Robert Musil
Essays
Robert Musil

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fragen der Zeit

Politik in Österreich
[1913]

Man denkt bei diesem Begriff zu einseitig an die Schwierigkeit der Nationalitätenfrage. Denn die – obgleich eine Schwierigkeit – ist längst eine Bequemlichkeit geworden; über einen ernsten Anlaß hinaus ein uneingestandenes Ausweichen und Verweilen. Wie bei hohlen Liebenden, die immer neue Trennungen und Widerstände überwinden, weil sie schon ahnen, wie wenig sie am ersten Tag der Hindernislosigkeit noch miteinander anzufangen wissen werden. Wie Leidenschaft überhaupt nur ein Vorwand ist, keine Gefühle zu haben. Wenn die große Abrechnung beendet sein wird, wird es ein Glück sein, daß die schlechten Manieren, die man inzwischen angenommen hat, auch aus nichtigen Anlässen noch den Verwahrlosungsschein des Idealismus zu schaffen wissen werden. Aber dahinter wird die Leere inneren Lebens schwanken, wie die Öde im Magen des Alkoholikers.

Es gibt wenig Länder, die so leidenschaftlich Politik treiben, und keines, wo Politik bei ähnlicher Leidenschaft so gleichgültig bleibt wie in diesem; Leidenschaft als Vorwand. Nach außen ist alles so sehr parlamentarisch, daß mehr Leute totgeschossen werden als anderswo, und es stehen alle Räder alle Augenblicke wegen der nächstbesten Parteidrehung still; hohe Beamte, Generäle, Ratgeber der Krone dürfen beschimpft werden, man kann Vorgesetzten mit einer Drohung vor dem Parlament bange machen, verdient Geld mit Hilfe der Politik, ohrfeigt einander. Aber alles ist halb wie eine Konvention, ein Spiel nach Übereinkommen. Die Furcht, die man erregt, die Macht, die man ausübt, die Ehren, die man auf sich sammelt, bleiben – trotzdem sie in allen wirklichen und gemeinhin als wichtig geltenden Beziehungen völlig echt sind – in der Seele unwahr, spukhaft, geglaubt und respektiert, aber nicht gefühlt. Man nimmt sie soweit ernst, daß man ihretwillen verarmt, doch es scheint, daß man das ganze Leben bis zu solchem Grade nach etwas einrichtet, hier nicht das Letzte zu bedeuten. Es könnte ein großer, wenn auch erst negativer Idealismus darin gesehen werden. Das Tun legt diese Österreicher nie ganz auf sein Niveau fest. Es ist nicht an ihre Religiosität zu glauben, nicht an ihre Untertanenkindlichkeit oder ihre Sorgen; sie warten dahinter; sie haben die passive Phantasie unausgefüllter Räume und gestatten eifersüchtig einem Menschen alles, nur nicht den seelisch so präjudizierenden Anspruch auf den Ernst seiner Arbeit. Wogegen der Deutsche im Verhältnis zu seinen Idealen jenen unerträglich lieben Frauen gleicht, die plitschtreu wie ein nasses Schwimmkleid an ihren Gatten kleben.

Im gegenwärtigen Zustand freilich überwiegt jedenfalls der Mangel an Sinn und sie vertreiben sich die Wartezeit mit Lärmen. Ihre Kraftgebärden sind noch ein Zeichen der Schwäche, während andernorts der Schein von Kraftlosigkeit schon auf einer Stauung von Kraftmassen beruht. So ist der deutsche Parlamentarismus wie ein ackerfroher Gaul, der gegen einen Peitschenschlag protestiert, indem er ernst und sachlich mit dem Schweif über die Stelle hinwischt, und hier gibt es Leidenschaften im öffentlichen Leben, hinter denen man mit nüchternen Eingeweiden gähnt. Man weiß nicht, wovon man sich eigentlich beherrschen läßt; zeitweilig erhebt sich ein Orkan und alle Minister fallen sofort wie geübte Turner, – aber der Orkan ist beruhigt und ihre Nachfolger stehen in genau der gleichen Stellung da. Es sind kleine Änderungen gemacht worden, die einen Professional befriedigen mögen, den Außenstehenden aber unverständlich bleiben müssen; dennoch erklären auch sie sich augenblicklich für besänftigt. Es liegt etwas Unheimliches in diesem hartnäckigen Rhythmus ohne Melodie, ohne Worte, ohne Gefühl. Es muß irgendwo in diesem Staat ein Geheimnis stecken, eine Idee. Aber sie ist nicht festzustellen. Es ist nicht die Idee des Staates, nicht die dynastische Idee, nicht die einer kulturellen Symbiose verschiedener Völker (Österreich könnte ein Weltexperiment sein), – wahrscheinlich ist das Ganze wirklich nur Bewegung zufolge Mangels einer treibenden Idee, wie das Torkeln eines Radfahrers, der nicht vorwärts tritt.

