater zu nahn; alles Lebende ist ein Gemisch und soll ein Gemisch bleiben, es ist nichts schreckhafter als der feierliche Kulturfadian auf der Bühne und neun Zehntel unserer Dramatiker, die Geistkünstler voran, wären wahrscheinlich nicht lebensfähig, wenn ihnen der Schauspieler nicht von seinem Überfluß an Wohlbefinden borgte. Man ziehe also, wo man will, noch eine zweite Linie, die Linie, an der die Dinge liegen, »wie sie in Wirklichkeit sind«, das heißt, an der sich Geist und Ungeist verträglich gelagert haben, und nehme an, daß die Wahrheit irgendwo in der Mitte sei; man sollte längst dafür die irrationale Gebärde des Mir kann es recht sein erlernt haben. Aber Nietzsche, in seiner Abneigung gegen Wagner, hat die Prophezeiung vom Zeitalter des Schauspielers ausgesprochen, dem wir entgegengehen: ». . . daß in Niedergangskulturen, daß überall, wo den Massen die Entscheidung in die Hände fällt, die Echtheit überflüssig, nachteilig, zurücksetzend wird. Nur der Schauspieler weckt noch die große Begeisterung. Damit kommt für den Schauspieler das goldene Zeitalter herauf«. Diese Voraussage muß nicht wahr sein, aber sie ist gefährlich. Er meinte den Expressionär jener Gefühle, die nicht eigne Gefühle sind, sondern die der Väter, Urväter oder aller Welt. Sie sind es ja auch sonst, mit denen die Günstlinge der öffentlichen Meinung deren Liebe erwerben, mit ihnen wird Moral gemacht und wird – worüber zu sprechen ich noch Gelegenheit suchen werde – gerade auch dort gedichtet und gekritikt, wo alles wie neu aussieht. Möge unser Schauspieler vor diesem Schauspieler besser behütet bleiben, als er es im Grunde seines eigenen Wesens ist.

Der »Untergang« des Theaters
[1924]

Dieser Aufsatz verdankt sein Entstehen den Theaterdirektoren. Es ist in Wien – abhängig von dem schlechten Gang der Geschäfte, den fehlgeschlagenen Frankspekulationen und dergleichen – plötzlich ein Zustand eingetreten, den sie den Untergang des Theaters nennen. Ich glaube nicht daran. Das Bemerkenswerte wird indes nicht der weitere Verlauf dieser Krisis sein, sondern es sind die Umstände ihres Ausbruchs. Die Abhängigkeit der »moralischen Anstalt«, des »hohen Kulturguts« von den Hausse- und Baisseerlebnissen einer verhältnismäßig kleinen Schicht verleugnet sinnfällig eine Menge allgemeiner Kulturphrasen und zeigt die Abhängigkeit eines Luxusartikels vom Überfluß der Wohlhabenden.

Natürlich hat in unserer Generation jedes Kind gewußt, daß auch Bühnen Geschäftsunternehmen sind; aber scheinbar sagte es früher sowenig über das Wesen des Theaters aus, wie es über die Eigenschaften eines Körpers aussagt, daß man weiß, er muß eine räumliche Ausdehnung besitzen. Es kam davon, daß unsere Theater ihre Geschäfte im Namen der Kultur machten, oder richtiger gesagt, daß die bürgerliche Gesellschaft das Theater als ein Kulturinstitut ansah und mit Worten und halben Einrichtungen (wie es die Staats- und Stadttheater sind) begönnerte, in der Hauptsache aber, wie es schon ihre Art ist, dem freien Marktverkehr überließ. Es gibt außer der Kunst noch die zwei andern traditionellen Kulturgüter Wissenschaft und Religion; das der Religion zehrt von der Machtorganisation, die es sich im Mittelalter schaffen gekonnt, und die Wissenschaft hat der Staat nicht etwa aus Pflichterfüllung in seinen Schutz genommen, sondern weil er dieses Machtinstrument der Kirche entwinden wollte. Gewiß spielten auch geistige Bewegungen dabei eine Rolle, aber ohne Unterstützung der Machtpolitik wären sie nie zum Erfolg gekommen. Wie die Gesellschaft Kulturgüter, an denen sie keine Nebeninteressen hat, behandelt, zeigt das Beispiel; man darf, ohne sich von akuten Verschlimmerungen beirren zu lassen, annehmen, daß die Krankheit oder Agonie des Theaters, dieser latente Zustand eines Daueruntergangs, in dem es sich seit Menschengedenken häuslich eingerichtet hat, eine zu unserem Gesellschaftszustand gehörende symptomatische Erscheinung ist.

Krisis des Vergnügens

Man darf natürlich nicht ungewöhnliche Erkenntnisse davon erwarten, aber es ist doch recht aufschlußreich, wenn man das Theater einmal nicht, wie wir es zu tun pflegen, als ein Wesen für sich, mit seinen besondern Leiden und ihren Ursachen betrachtet und der Literatur die Schuld gibt oder den Schauspielern, ihren Direktoren, den Kritikern und allen jenen Faktoren, die den Umkreis des Theaters ausmachen und deshalb nicht über ihn hinausreichen. Will man es mit seinen Vorgängen aber als Teilerscheinung in einem größeren Vorgang ansehn, so ist es vorteilhaft, sich seiner Kennzeichnung als ein sogenanntes höheres Vergnügen zu erinnern, auch gebildetes Vergnügen oder Bildungsvergnügen genannt, denn als solches lebt es im Bewußtsein und Halbbewußtsein unsrer Gesellschaft, wobei der Ton ziemlich gleich auf beiden Bestandteilen liegt.

Unser deutsches Theater in seiner heutigen Form ist höfischer Herkunft; später, dem Hof nachgeahmt, wurde es eine festliche Einrichtung der bürgerlichen Geselligkeit. Das Wichtige daran ist die unselbständige Rolle, welche der Kunst – sei es der des Dichters oder der des Schauspielers – von Anfang an im Theater beschieden war. Eine Hofgesellschaft, die sich anstrengte, um sich nicht zu langweilen, hatte neben Jagden, Bällen und anderen Zerstreuungen auch diese Zusammenkünfte geschaffen, wo man sich in einem festlichen Rahmen sah, und daß auf der Bühne gespielt wurde, war nicht Inhalt, sondern nur ein Teil des Rahmens. Für das »Volk« war dieses Theater eine Gelegenheit, um die strahlende Gesellschaft zu begaffen und durch den gemeinsamen Raum, mehr noch durch den von der Bühne ausgehenden gemeinsamen Pulsschlag vorübergehend an ihr teilzuhaben. Diesen Charakter eines Festes mit Zaungästen hat das Theater auch in die kapitalistische Zeit hinübergenommen, und bekanntlich war es bis in die letzte Zeit eine der stärksten wirtschaftlichen Stützen des Theaterspiels, daß sein Besuch, das oft erwähnte Sehen und Gesehenwerden, die lockerste Form der gesellschaftlichen Zusammenkunft darstellte.

