Robert Musil
Essays
Robert Musil

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Literatur

Literarische Chronik
[1914]

Die Novelle als Problem. Ein Erlebnis kann einen Menschen zum Mord treiben, ein anderes zu einem Leben fünf Jahre in der Einsamkeit; welches ist stärker? So, ungefähr, unterscheiden sich Novelle und Roman. Eine plötzliche und umgrenzt bleibende geistige Erregung ergibt die Novelle; eine langhin alles an sich saugende den Roman. Ein bedeutender Dichter wird jederzeit einen bedeutenden Roman schreiben können (und ebenso ein Drama), wenn er über Figuren und eine Erfindung verfügt, die gestatten, daß er seine Art zu denken und fühlen ihnen eindrückt. Denn die Probleme, die er entdeckt, verleihen nur dem mittleren Dichter Bedeutung; ein starker Dichter entwertet alle Probleme, denn seine Welt ist anders und sie werden klein wie Gebirge auf einem Globus. Aber man möchte denken, daß er nur als Ausnahme eine bedeutende Novelle schreiben wird. Denn eine solche ist nicht er, sondern etwas, das über ihn hereinbricht, eine Erschütterung; nichts, wozu man geboren ist, sondern eine Fügung des Geschicks. – In diesem einen Erlebnis vertieft sich plötzlich die Welt oder seine Augen kehren sich um; an diesem einen Beispiel glaubt er zu sehen, wie alles in Wahrheit sei: das ist das Erlebnis der Novelle. Dieses Erlebnis ist selten und wer es öfters hervorrufen will, betrügt sich. Die sagen, der Dichter hätte es immer, verwechseln es mit den gewöhnlichen intuitiven Elementen des Schaffens und kennen es überhaupt nicht. Es ist ohneweiters sicher, daß man große innere Umkehrungen nur ein- oder ein paarmal erlebt; die sie alle Monate erleben (es wären solche Naturen denkbar), hätten ihr Weltbild nicht so fest verankert, daß seine Losreißung von Bedeutung sein könnte.

Die Konstruktion eines solchen Idealfalls der Novelle mag komisch aussehen, da es Novellisten gibt und Novelle ein Handelsartikel ist. Aber es ist selbstverständlich, daß hierbei nur von den äußersten Anforderungen gesprochen wird. Ein Mensch ist vorausgesetzt, der an sein Tun die stärksten Ansprüche stellt; dem Schreiben keine selbstverständliche Lebensäußerung ist, sondern der jedesmal eine besondere Rechtfertigung von sich dafür verlangt, wie für eine leidenschaftliche Handlung, die ihn (vor der Ewigkeit) exponiert. Der nicht gackert, wo sich nur ein Ei in ihm regt, sondern Einfälle für sich behalten kann. Der durchaus nicht nur darauf angewiesen ist, sich auszudichten, sondern auch ein Denker ist und weiß, bei welchen inneren Feldzügen man sich auf die eine, bei welchen auf die andre Waffe stützen muß, und nicht beide gegeneinander mengt. Und der schließlich mit indianischer Eitelkeit zu tragen vermag, daß vieles ihm nicht zu sagen gelingt und mit ihm zugrunde gehen wird. Dieser Mensch wird freilich sogar selten ein Gedicht machen, seine Phantasie wird nicht strömen wie ein Brunnen auf einem öffentlichen Platz. Er wird fremd bleiben und ein Sonderling; er wird vielleicht gar kein Mensch sein, sondern ein Etwas in mehreren. Wenn Kritik einen Sinn hat, so ist er, diese Möglichkeit nicht zu vergessen und manchmal alles o ja gewiß Schöne zur Seite zu schieben und zu zeigen, daß es nur eine Gasse ist.

Aber selbstverständlich erfordert der normale Betrieb auch eine andre Betrachtung. Dichtungen sind nur in einer Wurzel Utopien, in einer andren aber wirtschaftliche und soziale Produkte. Sie haben nicht nur Pflichten, sondern sind Fakten, und die Pflichten haben sich mit ihnen abzufinden. Man schreibt Dramen, Romane, Novellen und Gedichte, weil es diese Kunstformen nun einmal gibt, weil Nachfrage besteht und weil sie sich zu vielem eignen. Kunstformen kommen auf und vergehen, wie das Versepos; und nur bis zu einem gewissen Grad ist das Ausdruck innerer Notwendigkeiten. In ästhetischen Fragen steckt oft mehr Praxis und gemeine Notwendigkeit als man denkt. Und wie man mit Interesse auf kleine schöne Erlebnisse, auf Tagebuchnotizen, Briefe und Einfälle zurückblickt und wie im Leben nicht nur die größten Spannungen Wert haben, so schreibt man Novellen. Sie sind eine rasche Form des Zugreifens. Und man darf nicht übersehen, daß von den starken Eindrücken der Literatur viele aus solchen Novellen kommen, und muß es ihnen danken. Sie sind oft kleine Romane oder in Bruchstücken skizzierte oder Hinwürfe irgendeiner Art, die nur im wesentlichen ausgeführt sind. Ihr Wesentliches kann in Symptomhandlungen eines Menschen liegen oder in solchen seines Dichters, in Erlebnissen, in der Silhouette eines Charakters oder eines Schicksalsablaufs, die für sich zur Darstellung reizt, und vielen kaum zusammenzählbaren Möglichkeiten. Es kann Wundervolles darunter sein und eben noch Hinlängliches; die kleinste Schönheit legitimiert schließlich auch noch das Ganze. Außer dem Zwang, in beschränktem Raum das Nötige unterzubringen, bedingt kein Prinzip einen einheitlichen Formcharakter der Gattung. Hier lebt das Reich nicht der notwendigen, wohl aber der hinreichenden Gründe. Wie man über die Versuche zu denken hat, statt von der Erlebnisbedeutung, von den ästhetischen Wundern der Novelle zu sprechen, von der Knappheit, dem Glück der Kontur, dem Zwang zur Tatsächlichkeit oder zur Wahl eines repräsentativen Augenblicks und ähnlichem solchen – neben das Menschliche gestellt – künstlerischen Mittler- und Maklerglück, das ihre Stellung bezeichnen soll, braucht nach all dem nicht gesagt zu werden.

 

Die »Geschichten« von Robert Walser (1914). Positiv Gesinnte und Frauen mit starker Caritas werden diese dreißig kleinen Geschichten spielerisch finden. Sie werden ihnen vorwerfen, daß sie keinen Charakter verraten, launenhaft sind, daß sie mit dem Leben tändeln, ja, vielleicht kein Herz haben und daß sie sich von jener verblüffenden Entschlossenheit, mit der das Unbedeutende, eine Gartenbank etwa, manchmal seinen Platz in der Welt ausfüllt, imponieren lassen. Zusammengefaßt scheint mir, man wird zwar nicht sagen, aber im Untergrund davon belästigt werden, daß sie sittlichen Ernst vermissen lassen. Das ist aber so: wir haben in vielen Dingen so feste Verhaltungsweisen unseres Gefühls, daß wir sie wie in den Dingen selbst gelegen behandeln. Wir finden – ein Fall, der an Walser anknüpft – einen großen Theaterbrand zum Beispiel nie anders als ein entsetzliches Unglück. Nun könnte ihn jemand als ein prächtiges Unglück empfinden oder als ein wohlverdientes: da wir liberal sind, wollen wir ihn natürlich daran nicht hindern; was wir aber verlangen zu dürfen glauben, sind Gründe. Wenn der nun aber gar kein Bedürfnis nach Gründen hat, sondern er findet das Ganze so einfach ein entzückendes Unglück wie wir es ein entsetzliches finden, dann raten wir zunächst in der Richtung: verderbt, und finden wir dann nichts als einen lieben Kerl, so sagen wir, er habe keinen sittlichen Ernst oder er versündige sich gegen den Ernst des Gegenstandes. Ja wir verlangen diesen Respekt vor dem Gegenstande nicht nur bei traurigen Anlässen sondern fordern auch beim Vergnügen einen gewissen Ernst. Von einer Wiese zum Beispiel, daß sie grün sei, muß uns ein Dichter mit solchem Entzücken sagen, daß wir fühlen, wie sich – flugs – sein ganzes Herz mit übergrünt. Oder aber er sage, daß er das nicht kann und daß sie überhaupt nicht grün, sondern ein volkswirtschaftliches Unglück sei, weil wegen der schönen Wiesen der Agrarier die Fabrikarbeiter kein Fleisch essen können. Empfindet er aber bloß, sie sei ganz blödsinnig grün und zum Kugeln – und dies ist wohl das einfachste, was man vor einem schönen Rasen wird behaupten wollen –, dann finden wir wahrscheinlich doch, daß irgendwie die Gefühlsansprüche einer Wiese zu nachlässig behandelt werden. Walser nun ist wohl kaum auch nur mit der kleinsten Absicht ein Revolutionär oder ein Abwegiger des Gefühls, sondern eher ein liebenswürdiger, etwas phantastischer Biedermann in den meisten seiner Reaktionen, aber er versündigt sich fortwährend noch gegen den unveräußerlichen Anspruch der Welt- und Innendinge: von uns als real genommen zu werden. Eine Wiese ist bei ihm bald ein wirklicher Gegenstand, bald jedoch nur etwas auf dem Papier. Wenn er schwärmt oder sich entrüstet, läßt er nie aus dem Bewußtsein, daß er es schreibend tut und daß seine Gefühle auf Draht stecken. Er heißt plötzlich seine Figuren schweigen und die Geschichte reden, als wäre sie eine Figur. Marionettenstimmung, romantische Ironie; aber auch etwas in diesem Scherz, das von fern an Morgensterns Gedichte erinnert, wo die Gravität wirklicher Verhältnisse plötzlich an dem Faden einer Wortassoziation weiterzurieseln beginnt; nur daß diese Assoziation bei Walser nie rein verbal, sondern immer auch eine der Bedeutung ist, so daß die Gefühlslinie, der er gerade folgt, sich hebt wie zu einem großen Schwung, ausweicht und befriedigt schaukelnd in der Richtung einer neuen Verlockung weitergeht. Daß das keine Spielerei sei, möchte ich eigentlich gar nicht behaupten, aber es ist jedenfalls – trotz der ungemeinen Wortbeherrschung, in die man sich vernarren könnte – keine schriftstellerische Spielerei, sondern eine menschliche, mit viel Weichheit, Träumerei, Freiheit und dem moralischen Reichtum eines jener scheinbar unnützen, trägen Tage, wo sich unsere festesten Überzeugungen in eine angenehme Gleichgültigkeit lockern.

 

Franz Kafka. Mir scheint trotzdem, daß die Sonderart Walsers eine solche bleiben müßte und nicht geeignet ist, einer literarischen Gattung vorzustehn, und es ist mein Unbehagen bei Kafkas erstem Buch Betrachtung (1913), daß es wie ein Spezialfall des Typus Walser wirkt, trotzdem es früher erschienen ist als dessen Geschichten. Auch hier Kontemplation in einer Art, für die ein Dichter vor fünfzig Jahren sicher den Buchtitel Seifenblasen erfunden hätte; es genügt, die spezifische Differenz zu erwähnen und zu sagen, daß hier die gleiche Art der Erfindung in traurig klingt wie dort in lustig, daß dort etwas frisch Barockes ist und hier in absichtlich seitenfüllenden Sätzen eher etwas von der gewissenhaften Melancholie, mit der ein Eisläufer seine langen Schleifen und Figuren ausfährt. Sehr große künstlerische Herrschaft über sich auch hier und vielleicht nur hier ein Hinübertönen dieser kleinen Endlosigkeiten ins Leere, eine demütig erwählte Nichtigkeit, eine freundliche Sanftheit wie in den Stunden eines Selbstmörders zwischen Entschluß und Tat oder wie man dieses Gefühl nennen will, das man sehr verschieden benennen kann, weil es bloß wie ein ganz leiser dunkler Zwischenton mitschwingt; und das sehr reizvoll ist, bloß zu unbestimmt und leise. Es berührt sich mit jener Innerlichkeit des Erlebens, die das andere Buch Kafkas, die Novelle Der Heizer (1913), so entzückend macht. Diese Erzählung ist ganz Zerflattern und ganz Gehaltenheit. Sie ist eigentlich kompositionslos, ohne nennenswerte äußere oder innere Handlung und setzt die Schritte doch so eng und ist so voll Aktivität, daß man fühlt, wie weit und bewegt bei manchen Menschen der Weg von einem ereignislosen Tag zum nächsten ist. Ein junger Mann fährt von Europa nach Amerika, seiner Familie weg und zu einem märchenhaft unerwarteten, guten und geachteten Onkel hin, unterwegs befreundet er sich mit einem Heizer, nimmt an seinem Schicksal teil, tut lauter unvollendbare Dinge, die von der Welt aus gesehen wie abgerissene Drähte in sie hineinhängen, und denkt lauter Gedanken, die er selbst nicht vollendet; das ist alles. Es ist absichtliche Naivität und hat doch nichts von dem Unangenehmen einer solchen. Denn es ist rechte Naivität, die in der Literatur (genau so wie die falsche; da liegt nicht der Unterschied!) etwas Indirektes, Kompliziertes, Erworbenes ist, eine Sehnsucht, ein Ideal. Aber etwas ist, das Überlegungen vertrug, ein fundiertes, ein Gefühl mit lebendigen Gründen; während die falsche sogenannt echte, die beliebte schlichte Naivität eben dies nicht und darum so wertlos ist. Es gestaltet sich in Kafkas Erzählung ein ursprünglicher Trieb zur Güte aus, kein Ressentiment, sondern etwas von der verschütteten Leidenschaft des Kindesalters für das Gute; jenes Gefühl aufgeregter Kindergebete und etwas von dem unruhigen Eifer sorgfältiger Schularbeiten und viel, wofür man keinen anderen Ausdruck als moralische Zartheit bilden kann. Die Forderungen an das, was man tun soll, werden hier von einem Gewissen gestellt, das nicht von ethischen Grundsätzen getrieben wird, sondern von einer feinen, eindringlichen Reizbarkeit, welche fortwährend kleine Fragen von großer Bedeutung entdeckt und an Fragen, die für andere nur ein glatter, gleichgültiger Block sind, merkwürdige Faltungen sichtbar macht. Und dann steht inmitten von all dem eine Stelle, wo berichtet wird, wie eine ohne Liebe angejahrte Magd unbeholfen verlegen einen kleinen Jungen verführt; ganz kurz, aber von einer solchen Macht in wenigen Strichen, daß der bis dahin vielleicht bloß sanfte Erzähler als sehr bewußter Künstler erscheint, der sich zu kleinen und geringen Empfindungen beugt.