Politische Mißstände solcher Art haben stets ihre Gründe in kulturellen. Politik in Österreich hat noch keinen menschlichen Zweck, sondern nur österreichische. Man wird kein Ich durch sie, obwohl man alles andere mit ihrer Hilfe werden kann, und kein Ich vermag sich in ihr zu manifestieren. Das Werkzeug der Sozialdemokratie ist hier noch nicht hart genug und starke andere Gegensätze wie zwischen dem geistigen Drang einiger beunruhigender Menschen, die als herrliches Ungeziefer auf den Abfällen des deutschen Händlerstaats leben, und der mit zwei Beinen in der Bibel, mit zwei Beinen in der Scholle wurzelnden Rechtmäßigkeit der Grundherren sind nicht vorhanden. Die gesellschaftliche Struktur ist bis hoch hinauf ein einheitliches Gemenge von Bürger- und Kavaliersart. Man ist in natürlichem Zustand fein und herzgesund. Ein Friseurgehilfe, der Damen des Hochadels beim Ondulieren seine Ideale einbekannte, hätte vor nicht langem hier beinahe eine Laufbahn als deutscher Dichter gemacht, wenn er nicht bei einem Rout aus Versehen einen Pelz angezogen hätte, der noch nicht ihm gehörte. Er verkehrte zu jener Zeit bereits in den adeligsten Häusern, las bei Tees seine Dichtungen vor und gewiß hätte die bürgerliche Presse dem beschwingten Haarkalligraphen nicht lange widerstanden. Denn das Feine ist auch ihre Schwäche.

Es gibt nicht den großen ideellen Gegensatz zwischen Bürgertum und Aristokratie. Er hat sich auch anderswo nur erstfach und sehr entstellt ausgedrückt – im Gedankenkreis des Liberalismus – und wird augenblicklich durch den wirtschaftlichen Gegensatz: Proletariat – Besitz verdeckt, obgleich der nur eine Wegschleife auf dem Marsch zu ihm hin ist. Aber inzwischen hat sich in großen Staaten mit Welthandels- und Weltbeziehungshintergrund etwas Neues entwickelt, ein Paradoxon: ein ungeistiger aber rissiger Boden nämlich, in dessen Spalten trotz seiner dürren Ungunst die Kultur nun besser siedelt als je auf leidlich für sie passender Oberfläche. Sie realisiert ihre Zwecke heute nicht mehr durch den Staat wie einstens in Athen oder Rom, sondern bedient sich statt der Vollkommenheit des Ganzen, die doch nicht viele Steigerungen zuließe, seiner Unvollkommenheiten, Lücken und der Kraftlosigkeit jeden einzelnen zu umspannen. Es ist die Auflösung durch die unübersehbare Zahl, was den kulturellen Grundunterschied gegen jede andere Zeit bildet, das Alleinsein und Anonymwerden des einzelnen in einer immer wachsenden Menge, welches eine neue geistige Verfassung mit sich bringt, deren Konsequenzen noch unberechenbar bleiben. Man kann als deutlichstes Beispiel heute schon unser bißchen ernster Kunst betrachten, deren Unfähigkeit, zugleich gut und vielen gefällig zu sein, tatsächlich eine Erstmaligkeit bedeutet und, weit über die Art des ästhetischen Streits hinaus, wahrscheinlich den Beginn einer neuen Funktion.

Die reale Voraussetzung dieser Kultur bildet aber das Bürgertum. Denn seine Eigenschaft ist es, keine Familien zu erzeugen, die nicht rasch wieder zerfallen, keine Tradition, erbliche Ideale und feste Sittlichkeit, solche Dinge, die als Gehschule nützlich sind, aber Laufende hindern. Es hat die Mission, wegen seiner Geschäfte sich nicht selbst um die Kultur zu kümmern, sondern Pauschalsummen dafür auszuwerfen. Es erzeugt keine faszinierenden Menschen, Prototypen, und also auch nicht die immer von ihnen ausgegangene Versuchung, daß ein Idealtyp aus dem engeren und stets gestrigen Bereich des menschlich Wirklichen, statt – mit schrankenloser Phantasie – aus dem der menschlichen Möglichkeiten gebildet werde. Es läßt den Schöpfer außerhalb seiner Leistung einen Unbekannten, der – mehr Gedanke und Gefühl als Mensch – in einem Ideenlaboratorium Seelenformen schafft, ohne wie ein offizieller Fabrikant für deren allgemeine Gebrauchsfähigkeit im gleichen Augenblick schon garantieren zu müssen. Und selbst das Unverständnis, mit dem es seinen Gebilden begegnet, gerät ihnen zum Vorteil, denn die Urteilslosigkeit von heute ist die Vorurteilslosigkeit von morgen.