Als gesellschaftliches Vergnügen machte es aber auch selbstverständlich die Wandlungen mit, welche zur Zeit des bürgerlichen Hochkapitalismus gehören. Der gesellschaftliche Nimbus des Theaters wirkt zwar noch nach, aber man trifft sich nicht mehr im Theater, sondern man geht hinein oder besucht es; die Vorstellung wird zu einer Nummer am Vergnügensmarkt, die man sich kauft, wann man Lust hat. (Ein Rest des Früheren bei großen Premieren; aber gerade an ihnen erkennt man den Wandel, da mindestens drei Fünftel der Anwesenden berufsmäßig da sind.) Und da der am Theater interessierte Gesellschaftskreis sich sehr verbreiterte und gewissermaßen eine amorphe Struktur annahm, die Theatervorstellung aus einem überwiegend obligatorischen zu einem überwiegend feilgebotenen Vergnügen wurde, nahm sie auch wesentliche Eigentümlichkeiten des Handels an. Es zeigt sich eine beachtenswerte Übereinstimmung zwischen der Psychologie des Theaters und der des Geschäfts. Die Psychotechnik der Reklame hat zwei Eigenschaften hervorgehoben, welche jede geschickte Anpreisung haben soll: sie muß nicht nur auffallen, sondern sie bedient sich auch des Gefühls der Bekanntheit; ein aufdringliches Plakat ärgert den Vorübergehenden wochenlang, aber es umgibt den Gegenstand des Ärgers plötzlich mit einem Gefühl warmer Vertrautheit, wenn man ihm zufällig im Laden als Wirklichkeit begegnet. Beide Züge finden wir in unserem Theaterbetrieb wieder; das möglichst Sensationelle ebenso wie das möglichst Vertraute, das ist Banale. Damit deutet sich die Erklärung eines Widerspruchs an, der gewöhnlich als solcher gar nicht bemerkt wird. Sie fließt verstärkend seiner Hauptursache zu. Es scheint nämlich, daß zum Vergnügen ein gewisser Zwang gehört. Ich bin kein Soziologe, aber es fällt mir auf, daß alle Feste Anlässe haben und nirgends in der Welt Menschen nur zum Vergnügen zusammenkommen. Selbst die berühmten geschlechtlichen Exzesse des Altertums und der Primitiven ranken sich um religiöse Vorschriften, die höfischen Feste gruppierten sich um den Dienst des Fürstentums, die christlichen Hauptfreßtage fallen auf die ernstesten Feiern. Es hat durchaus den Anschein, daß zum Vergnügen ein gewisser Zwang gehört, um die Opposition der Langweile und des Überdrusses nicht aufkommen zu lassen. Daraus kann man verstehn, daß auch das Theater, ein je reineres Vergnügen es wurde, ein desto mäßigeres geworden ist, und dieser Zustand zwischen Lachen und Gähnen, Reizung und Apathie ist ja genau jener latente Zustand eines Daueruntergangs, in dem sich unser Theater häuslich eingerichtet hat, wovon diese Betrachtungen ausgingen. Es ist die Annäherung an den Zustand des reinen Vergnügens, das sich auf ein Abwechslungsbedürfnis in einer umfassenden Langweile reduziert. Ihn hat unsere Epoche ausgebildet; sie fügte ihm als »Zerstreuung« noch ein sozialhygienisches Moment bei, aber die Anteilslosigkeit ist das vorherrschende Gefühl im Publikum, es nimmt das Theater als Vergnügen gerade noch hin. Die psychologischen Wirkungen eines solchen Zustands sind aber die aller Abspannungszustände. Sie bewegen sich in kleinem Schaukeln um einen Nullpunkt lange hin und her, was leidlich angenehm ist, wenn sie aber schon unterbrochen werden, dann wollen sie aufgerüttelt sein. Deshalb läßt sich das Theaterpublikum von kleinen Variationen des längst Dagewesenen schläfrig befriedigen, erweist sich aber auch dankbar für starke Reize, ohne sie ernst zu nehmen. Ich glaube, daß damit sein Zustand richtig beschrieben ist, und nun zeigt sich, daß der scheinbare Widerspruch des möglichst Banalen und des möglichst Sensationellen, der sich schon aus dem Geschäftsbetrieb als etwas Einheitliches ergab, dies auch als Psychologikum des Vergnügens ist.

Damit sind aber die zwei Wege gewonnen, auf denen sich die Entwicklung in der Gegenwart bewegt. Einerseits wird das Theater immer planer, platter und glatter. Die ganze französische und pseudofranzösische Liebeskomödie wie die Stücke der sogenannten Probleme und meisterhaften Theatereinfälle, die Stücke mit ernstem Erfolg also nicht minder als das Amüsier- und Kassenstück lassen sich beschreiben als ein Maximum unbedeutender Einfälle bei einem Minimum bedeutender. Dabei ist die tiefere Unfruchtbarkeit für den Erfolg ebenso wichtig wie die Fruchtbarkeit oberflächlicher Variation, oder mit andern Worten, die Fähigkeit, einem Ding eine neue Seite abzugewinnen, ist keinesfalls wichtiger als die, ihm nicht mehr als eine neue Seite abzugewinnen. Je lauer und abgestandener das Ganze, desto aparter der eine Einfall, von dessen geschickter Darreichung diese Stücke leben; sie sind oft reizend, aber mit jedem steigt die Gesamtabneigung gegen das Theater. Auf der anderen Seite dagegen forderte die Entwicklung, daß das Theater immer knalliger und schreiender wurde. Man spielt auf dem Theater den wilden Mann, sei es als Sexualrüpel oder als Apostel, man tritt als Generation oder Richtung im Rudel auf, um die große Trägheit des Publikums zu überwinden, im Regiezirkus müssen die Schauspieler wie gezähmte Bestien Bewegungen ausführen, die unsrer einfachen tierischen Natur widerstreben, man stülpt schließlich der Bühne gewissermaßen die Gedärme hervor, indem man ein so dienendes Element wie den Raum zum Träger geistiger Akzente macht. Zweifellos sind gewisse Werte damit gewonnen worden, und jedenfalls sind diese Erscheinungen weit erfreulicher als die Kultur des Starspiels, die auch hierher gehört, aber ohne Frage sind auch sie dem Bedürfnis nach Reizsteigerung entsprungen; vergleicht man sie mit ihrem Erfolg, so sind sie starke, aufrüttelnde Reize, Pistolenschüsse in der Ruhe, aber das Publikum, das alles voraus weiß, wußte schon, daß sie blind sind, wenn es auch ein wenig mitmachte.