 

Bücher und Literatur
[1926]

Ankündigung

Das literarische Flurschützenamt des Kritikers! Ich schicke voraus, daß ich gar nichts davon verstehe, und um gleich noch etwas zu sagen, was meine Eignung zum Kritiker beleuchtet: Ich mag nicht Bücher lesen.

Ich erinnere mich, seit Jahren selten ein Buch zu Ende gelesen zu haben, außer es war ein wissenschaftliches oder ein ganz schlechter Roman, in dem die Augen steckenbleiben, als ob man einen großen Teller in Schnaps getränkter Makkaroni hinunterschlingen würde. Wenn ein Buch dagegen wirklich eine Dichtung ist, kommt man selten über die Hälfte; mit der Länge des Gelesenen wächst in steigenden Potenzen ein bis heute unaufgeklärter Widerstand. Nicht anders, als ob die Pforte, durch die ein Buch eintreten soll, sich krampfhaft gereizt eng verschließen würde. Man befindet sich, wenn man ein Buch liest, alsbald in keinem natürlichen Zustande mehr, sondern fühlt sich einer Operation unterworfen. Da wird ein Nürnberger Trichter an den Kopf gesetzt, und ein fremdes Individuum versucht, seine Herzens- und Gedankenweisheit einem einzuflößen; kein Wunder, daß man sich diesem Zwange entzieht, sobald man nur kann!

Die Amerikaner sind andere Leute. Ein Mann wie Jack London, der ein sehr lebendiger und kluger Mann ist, hält sich nicht für zu gut, um beim seligen Käptn Marryat, der unsre Kindertage erfreut hat, in die Schule zu gehen und sein Garn ganz aus dem Fell des wilden Schafes zu spinnen, das er mit Recht als das Innere seiner Leser vermutet. Wenn es ihm gelingt, dabei einen oder den anderen tiefen Gedanken einzuschmuggeln oder eine mächtige Szene, ist er sehr zufrieden; denn er betrachtet Literatur als ein männliches Geschäft, das Käufer und Verkäufer etwas bieten muß. Wir Deutschen dagegen betreiben bis tief in den Moralkitsch hinein eine Genieliteratur. Immer ist der Verfasser ein ungewöhnlicher Mensch; er fühlt entweder ungewöhnlich kühn oder ungewöhnlich gewöhnlich; stets breitet er sein so oder so geordnetes Seelensystem zur Nachahmung vor uns aus. Selten ist er ein Mensch, der die Unterhaltung für seine Pflicht ansieht, und wenn er es tut, sinkt er gewöhnlich ohne Widerstand zu einer maßlos gemeinen Unterhaltung als Stimmungskanone der Heiterkeit oder Sentimentalität herab. (Vielleicht läßt sich später einmal mehr davon erzählen.) Im übrigen wäre wohl gegen den Drang zum Genialen in einer Literatur wenig einzuwenden. Nur das eine natürlich: das größte Volk kann unmöglich die ausreichende Anzahl Genies für eine solche Literatur hervorbringen.

Können die Schriftsteller nicht schreiben
oder die Leser nicht lesen?

Man sagt, es seien die Bücher schuld und die deutschen Schriftsteller könnten nicht schreiben. Das ist eine liebenswürdige und einleuchtende Hypothese, um das eigentümliche Mißbehagen zu erklären, in das man sich beim Lesen von Büchern versetzt fühlt. Vergessen wir aber niemals, daß es bloß eine Hypothese ist! Wie alle Hypothesen hüllt sie eine Tatsache in einen Überschuß ein, und wenn man sich nackt an die Wahrheit halten will, welche in der Behauptung steckt, daß die Schriftsteller nicht schreiben können, so vermag man bloß festzustellen, daß die deutschen Leser nicht mehr lesen können. Das ist das einzige, was feststeht und wovon man ausgehen kann. Wir deutschen Leser empfinden heute einen unerklärlichen grundsätzlichen Widerstand gegen unsere Bücher. Alles andere ist äußerst unklar. Es ist auch unklar, wer und was die Schuld hat. Darum ist es gut, sich wohl oder übel zuerst umzusehen, wie eigentlich heute ein Mensch liest, der am Lesen von Büchern keine Freude empfindet und dennoch seine Zeit an Bücher abgibt?

Wir wollen sehr vorsichtig an diese Frage gehen, um nicht den Anschein zu erwecken, daß wir eine ausreichende Antwort wissen, was unsere Verleger in ein Goldgräberfieber versetzen müßte.

Wir wollen auch unter Mensch nicht die glückseligen Opfer der Literatur in Fortsetzungen verstehen, unter denen noch wirkliche Leseleidenschaft wütet, sondern nur solche Menschen, welche mit jenem Ernste lesen, mit dem man einen Kirchenvorstand wählt oder den Namen für den erstgeborenen Sohn.

Es gibt heute kein Genie

Nun, der Umgang mit ihnen zeigt sofort eine Erscheinung, welche offensichtlich in diese Betrachtung gehört: Es vergehen nicht fünf Minuten, wenn zwei solche Verantwortliche sich irgendwo treffen und das Gespräch eine höhere Richtung nimmt, ohne daß sie sich im gemeinsamen Ausdruck einer Überzeugung finden, die sich ungefähr in die Worte fassen läßt: es gibt ja heute doch keine große Leistung und kein Genie!

Sie meinen damit durchaus nicht das Fach, welches sie selbst vertreten. Auch handelt es sich dabei nicht um eine besondere Form des Heimwehs nach der besseren alten Zeit. Denn es zeigt sich, daß die Chirurgen keineswegs die Zeit Billroths für chirurgisch größer als die ihre halten, daß die Pianisten durchaus überzeugt sind, das Klavierspiel habe seit Liszt Fortschritte gemacht, ja sogar, daß die Theologen die Meinung verbergen, es sei immerhin diese oder jene kirchliche Frage heute genauer bekannt als in Christi Tagen. Nur sobald die Theologen auf die Musik, die Dichtung oder die Naturwissenschaft, die Naturwissenschaftler auf die Musik, die Dichtung und die Religion, die Dichter auf die Naturwissenschaft usw. zu sprechen kommen, zeigt sich jeder überzeugt, daß die anderen nicht ganz das Richtige leisten und, bei allem Talent, von dem Beitrag, den sie der Allgemeinheit schulden, das Wichtigste, das Letzte, eben was das Genie wäre, schuldig bleiben.

Dieser Kulturpessimismus auf Kosten der anderen ist eine heute weitverbreitete Erscheinung. Er steht in einem sonderbaren Widerspruch zu der Kraft und Geschicklichkeit, die allenthalben im einzelnen entwickelt wird. Man hat den Eindruck, daß ein Riese, der ungeheuer viel ißt, trinkt und leistet, davon nichts wissen will und sich lustlos schwach erklärt wie ein junges Mädchen, das die eigene Blutarmut ermüdet. Es gibt sehr viele Hypothesen zur Erklärung dieser Erscheinung, davon angefangen, daß man sie als die letzte Stufe einer seelenlos werdenden Menschheit ansieht, bis dorthin, wo man in ihr die erste Stufe von irgend etwas Neuem erblickt. Es wird gut tun, diese Hypothesen nicht ohne Not um eine neue zu vermehren und lieber sich noch nach einigen anderen Erscheinungen umzusehen.

Es gibt nur noch Genies

Denn scheinbar im Widerspruch zu der geschilderten Mieselsucht steht die Leichtigkeit, mit der man heute das höchste Lob spendet, wenn es einem gerade paßt, und ist doch wahrscheinlich im Innersten eins mit ihr.

Man nehme sich die Mühe und sammle durch längere Weile unsere Buchbesprechungen und Aufsätze mit der Absicht und nach den Methoden, um aus ihnen ein Bild der geistigen Bewegung in der Zeit zu gewinnen. Man wird nach einigen Jahren mächtig darüber erstaunen, wie viele erschütterndste Seelenverkünder, Meister der Darstellung, größte, beste, tiefste Dichter, ganz große Dichter und endlich einmal wieder ein großer Dichter im Laufe solcher Zeit der Nation geschenkt werden, wie oft die beste Tiergeschichte, der beste Roman der letzten zehn Jahre und das schönste Buch geschrieben wird. Wenn man oft Gelegenheit hat, solche Sammlungen durchzublättern, staunt man jedesmal von neuem über die Heftigkeit augenblicklicher Wirkungen, von denen in den meisten Fällen wenige Jahre später nichts mehr zu sehen ist.

Man kann eine zweite Beobachtung machen. Noch mehr als einzelne Kritiker sind ganze Kreise hermetisch gegen einander abgedichtet. Sie werden gebildet von bestimmten Typen von Verlagen, zu denen bestimmte Typen von Autoren, Kritikern, Lesern, Genies und Erfolgen gehören. Denn das Bezeichnende ist, daß man in jeder dieser Gruppen ein Genie werden kann, wenn man eine bestimmte Auflagenhöhe erreicht, ohne daß die anderen Gruppen davon etwas merken. Es mag sein, daß in ganz großen Fällen ein Teil des Publikums von der einen Fahne zur anderen desertiert; sicher ist auch, daß sich um die meistgelesenen Schriftsteller ein eigenes Publikum aus allen Lagern bildet; stellt man aber eine Liste der Erfolgreichen in der Abstufung ihrer Auflagenzahlen zusammen, so merkt man sogleich aus der Zusammensetzung, wie wenig die paar Lichtgestalten, die sich darunter befinden, imstande sind, bildend auf den Geschmack der Allgemeinheit zu wirken, und diesen davon abzuhalten, sich mit gleicher Begeisterung wie ihnen auch einer obskuren Mittelmäßigkeit zuzuwenden; diese einzelnen treten über die Ufer, welche im allgemeinen vorgezeichnet sind, aber wenn ihre Wirkung abfließt, fängt jede Rinne des vorhandenen Kanälesystems das ihre davon auf.

Noch eindrucksvoller zeigt sich dieser Partikularismus, wenn man die Betrachtung nicht bloß auf die schöne Literatur beschränkt. Es ist gar nicht zu sagen, wie viele Roms es gibt, in deren jedem ein Papst sitzt. Nichts bedeutet der Kreis um George, der Ring um Blüher, die Schule um Klages gegen die Unzahl der Sekten, welche die Befreiung des Geistes durch den Einfluß des Kirschenessens, vom Theater der Gartensiedlung, von der rhythmischen Gymnastik, von der Wohnungseinrichtung, von der Eubiotik, vom Lesen der Bergpredigt oder einer von tausend anderen Einzelheiten erwarten. Und in der Mitte jeder dieser Sekten sitzt der große Soundso, ein Mann, dessen Namen Uneingeweihte noch nie gehört haben, der aber in seinem Kreis die Verehrung eines Welterlösers genießt. Ganz Deutschland ist voll von solchen geistigen Landsmannschaften; aus dem großen Deutschland, wo von zehn bedeutenden Schriftstellern neun nicht wissen, von was sie leben sollen, strömen ungezählten Halbnarren Mittel zur Entfaltung ihrer Propaganda, zum Druck von Büchern und zur Gründung von Zeitschriften zu. Ich habe die Zahlen von heute nicht zur Hand, aber vor dem Kriege sind in Deutschland jährlich über tausend neue Zeitschriften und weit über dreißigtausend neue Bücher erschienen, und wir haben uns natürlich eingebildet, daß dies ein weithin leuchtendes Zeichen unseres geistigen Hochstandes sei. Man darf vielleicht ebensogut vermuten, daß dieses Übermaß ein unbeachtetes Zeichen eines sich ausbreitenden Beziehungswahns ist, dessen Grüppchen das ganze Leben an einer fixen Idee befestigen, so daß ein echter Paranoiker es heute wirklich schwer haben muß, sich bei uns des Wettbewerbes der Amateure zu erwehren.