Dieses Bürgertum gibt es in Österreich nicht; man wird noch immer vom Schicksal nur auf eine persönliche Empfehlung hin zum Österreicher geschaffen und es bleibt schwer, dem Unehre zu machen. Darum schätzt man die Katastrophen, weil sie die Verantwortung auf sich selbst nehmen, und braucht das Unglück, weil es heftige Gestikulationen erzeugt, hinter denen jeder Mensch erlischt und konventionell wird. Man lebt sein politisches Leben wie ein serbisches Heldenepos, weil das Heldentum die unpersönlichste Form des Handelns ist. Die kleine Jeanne aus Domrémy war eine Kuhmagd in Männerhosen, der Büßer hat infolge Askese Ungeziefer, der Held ist in der Aktion, im Erlebnis seiner Heldenhaftigkeit, eingeengt wie ein Tier; seine Kleider kleben von Blut, Schweiß, Staub wie Bretter, er kann nicht baden, sie scheuern ihn wund, sie hängen steif um ihn, der wie ein wahnsinniger Kern in seiner Hülse klappert; sein Gesichtsfeld ist eingeengt bis auf die fovea centralis, seine Blicke stechen sich an den Gegenständen fest. Not und Held gehören zusammen wie Krankheit und Fieber. Jede Gewaltleistung hat darum etwas Pathologisches an sich, ein eingeschränktes Bewußtsein, einen letzten, progressiven, wirbelhaften Anstieg. Der politische Held in Österreich aber ist die ausgebildete Technik der Bewußtseinseinschränkung auch ohne Anstieg. Eine üble, in häufiger Krankheit erworbene Unart, die man mit Recht nicht ganz ernst nimmt, aber so lange nicht ablegen wird, als den ganzen Bewußtseinsumfang beanspruchende Inhalte fehlen.

Der mathematische Mensch
[1913]

Eine der vielen Unsinnigkeiten, die aus Unkenntnis ihres Wesens über die Mathematik umlaufen, ist, daß man bedeutende Feldherrn Mathematiker des Schlachtfelds nennt. In Wahrheit darf deren logisches Kalkül nicht über die sichere Einfachheit der vier Spezies hinausreichen, wenn es nicht eine Katastrophe verschulden soll. Die plötzliche Notwendigkeit eines Schlußprozesses, der auch nur so mäßig umständlich und uneinsichtig wäre wie das Auflösen einer einfachen Differentialgleichung, würde inzwischen Tausende hilflos ihrem Tod überlassen.

Das spricht nicht gegen das Feldherrningenium, wohl aber für die eigentümliche Natur der Mathematik. Man sagt, sie sei eine äußerste Ökonomie des Denkens, und das ist auch richtig. Aber das Denken selbst ist eine weitläufige und unsichere Sache. Es ist – mag es auch als einfache biologische Sparsamkeit begonnen haben – längst eine komplizierte Leidenschaft des Sparens geworden, der es auf Verschleppung des Nutzens so wenig ankommt wie dem Geizhals auf seine bis zum Widerspruch wollüstig hingezögerte Armut.

Einen Prozeß, mit dem man überhaupt nie fertig werden könnte, wie das Zusammenzählen einer unendlichen Reihe, ermöglicht die Mathematik unter günstigen Umständen in wenigen Augenblicken zu vollziehen. Bis zu komplizierten Logarithmenrechnungen, ja selbst Integrationen macht sie es überhaupt schon mit der Maschine; die Arbeit des Heutigen beschränkt sich auf das Einstellen der Ziffern seiner Frage und auf das Drehen an einer Kurbel oder ähnliches. Der Amtsdiener einer Lehrkanzel kann damit Probleme aus der Welt schaffen, zu deren Auflösung sein Professor noch vor zweihundert Jahren zu den Herren Newton in London oder Leibniz in Hannover hätte reisen müssen. Und auch in der natürlich tausendmal größeren Zahl der nicht schon maschinell lösbaren Aufgaben kann man die Mathematik eine geistige Idealapparatur nennen, mit dem Zweck und Erfolg, alle überhaupt möglichen Fälle prinzipiell vorzudenken.

Das ist Triumph der geistigen Organisation. Das ist die alte geistige Landstraße mit Wettergefahr und Räuberunsicherheit ersetzt durch Schlafwagenlinien. Das ist erkenntnis-theoretisch betrachtet Ökonomie.

Man hat sich gefragt, wie viele von diesen möglichen Fällen auch wirklich benutzt werden. Man hat bedacht, wie viele Menschenleben, Geld, Schöpfungsstunden, Ehrgeize in der Geschichte dieses ungeheuren Sparsystems verbraucht sind, heute noch investiert werden, allein schon nötig sind, damit man das bisher Erworbene nicht wieder vergißt: und hat versucht das an dem Nutzbrauch zu messen, der davon gemacht wird. Aber auch da erweist sich dieser schwere und gewiß umständliche Apparat noch als ökonomisch, ja streng genommen als vergleichslos. Denn unsere ganze Zivilisation ist durch seine Hilfe entstanden, wir kennen kein andres Mittel; die Bedürfnisse, denen es dient, werden dadurch völlig befriedigt und seine leerlaufende Abundanz ist von der unkritisierbaren Art einmaliger Tatsachen.