Weniger bekannt als diese Zusammenhänge ist es, und ich wüßte nicht, daß es je genügend rüd hervorgekehrt worden wäre, daß auch unsere kritischen Anschauungen wenig mehr als eine Dramaturgie des Vergnügens, eine Geschäftsdramaturgie, eine Dramaturgie der Ermüdung darstellen. Wir haben natürlich auch vorzügliche Kritiker mit persönlicher Anschauung all dieser Probleme, die sind hier nicht gemeint, analysiert man aber die Maßstäbe der einflußreichen Durchschnittskritik, so zeigen sie sich im Grunde nur als Anweisungen, Menschen wach zu erhalten, die einzuschlafen drohen. Das besorgt z. B. die Spannung, dieses kindlich durchsichtige Erratenlassen von etwas, das vom ersten Augenblick an kein Rätsel ist. Die Forderung der dramatischen Anschaulichkeit, nach der möglichst alles Handlung sein muß, zielt auf die einprägsame Einfachheit der illustrierten Kinderfibel. Man schätzt es, wenn man gleich durch die erste Szene wie durch ein Loch in einen Ausblick fällt, wenn viel geschieht, die Personen rasch wechseln und elegante Schürzungen kleinen Verwicklungen einen überraschenden Auslauf geben, den man schon erwartet hat. Wenn man müd ins Theater geht, will man eben, daß auf der Bühne oben etwas gegen diese Müdigkeit geschieht, das sie gleichzeitig berücksichtigt. Fast alles, was Technik des Dramas heißt, ist von dieser Art. Ein guter Dramatiker arbeitet wie ein Betriebsingenieur, welcher weiß, daß im ersten Drittel und kurz vor Ende der Arbeitszeit die Zahl der Unfälle am kleinsten ist, er rechnet instinktiv damit, daß die Aufmerksamkeit oszilliert, weshalb drei Pointen geistreicher wirken als ein Niveau, und er pfeift auf Ideen, weil der Mann mit drei Einfällen durch gegipfelten Kontrast der kluge Ausnützer seiner eigenen Leere wird. (Verwandt mit dem Stil des Journalisten.) Der Kritiker aber fällt ihm auf alles herein und verkündet solche Fabrikserfahrungen als dramatisches Gesetz, das er im Lauf der Jahre der Bühne abgeguckt zu haben stolz ist. Ungemein selten trifft man bei uns die Erörterung der geistigen Bedeutung eines Theaterstücks an, eine Diskussion seiner Gedanken, Leidenschaften oder gar Atmosphäre; dagegen sehr oft betont die Auffassung, daß die dramatische Dichtung für das Theater geschrieben werde und in das Theater münde oder keinen tieferen Ursprung und kein höheres Ziel habe als zu wirken. Man findet solchen Wirkwarenkritiker immer in Erinnerungen an Figuren und Stücke, die auf ihn gewirkt haben, und da ihm für geistige Ordnung Wille und Fähigkeit fehlen, vergleicht er sie nach den sinnfälligsten Erscheinungen, äußerlichsten Ähnlichkeiten und dem gröbsten typologischen Signalement der Figuren und Szenen. Das scheinbar positive »Wirken« verschiebt alles in eine Sekundärsphäre; was im Leben verdächtig ist, wird dadurch zur obersten Anforderung im Theater gemacht: auf Wirkung bedacht sein, statt Ur-Sache zu sein.

Natürlich hat alles, was sich in den Köpfen dieser Leute verwirrt, auch einen Kern von Wahrheit in sich; aber sie machen sich zu Dienern dieses unbestimmten Wahrheitsgehalts statt zu seinem Herrn. Vom Aktionär bis zum Wäschemacher wird mit nie erlahmendem Eifer vom Theater geredet, als ob es eine geheimnisvolle, unter besonderen Ausnahmegesetzen lebende Welt wäre, vor deren Schwelle alle Erfahrungen der gewöhnlichen Welt zurückbleiben, und der Kritiker macht das nicht ungern mit. Im Roman spielt die »Technik« längst keine solche Rolle wie in der Theaterkritik (obgleich er technisch mindestens ebenso schwierig ist wie das Drama), dafür spielt er heute bei weitem eine größere Rolle im Geist der Menschheit, und beides wahrscheinlich deshalb, weil er kein so gutes Geschäft ist wie das Theater.