Nur Literatur

Die Art, in der sich ein Mensch, der einen Beruf hat und so natürlich lesen möchte, wie man tief atmet, wenn man aus dem Bureau kommt, gegen diese brodelnde Luft wehrt, die ihm den Atem streitig macht, besteht darin, daß er in seiner Notwehr erklärt, das alles sei »nur Literatur«. Während frühere Zeiten Worte wie Federfuchser, Kritikaster zur Abwehr bestimmter Auswüchse der Literatur hervorgebracht haben, ist heute das Wort Literat selbst zum Schimpfwort geworden. Nur Literatur bezeichnet so etwas wie Mottenseelen, die um künstliche Lichter flattern, während draußen der Tag scheint. Der tätige Mensch fühlt sich durch ihre Unruhe belästigt, und wer hätte ihn noch nicht kurz entschlossen erklären hören, daß er in Gerichtssaalberichten, Reisebeschreibungen, Biographien, politischen Reden, geschäftlichen Aussprachen, in den Erfahrungen am Krankenbette, auf Bergfahrten oder in der Fabrik mehr Poesie und Erschütterung findet als in der zeitgenössischen Literatur. Von da bis zu der Überzeugung, daß in dieser »raschlebigen und von großen Vorgängen erschütterten Zeit« eigentlich nur das kleine Zeitungsentrefilet oder Feuilleton wirklich lebendige Kunst sei, ist es nicht mehr weit. Er versichert, das Leben sei das größte Gedicht, und hat den Vorteil, sich damit selbst zum Range eines dichterischen Genies zu erheben, da doch jeder in gewissem Sinn der Autor seines Erlebens ist. Damit ist aber der letzte Leser geschwunden und es bleiben nur noch Genies übrig.

Wir haben also bloß die Frage zu untersuchen: Wie lesen Genies?

Das weiß man aber. Genies haben die Eigenschaft, daß sie die Leistungen anderer Genies selten anerkennen. Sie lesen nur die Bestätigung ihrer eigenen Ansichten, und diese langweilt sie. Die Wandervögel die der Wandervögel, die Psychoanalytiker die der Psychoanalytiker. Sie wissen es selbst (und dem ist dann auch wirklich so) besser. Sie lesen deshalb mit dem Bleistift in der Hand, dem Ausrufungszeichen und Anmerkungen entfahren. Und an der in ihren Augen etwas zurückgebliebenen schönen Literatur lieben sie vor allem nicht die Umständlichkeit; Anregung genügt. Sie lesen eigentlich immer nur Titelköpfe, wie man sie in den Zeitungen so schön überfliegen kann; zuweilen anerkennen sie es, wenn sich recht viel Titelköpfe bewegen, und nennen es geistige Bewegtheit; zuweilen beschleicht sie ihre Einsamkeit, und dann nennen sie es nur Literatur. Mit einem Wort: Genies lesen so, wie man heute liest.

Was sie tun, wenn sie schreiben, bleibt dabei beiseite.

Eine kleine Theorie

Und nun sei eine kleine Theorie aufgestellt. Es soll keine große sein, welche diese Erscheinungen als irgend etwas Historisches erklärt, sondern nur eine Ableitung aus alltäglichen Erfahrungen. Unsere Köpfe und Herzen verarbeiten die Eindrücke, welche sie empfangen, desto besser, je zusammenhängender oder je weniger einzeln diese sind; wir leisten mehr, wo wir oder wo die Dinge ein System haben. Das ist eine bekannte Tatsache. Sie fängt mit der rhythmischen Arbeit an und geht über die Kenntnis, daß jede Arbeit ganz anders geleistet wird, wenn man ihren Sinn weiß, als wenn sie in lustlose einzelne Stücke zerfällt, bis zu der befruchtenden Kraft großer wissenschaftlicher Theorien, als deren Folge stets eine Fülle unerwarteter Entdeckungen entsteht; ja selbst die belebende Kraft geistiger Bewegungen, dieses sonderbare Erwachen seelischer Jahrzehnte mitten zwischen ganz andersgearteten, scheint nichts anderes zu sein als die Steigerung der Leistungen und das Heraufbeschwören ansonsten ungetan bleibender Leistungen durch die zauberhafte Erleichterung des persönlichen Schaffens, welche eine große gemeinsame, selbst eine nur eingebildete Ordnung gewährt. Nicht ohne Zweck läuft die Geschichte des Geistes, vornehmlich die der Kunst in »Richtungen« und »Strömungen«: der Zweck ist natürlich nicht das Entstehen der nun unwiderruflich schönsten Kunst, sondern ein psychotechnischer Trick, der das Entstehen überhaupt erleichtert.

Auf das Lesen einschränkend, darf gesagt werden, daß es einen ungeheuren Unterschied bedeutet, ob man von allgemeinen Überzeugungen getragen liest oder nicht. Man staunt, wenn man heute erkennt, wieviel Spreu die hoffnungsvolle Zeit um 1900 für ebenso wichtig erachtet hat wie ihren besten Weizen; man wird sich später ebenso über manche Schriftsteller wundern, die heute im Vordergrund stehn: dennoch leisten selbst solche Mißverständnisse in gewissem Sinn den gleichen Dienst wie Verständnisse; sie helfen dem Leser, zu sich selbst zu kommen, oder um zu sagen, was wirklich ist, sie helfen die Suggestion verstärken, durch die seine Eindrücke in ein System der gegenseitigen Erleichterung und Energievermehrung kommen, das wirkungsvoller ist als das egozentrische der »persönlichen Bildung« oder der »sittlichen humanen Persönlichkeit«, das wir – schon etwas lahm – als Erbe des 18. Jahrhunderts übernommen haben. Wenn aber mehrere solcher Strömungen im gleichen Zeitpunkt zusammentreffen, so bedeutet dies natürlich soviel wie gar keine Strömung, und es tritt das sonderbare Schauspiel auf, daß eben noch Bewegung vorhanden war, ja daß sie, einzeln betrachtet, eher noch in einem Übermaß vorhanden zu sein scheint, dessenungeachtet sich doch im ganzen ein schneller Kräfteverfall bemerkbar macht.

Jahre ohne Synthese

Die gegenwärtigen Jahre dürften durch eine solche Interferenz von Wellen gekennzeichnet sein, die sich gegenseitig auslöschen, wie die Beteiligten mit einigem Staunen bemerken. Es ist eine der ungerechtesten Täuschungen, sich oder anderen einzubilden, daß es heute keine Dichtung genügend großer Art gebe; im Gegenteil, man könnte wohl leicht zwei Dutzend Namen aufzählen, die zusammen ein Maß von Können, Kühnheit, Freiheit und anderen entscheidenden Eigenschaften geben, das den Vergleich mit keiner anderen Spanne unserer Literatur zu scheuen braucht; aber sie ergeben keine Synthese, keine wahre und keine eingebildete, man vermag – grob gesprochen und wörtlich zu nehmen – nichts Ganzes mit ihnen anzufangen: und das erklärt nicht wenig von dem Gefühl der Mutlosigkeit und Enttäuschung, durch das die Gegenwart erregt wird. Ein solcher Verfall, der die literarische Kraft gewissermaßen im allgemeinen umfaßt, besteht zunächst nicht darin, daß es weniger gute Werke gibt, noch daß sich zwischen die guten mehr schlechte drängen, sondern drückt sich zuvor in einer gewissen Unruhe, Ohnmacht, ja Liberalität des Geschmacks aus; dieser hält noch fest, aber er hält nicht mehr dicht; alles Mögliche strömt durch allerhand Fugen ein, das vordem unmöglich gewesen wäre; man beginnt, die Klassenunterschiede der Werke aus dem Gefühl zu verlieren, und nennt in einem Atem – z. B. Hamsun und Ganghofer. Dieses Beispiel scheint heute noch unmöglich zu sein, aber man glaube nur ja nicht, daß der Weg von der Geltung Hebbels bis zu der Wildenbruchs lang war!

In einem solchen Zeitpunkt darf man daran erinnern, daß es ein System, eine Synthese gibt, die wichtiger als Dichter, umfassender und dauernder als Strömungen ist: die Literatur.

So selbstverständlich das aussieht, und mit halbem Sinn gewöhnlich auch ausgesprochen wird, übersehe man nicht, daß es nicht weniger bedeutet als die Umkehrung festsitzender Gepflogenheiten. Es kehrt nicht nur die Selbstverständlichkeit hervor, daß die Literatur wichtiger ist als ihre Richtungen, sondern kehrt unter anderem auch solche Überzeugungen um wie die, daß Kunst ein Gnadengeschenk sei, eine beglückende Begegnung mit einzelnen großen Menschen, eine Erholung und in jeder Weise eine menschliche Ausnahme. Literatur ernstlich voranstellen, heißt einen kollektiven Arbeitsbegriff auf einer geheiligten Insel einführen, und wenn man es bös ausdrücken will, die Fauna dieser glücklichen Insel zu Konserven verarbeiten. Das ist ohne Zweifel ein Unternehmen, von dem man zugeben muß, daß es ebenso leicht in ein Zuviel wie in ein Zuwenig ausarten kann.

Literatur und Lesen

Literatur in solcher Absicht gebraucht, heißt das Interesse nicht auf die Summe und auf das Museum der Werke richten, sondern auf die Funktion, das Wirken, das Leben der Bücher, ihre Zusammenfassung zu einer fortdauernden und sich steigernden Wirkung. Die menschliche Bemühung, welche Tausende von Menschen, und darunter sehr begabte, darauf richten, ein Gedicht oder einen Roman zu schreiben, kann unmöglich damit erschöpft sein, daß diese einer Anzahl Leser gefallen, daß eine Wolke der Anregung und Bewegung von ihnen ausgeht, die eine Weile über ihrem Platz hängt und dann von allerhand luftigen Strömungen zerblasen wird. Unser Gefühl und eine unklare Erfahrung sträuben sich dagegen. Dennoch bleiben wir jedesmal von neuem, wenn wir vor ein Werk oder einen Dichter geraten, ihnen gegenüber allein, werden von ihnen gestreift, von unserem Platz geschoben, aber wieder verlassen, und es ist jede Dichtung ihr eigener Anfang. Was wir Geschichte der Literatur nennen, ist allerdings ein auf Festhalten gerichtetes Bemühen; aber mit ihren Erklärungen des Gewesenen aus den Bedingungen seiner Zeit und ihren kausalen mehr oder weniger verläßlichen Analysen großer Personen hilft sie, auch wenn man sie sich vollendet vorstellt, zwar dem Verstehen, jedoch nicht oder nur auf Umwegen dem Erleben; sie ist, sofern sie sich in den sicheren Grenzen ihrer Aufgabe hält, nicht unmittelbar Ordnung der Erlebnisse und Eindrücke selbst, sondern Analyse und Zusammenfassung von Personen, Zeiten, Stilen, Einflüssen – also etwas ganz anderes.

Aber so gut das Kunstwerk in all seiner Einmaligkeit sich in eine historische Ordnung bringen läßt, die nicht bloß chronologisch ist, läßt es sich auch in eine andere bringen. Schon das instinktive Verfahren des Lesens hat es auf nichts anderes abgesehen, als die Wirkung, das Bedeutsame, den empfundenen Wert des Buches unmittelbar – das heißt als Effekt, als Bedeutetes, als persönlich anzueignenden Wert – und so festzulegen, daß sie nicht wieder verlorengehen. Fragt man nach den Vorgängen, durch die das geschieht, so lehrt schon der flüchtigste Einblick in sich selbst solche kennen. Man übernimmt gedankliche Elemente, die sich ja ohne weiteres bewahren lassen; man selbst erlebt Einfälle, Klarstellungen, Ausblicke, welche durch das Lesen angeregt wurden und bestehen bleiben, wenn der Anlaß auch längst vergessen ist; man gerät ins Fühlen und faßt die Empfindungen, von denen man angesteckt wurde, entweder als Erfahrung in Worte oder als Vorsätze in eine feste Einstellung zusammen oder überläßt sie sich selbst, die dann, ihre Energie langsam und verstreut abgebend, in den übrigen Gefühlen verschwimmen; man bewahrt auch das Ungewisse und Unbeschreibliche der Werke – den Rhythmus, die Gestalt, den Gang, das Physiognomische des Ganzen – entweder eine Weile rein mimetisch, so wie man von eindrucksvollen Menschen nachahmend angesteckt wird, als innere Gebärde sozusagen, oder macht den Versuch, es in Worte zu fassen; es wäre sehr schwierig, diese Vorgänge vollzählig anzugeben, aber die Richtung, in der ihr Ziel liegt, ist bald erkenntlich. Was diesen unwillkürlichen Bemühungen fehlt, ist nur die Zusammenfassung zu einem Ganzen.

Wenn man aber unter Literatur die Summe der Dichtungen versteht, ist auch sie kein Ganzes. Sie wäre dann eine ungeheure Sammlung von Beispielen, deren jedes anders ist und doch jedes schon da war, deren jedes von jedem anders und doch in bestimmten Gleichförmigkeiten verstanden wird, eine Angelegenheit von unsäglicher Breite, ohne Anfang und Ende, ein Gewirr herrlicher Fäden, das kein Gewebe ist. Ein solches Aggregat von Lesern und Büchern wird erst dann zur Literatur, wenn zu der Summe der Werke der Inbegriff der verarbeiteten Leseerfahrungen hinzukommt. Oder mit anderen Worten: die Kritik.

Kritik, so gesehen

Es gibt viele Leute, welche leugnen, daß Kritik in diesem Sinn überhaupt möglich sei, welcher ja doch irgendwie ein Oben und Unten, die Auswahl irgendwelcher Richtungen voraussetzt, in denen ein Fortschreiten für Fortschritt gilt. Unser Zeitalter hat von einer Vorgeneration den Schreck vor der ästhetischen Regeldetri davongetragen, mit der man im Angesicht klassischer Gipsbüsten die Kunst maßregeln wollte. Der Impressionismus verließ sich auf den Saft, vermeinend, daß die Kunst irgendeinen, physiologisch nicht ganz klaren, Weg unmittelbar ins Herz findet. Der Neo-Idealismus und der Expressionismus operierten mit irgendeiner nicht weniger unmittelbaren »Anschauung« von Gedanken, welche sich nicht ganz mit der Nachdenklichkeit deckt, auf welche es ankommt. Sogar die Ästhetik selbst, von einigen bedeutenden Köpfen erneuert, leugnet heute ihre eigene Anwendbarkeit auf die Praxis; dieses gebrannte Kind will nicht mehr normativ sein. Die Folge war die Mein-Eindrucks-Kritik und die Kritik der Vokabelraketen, die Kritik des Mitschwingens und des Darauflosschwingens, welche soviel von dem Durcheinander heutigen Geistes am Gewissen haben.