Nur wenn man nicht auf den Nutzen nach außen sieht, sondern in der Mathematik selbst auf das Verhältnis der unbenutzten Teile, bemerkt man das andere und eigentliche Gesicht dieser Wissenschaft. Es ist nicht zweckbedacht, sondern unökonomisch und leidenschaftlich. – Der gewöhnliche Mensch braucht von ihr nicht viel mehr als er in der Elementarschule lernt; der Ingenieur nur so viel, daß er sich in den Formelsammlungen eines technischen Taschenbuches zurechtfindet, was nicht viel ist; selbst der Physiker arbeitet gewöhnlich mit wenig differenzierten mathematischen Mitteln. Brauchen sie es einmal anders, so sind sie zumeist auf sich selbst angewiesen, weil den Mathematiker solche Adaptierungsarbeiten wenig interessieren. So kommt es, daß Spezialisten für manche praktisch wichtigen Teile der Mathematik Nichtmathematiker sind. Daneben aber liegen unermeßliche Gebiete, die nur für den Mathematiker da sind: ein ungeheures Nervengeflecht hat sich um die Ausgangspunkte einiger weniger Muskeln angesammelt. Irgendwo innen arbeitet der einzelne Mathematiker und seine Fenster gehen nicht nach außen, sondern auf die Nachbarräume. Er ist Spezialist, denn kein Genie ist mehr imstande, das Ganze zu beherrschen. Er glaubt, daß das, was er treibt, irgendwann wohl auch einen praktisch liquidierbaren Nutzen abwerfen wird, aber nicht der spornt ihn; er dient der Wahrheit, das heißt seinem Schicksal und nicht dessen Zweck. Mag der Effekt tausendmal Ökonomie sein, immanent ist das ein Allesdahingeben und Passion.

Die Mathematik ist Tapferkeitsluxus der reinen Ratio, einer der wenigen, die es heute gibt. Auch manche Philologen treiben Dinge, deren Nutzen sie wohl selbst nicht einsehen, und die Briefmarken- und Krawattensammler noch mehr. Aber das sind harmlose Launen, die sich fern von den ernsten Angelegenheiten unseres Lebens abspielen, während die Mathematik gerade dort einige der amüsantesten und schärfsten Abenteuer der menschlichen Existenz umschließt. Ein kleines Beispiel hierfür sei angefügt: Man kann sagen, daß wir praktisch völlig von den – ihr selbst gleichgültiger gewordenen – Ergebnissen dieser Wissenschaft leben. Wir backen unser Brot, bauen unsre Häuser und treiben unsre Fuhrwerke durch sie. Mit der Ausnahme der paar von Hand gefertigten Möbel, Kleider, Schuhe und der Kinder erhalten wir alles unter Einschaltung mathematischer Berechnungen. Dieses ganze Dasein, das um uns läuft, rennt, steht, ist nicht nur für seine Einsehbarkeit von der Mathematik abhängig, sondern ist effektiv durch sie entstanden, ruht in seiner so und so bestimmten Existenz auf ihr. Denn die Pioniere der Mathematik hatten sich von gewissen Grundlagen brauchbare Vorstellungen gemacht, aus denen sich Schlüsse, Rechnungsarten, Resultate ergaben, deren bemächtigten sich die Physiker, um neue Ergebnisse zu erhalten, und endlich kamen die Techniker, nahmen oft bloß die Resultate, setzten neue Rechnungen darauf und es entstanden die Maschinen. Und plötzlich, nachdem alles in schönste Existenz gebracht war, kamen die Mathematiker – jene, die ganz innen herumgrübeln – darauf, daß etwas in den Grundlagen der ganzen Sache absolut nicht in Ordnung zu bringen sei; tatsächlich, sie sahen zuunterst nach und fanden, daß das ganze Gebäude in der Luft stehe. Aber die Maschinen liefen! Man muß daraufhin annehmen, daß unser Dasein bleicher Spuk ist; wir leben es, aber eigentlich nur auf Grund eines Irrtums, ohne den es nicht entstanden wäre. Es gibt heute keine zweite Möglichkeit so phantastischen Gefühls wie die des Mathematikers.