Bildungskrisis

Man kann gegen diesen Versuch, unsere Theatererlebnisse durch den Begriff des gehandelten Vergnügens verstehen zu wollen, natürlich einwenden, daß es auch andre Erklärungen gibt; wir sind ja gewöhnt, die Zustände der Kunst aus dem Kampf und Wechsel von Prinzipien und dem Auftreten bestimmter Persönlichkeiten zu erklären. Aber das verträgt sich ganz gut mit der abstrakten Betrachtung, denn daß führende Personen eines bestimmten Typus in der Kunst auftauchen und zur Wirkung kommen, hat einen großen Teil seiner Ursachen im sozialen Zustand. Und dafür, daß ein soziales Moment zumindest an unseren Stigmata einen wichtigen Anteil hat, spricht wohl auch, daß sie sich, wie erwähnt, im Roman wesentlich weniger ausprägen als im Drama, obgleich da wie dort fast die gleichen Personen in Frage kommen, während die Erscheinungen in Dramatik und Malerei einander ähneln, obgleich der Personenkreis verschieden ist, jedoch die sozialen Bedingungen – Geschäftsbetrieb und sozusagen Kollektivkonsum – ziemlich übereinstimmen. Triftiger ist der Einwand, daß der am Theater beschriebene Zustand vielleicht gar nicht nur unsrer Zeit zukommt und etwa die Goethes darin auch nicht viel anders war. Die geistige Minderwertigkeit besaß damals wohl biedervolkstümliche Züge, aber sie machte sich genau so breit, so daß bloß die gewisse großstädtische Verschärfung hinzugekommen ist, die alle Erscheinungen unsrer Zeit zeigen. Wahrscheinlich ist es auch so, aber das führt von selbst zum zweiten Teil dieser Betrachtung, welche sich ja das Theater sowohl unter dem Titel des Vergnügens wie unter dem der Bildung vorgenommen hat. Und um es sofort zu sagen: sollte das Mißverhältnis zwischen den zwei Bestandteilen auch seit je gleich groß gewesen sein, so bleibt doch ein großer Unterschied darin bestehn, daß sich die Entwicklungsrichtung seither umgekehrt hat; die »Bildung« – mehr noch das Verlangen nach ihr, die Bildungsgesinnung – war damals in jugendlichem Aufstieg und ist heute in Abstieg, Auflösung oder zumindest in eine krisenhafte Unsicherheit geraten. Im Namen der Bildung hat einst die bürgerliche Gesellschaft – bei uns durch die großen Geister der klassischen Vergangenheit – das Theater für sich in Anspruch genommen, und in alle Krisen spielt auch heute noch eine ferne heilige Verpflichtung hinein, aber diese Panazee der Bildung hat selbst die Geschicke des Theaters geteilt. Ein »gebildeter« Mensch war ursprünglich ungefähr das, was eine moderne literarische Schule heute einen Logokraten nennt; es handelte sich um den auf Geist gegründeten Herrschaftsanspruch, eine Idee, die später im bürgerlichen Liberalismus aufging, weshalb gebildet heute vielfach synonym mit wohlhabend gebraucht wird. Auch die Bildung ist nur bis zu einem gewissen Grad organisatorisch geschützt, im übrigen aber von der kapitalistischen Gesellschaft sich selbst und dem freien Markt überlassen worden. Die Erscheinungen, die das Theater heute zeigt, sind nur ein Teil der umfassenden Bildungskrisis, oder wenn man will, Bildungsdämmerung, in der wir leben. Ein Vergleich mit der Geschichte des englischen Theaters im neunzehnten Jahrhundert, in der sich der Einfluß der Großstadt und der Soziologie ihrer Vergnügungen um einige Jahrzehnte früher geltend gemacht hat als bei uns, zeigt einen Teil unserer Erscheinungen (den banal sensationellen) in noch vergröbertem Maß; aber die Gegenkräfte, welche diesen Zustand überwanden, waren noch nicht durch Mutlosigkeit und Zweifel so geschwächt wie heute.

Es lohnt sich, einige Feststellungen über die Geschicke unserer »Bildung« der zuständigen Forschung zu entnehmen und den Ausschnitt des Theaters mit dem Ganzen zu vergleichen.

Das Wort im heutigen Sinn kam um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auf. Allgemeine Bildung hieß damals universelle Erudition; sich bilden, sich formieren; Kant gebrauchte dafür das Wort Kultur; bei Herder, dann bei Goethe tritt in das Wort noch die Bedeutung von paideia und eruditio ein. In der Hauptsache aber war von damals bis gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts Bildung gleich geistiger Selbständigkeit oder Aufgeklärtheit. Vom Zeitalter der Aufklärung geformt, umschloß diese Vorstellung die Opposition gegen kirchliche und politische Gebundenheit und war ursprünglich rationalistisch vom Glauben an die Dreieinigkeit von Natur, Vernunft und Freiheit getragen. Später, als der Glaube an die Autonomie der Vernunft schwere Schlappen erlitten hatte, wurde er teilweise durch den Glauben an das naturwissenschaftlich realistische Denken ersetzt. Eine wichtige und namentlich für unsere Schwierigkeiten bestimmende Komponente war außerdem gleich anfangs durch den Einfluß Herders hineingebracht worden: das antike Ideal allgemeiner Menschenweisheit; die Antike wurde als Muster zu direkter und unumschränkter Nachahmung empfohlen. »Ein gebildeter Mensch im vollen Sinn wird man vor allem durch den Verkehr mit den Alten, diesen Altvätern der menschlichen Geistesbildung, diesen ewigen Mustern des richtigen, guten und geübten Geschmacks und der schönsten Fertigkeit im Gebrauch der Sprache; an ihnen müssen wir unsere Denk- und Schreibart formen, nach ihnen müssen wir unsere Vernunft und Sprache bilden. Wer das getan hat, dem ist der Sinn der Humanität, d. i. der echten Menschenvernunft aufgeschlossen, er wird ein gebildeter Mensch sein und sich als solcher im Kleinsten und Größten zeigen.« (Herder: Vom wahren Begriff der schönen Wissenschaften und der Gymnasialbildung, 1788.)

Man braucht nur dieses Zitat zu lesen, um zu sehen, wie weit wir in der Organisation ideologischer Wandlungen zurückgeblieben, wie wir an einer notwendigen Übergangsphase hängengeblieben sind, wie wir mit dem Rücken gegen die Zukunft stehn und in welche lebensunmögliche Lage wir durch unsere höheren Schulen alljährlich Zehntausende junger Menschen bringen.

In jeder Bildung steckt, wie mich dünkt, es wird heute ja oft bestritten, ein allgemein menschlicher Wert, und keine ist bloß ein relatives Ideal ihrer Zeit, sondern sie folgen einander wie Teillösungen einer Aufgabe, die im Grunde dieselbe bleibt; aber andrerseits ist jede Bildung natürlich auch durch den Stand bedingt, der sie trägt, von der Relativität seiner Ansprüche und Einbildungen gefärbt und stukkatiert, ja sie hat ihre Verbreitung wahrscheinlich niemals nur ihrem innern Wert zu danken gehabt, sondern stets auch dem Umstand, daß sie ein Vorrecht der Oberschichten ist und deshalb ein Argument im sozialen Aufstieg. In diesem Sinn folgten im deutschen Volk einander (nach [Friedrich] Paulsen): das kirchlichlateinische Bildungsideal mit dem Klerus als führendem Stand, das höfisch-französische Ideal des Adels und endlich das bürgerlich-hellenistisch-humanistische, in dessen Endphase wir uns voraussichtlich befinden. Denn jede dieser Bildungen, und auch alle anderen uns bekannten, entwickelte sich nach dem gleichen Schema, das wohl überhaupt eine Art Bahnverlauf jedes in den sozialen Körper eindringenden starken Reizes darzustellen scheint. Sie entsteht erst gewissermaßen nebenbei und kaum selbständig bemerkt als Folge eines auf bestimmte andere Ziele gerichteten Lebens (z. B. im germanisch-lateinischen Mittelalter) oder der unzählbar vielen kleinen Lebensänderungen, deren Integration die Lebensrichtung allmählich umbiegt (Übergang der Scholastik in die sogenannte Neuzeit), und tritt in ihrer zweiten Phase, die man die heroische nennen kann (Klassik), bewußt hervor. Hier knüpfen sich überschwengliche Hoffnungen an sie, und sie erweckt flammende Bestrebungen; es ist die Zeit, wo sie planmäßig organisiert wird. Den dritten Entwicklungsabschnitt, in den die nun offiziell anerkannten neuen Impulse eintreten, kann man kurz als den ihrer Bürokratisierung kennzeichnen; in unserem Fall vollzog sich dieser Härtungs- und Verknöcherungsvorgang im Schulwesen des neunzehnten Jahrhunderts, und er zieht notwendig eine vierte Phase nach sich, jene verdrießliche Enttäuschung, an der wir leiden; das Ziel wird auf neuen Wegen zu erreichen gesucht, und je nach den Umständen führen sie zu Umsturz oder Reform.