Die Lage der Kritik ist indes keine schwierigere als die der Moral. Es ist uns auch keineswegs gegeben, göttliche und unveränderliche sittliche Gesetze zu kennen; die Moral wird in ihrem Wechsel von den Menschen geschaffen, die sie vorleben und den übrigen aufnötigen; dennoch läßt sich nicht leugnen, daß sie ein System besitzt, welches zugleich wandelbar und fest ist. Kritik in diesem Sinn ist nichts über der Dichtung, sondern etwas mit ihr Verwobenes. Sie ergänzt die ideologischen Ergebnisse zu einer Überlieferung – wobei ideologisch in einer weiten Weise zu nehmen ist, die auch die Ausdruckswerte der »Formen« umfaßt – und erlaubt nicht die Wiederholung des gleichen ohne neuen Sinn. Sie ist Ausdeutung der Literatur, die in Ausdeutung des Lebens übergeht, und eifersüchtige Wahrung des erreichten Standes. Eine solche Übersetzung des teilweise Irrationalen ins Rationale gelingt nie völlig; aber was Vereinfachung, Auszug, ja Auslaugung ist, hat zugleich mit den Nachteilen auch die allseitige Beweglichkeit und den großen Umfang der Verstandesbeziehungen. So ist sie ein Weniger und ein Mehr, bleibt wie jede ideologische Ordnung dem Leben, das sie umfaßt, viel einzelnes schuldig und verleiht ihm dafür etwas Allgemeines. Mit Besserwissen hat diese Kritik wenig zu tun; sie darf irren, denn sie entsteht niemals durch einen, sondern durch ein Kreuz und Quer, durch die Bemühung vieler, durch einen endlosen Prozeß von Revisionen, ja, entsteht letzten Endes durch die kritisierten Bücher selbst, denn jedes bedeutende Werk hat die Fähigkeit, alles umzustürzen, was man vor ihm geglaubt hat.

Literat und Literatur
Randbemerkungen dazu
[1931]

Vorbemerkung

Diese Aufzeichnungen wollen weder eine Theorie, noch eine Entdeckung sein und stellen nichts dar als einen Überblick über einige Erscheinungen der Dichtung und des Literatentums, die untereinander zusammenhängen. Als Beginn mag die Frage dienen, warum bei uns die Bezeichnung Literat für ein Scheltwort gilt, und noch dazu ein solches ist, das oft von Menschen, die in keinem ganz einwandfreien Sinn Literaten sind, gegen solche gebraucht wird, die es in einem einwandfreien Sinn sein möchten. Denn der Mann, der von der Literatur lebt, indem er sie zu irgendeinem Geschäft ausnützt, heißt bei uns gewöhnlich nicht Literat, sondern besitzt neben seinem Einkommen eine schöne Berufsbezeichnung, sei es auch nur, daß er Zwischentiteldichter heißt; Literat dagegen wird vornehmlich jemand genannt, der sich von keinen anderen Rücksichten leiten läßt als der Abhängigkeit von der Literatur: er ist Nur-Literat, und daß sich daraus eine geringschätzige Bezeichnung entwickeln konnte, die nicht allzufern den Begriffen Kaffeehaus und Boheme liegt, weist immerhin auf Verhältnisse innerhalb der Literatur oder zwischen ihr und dem menschlichen Ganzen hin, die bemerkenswert sein müssen. Eine Literatur, die es gestattet, mit dem Wort Literat eine solche Bedeutung zu verbinden, erinnert an einen Apfelbaum, der Kirschen oder Melonen tragen möchte, aber nur ja keine Äpfel. Was fehlt dem Baum? Wir alle sind zuerst und zuoberst Literaten. Denn Literat im richtigen Sinn, das ist der noch nicht spezifizierte Funktionär der Literatur, das Grundgebilde, woraus alle anderen entstehen. Der junge Mensch beginnt als Literat und nicht als Dichter oder gar gleich als Dramatiker, Historiker, Kritiker, Essayist und so weiter, selbst wenn man ein gewisses »Geborensein« für das eine oder das andere zugeben will, und das Wesen einer Literatur ist nicht in Ordnung, sobald dieser Zusammenhang nicht mehr gespürt wird. Dann darf man fragen, welche Störungen es bewirken, daß die gemeinsame Grundbedeutung über der ausgebildeten Form verlorengeht, und diese Frage wird man, wenn auch unvollständig und nur nach gewissen Begriffen entwickelt, in den folgenden Beobachtungen klingen hören.

Der Literat als allgemeinere Erscheinung

Gewöhnlich ist mit der Bezeichnung Literat dort, wo sie tadelnd gebraucht wird, eine nicht unwesentliche Vorstellung verbunden, die sich ungefähr so aussprechen läßt: er sei ein Mann, der sich irgendwie zu ausschließlich und auf Kosten seiner »vollen Menschlichkeit« mit der Literatur beschäftige, also ein Mensch aus zweiter Hand, der nicht (wie es angeblich der Dichter tut) von den Tatsachen des Lebens abhänge, sondern von den Berichten über sie. Mit anderen Worten, es sind die Hauptmerkmale dieser Vorstellung die gleichen wie die des Begriffs, den man von einem Scholiasten, Kommentator oder Kompilator hat, und in diesem Sinn ist der Famulus Wagner ein Literat gewesen, den Goethe unsterblich und lächerlich gemacht hat. Wahrlich hat diese Gattung Mensch in der Geschichte des Geistes vom Altertum bis zur Gegenwart auch eine Rolle gespielt, die nicht immer erfreulich war. Ein solcher Mann, der auf die Worte der Meister schwört, ist aber ausgezeichnet durch die Geringfügigkeit persönlicher Leistung bei umfassender Kenntnis fremder, und damit wäre nun beinahe schon eine Definition des Literaten schlechterer Spielart gewonnen, wenn – solche Beschreibung nicht eben auch auf einen Durchschnittsprofessor zuträfe. Sie trifft auch auf einen Strategen zu, der in der Entscheidung versagt, aber ein ganz brauchbarer Kriegsschullehrer ist; man könnte ihn einen Literaten der Kriegskunst nennen. Sie trifft ebenso auf einen moralischen Rigoristen zu, dessen Geist ganz von Vorschriften angefüllt ist, wie auf einen moralischen Libertinisten, dessen Geist ein Merkzettel der Freiheiten ist; beides, Rigorismus wie Libertinage, sind Wesenszüge eines Literaten. Dieses Mißverhältnis zwischen eigener Leistung und Kenntnis fremder findet sich überhaupt je nach den Umständen verschieden ausgeprägt. Wo Können erforderlich wäre, wird es dieses durch Kennen ersetzen; wo Entscheidungen am Platz sind, wird es Skrupel liefern; wo die Aufgabe in einer theoretischen Leistung liegt, wird es sich mit Kompilation behelfen, sich ebensogut aber auch in eine nie endende experimentelle Vielgeschäftigkeit flüchten . . .: In allen Fällen scheint es jedoch zu einer Verschiebung zu führen, durch welche die Anstrengung von der eigentlichen Leistung, zu der Begabung, Wille oder Umstände nicht hinreichen, auf eine leichter erreichbare Nebenleistung verlegt wird, die den Ehrgeiz hinreichend befriedigt. Es liegt in der Natur dieses Vorgangs, daß dabei das Unfruchtbare und Unursprüngliche, wenn es sich mit einem gewissen, auf Leistung gerichteten Ehrgeiz paart, immer auch in lebhafte Verbindung mit der Überlieferung geraten wird, während es nicht oder nur in geringem Ausmaß auf die gründenden Elemente – sei es der Ideenbildung, sei es der Erfahrungs-, Gefühls- oder praktischen Entschlußbildung – zurückgeht, und der Literat in üblem Sinne ist nichts als ein Einzelfall dieser weit größere Gebiete umfassenden Erscheinung.

Literat und Literatur

Ein solcher Versuch, die Erscheinung des Literaten in einen Kreis verwandter Erscheinungen einzubeziehen, läßt natürlich die Frage offen, was denn in diesem Kreis schließlich seine Eigenart ausmache und welche besonderen Eigenschaften den Literaten der schönen Literatur von dem einer sozusagen beliebigen unterscheiden. Betrachtet man ihn nun, um das nachzuholen, als gesellschaftliches Sonderbild, so findet man den Schönliteraten, je nach der Seite, von der man es tut, entweder als einen sogenannten Intellektuellen oder als einen sogenannten Gefühlsmenschen von seinen Nachbartypen abgerückt. Das heißt, er pflegt in einem echten Intellektuellen, also etwa einem durchschnittlichen Gelehrten, den Eindruck eines Zuwenig an Intelligenz hervorzurufen, allerdings gewöhnlich mit dem Anschein einer gefühlhaften Überleistung, wogegen er auf einen richtigen Gefühlsmenschen – dem das Reden schwer fällt, der sich zu nichts leicht entschließen kann und darum an seinen Worten, Beschlüssen und Gefühlen treu festhält – den Eindruck eines »Intellektuellen« macht, dessen Gefühl schwach, unbeständig und nicht wirklich ist. Hält man beides zusammen und ergänzt es aus der Erfahrung, so ergibt das einen Menschen, dessen Intellekt mit seinen Gefühlen spielt oder dessen Gefühle mit seinem Intellekt spielen, was man nicht unterscheiden kann, dessen Überzeugungen unbeständig sind, dessen logische Schlüsse wenig Verläßlichkeit haben und dessen Kenntnisse ungenau begrenzt sind, der diese Mängel aber auf eine eindrucksvolle Weise durch eine lockere, rasche, weitreichende, manchmal auch scharf eindringende Geistigkeit ergänzt und durch eine der schauspielerischen ähnliche Fähigkeit und Bereitschaft, sich in die Mimik fremder Lebens- und Gedankenbereiche einzufühlen.

Man darf wohl ohne Herabwürdigung des Schriftstellerberufs einräumen, daß kaum ein einziger der ihm Ergebenen ganz frei davon ist, dieses Doppelprofil zu zeigen. Wir können aber auch (denn Akt und Akteur prägen sich gegenseitig aus) von der Betrachtung der Literatur ausgehen und finden dann, was freilich ungleich wichtiger ist, ein Gebiet mit Eigentümlichkeiten, die solchen des Literaten in einer bedeutsamen Weise entsprechen. Die schöne Literatur hat als Ganzes wie in allen ihren Teilen etwas Unendliches und Unabgeschlossenes, sie dehnt sich ohne Anfang und Ende dahin und jedes ihrer Gebilde ist singulär und durch kein anderes ersetzlich, wenn sich die Gebilde auch ein wenig miteinander vergleichen lassen. Die schöne Literatur hat keine Ordnung außer einer historischen und vereinzelten Bruchstücken einer kritisch-ästhetischen. Sie hat keine Logik, sondern besteht nur aus Beispielen für ein geheimes Gesetz oder Chaos. Man könnte sagen, daß ihre geistige Natur aus Erinnerungen ohne begrifflich faßbaren Zusammenhang besteht, und für ein solches Gebiet ist das Zitieren (die Berufung auf das runde Wort der Meister, statt der herausgelösten Bedeutung) konstitutiv und drückt nicht bloß ein rhetorisches Schmuckbedürfnis aus. Historisch hat der Typus des Humanisten denn auch mit klassischen und Bibelzitaten begonnen, und wenngleich dieses Zitieren äußerlich jetzt wohl etwas aus der Mode gekommen ist, so hat es sich doch bloß ins Innere zurückgezogen, und die ganze schöne Literatur gleicht einem Zitatenteich, worin sich die Strömungen nicht nur sichtbar fortsetzen, sondern auch in die Tiefe sinken und aus ihr wieder aufsteigen.

Es müssen dabei ganz merkwürdige Verhältnisse entstehen. So könnte man wahrscheinlich welchen Schriftsteller immer »zerlegen« (und zwar sowohl formal wie gegenständlich oder auch dem angestrebten Sinn nach) und würde nichts in ihm finden als seine zerstückelten Vorgänger, die keineswegs völlig »abgebaut« und »neu assimiliert« sind, sondern in unregelmäßigen Brocken erhalten geblieben. Es ist für solche Ausdrücke vielleicht um Verzeihung zu bitten, aber es gibt keine angemessene Erklärung und Beschreibung dieses Vorgangs der literarischen Tradition, von dem sich bestimmt sagen läßt, daß auch der unabhängigste Schriftsteller nichts hervorbringe, was sich nicht fast restlos als abhängig von Überlieferungen der Form und des Inhalts nachweisen ließe, die er in sich aufgenommen hat, was aber andererseits, wie es scheint, seiner Ursprünglichkeit und persönlichen Bedeutung gar keinen Abbruch tut. Am deutlichsten tritt diese Erscheinung ja am lyrischen Gedicht zutage, das jedesmal einen der unvergleichlichen Glücksfälle der Literatur darstellt, wenn es schön ist, unerachtet dessen es so sehr wie kaum ein zweites Gebilde »unoriginell« sein kann, wenn man seine »Form« und seinen »Inhalt« mit den überlieferten Formen und Inhalten vergleicht, in die es, scheinbar grenzenlos, doch scharf begrenzt, eingebettet ist wie ein durchsichtiger Kristall in seine durchsichtige Mutterflüssigkeit.