Diesen intellektuellen Skandal trägt der Mathematiker in vorbildlicher Weise, das heißt mit Zuversicht und Stolz auf die verteufelte Gefährlichkeit seines Verstandes. Ich könnte noch andre Beispiele anreihen, wo etwa die mathematischen Physiker mit einemmal wild darauf aus waren, das Vorhandensein des Raums oder der Zeit zu leugnen. Aber nicht so träumelig von weitem, wie das die Philosophen zuweilen auch tun – was jedermann dann sofort mit ihrem Beruf entschuldigt –, sondern mit Gründen, die ganz plötzlich mit der Präsenz eines Automobils vor einem auftauchen und schrecklich glaubwürdig waren. Aber es ist genug, um zu sehen, was für Burschen das sind.

Wir andern haben nach der Aufklärungszeit den Mut sinken lassen. Ein kleines Mißlingen genügte, uns vom Verstand abzubringen, und wir gestatten jedem öden Schwärmer, das Wollen eines d'Alembert oder Diderot eitlen Rationalismus zu schelten. Wir plärren für das Gefühl gegen den Intellekt und vergessen, daß Gefühl ohne diesen – abgesehen von Ausnahmefällen – eine Sache so dick wie ein Mops ist. Wir haben damit unsre Dichtkunst schon so weit ruiniert, daß man nach je zwei hintereinander gelesenen deutschen Romanen ein Integral auflösen muß, um abzumagern.

Man wende nicht ein, daß Mathematiker außerhalb ihres Fachs banale oder blöde Köpfe sind, ja daß sie selbst ihre Logik im Stich läßt. Dort ist es nicht ihre Sache und sie tun auf ihrem Gebiet das, was wir auf unsrem tun sollten. Darin besteht die beträchtliche Lehre und Vorbildlichkeit ihrer Existenz; eine Analogie sind sie für den geistigen Menschen, der kommen wird.

Wenn durch den Spaß, der hier aus ihrem Wesen angerichtet wurde, ein wenig dieser Ernst schaut, mögen die folgenden Schlußsätze nicht als unvermittelt empfunden werden: Man greint, daß unsrer Zeit die Kultur fehle. Das heißt vielerlei, aber im Grunde war Kultur immer eine Einheitlichkeit entweder durch Religion oder durch gesellschaftliche Form oder durch Kunst. Für gesellschaftliche Form sind wir zu viele. Für Religion sind wir auch zu viele, was hier nur ausgesprochen und nicht bewiesen werden soll. Und was die Kunst betrifft: wir sind die erste Zeit, die ihre Dichter nicht lieben kann. Trotzdem sind in dieser Zeit nicht nur geistige Energien aktuell, wie sie noch nie da waren, sondern auch eine Gleichgestimmtheit und Einheitlichkeit des Geistes wie noch nie. Es ist töricht, zu behaupten, daß das alles um ein bloßes Wissen gehe, denn das Ziel ist längst schon das Denken. Mit seinen Ansprüchen auf Tiefe, Kühnheit und Neuheit beschränkt es sich vorläufig noch auf das ausschließlich Rationale und Wissenschaftliche. Aber dieser Verstand frißt um sich und sobald er das Gefühl erfaßt, wird er Geist. Diesen Schritt zu tun, ist Sache der Dichter. Sie haben für ihn nicht irgendeine Methode zu lernen – Psychologie, um Gotteswillen, oder so – sondern nur Ansprüche. Aber sie stehen ihrer Situation hilflos gegenüber und trösten sich mit Lästerungen. Und wenn die Zeitgenossen ihr Denkniveau auch nicht selbst aufs Menschliche übertragen können, fühlen sie doch, was dort unter ihrem Niveau ist.

Europäertum, Krieg, Deutschtum
[1914]

Der Krieg, in andren Zeiten ein Problem, ist heute Tatsache. Viele der Arbeiter am Geiste haben ihn bekämpft, solange er nicht da war. Viele ihn belächelt. Die meisten bei Nennung seines Namens die Achseln gezuckt, wie zu Gespenstergeschichten. Es galt stillschweigend für unmöglich, daß die durch eine europäische Kultur sich immer enger verbindenden großen Völker heute noch zu einem Krieg gegeneinander sich hinreißen lassen könnten. Das dem widersprechende Spiel des Allianzensystems erschien bloß wie eine diplomatisch sportliche Veranstaltung.

Tagelang, da der phantastische Ausbruch des Hasses wider uns und Neides ohne unsre Schuld Wirklichkeit geworden war, lag es über vielen Geistern noch wie ein Traum. Kaum einer, der sein Weltbild, sein inneres Gleichgewicht, seine Vorstellung von menschlichen Dingen nicht irgendwo entwertet fühlte. Man darf vielleicht gerade diese Erschütterung, die sich jedem so deutlich einprägte, nicht überschätzen; denn fühlt einer sein letztes Stündlein in der Nähe, denkt er anders über seine Pläne und faßt Vorsätze, die auszuführen später keinen Sinn hat, weil man wieder für das Leben lebt und nicht für den Tod. Trotzdem bleibt ungeheuer, wie die plötzlich erwiesene Möglichkeit eines Krieges in unser moralisches Leben von allen Seiten umändernd eingreift, und wenn heute auch nicht der Zeitpunkt ist, über diese Fragen nachzudenken, wollen wir, vielleicht auf lange hinaus letzten Europäer, in ernster Stunde doch auch nicht auf Wahrheiten baun, die für uns keine mehr waren, und haben, bevor wir hinausziehn, unser geistiges Testament in Ordnung zu bringen.

Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit, – Tugenden dieses Umkreises sind es, die uns heute stark, weil auf den ersten Anruf bereit machen zu kämpfen. Wir wollen nicht leugnen, daß diese Tugenden einen Begriff von Heldenhaftigkeit umschreiben, der in unsrer Kunst und unsren Wünschen eine geringe Rolle gespielt hat. Teils ohne unsre Schuld, denn wir haben nicht gewußt, wie schön und brüderlich der Krieg ist, teils mit unsrer Absicht, denn es schwebte uns ein Ideal des europäischen Menschen vor, das über Staat und Volk hinausging und sich durch die gegenwärtigen Lebensformen wenig gebunden fühlte, die ihm nicht genügten. Ein kleines äußerliches, aber in seiner Gefühlswirkung nicht unbeträchtliches Zeichen dafür war, daß die wertvollsten Geister jeder Nation meist schon in die Sprache anderer Völker übersetzt wurden, bevor sie in ihrem eigenen eine breite Wirkung erlangten. Geist war die Angelegenheit einer oppositionellen europäischen Minderheit und nicht das von dem Willen der Nachfolgenden getragene und mit Dankbarkeit ermunterte Vorausgehn eines Führers vor seinem eigenen Volke.

Daß die, welche eine neue Ordnung schauten, wenig Liebe für die bestehende hatten, lag in der Linie ihrer Aufgaben und Pflichten. Die wertvollen der seelischen Leistungen aus den letzten dreißig Jahren sind fast alle gegen die herrschende gesellschaftliche Ordnung und die Gefühle gerichtet, auf die sie sich stützt; selten als Anklage, sehr oft aber als gleichgültiges Darüberwegschauen zu den Problemen für vorausgeartete Menschen, als Enthaltung vom Gefühlsurteil und desillusionierende Konstatierung dessen, was ist. Das Wenden, Durchblicken und zu diesem Zweck Durchlöchern überkommener, eingesessener und verläßlicher seelischer Haltungen: es besteht kein Grund zu verschweigen, daß dies eine der Haupterscheinungen unserer Dichtung war. Dichtung ist im Innersten der Kampf um eine höhere menschliche Artung; sie ist zu diesem Zweck Untersuchung des Bestehenden und keine Untersuchung ist etwas wert ohne die Tugend des kühnen Zweifels. Unsere Dichtung war eine Kehrseitendichtung, eine Dichtung der Ausnahmen von der Regel und oft schon der Ausnahmen von den Ausnahmen. In ihren stärksten Vertretern. Und sie war gerade dadurch in ihrer Art von dem gleichen kriegerischen und erobernden Geist belebt, den wir heute in seiner Urart verwundert und beglückt in uns und um uns fühlen.

Als gieriger mit jeder neuen Stunde Todesfinsternis um unser Land aufzog und wir, das Volk im Herzen Europas und mit dem Herzen Europas, erkennen mußten, daß von allen Rändern dieses Weltteils eine Verschwörung herbrach, in der unsre Ausrottung beschlossen worden war, wurde ein neues Gefühl geboren: – die Grundlagen, die gemeinsamen, über denen wir uns schieden, die wir sonst im Leben nicht eigens empfanden, waren bedroht, die Welt klaffte in Deutsch und Widerdeutsch, und eine betäubende Zugehörigkeit riß uns das Herz aus den Händen, die es vielleicht noch für einen Augenblick des Nachdenkens festhalten wollten. Gewiß, wir wollen nicht vergessen, daß stets auch die andern das gleiche erleben; wahrscheinlich sind die, welche drüben unsre Freunde waren, genau so in ihr Volk hineingerissen, vielleicht vermögen sie sogar das Unrecht ihres Volkes zu durchschaun und es zieht sie doch mit. Unsre Skepsis verlangt diese Vorstellungen. Wir wissen nicht, was es ist, das uns in diesen Augenblicken von ihnen trennt und das wir trotzdem lieben; und doch fühlen wir gerade darin, wie wir von einer unnennbaren Demut geballt und eingeschmolzen werden, in der der einzelne plötzlich wieder nichts ist außerhalb seiner elementaren Leistung, den Stamm zu schützen. Dieses Gefühl muß immer dagewesen sein und wurde bloß wach; jeder Versuch, es zu begründen, wäre matt und würde aussehn, als müßte man sich überreden, während es sich doch um ein Glück handelt, über allem Ernst um eine ungeheure Sicherheit und Freude. Der Tod hat keine Schrecken mehr, die Lebensziele keine Lockung. Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich: das ist heute keine Übertreibung, sondern ein Erlebnis, unüberblickbar aber so fest zu fühlen wie ein Ding, eine Urmacht, von der höchstens Liebe ein kleines Splitterchen war.