Sucht man diesen unsern Zustand zu beschreiben, so stößt man auf die folgenden Grundeigenschaften der Bildungskrise:

Die Bildung hat heute, nicht nur durch die politische Emanzipation der Arbeiterklasse, ihren sozialen Nimbus verloren.

Sie hat bekanntlich niemals das ganze Volk, nicht einmal das Bürgertum, sondern nur eine dünne Schicht davon durchdrungen, ist also viel früher als auf halbem Weg stehengeblieben; als Folge ist das Volksganze kulturell außerordentlich inhomogen geworden und wird es immer mehr. Das Volksbildungssystem ist kaum mehr als ein Notbehelf, das öffentliche Schulwesen nimmt neue geistige Impulse nur mit größter Verzögerung und Unsicherheit auf, die Zeitung hat quantitativ zwar noch das meiste geleistet, verehrt aber eingestandenermaßen die Ideale der Sensation und des kleinsten Lesergehirns, das ihre Mitteilungen noch fassen können muß. Die Vorbedingungen raschen, angemessenen Verständnisses geistiger Leistungen fehlen uns deshalb, und ein große Kreise durchlaufender Impuls muß schon stark an ein Massenbedürfnis rühren, wie es Heldenverehrung, Grausamkeit, Sentimentalität, Borniertheit, Geldgier, Mode, Vergnügungssucht, Neugierde sind.

Dies alles gilt aber auch schon von der Bildungsschicht selbst:

Die Fähigkeit, neue geistige Impulse aufzunehmen und ihnen den Weg in die Tiefe und Breite möglichst zu bahnen, hat in keiner Weise Schritt gehalten mit der sich beschleunigenden Folge solcher Impulse, noch mit dem täglichen Anwachsen der Menschenmenge, für die sie bestimmt sind und von der ihr Schicksal abhängt. Ja, man kann sagen, daß die Institutionen, welche als Niederschlag der zur Herrschaft gelangten Bildungsvorstellungen sich auskristallisiert haben, wie Schule, Politik, Kirche, der Weiterentwicklung außerdem Widerstand leisten.

Es häuft sich also eine Überzahl nicht oder schlecht verarbeiteter Ideen an, und die ordnenden wie vereinfachenden Ideen, über welche wir verfügen (im allgemeinen ist es eben die abgebröckelte und durch nichts Neues ersetzte Ideologie des achtzehnten Jahrhunderts), reichen ihnen gegenüber nicht aus. Die Verdichtung des geistigen Verkehrs über die Erde hin, und in ferne Zeiten zurück, die historische wie die ethnologische Erschließung neuer Lebensgestaltungen häufen aber immer neues geistiges Material an, und als notwendige Folge davon muß eine Art Selbstzersetzung der Kultur eintreten. Der Bildungsschicht bemächtigte sich ein Gefühl der Ohnmacht, sie verlor das Vertrauen in ihre eigene Bildung und damit einen großen Teil ihres Prestiges. Jeder von uns kennt dieses Durcheinander; Unsicherheit und Bildungskatzenjammer sind die ebenso wohlbekannten Stigmata, die dazugehören, und jeder reißt sich heute aus dem ohnmächtig daliegenden deutschen Geist heraus, was ihm paßt.

Außerdem ist aber der Bildungsstoff der Gegenwart vorwaltend in der Richtung positiver Erkenntnisse, Tatsachen, Wissen, Spezialdenkmethoden gewachsen, die praktische Weltbeherrschung hat traumhafte Fortschritte gemacht, die Bedeutung des Wirklichen gegenüber dem Erdachten ist in einem noch nie dagewesenen Maß fühlbar geworden, während der Bildungsbegriff, der das meistern soll, alt und Herderisch geblieben ist. Diese bekannte Inkongruenz zwischen den neuen Einflüssen und der Form des Gefäßes, das sie aufnehmen soll, ist eine Hauptursache aller Erscheinungen. Der Versuch, eine realistische Tendenz in das Bildungswesen zu bringen, war zwar da, aber er schoß sowohl übers Ziel wie zu kurz, indem er teils den humanistischen Stoff durch realen zu verdrängen suchte, teils Stoff schließlich neben Stoff lagerte, ohne daß diesem Nebeneinander ein neuer Geist entwuchs.

Theater- und Bildungskrisis

Zieht man von diesem allgemeinen Zustand den Vergleich zum Theater, stimmen die Erscheinungen bis in die Einzelheiten der Verbesserungsversuche überein. Ich möchte hier nur drei davon berühren:

So haben Kunst und Bildungswesen seit etwa dreißig Jahren die Gegnerschaft gegen den sogenannten Intellektualismus gemeinsam. Man hat dem dürren Verstandesunterricht des Schultyrannen das Ideal der »Herzensbildung« gegenübergestellt, hat »Anschauung« statt Urteilsschärfung verlangt, »Erlebnis« statt Erzählung, Lichtbilder statt begriffelnder Umschreibung und ähnliches mehr. Die Auswirkungen der gleichen Strömung findet man im Gebiet der Kunst. Schon der Impressionismus hat das Vorurteil ausgebildet, daß der Dichter zum Herzen sprechen müsse oder irgendeinem ähnlichen Organ, das ohne Verbindung mit dem menschlichen Großhirn gedacht wurde, und hat dadurch wesentlich beigetragen, das Theater von der geistigen Entwicklung abzuschalten. Es mußte sich einfach und drastisch gestalten, durch Handlung und Gefühlsausdruck, also in einer Art Analphabetensprache, wirken. Die eine Folge war eine beträchtliche Unintelligenz der Bühnendichtung, die andre, daß bis auf den heutigen Tag der große Dramatiker erwartet wird, der in der tiefsten Weise zu allen sprechen soll, und natürlich niemals kommt, mit welcher Vorstellung falscher Volkstümlichkeit wieder die Klage zusammenhängt, daß unsere Zeit keine Kunst mehr hervorzubringen vermöge, und eine ganz unnötige Selbstunzufriedenheit. Auch die folgende »Generation« hat das nicht richtiggestellt; die übermäßige Betonung des Bühnenbildes, des Tanzartigen, der Stimmbewegungen, der mimischen Komposition war Suche nach einem neuen Ausdrucksmittel, statt das alte, alphabetische zu neuem geistigem Gebrauch herzurichten. Der Erfolg konnte nicht mehr sein als Bereicherung im einzelnen.