Es wird also an der schönen Literatur der sonderbare Zustand sichtbar, daß das Allgemeine, Kontinuierliche und der persönliche Beitrag des einzelnen sich nicht voneinander trennen lassen, wobei weder das Kontinuum ein anderes Wachstum als das des Umfangs gewinnt, noch das Persönliche eine feste Stellung, und das Ganze aus Variationen besteht, die sich ziellos aneinanderlegen.

Das Bedürfnis nach Entschädigung: Originalität, Erlebnis, Reportage und Erhabenheit

Damit ist wieder (es ist schon einmal durch die Behauptung geschehn, der Literat greife nicht auf die gründenden Elemente zurück) die Frage der Originalität berührt worden, deren Name mit seinen Äquivalenten viele Mißverständnisse in der Literatur angerichtet hat. Es ist einstmals von der deutschen Dichtung behauptet worden, sie bestehe aus lauter Originalgenies, aber man braucht auch in der gegenwärtigen Literatur nicht lang zu suchen, um Persönlichkeiten und Zustände zu finden, die einen rentablen Gebrauch von dem Nimbus machen und gestatten, der in den Augen der anfangs widerstrebenden Öffentlichkeit schließlich doch immer das angeblich Nochniedagewesene umgibt. Was dagegen vorzubringen ist, läßt sich sehr kurz sagen: denn man kann ersichtlich nur dort von Originalität sprechen, wo es eine Überlieferung gibt. Für die Ursprünglichkeit und Bedeutung einer naturwissenschaftlichen oder mathematischen Leistung gibt es ein sachliches Maß, das den Abstand von den Leistungen beurteilen läßt, auf denen sie sich aufbaut, und je rationaler oder rationalisierbarer ein anderes Gebiet ist, desto ähnlicher wird es sich auch dort verhalten; je mehr solche Beziehungen aber fehlen, desto willkürlicher und unbegrenzbarer muß der Begriff des Originellen werden. Er ist ein Verhältnisbegriff. Eine Literatur, die nur aus Originalen bestünde, wäre keine Literatur, aber auch die Originale wären nicht originell, da sie sich doch immerhin zu etwas Literaturähnlichem versammeln ließen, und noch dazu in einer dumpfen und unbestimmten Weise.

So ist es die systematische Schwäche einer Literatur, die Schwäche des betroffenen Literatursystems, die sich in dem besonders üppigen Gedeihen der Originalität ausdrückt, und dazu gehört natürlich auch jene überindividuelle und kollektive Originalität, die zuletzt häufiger gewesen ist als jede andere und als »Generation« oder »‑ismus« die Begriffe verwirrt hat.

Es ist begreiflich, daß ein solcher Zustand der Schwäche auch sonst noch allerhand Verwirrung der Unternehmungen und Vorstellungen hervorrufen muß, die ihn entweder ausnutzen oder ihm abhelfen wollen. So braucht man zum Beispiel nur, statt nach Originalität als einer Eigenschaft der Leistung, nach Individualität als der ihr entsprechenden Eigenschaft des Urhebers zu fragen, und sieht sich sogleich an jene äußerste Einschränkung, wenn nicht Leugnung des Individuellen erinnert, die heute zum Kunstprogramm aller politischen Parteien gehört und mit der Unterordnung der Literatur unter eine fertige »Weltanschauung« verbunden ist. In diesem Zugriff sind die untereinander feindlichen politischen Lager einig, und wenn sich in ihm ursprünglich auch nur der natürliche politische Herrschaftanspruch ausdrückt, ebenso wie manches wahrscheinlich als eine berechtigte Gegenbewegung auf die verdorbenen Bildungsbegriffe des Liberalismus verstanden werden kann, so offenbart sich in der mühelosen Ausdehnung dieser »Politisierung« doch nichts so sehr wie die Schwäche und Anfälligkeit des Literaturbegriffes selbst, der beinahe widerstandslos zum Objekt des politischen Willens wird, weil er in sich selbst keine Objektivität hat.

Ästhetisch mündet das in die Frage, in welchem Verhältnis der individuelle und der kollektive Teil einer künstlerischen Leistung zueinander stehen, und man wird kaum behaupten können, daß sie hinreichend behandelt worden sei. Wohl aber sind von der Schönen Literatur eine Reihe von Positionen bezogen worden, die damit zusammenhängen, und das ist in den letzten Jahrzehnten einer richtigen Erkenntnis nicht wenig im Weg gestanden. Hauptsächlich wären daraus jene Bestrebungen hervorzuheben, die man als antiintellektuelle zusammenfassen kann, weil sie alle mehr oder weniger darauf hinauslaufen, daß sie dem Dichter in ihrem Verlangen, seine Tätigkeit zu rechtfertigen, eine ungemeine und geradezu okkulte Fähigkeit zuschreiben. Weil der Verstand eine gewöhnliche Fähigkeit des heutigen Menschen sei, urteilen sie, daß es der »Intellektuelle« nur bis zum »Literaten« bringe, und es müsse der Dichter, oder wie immer das Gegenbild dann heißt, ein Mann sein, der seine Geschäfte mit etwas besorge, das weder Intelligenz sei, noch brauche: so ungefähr sieht das Schema in allen diesen Fällen aus. Nicht jedesmal geht man dabei so weit wie jener gewesene Präsident der Dichterakademie, der sich in selbstapologetischer Absicht als eine Art Seher dargestellt hat, dem Dämonen beim Schaffen beistehn, gewöhnlich begnügt man sich mit dem Taschenspielerwort »Intuition«, und historisch am wichtigsten sind gerade jene Unterstellungen geworden, die scheinbar auf dem festen Boden des Daseins bleiben und den Dichter bloß als eine besonders füllige Art Mensch erklären, die für die »Tatsachen des Lebens« in ungewöhnlicher Weise aufnahmefähig sei, was man mit einem Wort eine Natur nennt, eine starke oder ursprüngliche, die irgendwie kraft ihrer selbst die große Natur der Menschheit erkenne und dem Leben gleichsam aus dem Euter trinke. Was dieser Vorstellung, die auch heute noch allerhand Irrtümer anregt, wirklich zugrunde liegt, ist wohl nur die Tatsache, daß es in der Literatur zwei Arten des Berichts gibt, den anschaulichen und den gedanklichen, die sich immer mischen müssen, oft aber begabungsweise auseinandertreten. Es fällt nicht schwer, in der Weltliteratur persönliche Beispiele für starke, aber verhältnismäßig naive Schilderer zu finden, anderseits solche für »Verarbeiter«, zu denen auch jene asketischen Formkünstler gehören, die sich des Persönlich-Gedanklichen scheinbar ganz zugunsten der Darstellung entäußern, und es gibt demnach auch zwei Arten der Unmittelbarkeit, eine im Verhältnis zum Erlebnis und eine in seiner geistigen Verarbeitung, mag dieser Unterschied auch mit anderen vermengt sein, die hier nicht erörtert werden können. Dieses Bild ist ganz und gar dem ähnlich, das die Naturwissenschaft bietet, wo es experimentelle und theoretische Begabungen gibt, die beide gleich notwendig sind, aber sich schon dem Wesen der Sache nach so gut wie nie zu gleichen Teilen in ein und derselben Person mischen. Das ist der Tatbestand, und es ist eine verhängnisvolle Übertreibung gewesen, als man vor ungefähr einem Menschenalter in der heute noch wichtigen Zeit, die sich als Protest gegen eine zum tausendsten Echo gewordene Ideenkunst »Naturalismus« und »Impressionismus« nannte, den Wert der »Tatsachen« und des sogenannten »menschlichen Dokuments« (der petits faits, gegen die sich Nietzsche empört hat) einseitig wichtig nahm, denn damit ist jene Vorstellung in unsere Literatur gekommen, daß der Dichter vor allem ein Vollmensch zu sein habe, aus dem die Kunst warm hervorschäume, ohne daß man sich den Kopf darüber zerbrach, wie es Gott eigentlich anstellen solle, einen solchen kuhwarm produzierenden Dichter zu schaffen, ohne gegen die Gesetze zu verstoßen, an die er sonst den menschlichen Geist gebunden hat. Dieser kleine Fehler hatte nicht weniger zur Folge, als daß seit jener Zeit bei uns der Begriff der Literatur vollends verlorengegangen ist, da er doch weit mehr als der des Dichters selbst die verbindenden, vor allem also die hochrationalen Elemente des Geistes voraussetzt.

Die falsch verstandene Ursprünglichkeit, der Protest des Literaten gegen die Literatur, die im Wesen des Impressionismus miteingeschlossen waren, haben diesen überlebt. Will man ein hübsches Beispiel dafür aus letzter Zeit gewinnen, so genügt dem schon – gleichgültig, ob sie nur eine Episode bedeute – jene Reaktionserscheinung, die von ihren Urhebern Reportierende Kunst getauft worden ist, was soviel bedeutet wie Verzicht auf alles, was mehr als Reportage zu sein vorgibt. Durchaus nicht intelligenzfeindlich, wie es der Impressionismus wenigstens in seiner Wirkung war, im Gegenteil, zeitungsgemäß intellektuell, durchaus nicht subjektiv und die Persönlichkeit verzärtelnd, im Gegenteil, ganz mit der Gebärde der Sachlichkeit, vernachlässigt diese objektive Daseinsreportage trotzdem das gleiche, was schon die subjektive Erlebnisreportage des Impressionismus außer acht gelassen hat, daß es keinen Tatsachenbericht gibt, der nicht ein geistiges System voraussetzt, mit dessen Hilfe der Bericht aus den Tatsachen »geschöpft« wird. Dieses geistige System war damals ersetzt durch einen vagen Begriff der Persönlichkeit, diesmal kann es das der Zeitung sein, es kann auch aus einer politischen Absicht bestehn, es kann sich mit einigen einfachen ethischen Grundsätzen begnügen, wie es einst die Gruppe der »Naturalisten« tat, jedenfalls ist es heute so wenig wie einst das geistige System der Literatur, und so wechselt der Unglaube an dieses mit den Jahren bloß seinen Ausdruck.

Die Wahrheit ist, daß wir uns dauernd in einem gewissen Zweifel über die auf uns gekommenen Gebinde der Kunst befinden, und darin liegt eine Neigung, das Leben ausfließen zu lassen, wie es will und ist, die sich durch die Gebärde der Berichterstattung aufs bequemste das Ansehen der Grundsätzlichkeit gibt. Doch gibt es auch weniger bequeme, tiefer in die Problematik der Literatur eingebettete Erscheinungen des gleichen Zustands, so die Auflockerung der logisch geschlossenen Erzählungsform bis zum logisch, ja psychisch beinahe Asyntaktischen, die durch Joyce und wohl auch Proust zur Bedeutung gekommen ist, und ihre Behandlung würde hier anzureihen sein, wenn nicht eine andere Ergänzung nötiger und umfassender wäre. Denn es ist bekannt, daß die Neigungen zur Entwertung einer Sache und zu ihrer übermäßigen Bewertung in unschlüssigen Zuständen nahe beieinanderliegen, und so kann es nicht wundern, daß die Ergebnislosigkeit, von der die Dichtung – nicht als persönliche Tätigkeit, wohl aber als Ganzes – bedrückt wird, stets auch zu dem Gegenteil der besprochenen Bestrebungen geführt hat, nämlich zu einer sich von den Tagesvorgängen abwendenden Überhöhung der literarischen Tradition und der Literatur als eines Gefildes, auf dem der Mensch nach anderen Gesetzen wandelt als den gemeinen. In der Tat hat diese weihevolle Welterhöhtheit und Weltabgewandtheit in der ganzen beschriebenen Zeit das Exil reiner und entschlossener Geister gebildet, und wenn man sich ihre Namen vergegenwärtigt, mit denen große Strenge und Schönheit verknüpft ist, wird man inne, daß an dieser Grenze die bis nun unternommene Operation nur mit größter Vorsicht fortgesetzt werden kann. Hier ist die eigentümliche, in einem etwas hochmütigen Halblicht liegende und halb von Wahrheit, halb von Vergeblichkeit erfüllte innerste Hoheitszone des Humanismus berührt, und die letzte Frage, zu welcher der lockere Kreis unserer Problemabwandlung geführt hat, lautet eigentlich: Literatur als Reaktion darauf, daß es keine Literatur gibt. Auch diese Frage ist eine Variation der Durchdringung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, aber es wird gut sein, an diesem Punkt die Betrachtungsweise zu wechseln.

Der Geist des Gedichts

Man sollte niemals vergessen, daß der innerste Brunnen einer Literatur ihre Lyrik ist, auch wenn man es für falsch hält, daraus eine künstlerische Rangfrage zu machen. Denn die Gewohnheit, den Lyriker als den Dichter im eigentlichen Wortsinn anzusehen, ist tief, wenn sie auch etwas archaisch ist: nirgendwo zeigt sich so deutlich wie im Vers, daß der Dichter ein Wesen ist, dessen Leben sich unter Bedingungen vollzieht, die anders sind als die üblichen.