Der Anschluß an Deutschland
[1919]

Im Augenblick, wo ich schreibe, läßt sich noch nicht unterscheiden, ob die Friedenskonferenz der Abschluß von fünf Jahren oder von zweieinhalb Jahrtausenden europäischer Geschichte sein will, ob sie bloß die Kriegszeit beenden wird oder die Zeit der Kriege; wir sind auch nicht in der Lage, das Ergebnis mitzugestalten. Wir haben unsere Waffen weggeworfen und mit ihnen unser Recht, denn ein Recht, das man nicht geltend machen kann, ist keines. Wir stehen wehrlos vor unseren »Richtern«, von nichts beschützt als von der Würde des Geistes, den eine große Nation verkörpert, von dem Geist der Menschheit, der sich allenthalben erhebt, und von der Gewalt des Beispiels, das einer gibt, der seine Macht zerbrochen hat, der nicht um Recht und Unrecht feilscht, sondern aufbricht, um dem kommenden Reich entgegenzugehen. Je tiefer wir das begreifen und je kühner wir unser Tun davon bestimmen lassen, desto weniger werden wir Gerichtete sein, sondern uns über das schäbige Gerede von Richtern und Gerichteten erheben als solche, welche Richtung weisen. – Ob die Menschheit diesmal noch den Augenblick versäumen wird oder nicht, die Aufgabe ist ihr jedenfalls bereits so deutlich gestellt, daß sie nicht mißverstanden werden kann; es ist die Notwendigkeit, sich endlich eine Organisationsform zu geben, die nicht wie eine schlechte Maschine den größten Teil der Kraft in inneren Widerständen aufbraucht und nur einen Rest als Glück, Geist, Persönlichkeit und Menschheitswerk zur Entfaltung entläßt. Große Aktionen enthalten fast immer ein negatives, reaktives Bestimmungselement, einen Abdruck des unerträglich gewordenen Zustandes, der zuletzt ihre Auslösung verschuldet hat; so hat auch die jetzt in Fluß geratene Bewegung als Reaktion auf Krieg und soziale Ungerechtigkeit die Formen Völkerbund und Klassenkampf angenommen. Aber weder parlamentarische Demokratie, noch Arbeiterherrschaft, noch Abrüstung und Schiedsgerichtshöfe für Streitigkeiten der Staaten werden ihr Ende sein; vom Ende läßt sich überhaupt noch nicht mehr ersehen als die Richtung, in der es liegt.