Der zweite Zug, der durch die Bildungsbewegung ging, war ein sozialethischer; statt Persönlichkeit Erweiterung des Selbst zur Gemeinschaft, Verfeinerung des sozialen Empfindens und seine Festigung durch Willensbildung, radikaler Bruch mit der Vorstellung, daß Bildung Ausbildung der einzelnen Menschenseele sei: in irgendeiner Form hat es jeder oft gelesen. Teilweise decken oder vermengen sich diese Forderungen mit den vorigen: auf eine irgendwie weihevolle, festlich vereinende Volks- und Gefühlssprache der Kunst laufen auch sie hinaus, soweit sie auf das Theater Einfluß genommen haben. Es kennzeichnet sie besonders eigentlich nur die gewöhnlich mit ihnen verbundene Ablehnung der »individualistischen« Kunst als etwas Überwundenen. Nun kann man ja wohl sagen, daß der alte Held unseres Theaters mit seinem spezifisch tragischen Konflikt des freien Willens, der zwischen die Schranken des bürgerlichen Gesetzes eingeklemmt ist, eigentlich ein Freihandelsheld war, aber das hat sich ja schon lang, wenn auch nicht mit der nötigen Bewußtheit, geändert; ich habe es einmal in der Formel ausgedrückt, daß an die Stelle des tragischen Widerspruchs eines einzelnen zum Gesetz der geoffenbarte Widerspruch in den Gesetzen irdischer Existenz treten müsse, der oft unlösbar, aber immer zu überwinden ist; es liegt darin der Unterschied zwischen der Aufklärungszeit, welche an die Autonomie des Sittengesetzes und der Vernunft glaubte, und der Zeit des Empirismus, für den die Welt eine unendliche Aufgabe mit fortschreitenden Teillösungen ist. Dieser Empirismus ist das große geistige Erlebnis, welchem wir entgegengehn, wenn unser Globus intellectualis mit seiner dünnen Bildungsschicht und seiner übergroßen, undurchdrungenen Masse nicht vorher zerspringt. Daran wird der Sozialismus (dessen Umkreis die sozialethischen Reformpläne des Theaters in der Hauptsache entstammen) nichts ändern, falls nur die Richtung des Menschen auf Weltdurchforschung und ‑beherrschung in ihm erhalten bleibt, was wahrscheinlich ist. Ich zweifle nicht daran – der ganze erste Teil dieser Ausführung hat es ja ausgesagt –, daß eine Änderung der Gesellschaftsform auch eine der Kunst nach sich ziehen würde; an den Grundproblemen der Schöpfung – und dazu gehört der Widerspruch zwischen Einzel- und Kollektivwesen, das wir sind – vermag das aber, von Übergangszeiten abgesehn, nur die Gewichtsverhältnisse und die Form der Äußerung zu verschieben. Auch der Sozialismus trägt in seinen Kulturbestrebungen das Stigma der Gegenwart, daß Mechanik und Seele sich nicht vereinigen können; in der Politik gewiß eher zu sehr rational als zu wenig und wenigstens in Deutschland ohne starkes Herz, überläßt er die Kunst einer Art Herzwachstum, das kommen oder da sein soll. Sein Anhang an Kunstreformern enthält leider viele Vogel-Strauße, welche den Kopf in die Zukunft stecken, weil sie das gegenwärtige Starke, Dienliche, zu Erschließende, welches das Theater auch heute enthält, nicht verstehn.

Den unmittelbarsten Ausdruck des Bildungsüberdrusses zeigt endlich die »antiliterarische« Einstellung, welche in der Diskussion von Theaterfragen so oft zu spüren ist. Befreiung des Theaters vom Bildungsballast, Wiedererweckung des reinen Übermuts spielerischen Bedürfnisses, Stegreif, Theater der Schauspieler sind bekannte Überschriften, deren Einfluß von dem nur auf schauspielerische Leistung zugeschnittenen Spielplan bis zu ernsten Versuchen reicht, das Stegreiftheater des Barock wieder heraufzuführen. Nach allem schon Gesagten braucht dem nichts hinzugefügt zu werden. Meiner Ansicht nach kann das nur dazu führen, die Literatur der Literaten durch die der Journalisten zu ersetzen, welche der Schauspieler täglich in der Zeitung liest.

Das besorgt aber ohnedies schon ein großer Teil unserer Dichter selbst. Man hat sich beim Verteidigen und Bekämpfen von »Richtungen« gar nicht Rechenschaft darüber gegeben, daß die einflußreichste und allgemeinste und alle Schulen umfassende Richtung der Bühnendichtung die auf ihre Journalisierung ist. Anregbarkeit, fixe Rundung, Temperament, sparsam geschickte Pointierung, wirkungsvolle Aufmachung, auf dem laufenden sein und einige andere sind die Tugenden, welche der begabte dramatische Journalist seinem Kollegen von der Zeitung entlehnt, und es gibt auf diesem Gebiet wirkliches Talent. Die Nachteile sind: man sucht das Neue, findet aber nur das Neueste; alle in der geistigen Atmosphäre schwebenden Impulse werden durcheinandergeschwenkt, aber kein einziger vertieft und ausgereift; natürlich tritt an dieser Tätigkeit immer mehr das Moment hervor, daß sie nur der etwas ungläubigen Zerstreuung dient, wie es beim »Vergnügen« festgestellt wurde, während die ihr Angehörigen glauben, vorauseilende Diener des Geistes zu sein.