Dabei wissen wir jedoch nicht, was ein Gedicht überhaupt ist. Nicht einmal von der Außenzone der Wirkungen, die von den Begriffen Reim, Rhythmus und Strophe beherrscht wird, haben wir Kenntnisse, die unser Verhältnis zum Leben erleichtern würden, geschweige daß wir viel von dessen innerem Wesen wüßten. Eine bestimmte, von der gewöhnlichen abweichende Art der Vorstellungsverbindung: daß dies das Gedicht sei, es klingt nüchtern, aber es ist von allem, was uns augenblicklich weiterbringen könnte, vielleicht noch das Sicherste. Aus einer Vorstellung, die nicht schöner ist als Dutzende anderer, daß Kinder singend über eine Brücke gehn, unter der beleuchtete Boote und die Reflexe der Ufer schwimmen (ja noch in unermeßlichem Abstand von dem halbfertigen: Auf der Brücke singen Kinder, auf dem Strome schwimmen Lichtlein), formt Goethe durch einen umstellenden Griff zwei der zauberhaftesten Zeilen: »Lichtlein schwimmen auf dem Strome / Kinder singen auf der Brücken.« Betrachtet man darin den Rhythmus, der sich ja auch mit den Fingern auf eine Tischplatte klopfen läßt, so hat er nicht viel mehr Bedeutung als eine untermalende Begleitung; das Lautbild, das auch fühlbar an dem veränderten Eindruck beteiligt ist, läßt sich trotzdem von diesem nicht loslösen und hat so wenig eine selbständige Qualität, wie eine Seite einer Figur eine hat: und so könnte man einen solchen Vers auch noch auf andere Veränderungen untersuchen, fände aber lauter Einzelheiten, die für sich so gut wie nichts bedeuten, und kann nur erklären, daß aus ihnen allen gemeinsam und durch ihre gegenseitige Durchdringung das Ganze auf eine Weise entsteht, die geheimnisvoll bleibt. Nun gibt es freilich viele, die es lieben, in der Dichtung ein Geheimnis zu sehn, aber man kann auch die Klarheit lieben, und vielleicht ist man in diesem Fall doch nicht ganz hoffnungslos von ihr ausgeschlossen. Denn wenn man die als Beispiel gebrauchten zwei Zeilen in ihrem Vorzustand und danach in ihrem fertigen durchliest, so erlebt man neben allem anderen doch auch, daß die förmlich greifbare Zusammenziehung, welche die Sätze im Augenblick der richtigen Wortstellung erfahren, daß die Einheit und Form, die sich da wie mit einem Schlag an der Stelle des diffusen Vorzustands hervorwölbt, nicht so sehr ein sinnliches Erlebnis sind wie eine der Logik entzogene Veränderung des Sinns. Und wozu stünden denn auch die Worte da, wenn nicht um einen Sinn auszudrücken? Auch die Sprache des Gedichts ist ja schließlich eine Sprache, also vor allem eine Mitteilung, und könnte man nun darin, einfach in diesem veränderten, nur mit den Mitteln des Gedichts so zu verändernden Sinngehalt, das Wesentliche des Vorgangs erblicken, so würden wohl alle Einzelheiten, die man am Gedicht als beteiligt erkennt, ohne sie verbinden zu können, eine Achse gewinnen, durch deren Vorhandensein ihr Zusammenhang begreiflich wird.

Es scheint, daß manches dafür spricht. Das Wort ist nicht gar so sehr Träger eines Begriffs, wie man, bestochen davon, daß sich der Begriffsinhalt unter Umständen definieren läßt, gewöhnlich annimmt, sondern es ist, wenn es nicht definitorisch zu einem Fachwort eingeengt wird, bloß das Siegel auf einem lockeren Pack von Vorstellungen. Selbst in einer so einfachen und nüchternen Wortverbindung wie »die Wärme war groß« sind die Vorstellungsinhalte »Wärme« und »groß«, ja sogar der von »war« ganz verschiedenere nachdem sich der Satz auf eine Bessemerbirne oder einen Zimmerofen bezieht, und andererseits liegt etwas Gemeinsames noch in der großen Wärme eines Zimmerofens und eines Herzens. Es erhält nicht nur der Satz seine Bedeutung aus den Worten, sondern auch die Worte gewinnen die ihre aus dem Satz, und ebenso verhält es sich mit Seite und Satz, Ganzem und Seite; bis zu einem gewissen Grad sogar in der wissenschaftlichen Sprache, auf das weiteste aber in der nichtwissenschaftlichen, bilden das Umfassende und das Umfaßte aneinander gegenseitig ihre Bedeutung heraus, und das Gefüge einer Seite guter Prosa ist, logisch analysiert, nichts Starres, sondern das Schwingen einer Brücke, das sich ändert, je weiter der Schritt gelangt. Dabei ist es, wie bekannt, die Eigentümlichkeit und Aufgabe des wissenschaftlichen oder logischen oder diskursiven oder, wie man hier im Gegensatz zur Dichtung auch sagen könnte, wirklichkeitstreuen Denkens, daß es den Vorstellungsablauf nach Möglichkeit einschient, eindeutig und unausweichlich macht; durch logische Regeln wird das nur überwacht und ist schon psychologisch eine ziemlich eindeutige Gewohnheit. Man kann aber auch auf sie verzichten und den Worten ihre Freiheit wiedergeben, und auch dann werden diese sich nicht einfach nach Laune verbinden; denn die Worte sind dann zwar vieldeutig, aber diese Bedeutungen sind untereinander verwandt, und wenn man eine erfaßt, guckt die andere darunter hervor, aber sie zerfallen nie ins völlig Zusammenhanglose. An die Stelle der begrifflichen Identität im gewöhnlichen Gebrauch tritt im dichterischen gewissermaßen die Ähnlichkeit des Worts mit sich selbst, und anstatt der Gesetze, die den logischen Gedankenablauf regeln, herrscht hier ein Gesetz des Reizes; das Wort der Dichtung gleicht dem Menschen, der dorthin geht, wohin es ihn zieht: er wird seine Zeit in einem Abenteuer verbringen, aber er wird sie nicht ohne Sinn verbringen, und er wird gewaltige Anstrengungen zu bewältigen haben, denn die Beherrschung des Halbfesten ist mitnichten leichter als die des Festen.

Man hat behauptet, daß beim Vorstellungsablauf des Gedichts an die Stelle der determinierenden Obervorstellungen des logischen Denkens ein Affekt träte, und es scheint auch wahr zu sein, daß eine einheitliche affektive Grundstimmung am Entstehen eines Gedichts immer beteiligt ist; aber dagegen, daß sie das vor allem Entscheidende bei der Wahl der Worte sei, spricht die starke Arbeit des Verstandes, die sich nach dem Zeugnis der Dichter fühlbar macht. Ebenso hat man den Unterschied des Worts im logischen von dem im künstlerischen Gebrauch (wenn ich mich recht erinnere, war es Ernst Kretschmer in seiner 1922 erschienenen Medizinischen Psychologie) damit erklärt, daß es entweder ins volle Licht des Bewußtseins trete oder gleichsam am Rande, in einem halb verstandischen, halb gefühlhaften Bezirk zu Hause sei, den er die »Sphäre« nennt. Aber auch diese Annahme – die übrigens so wie das gar zu räumlich benannte »Unterbewußtsein« der Psychoanalyse nur ein Gleichnis darstellt, denn das Bewußtsein ist ein Zustand, aber kein Bezirk, und sogar beinahe ein Ausnahmezustand des Seelischen – wird man durch die Einsicht ergänzen müssen, daß sich nicht nur der zuständliche, sondern auch der gegenständliche Zusammenhang unserer Vorstellungen zwischen allen Graden des »Sphärischen« und des eindeutig Begrifflichen befindet. Es gibt Worte, deren Sinn ganz im Erlebnis ruht, dem wir ihre Bekanntschaft verdanken, und dazu gehört ein großer Teil der moralischen und ästhetischen Vorstellungen, deren Inhalt derart von Mensch zu Mensch und Abschnitt zu Abschnitt des Lebens wechselt, daß er kaum begrifflich gefaßt werden kann, ohne dabei das Beste seines Gehalts einzubüßen. In einem vor langem erschienenen Aufsatz [s. S. 781/85: Zum Selbstbildnis / Skizze der Erkenntnis des Dichters; vgl. auch S. 658] habe ich das einstmals das nicht-ratioïde Denken genannt, sowohl in der Absicht, es vom wissenschaftlichen als dem ratioïden zu unterscheiden, dessen Inhalten die Fähigkeit der Ratio angemessen ist, wie in dem Wunsch, damit dem Gebiet des Essays und weiterhin dem der Kunst gedankliche Selbständigkeit zu geben. Denn die wissenschaftliche Beurteilung neigt begreiflicherweise gern dazu, das Affektiv-Spielende im künstlerischen Schaffen auf Kosten des intellektuellen Anteils zu überschätzen, so daß der Geist des Meinens, Glaubens, Ahnens, Fühlens, der der Geist der Literatur ist, leicht als eine Unterstufe der wissenden Sicherheit erscheint, während in Wahrheit diesen beiden Arten von Geist zwei autonome Gegenstandsgebiete des Erlebens und Erkennens zugrunde liegen, deren Logik nicht ganz die gleiche ist. Diese Unterscheidung in eindeutig und nicht eindeutig bezeichenbare Gegenstände steht nicht in Widerspruch dazu, daß das Gebiet des Mitteilbaren und der menschlichen Mitteilung vermutlich in stetigen Übergängen von der mathematischen Sprache bis zum beinahe völlig unverständlichen Affektausdruck des Geisteskranken reicht, sondern wird dadurch nur ergänzt.

Schließt man das Pathologische aus und beschränkt sich auf das, was einigermaßen noch für einen Menschenkreis Mitteilungswert besitzt, so könnte man in dieser stetigen Abstufung an die der reinen Begrifflichkeit entgegengesetzte Grenze etwa das sogenannte »sinnlose Gedicht« stellen; und dieses sinnlose oder gegenstandslose Gedicht, wie es von Zeit zu Zeit von Dichtergruppen gefordert wird, und immer mit rissigen Begründungen, ist in diesem Zusammenhang dadurch besonders bemerkenswert, daß es ja wirklich schön sein kann. So werden die Verse Hofmannsthals: »Den Erben laß verschwenden / an Adler Lamm und Pfau / das Salböl aus den Händen / der toten alten Frau« sicher für viele die Eigenschaften eines sinnlosen Gedichtes haben, weil es ohne Hilfsmittel durchaus nicht zu erraten ist, was der Dichter eigentlich sagen wollte, dessenungeachtet man sich der geistigen Mitbewegtheit nicht entziehen kann, und man darf wohl behaupten, daß es vielen Menschen mit vielen Gedichten wenigstens teilweise so geht. Diese Verse sind in dieser Lage nicht schön, weil sich Hofmannsthal sicher etwas dabei gedacht hat, sondern sie sind es, obwohl man sich nichts denken kann, und wüßte man, was man dabei zu denken habe, so würden sie vielleicht noch schöner werden, vielleicht aber auch weniger schön, denn das, was man dazudenkt und ‑weiß, gehört bereits dem rationalen Denken an und erhält seine Bedeutung aus diesem. Man könnte sich freilich versucht fühlen, das als kein Beispiel der Kunst, sondern nur als eines der Unkunst des Lesers anzusprechen; aber dann mache man den ergänzenden Versuch, über die Gedichte eines ausdrucksvollen Lyrikers, etwa Goethes, einen Chiffrenschlüssel zu legen oder auf irgendeine andere mechanische Weise bloß jedes x-te Wort oder jede x-te Zeile herauszuheben, und man wird staunen, welche starken Halbgebilde dabei in acht von zehn Fällen zutage kommen. Es spricht das sehr für die hier vorgetragene Auffassung, daß das zentrale Geschehnis im Gedicht das der Sinngestaltung ist und daß diese nach Gesetzen erfolgt, die von denen des realen Denkens abweichen, ohne die Berührung mit ihnen zu verlieren.

Auf diese Weise würde sich auch die Frage des Einspruchs aufklären, den das Gefühl des Dichters gegen das profane Denken erhebt. Dieses ist dann in der Tat sein Feind, eine Form der geistigen Bewegung, die sich mit der seinen so wenig verträgt, wie sich zweierlei Rhythmen bei der Bewegung des Körpers vertragen. Man sieht das vielleicht am deutlichsten an dem Extrem, das dem sinnlosen Gedicht in der Lyrik entgegengesetzt ist, an dem sonderbaren Gebilde des Lehrgedichts, das alle ästhetischen Merkmale eines Gedichts hat, aber keinen Tropfen Gefühl enthält und also auch keine einzige Vorstellung, die nicht den Gesetzen der rationalen Vorstellungsbewegung unterstünde. Man empfindet, wenigstens heute tut man es, daß so etwas kein Gedicht sei, aber man hat nicht immer so empfunden, und zwischen diesen beiden Gegensätzen des Allzu-Sinnvollen und des Allzu-Sinnlosen liegt die Dichtung in allen Graden der Vermengung ausgebreitet und läßt sich als ihre freundlich-feindliche Durchdringung auffassen, wobei sich in ihr das »profane« Denken so mit einem »irrationalen« vermengt, daß keines von beiden ihr eigentümlich ist, sondern gerade die Vereinigung. Hier dürfte auch die ergiebigste Erklärung von allem zu suchen sein, was bisher als Anti-Intellektualismus erwähnt worden ist, einschließlich seiner Erhabenheit und romantisch-klassizistischen Lebensabgewandtheit.