Ich glaube, daß es nicht ganz ohne Einfluß bleibt, wenn man sich einmal solche Zusammenhänge klarmacht, die man im täglichen Erleben des am Theater Beteiligten stückweise kennenlernt. Der Versuch, Lösungsmöglichkeiten der Krisis daraus abzuleiten, würde zu weit führen. Es wollen Gedanken wie diese überhaupt keine Theorie sein, welche Erscheinungen erklärt; die Dinge hängen wohl so zusammen, aber sie hängen auch anders zusammen, das ist der Unterschied des Lebens von der starren Ordnung, und man kann dem Zusammenhang immer nur nach einer Dimension folgen. Auch muß ich gestehn, daß mir selbst der Versuch, dem kleinsten Ding auf den Grund zu gehen, heute in der Literatur schon lächerlich erscheint, wo wir in einem Meer von Schaum schwimmen. Immerhin möchte ich einigen Folgerungen, die sich von selbst ergeben, nicht geradezu aus dem Weg gehen. Das Merkwürdigste an den Zuständen unseres Theaters ist ja, daß wir vor kurzem erst einen Hochstand hatten und noch heute sehr bedeutende Leistungen im einzelnen besitzen. Die Müdigkeit, Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit, welche dennoch in der Atmosphäre des Theaters lagern, sind weit ärger, als nur durch das Theater gerechtfertigt ist, sie sind Bildungs- und Kulturmüdigkeit, Unsicherheit, Mutlosigkeit des Geistes, nicht mehr wissen, wozu. Die Impulse, welche das Theater allabendlich aussendet, verlaufen ins Leere, weil die kulturellen Kategorien fehlen, sie aufzunehmen. Diese müßten zuerst wiederhergestellt werden. Da stößt man aber sogleich auf die ausrollende Totalität, welche jede Bildungskrisis darstellt, und findet kein Ende.

Suche ich persönlich die engste Zusammenfassung der Erfahrungen, die man mit den Jahren erwirbt – und ich glaube, wer ihrer überhaupt fähig ist, macht sie in der gleichen Weise –, so kann ich nur sagen, nichts hat mich in meinem Leben so ermüdet, wie die atemraubende Ungeistigkeit, von der die Atmosphäre nicht nur des Theaters sondern unserer ganzen Literatur voll ist. Man findet mühelos Erfolg, wenn man etwa zwei bis zehn Anteile Bedeutung mit 90 bis 98 Teilen Bedeutungslosigkeit vermengt; das imponiert als Geist, der untere Mischungsgrad gilt dort, wo die Sache deutsch und gesund heißt, der obere dort, wo man sich auf gespitzten stürmischen Geist etwas zugute hält; reichere Gemische werden von beiden Seiten nicht mehr aufgenommen und für wertlos gehalten. Das gleiche gilt von Seele, Leidenschaft, Kraft und jeder menschlichen Reaktion, deren Dasein in besonderer Form nur dann wahrgenommen wird, wenn es zu mindestens neun Zehnteln unbesonders ist. Wenn aber gescheite Menschen (und der Mensch ist heute doch gescheit) ein Tätigkeitsgebiet derart der Verblödung überlassen, so hat dies immer auch einen Grund, und dieser ist: tua res agitur – diese Beziehung, durch welche ein Ding erst die Kräfte des Menschen weckt, fehlt hier. Wenn ein normaler zivilisierter Mensch sich heute ins Theater setzt, und dort schreit eine Seele oder lärmt: was können wir von ihm erwarten? Er erhält Stöße gegen irgendwelche unbestimmten inneren Organe und muß diese Behandlung entweder unerhört unangenehm oder unerhört interessant finden; der Unterschied hängt fast nur vom guten Willen ab, und erfahrungsgemäß gehen die beiden Reaktionen auch sehr leicht ineinander über. Findet er sie aber interessant und will etwas darüber sagen, so sieht er sich maßloser Willkür des Ausdrucks gegenüber. Denn dem Kritiker geht es im allgemeinen nicht anders als ihm. Man sehe sich Kritiken auf ihre Ausdrücke an: Temperament, Chaos, von Blut gezeugtes Wissen, Stimme unserer Zeit, Brausen eines Erlebnisses, Dynamik von Mensch zu Mensch . . . ich habe eine ganz zufällige Probe herausgegriffen, vermittelt sie einen Eindruck? Beschreibt sie ein Erlebnis? Bezieht sie sich auf einen menschlichen Wert? Auf etwas Faßbares? Alles ist vage, unpräzis, unsachlich, maßlos, einmalig, zufällig. Unter den Ursachen möchte ich eine hervorheben: Schon im Literaturunterricht, durch den einerseits Kritiker wie Zuschauer die schließlich doch entscheidende Vorbereitung empfangen, in dem andererseits sich das Ganze wiederholt, wird dieser »Geist« großgezogen. Was würde man dazu sagen, wenn die Universitätshörer in der Physik die Biographien Keplers und Newtons hören oder lernen würden, wie ihre Person, ihre Zeit und ihr Werk zusammenhängen, aber nichts von den Systemen, in denen sich die Erkenntnisse der Physiker verketten? Gerade dies geschieht aber in der Literatur. Der Humanismus, den wir treiben, ist höchstens im Nebenamt vergleichend, Lebenselemente herauslösend, ethisch, sucht vielmehr möglichst das Ganze von Persönlichkeiten, Zeiten und Kulturen zu verstehen und als Muster aufzustellen. Der wesentliche Sachwert wird vernachlässigt, neben dem Biographischen fehlt das bewußt Ideographische und wird mehr oder weniger wie im Leben so in der Schule der persönlichen Willkür und Neigung überlassen. Ich weiß natürlich sehr wohl, was der »Zauber des Persönlichen« in der Kunst und sonderlich am Theater bedeutet; aber wenn eine andere Person das Persönliche des Künstlers oder Werks in sich aufnimmt, so geht es nicht anders zu als bei der Nahrungsaufnahme: Abbau in Elemente und deren Assimilation. Jedes menschliche Werk besteht aus Elementen, die auch in unzähligen anderen Verbindungen vorkommen, und indem man es so versteht, löst es sich in die fließenden Reihen der Seele auf, welche von Anbeginn bis heute laufen, und wird eine Auslegung des Lebens. Das ist hier unter Sachlichkeit verstanden; und solange wir sie nicht besitzen, ja nicht einmal eine Ahnung von ihrer Notwendigkeit haben, sondern auf die überwältigende Persönlichkeit (des Dichters, Werks, Darstellers) warten, die wir als Totalität schlucken möchten wie eine Auster, werden wir nicht zu besseren Zuständen kommen. Fragt man sich z. B., wodurch sich Zeiten religiösen Aufschwungs von anderen unterscheiden, so findet man als ihre Eigenschaft nicht nur die intensive Beschäftigung des Menschen mit Gott, sondern auch mit dem Leben, eine brennende Sachlichkeit des Hierseins.