Über diese wäre freilich noch ein besonderes Wort zu sagen. Denn man hört nicht ganz selten, und immer von jemand, der auch wirklich etwas zu sagen hat, die Meinung aussprechen, daß große Dichtung eine Doktrin, ein ideologisches Convenu, fest gewordene Überzeugungen der Allgemeinheit zur Voraussetzung habe, wenn sie zu ihrer vollen Kraft kommen solle (oft sogar mit dem Nebensinn, daß es darum heute keine große Dichtung gebe), und das hat viel für sich. Es leuchtet ein, daß Energie frei werden und sich in den Ausdruck einformen könne, wenn der Aufwand für das, was man ausdrücken wolle, durch eine »Anlehnung« entlastet sei, und das psychologische Gesetz, daß ambivalente Gefühlsinteressen einander zu stören pflegen, käme wohl auch noch dazu. So dürfte billigerweise jeder schreibende Mensch schon an sich selbst die Erfahrung gemacht haben, daß sich erst, wo der Inhalt völlig beherrscht wird, die Form zur vollen Freiheit der Erfindung erhebt, und die Behauptung, daß das auch im großen für die Entwicklung der Literatur gelte, kann jedenfalls in dem Sinne zugegeben werden, daß eine besonders verführerische und reine Art von Schönheit des Gedichts in solchen Zeitabschnitten entsteht, die sich ideologisch auf einer ruhigen Höhe fühlen. Franz Blei, dem wir schon viele aufschlußreiche kritische Bemerkungen zu verdanken hatten, spricht, diese Ansicht in seiner schönen Geschichte [genauer Titel: Erzählung] eines Lebens vertretend, sogar von einer »Selbstbeschädigung der Dichtung durch Miterzeugung von Philosophie«. Wäre das nun ohne weiteres richtig, so stünde es freilich schlecht um jede Auffassung, die etwas geistig Steigerungsfähiges als die Seele des Gedichts ansieht; aber ersichtlich ist solcher »radikale Klassizismus« nur dem Bedürfnis entsprungen, in einer Auseinandersetzung, die schon thematisch so unsicher ist, wenigstens den eigenen Standpunkt durch das Extrem, zu dem man hinneigt, scharf zu bezeichnen. Denn auch, wenn in der Dichtung die Vollendung der Gestaltung das Wichtigste wäre und bei scheinbar ganz entbundener Gestaltung und in stehender Zeit, schlösse das Gestalten der gegebenen Inhalte noch deren Veränderung ein. So gibt es kein wirkliches katholisches Kunstwerk, das nicht mindestens einige Jahrhunderte Höllenfegung seines Urhebers wegen Häresie verdiente, und spätere Ideologien als die katholischen lassen die Abweichungen bloß nicht so deutlich hervortreten, weil sie selbst ungenau sind. Man hat es also auch bei der Beziehung, die zwischen klassischer Schönheit und geistiger Gärung besteht, mit einem Verhältnis zu tun, und dieses ist wohl kein anderes als jenes, das vorhin durch den Bruch von Sinnvoll durch Sinnlos bezeichnet worden ist. So sagt Blei, so klar, daß ich es wörtlich anführen möchte, von Swinburne »und nicht nur von ihm« sprechend: »Man kann an den zuweilen mürrischen, zuweilen unwahrhaften Anschauungen ermessen, wie in jedem denkbaren Maß bedeutend die Diktion des Dichters ist, daß man über dem Ausdruck völlig das Ausgedrückte vergißt, kaum aufnimmt, vielleicht vergaß er es selber. Dabei ist der Stil Swinburnes nicht etwa bloß musikalisch oder sensuell. Diesem Improvisator kunstvoll gebauter Strophen ist bei aller Spontaneität größte Bestimmtheit des Ausdrucks und Sicherheit des Bildes eigentümlich. Daß es so und nie anders hier stehen müsse, dieser Eindruck ist so zwingend, daß man sich Arbeit an der Strophe nicht vorstellen kann: sie sprang plötzlich hoch.« Damit ist aber in knapper Vollständigkeit das Phänomen beschrieben, daß auch im klassischen Gedicht Sinn aus Sinnlosem werden kann, so daß nicht etwa nur sensuelles Erlebnis, sondern Bedeutung, die »größte Bestimmtheit« hat, aus »unwahrhaften Anschauungen« entsteht. Nichts berechtigt zu der Annahme, daß die Begabung des Denkens oder die eng mit der Kunst verwachsene des Sinnens, der Kontemplation, zur sprachbildnerischen in Widerspruch stehe; wohl aber sind es Begabungen verschiedenen Ursprungs und werden ihr Maximum in verschiedenen Menschen oder Zeiten erreichen, und daß sich gerade Dichter von besonderem Sprachvermögen oft mit einem dekorativ-eklektischen Weltbild begnügen, mag auf diese Weise mit ihrem Sprachbedürfnis zusammenhängen. Das Gedicht, das so entsteht, ist aber in den meisten Fällen eigentlich nichts als ein sinnloses vor einem gleichsam zusammengespiegelten Hintergrund von Sinn: ohne daß daraus eine Respektlosigkeit abgeleitet werden soll, denn der Seltenheitswert großer Begabungen macht jede andere Wertunterscheidung praktisch gegenstandslos. Theoretisch-kritisch sollte man es sich jedoch deutlich machen, denn der Wille der einzelnen bildet sich im Verhältnis zur Gesamtheit, und wenn der Sinn des Gedichts aus einer Durchdringung rationaler und irrationaler Elemente in der geschilderten Weise erwächst, ist es wichtig, die Forderung nach beiden Seiten gleich hoch zu halten.

Die Bedeutung der Form

Es würde nur irreführen, wenn diese Teilbetrachtungen Geschlossenheit und Vollständigkeit vortäuschen wollten; soweit er vorhanden ist, mag ihr Zusammenhang, locker wie er ist, für sich selbst sprechen, doch muß er auch zu diesem Zweck durch einige Worte über die benutzten Begriffe der Form und Gestaltung ergänzt werden. Alte Hilfsbegriffe der Kunstbetrachtung, sind diese früher, zumal im populär-kritischen Gebrauch, meistens in der Annahme verwendet worden, daß eine schöne Form etwas sei, was zu einem schönen Inhalt hinzutrete oder ihm fehle (oder er ihr; falls nicht beide unschön befunden wurden). So gab es eine nicht unbekannte Anthologie deutscher Lyrik aus den sechziger oder achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, worin das sehr gescheit in der Vorrede abgehandelt wurde, und auf diese guten Grundsätze folgte dann eine Auslese ausnehmend schlechter Gedichte. Man ist denn auch später wieder darauf gekommen, daß Form und Inhalt eine Einheit bilden, die sich nicht gänzlich zerlegen läßt, und die heutige Auffassung ist wohl die, daß überhaupt nur geformte Inhalte den Gegenstand der Kunstbetrachtung bilden; es gibt keine Form, die nicht an einem Inhalt, keinen Inhalt, der nicht durch eine Form in Erscheinung träte, und solche Amalgame aus Form und Inhalt bilden die Elemente, aus denen sich das Kunstwerk aufbaut.

Die wissenschaftliche Unterlage dieser Durchdringung von Form und Inhalt bildet der Begriff der »Gestalt«. Er bedeutet, daß aus dem Neben- oder Nacheinander sinnlich gegebener Elemente etwas entstehen kann, das sich nicht durch sie ausdrücken und ausmessen läßt. So besteht, als eines der einfachsten Beispiele, ein Rechteck zwar aus seinen vier Seiten und eine Melodie aus ihren Tönen, aber in deren einmaligem Stand zueinander, der eben die Gestalt ausmacht und einen Ausdruck hat, der sich aus den Ausdrucksmöglichkeiten der Bestandteile nicht erklären läßt. Gestalten sind, wie man dem Beispiel weiter entnehmen kann, nicht ganz irrational, denn sie lassen ja Vergleiche und Klassifizierungen zu, aber sie enthalten doch auch etwas sehr Individuelles, ein So und nicht wieder. Mit einer älteren Bezeichnung, die weiterhin mitgebraucht werden wird, läßt sich auch sagen, sie seien ein Ganzes, aber es muß hinzugefügt werden, daß sie kein summatives Ganzes sind, sondern in dem Augenblick, wo sie entstehen, eine besondere Qualität in die Welt setzen, die anders ist als die ihrer Elemente; und wahrscheinlich darf man dann sogar hinzufügen, was für die Folge wichtig wäre, daß das Ganze einen volleren geistigen Ausdruck vermittelt als die Elemente, die es begründen, denn eine Figur hat mehr Physiognomie als eine Linie, und eine Konfiguration von fünf Tönen sagt der Seele mehr als das amorphe Hintereinander dieser fünf. Dabei ist die wissenschaftliche Frage, wohin das Phänomen der Gestalt in der Stufung der psychologischen Begriffe gehöre, umstritten, und es stehen da sehr unterschiedliche Meinungen einander gegenüber; sicher ist jedoch, daß es dieses Phänomen gibt und daß wichtige Eigentümlichkeiten des künstlerischen Ausdrucks, zum Beispiel Rhythmus und Sprachmelodie, den seinen ähnlich sind. Zieht man also daraus, wie es in der Folge geschehen wird, Schlüsse auf höhere und verwickeltere Erscheinungen in Leben und Kunst, so darf man nicht ganz vergessen, daß man damit vorläufig noch die Genauigkeit des wissenschaftlich umgrenzten Problembestands verläßt.

Von diesem Vorbehalt gedeckt, möge aber nun kühn behauptet sein, daß ein Bestreben, alles Empfangene und alles Ausgesandte seelisch in ähnlicher Weise, wie es bei der elementaren Gestaltbildung geschieht, zu Ganzheiten zusammenzufassen, überall in der richtigen Bewältigung der Lebensaufgaben eine große Rolle spielt. Es gehört das in den großen Kreis der geistig-ökonomischen Vorkehrungen, die mit vielen Mitteln auf Vereinfachung und Ersparung von Leistungen zielen und schon im physiologischen Bereich beginnen. Das Eins-zwei-drei, womit der Rekrut einer Körperleistung, welche immer es sei, die getrennten Teile des Vorgangs erlernt, verschmilzt bei erworbenem Können zu einer Art Körperformel, die sich glatt und unzerlegt wiederholen läßt, und gar nicht viel anders vollzieht sich der Vorgang eines geistigen Erlernens. Sehr deutlich macht sich diese Formelbildung ja auch im Leben der Sprache bemerkbar, wo sich dauernd der Zustand erhält, daß jemand, der Worte und Wortverbindungen bedeutungsgemäß und sinnvoll anwendet, der Mehrheit seiner Sprachgenossen unverständlich bleibt, weil diese nicht so artikuliert, sondern wohlverwahrt in Paketen spricht. Diese Formelbildung macht sich ebenso im intellektuellen wie im gefühlhaften Verhalten geltend und in der Gesamtheit eines persönlichen Gebarens nicht weniger als in Einzelheiten. Man stelle sich etwa, wenn man ein drastisches Beispiel nicht scheut, einen gewöhnlichen zahnärztlichen Eingriff in seinen Teilen und Einzelheiten vor, und man wird auf die unüberwindlichsten Schrecknisse stoßen, als da sind: Aufbrechen knochenartiger Körperteile, Eindringen von spitzen Haken und giftigen Stoffen, Stiche ins Fleisch, Öffnen innerer Kanäle und schließlich das Herausreißen eines Nervs, also geradezu schon eines Stückes der Seele! Der ganze Kniff, durch den man sich dieser geistigen Folterung entzieht, besteht aber darin, daß man sie eben nicht vorstellend zerlegt, sondern mit der Gelassenheit des geübten Patienten die glatte, runde, wohlbekannte Einheit »Wurzelbehandlung« an ihre Stelle setzt, an der höchstens ein wenig Unbehagen haftet. Genau das gleiche vollzieht sich, wenn man ein neues Bild an die Wand hängt; es wird einige Tage lang »in die Augen fallen«, dann aber schluckt es die Wand ein, und man bemerkt es nicht länger, obwohl sich wahrscheinlich der Gesamteindruck der Wand ein wenig geändert haben wird. Man könnte da wohl, um es in Worten auszudrücken, die heute in der Literatur beliebt sind, sagen, die Wand wirke synthetisch, das Bild wirke eine Weile lang aufspaltend, oder analytisch, und der Vorgang bestehe darin, daß das größere Ganze Zimmerwand das kleinere Ganze Bild fast restlos verschluckt und in sich aufgenommen habe. Durch das Wort »Gewöhnung«, mit dem man sich zu begnügen pflegt, wird so etwas nicht hinreichend bezeichnet, denn dieses Wort drückt nicht die tätige Bedeutung des Vorgangs aus, die offenbar darin besteht, daß man immer »in seinen vier Wänden« wohnt, um bei stabilem Ganzen mit ungeteilter Kraft das tun zu können, was gerade die besondere Aufgabe ausmacht, das ist sogar ein Vorgang, den man sich wahrscheinlich bis aufs größte ausgedehnt denken darf, denn die sonderbare Illusion, die man Geschlossenheit des Lebensgefühls nennt, macht wohl auch den Eindruck, eine solche geschlossene geistige Schutzfläche zu sein. Und wie schon diese Beispiele zeigen, ist die Bildung solcher Ganzheiten natürlich nicht nur eine Aufgabe der Intelligenz, wird vielmehr mit allen Mitteln betrieben, über die wir nur verfügen. Hier liegt darum auch die Bedeutung jener sogenannten »ganz persönlichen Äußerungen«, die von der Art, wie jemand einer unangenehmen Lage mit einem Achselzucken ein Ende gibt, bis zu der Art reichen, wie er einen Brief schreibt oder einen Menschen behandelt, und es ist sicher, daß diese »Formierung« des Lebensstoffes neben dem Tun, dem Denken und jener zurückbleibenden Neige, die gewöhnlich Gefühl heißt, ihre eigene große Bedeutung hat, damit der Mensch mit seinen Aufgaben fertig werde. Gelingt ihm das nicht, ist er zum Beispiel, wie das heute genannt wird, Neurotiker, so werden seine Fehlleistungen, die sich als Zaudern, Zweifeln, Skrupelzwang, Angst, Nichtvergessenkönnen und ähnliches äußern, fast immer auch als ein Versagen im Bilden der lebenserleichternden Formen und Formeln zu verstehen sein. Und wendet man sich von da zur Literatur zurück, so begreift man bis zu einem gewissen Grad das tiefe Unbehagen, dem der »analytische Geist« in ihr begegnet. Der Mensch und auch die Menschheit wahren ein ähnliches Recht wie das auf den Nachtschlaf, indem sie sich gegen die Zersetzung der Gefühls- und Denkformeln wehren, deren Veränderung ihnen nicht dringend erscheint. Aber andererseits ist das Übermaß in der Hinnahme »ganzer« Tatbestände ebenso kennzeichnend für die Dummheit, zumal die moralische, wie es das Übermaß der Aufsplitterung für die debilen Charaktere ist, und es handelt sich da offenbar um eine Mischung, deren richtiges Verhältnis im Leben nicht gerade häufiger anzutreffen sein wird, als in der Literatur die richtige Mischung zwischen Untersuchung durch den Verstand und gläubigem Erzählen, dessen Reiz in seiner Ungebrochenheit besteht.

Bei diesem Ausblick sind nun freilich die Begriffe Ganzes, Gestalt, Form, Formelung bisher so gebraucht worden, als wären sie identisch, was sie in Wahrheit nicht sind; sie stammen aus verschiedenen Forschungsgebieten und unterscheiden sich dadurch so, daß sie teilweise dieselbe Erscheinung nach verschiedenen Seiten, teilweise nah verwandte Erscheinungen bezeichnen. Aber weil der hier von ihnen gemachte Gebrauch nur darauf hinauskommen will, eine Unterlage für den Begriff des Irrationalen in der Kunst zu sichten und anzudeuten, warum dessen Verhältnis zum Rationalen nicht das eines Gegensatzes ist, genügt die vorhandene gegenständliche Einheit, ohne daß es auf Einzelheiten ankäme, ja sie wäre sogar noch weiter abzurunden. Denn im Verlauf des letzten Menschenalters ist in der Psychologie des Ich, von verschiedenerlei Einflüssen bedingt, an die Stelle des überlieferten, sehr rationalistischen und unwillkürlich dem logischen Denken nachgebildeten Seelenschemas (man hätte es, das sich heute noch zum Teil in der juridischen und theologischen Denkweise erhalten hat, eine zentralistische Obrigkeitspsychologie nennen können) allmählich ein Bild der Dezentralisation getreten, wonach jedermann weitaus die meisten seiner Entscheidungen nicht rational, nicht zweckbewußt, ja überhaupt kaum bewußt vollzieht, sondern durch Reaktionen von sozusagen geschlossenen Teilen, »Leistungskomplexen«, wie man sie auch genannt hatNicht zu verwechseln mit dem Komplexbegriff in der Psychoanalyse. Dieser Essay benutzt psychoanalytische Vorstellungen aus verschiedenen Gründen nicht und darunter auch dem, daß sie zu kritiklos von der schönen Literatur aufgenommen worden sind, während diese die »Schulpsychologie«, meist aus Unkenntnis ihrer Verwendungsmöglichkeit, mit Nichtachtung »straft«., die auf bestimmte Umstände »ansprechen«, wenn nicht überhaupt die ganze Person etwas tut, dem die Bewußtheit erst nachfolgt. Das ist nicht im Sinn einer »Enthauptung« zu verstehn, im Gegenteil, die Bedeutung des Bewußtseins, der Vernunft, der Person usw. wird dadurch gekräftigt; trotzdem verhält es sich so, daß der Mensch bei sehr vielen und gerade den persönlichsten Handlungen nicht von seinem Ich geführt wird, sondern dieses mit sich führt, das auf der Lebensreise durchaus eine Mittelstellung zwischen Kapitän und Passagier innehat. Und gerade diese eigentümliche Stellung zwischen Körperlichkeit und Geist zeigen auch Gestalt und Form. Ob man ein paar ausdrucksvolle geometrische Linien ansieht oder die vieldeutige Ruhe eines alten ägyptischen Antlitzes: was da als Form aus dem stofflich Gegebenen gleichsam hervordrängt, ist nicht mehr bloß sinnlicher Eindruck, und es ist noch nicht Inhalt deutlicher Begriffe. Man möchte sagen: es ist nicht ganz geistig gewordenes Körperliches, und es scheint, daß eben dieses das Seelenerregende ist, denn sowohl die elementaren Erlebnisse der Empfindung und Wahrnehmung wie auch die abstrakten Erlebnisse des reinen Denkens schalten das Seelische durch ihre Bindung an die Außenwelt beinahe aus. In der gleichen Weise haben auch Rhythmus und Melodie zweifellos Anspruch, für etwas Geistiges zu gelten, aber sie haben daneben noch etwas unmittelbar den Körper Angreifendes. Im Tanz herrscht wieder dieses vor, aber das Geistige flackert wie ein Schattenspiel. Auch ein Schauspiel aufzuführen, hat keinen anderen Sinn als dem Wort einen neuen Körper zu geben, damit es in ihm Bedeutung gewinne, die es allein nicht hat. Aber die Zusammenfassung dieser Erfahrung spricht sich vielleicht darin aus, daß viele kluge Menschen ebenso verständnislos der Kunst gegenüberstehen wie Schwachsinnige, während es anderseits Menschen gibt, die auf das verläßlichste die Schönheit und die Schwächen eines Gedichts zu bezeichnen vermögen und sich in ihrem Handeln danach richten, ohne daß sie imstande wären, sich mit logischen Worten auszudrücken. Es führt abseits, wenn man das als ein besonderes ästhetisches Vermögen ansieht, denn woraus ein solches bestünde, wäre schließlich doch nur eine Geschwisterfunktion des Denkens und mit diesem aufs innigste verflochten, wenn sich auch die Extreme auseinanderneigen.

Abschluß

Natürlich wäre es ein Mißverständnis, Dichtung mit Form einfach gleichzusetzen. Denn auch ein wissenschaftlicher Gedanke hat Form, und zwar nicht nur die ornamentale seines mehr oder weniger schönen Vortrags, die man meist mit Unrecht zu rühmen pflegt, sondern eine ihm innewohnende und bauliche, die sich am deutlichsten darin zeigt, daß er auch bei sachlichstem Ausdruck vom Empfänger niemals genau so aufgenommen wird, wie ihn der Urheber meint, sondern stets einer Umformung unterliegt, die ihn dem persönlichen Verständnis anpaßt. Immerhin tritt da die Form hinter den invarianten, rein rationalen Gehalt sehr zurück. Schon im Essay aber, in der »Betrachtung«, im »Sinnen«, ist der Gedanke ganz von seiner Form abhängig, und es wurde bereits darauf hingewiesen, daß dies mit dem Inhalt zusammenhänge, der in einem echten Essay, der nicht bloß Wissenschaft in Pantoffeln ist, zur Darstellung gelangt. Im Gedicht vollends ist das Auszudrückende nur in der Form seines Ausdrucks das, was es ist. Der Gedanke ist dort in so hohem Maße okkasionell wie eine Gebärde und erregt nicht so sehr Gefühle, als daß seine Bedeutung fast ganz aus ihnen besteht. Dagegen tritt in Roman und Drama (und in den Mischformen zwischen Essay und Abhandlung; denn der »reine Essay« ist eine Abstraktion, für die es beinahe keine Beispiele gibt) der Gedanke, die diskursive Ideenverbindung auch nackt hervor. Dennoch haftet an solchen Stellen einer Erzählung immer ein unangenehmer Eindruck des Extemporierens, des Aus-der-Rolle-Fallens und der Verwechselung des Darstellungsraums mit dem privaten Lebensraum des Verfassers, wenn sie nicht auch die Natur eines Formteils haben. Gerade am Roman, der wie keine andere Kunstform dazu berufen ist, den intellektuellen Gehalt einer Zeit aufzunehmen, lassen sich darum die Schwierigkeiten der Eingestaltung und der Versuche zu ihrer Lösung beobachten, was oft in verwickelten Durchdringungen und Schichtungen geschieht.

Es ist also wohl eine Binsenwahrheit, daß das Wort des Dichters eine »gehobene« Bedeutung hat, aber es ist keine, daß diese nicht die gewöhnliche mehr solcher Hebung ist, sondern als eine neue ersteht, die weder mit der ursprünglichen übereinstimmt, noch unabhängig von dieser ist. Das gleiche gilt von den anderen, im engeren Sinn formalen, Ausdrucksmitteln der Dichtung; auch sie teilen etwas mit, bloß verkehrt sich bei ihrer Anwendung das Verhältnis zwischen dem, was sie weitergeben, und dem, was sozusagen intransitiv an die Erscheinung gebunden bleibt. Man kann diesen Vorgang ebensogut als die Anpassung des Geistes an Bereiche auffassen, denen die Vernunft nicht beikommt, wie die Anpassung dieser Bereiche an die Vernunft, und das Wort in diesem getragenen oder gehobenen Gebrauch gleicht dem Speer, der aus der Hand geschleudert werden muß, um sein Ziel zu erreichen, und nicht mehr zurückkehrt. Das ergibt natürlich die Frage, was denn das Ziel eines solchen Wurfes sei oder, unbildlich gesprochen, welche Aufgabe die Dichtung besitze. Es liegt nicht mehr in der Absicht dieser Ausführungen, dazu Stellung zu nehmen, aber es geht aus ihnen hervor, daß sie ein bestimmtes Gebiet von Beziehungen zwischen Menschen und Dingen voraussetzen, von dem gerade die Dichtung Kunde gibt und dem deren Mittel angemessen sind. Absichtlich war dabei solches »Kundgeben« nicht als subjektive Äußerung dargestellt worden, sondern in seinem Verhältnis zu der vorausgesetzten Gegenständlichkeit und Objektivität, oder mit anderen Worten: Indem die Dichtung Erlebnis vermittelt, vermittelt sie Erkenntnis; diese Erkenntnis ist zwar durchaus nicht die rationale der Wahrheit (wenn sie auch mit ihr vermengt ist), aber beide sind das Ergebnis gleichgerichteter Vorgänge, da es ja auch nicht eine rationale Welt und außer ihr eine irrationale, sondern nur eine Welt gibt, die beides enthält.

Ich möchte das aber lieber statt mit allgemeinen Worten mit einem Beispiel abschließen (ich verdanke es Prof. E. M. v. Hornbostel), das sehr bezeichnend ist, dem der Urformen der Dichtung. Es ist nämlich durch den Vergleich archaischer mit primitiven Hymnen und Ritualen sehr wahrscheinlich geworden, daß die Grundeigentümlichkeiten unserer Lyrik seit Urzeiten ziemlich unverändert bestehen, so die Art, das Gedicht in Strophen und Zeilen zu teilen, der symmetrische Aufbau, die Parallelstellung, wie sie sich heute noch in Refrain und Reim äußert, der Gebrauch der Wiederholung, ja des Pleonasmus als Reizmittel, das Einstreuen sinnloser (das heißt geheimer, zauberhafter) Worte, Silben und Vokalreihen, endlich gerade auch die Eigenheit, daß das einzelne, der Satz und Satzteil, seine Bedeutung nicht an und für sich, sondern erst durch seine Stellung im Ganzen hat. (Sogar die heikle Bedeutung der Originalität besitzt ihr Gegenstück, denn solche Gesänge und Tänze gehören oft einem einzelnen oder einer Gemeinschaft, werden als Geheimnis gehütet und teuer verkauft!) Nun sind diese alten Tanzgesänge aber Anweisungen, um das Naturgeschehen in Gang zu halten und die Götter zu bewegen, und ihr Inhalt sagt das, was zu diesem Zweck gemacht werden muß, während ihre Form genau und der Reihenfolge nach bestimmt, wie es gemacht werden muß. Ihre Form ist also durch den Verlauf des Geschehens gegeben, das ihr Inhalt ist, und bekanntlich werden Formfehler von den Primitiven heute noch wegen ihrer vermeintlichen Folgen ängstlich gescheut. So führt an diesem Beispiel und seiner in Kürze wiedergegebenen Erklärung die gelehrte Erforschung des Urzustandes der Kunst zu ganz ähnlichen Schlüssen, wie sie unabhängig davon aus der Betrachtung deren gegenwärtigen Zustands gezogen worden sind, aber der Vergleich hat außerdem den Vorzug, den Grundzusammenhang zwischen Form und Inhalt, daß alles Wie ein Was bedeute, handgreiflicher zu machen als die literarische Analyse. Ein auf »Herstellung« gerichteter Vorgang, ein »Vorbildzauber«, und keine Wiederholung des Lebens oder von Ansichten darüber, die man ohne sie besser ausdrückt, ist die Dichtung noch heute. Aber während sich aus dem ursprünglichen gemeinsamen »Regenmachen« die Was-Seite im Lauf der Jahrtausende zu Forschung und Technik entwickelt und längst ein eigenes »Wie man es machen muß« hervorgebracht hat, hat die Wie-Seite ihren Sinn zwar auch gewandelt und von der anfänglichen Magie entfernt, aber es ist aus ihr kein neues deutliches »Was« mehr entstanden. Was die Dichtung zu machen hat, ist mehr oder minder noch immer das alte »Wie sie es zu machen hatte«, und wenn das im einzelnen wohl auch mit allerhand wechselnden Zielen verbunden wird, so hat die Dichtkunst doch für die seit den Tagen des Orpheus verlorene Überzeugung, daß sie die Welt auf zauberhafte Weise beeinflusse, eine zeitgemäße Umwandlung erst zu suchen.


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