Das führt übrigens zurück zur Volkstümlichkeit, die das Theater verloren hat. Sieht man von allem ab, was es heute vom Volk trennt, also Preisen, Spielzeit und dergleichen, aber auch von dem zu großen Unterschied in Niveau und Voraussetzungen, den die freie Volksbildungsarbeit allein kaum überbrücken kann, so bleibt noch die Bedingung unerfüllt, daß es in der Masse verbreitete Eigenschaften sein müssen, welche das Theater beleben. Ihre Kardinale ist die Beschäftigung des Menschen mit sich selbst. Auch auf dem niedrigen Niveau der gewöhnlichen Konversation spielt ein Romane einem anderen Menschen gegenüber mit seiner Person, wie eine Frau mit dem Fächer; er wirbt für sich und seine Gedanken, indem er spricht; wir dagegen haben das Ideal des Handelns auf der Bühne wie im Leben. Dieser Unterschied liegt also schon im Volk und ist nicht bloß einer der Bühne. Wie führt man deshalb ein Volk, dessen Ideal der starke Mann ohne viel Worte, der Reserveleutnant, ist, das dadurch Literaturkritiker bekam, in denen jetzt der Geist rumort, wie der Lärm in der Klasse, wenn der Lehrer unerwartet hinausgehen mußte, zu den Vorbedingungen der Dramatik zurück?

Ich weiß es nicht. Auch darin zeigt sich aber der Zusammenhang mit dem Ganzen.

Das neue Drama und das neue Theater
[Etwa 1930]

In der Entwicklung des europäischen Geistes und Gefühls spielt das Theater seit den Tagen der deutschen Klassik keine Rolle mehr. Man kann davon diese oder jene Ausnahme zulassen: aber man braucht nur den einen Namen Nietzsche zu nennen oder die große glänzende über ganz Europa verzweigte Kette von Namen, die zwischen Stendhal und Hamsun keine Unterbrechung erleidet, um zu wissen, daß auf die neue oder werdende »Bildung« des Menschen Roman und Essay, ja auch die Lyrik einen weit mächtigeren und ursprünglicheren Einfluß ausübten als das Theater.

Der Grund dürfte darin liegen, daß keine Kunstform außer der fast abgestorbenen des geversten Epos dem Geist so wenig Bewegungsfreiheit läßt wie das Drama und sich so schlecht unserer Art des Denkens und der Moral anpassen läßt, die man aus jedem Lehrbuch der Physik besser lernen kann als aus der dramatischen Ernte von zehn zeitgenössischen Jahren. Das Theater ist ein ebenso großartiger wie schwerfälliger Apparat, mit den widersprechendsten daran hängenden Interessen und einem einschüchternden wirtschaftlichen Risiko; daraus folgt, daß es bis zur Erstarrung konservativ ist. Man kann ruhig behaupten, daß neun Zehntel der Gesichtspunkte, welche von Theaterdirektoren, Theaterschriftstellern, Theaterkritikern und Schauspielern pompös als »Gesetze der Bühnenwirkung« ausgegeben werden, nichts sind als eine Dramaturgie des Zuschneiderns geistiger Stoffe zu konfektionsmäßiger Absatzfähigkeit.

Viele unserer Zeitgenossen haben sich gegen diese Geistlosigkeit der Bühne aufgelehnt; die Folge war ungefähr, daß man alle Teile einer Bühnenaufführung entdeckte und der Reihe nach zur Hauptsache machte. Das Theater des Schauspielers, das Theater des Regisseurs, das Theater der akustischen Form und das des optischen Rhythmus, das Theater des vitalisierten Bühnenraums und viele andere sind uns, wenn auch oft nur in der Theorie, geschenkt worden. Gewöhnlich meint man diese Bestrebungen, wenn man vom neuen Theater spricht. Sie haben manches Wertvolle gelehrt, aber ungefähr so einseitig, wie es die Behauptung ist, daß man einen Schnupfenkranken ins Feuer werfen soll, der ja auch ein richtiger Gedanke zugrunde liegt.

Die Erlebnisse unserer Sinne sind nämlich beinahe ebenso konservativ wie die Theaterdirektoren. Was auf den Blick und Klang (selbst wenn es nicht der erste Blick ist) verstanden werden soll, darf sich vom bereits Bekannten nicht zu weit entfernen. So unvergleichlich sich das Unsagbare zuweilen in einer Gebärde, einer Konfiguration, einem Gefühlsbild oder einem Geschehnis ausdrücken kann, so geschieht das doch immer nur in der unmittelbaren Nachbarschaft des Worts, gleichsam als etwas Schwebendes um dessen festen Sinn, der das eigentliche Element der Menschlichkeit ist. Darum sind allzu radikale Reformversuche nicht nur wegen ihrer »Kühnheit« zum Scheitern verurteilt, sondern leider auch mit ziemlich viel innerer Banalität behaftet.

Ähnliches gilt auch von der »unmittelbaren Sprache« der Gefühle, Leidenschaften und Geschehnisse auf dem Theater. Ein hartnäckiges Vorurteil will, daß sich der Geist und das Denken der Menschen auf der Bühne in ihnen spiegle, aber nicht unmittelbar ausgedrückt werden dürfe. Glücklicherweise hat der Film in der Phase, wo er die Sprechbühne nachahmte, ein solches Phrasendreschen mit Ausdrucksgebärden hervorgebracht, daß die Meinung, Leidenschaften und Geschehnisse sprächen für sich selbst und man brauche sie nur auf den Draht zu binden, davon unterhöhlt wurde. Sie sprechen wohl, aber sie sagen wenig. Auch im persönlichen Leben ist das äußere Verhalten des Gemüts nicht mehr als eine vorläufige und ausdrucksarme Übersetzung des inneren, und das Wesen des Menschen liegt nicht in seinen Erlebnissen und Gefühlen, sondern in der zähen, stillen Auseinander- und Ineinssetzung mit ihnen.

Der Geist hat allerdings die unangenehme Eigenschaft, daß er nicht für das Theater auf die Welt gekommen ist, sondern auch für andere Aufgaben. Er hat seine eigenen Ereignisse. Manchmal aber läßt sich eines mit den Mitteln des Theaters oder gar nur mit ihnen ausdrücken: dann entsteht ein »neues Drama«. Gewiß ist damit nicht behauptet, daß das Theater nur für den Geist da sei; trotzdem wird man nicht übersehen, daß durch seine so rigorose Forderung der Theaterbetrieb, die Dramatik als konzessioniertes Gewerbe gestört würde. Ich könnte darauf antworten, daß auch die Kirche nicht aus lauter Heiligen besteht; aber welche sonderbare Eigenschaft von ihr wäre es, wenn sie die Heiligen nur als unangenehme Überraschungen betrachtete?


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