Was ihr im Weg steht, – nicht als Verwaltungsorganismus, wohl aber als geistig-moralisches Wesen – ist der Staat und es ist die Aufgabe der Impulse, die sich um den Gedanken eines Völkerbunds gruppiert haben, das Verhängnis zu sprengen, das sich an die menschliche Organisation in Staaten heftet. Ich weiß, daß eine solche Behauptung sich fast am wenigsten für deutsche Ohren eignet; denn nicht nur hat der deutsche Durchschnittsmensch, selbst wenn er träumt, wie ein Chauffeur noch die so vorbildlich klappende und klappernde Funktionstüchtigkeit der Staatsmaschine im Ohr, sondern auch deutsche Denker haben die Ideologie des Staats gläubig vertieft und bis zur Idolatrie getrieben, in ihm eine menschliche Vervollkommnungsanstalt und eine Art geistiger Überperson erblickt. Man muß deshalb sehr kräftig darauf hinweisen, daß das falsch ist. Es gibt natürlich einen Geist des preußischen, österreichischen oder französischen Staats, der mehr ist als der Geist seiner Bewohner, sowie es eben einen esprit du corps oder Regimentsgeist gibt, und ich werde, wenn von Österreich die Rede ist, auch manches zugunsten seiner Wichtigkeit sagen müssen; aber man darf darüber nicht vergessen, wie weit der Geist des Staates fast stets hinter dem Geist zurück ist, der in den besten seiner Bewohner lebt, wie er Dostojewski nach Sibirien geschickt hat, Flaubert vors Zuchtgericht, Wilde ins Bagno, Marx ins Exil, Robert Mayer ins Irrenhaus, und daß er in einer Hinsicht sogar weit hinter dem Durchschnittsmenschen zurückbleibt: es ist dies sein Verhalten gegen andere Staaten. Die geradezu schon einfältigen sittlichen Forderungen, daß man Verträge nicht brechen, nicht lügen, des Nächsten Gut nicht begehren, nicht töten soll, gelten in den Staatsbeziehungen noch nicht und sind ersetzt durch das einzige Gesetz des eigenen Vorteils, der sich mit Gewalt, List und kaufmännischen Druckmitteln verwirklicht, wobei jeder Staat von den Bewohnern der anderen sehr natürlicher Weise als ein Verbrecher erkannt wird, den eigenen Bewohnern aber durch Zusammenhänge, die wahrhaftig einer soziologischen Untersuchung wert wären, als die Verkörperung ihrer Ehre und sittlichen Reife erscheint. Was Wunder, daß solche Wesen mit einer finsteren Grandezza untereinander verkehren, ihre Souveränität und Majestät mit einer Steifheit wahren müssen, die immer zumindest als eine sittenverderbliche Geschmacklosigkeit hätte gelten sollen. Was man den modernen Rechtsstaat nennt, ist ein solcher nur nach innen, nach außen ist er ein Unrecht- und Gewaltstaat. Man müßte sich schämen, so selbstverständliche Feststellungen zu wiederholen, wenn das immer noch nicht in die Schreckenskammer der Kriegshetze verwiesene Gerede von »Verbrecherstaaten« wie die ganze Behandlung der »Schuldfrage«, die intra et extra muros nach einzelnen Schuldtragenden sucht, ja auch der Glaube, durch partielle Abrüstung und Schiedsgericht schon Genüge zu tun: wenn das alles nicht beweisen würde, wie wenig die richtige Vorstellung vom Wesen des historischen Staats das Denken beherrscht, und daß der angekündigte Fortschritt sich anscheinend mit dem Gesicht nach rückwärts gewandt auf den Weg macht. Denn der gekennzeichnete unsoziale Charakter des Staats folgt natürlich nicht aus dem bösen Willen seiner Bewohner, sondern aus seiner Natur, Konstruktion, Funktionsweise, und diese ist, ein nahezu völlig in sich geschlossenes System gesellschaftlicher Energie zu sein, mit einer unendlich größeren Vielfalt der Lebensbeziehungen im Innern als nach außen; der Staat ist eine Form, die sich, um der Entwicklung des Lebens Halt geben zu können, zunächst verkapseln und undurchlässig machen mußte. Man kann an den Klassengegensätzen sehen, wie Beziehungslosigkeit zur Feindseligkeit wird, und darf sich auch nicht scheuen, die Psychologie der kriegerischen Kirchweihverwicklungen zwischen benachbarten Dörfern zum Vergleich heranzuziehn, denn die Psychologie der kriegerischen Verwicklung zwischen zwei großen Kulturstaaten ist keine andre.

Die Geschichte lehrt, daß zur Erzielung eines dauernden Einvernehmens immer die Bildung einer höheren Gemeinschaft, die Preisgabe der vollen Selbständigkeit der Glieder und Ergänzung durch gemeinsame positive Interessen nötig ist. Auch der Staat hat sich gegenüber seinen Individuen und Teilverbänden nicht bloß als etwas Privatives, Exzesse Verhinderndes gebildet, sondern als etwas, das greifbare Vorteile abwirft. So hat das Deutsche Reich die Bundesstaaten überwachsen, das alte Österreich seine Kronländer, die Schweiz ihre Kantone, und ebenso wird sich eine Organisation der Menschheit nicht aus Vorbeugungsmaßregeln ergeben, sondern nur aus weitgehender Verschmelzung in neuen, gemeinsamen Interessen, wobei der einzelne Staat immer mehr auf den Rang eines Selbstverwaltungskörpers sinkt. Was schließlich von ihm bleibt, ist die organisierte Nation oder sagen wir lieber gleich die organisierte Sprachgemeinschaft. Denn die Nation ist ja weder eine mystische Einheit, noch eine ethnische, noch auch geistig wirklich eine Einheit – man hat mit zumindest halbem Recht eingewandt, daß das Genie international sei und national nur die Beschränktheit –, wohl aber ist sie als Sprachgemeinde ein natürlicher Leistungsverband, das Sammelbecken, innerhalb dessen sich der geistige Austausch zunächst und am unmittelbarsten vollzieht. Diese geistesorganisatorische Bedeutung der Nation bleibt auch für den weitest gesteckten Humanismus und Kommunismus bestehn; höchstens könnte man aus Mißverständnis des Worts gegen sie einwenden, daß Geist nicht organisiert werden soll, sondern unbestimmbar wächst wie ein Stück Landschaft in Wechselwirkung mit den Menschen, ihrem Leben, ihrer Geschichte und ihren Einrichtungen; das Medium, das zwischen diesen zirkuliert und ihnen die Nahrung zuträgt, ist aber eben die Sprache. Und da der Geist einer Nation nicht über ihr schwebt wie über einem Diskutierklub, sondern sich verwirklichen will, so bedarf er dazu eines einheitlichen materiellen Apparats. Wenn Teile einer Sprachgemeinschaft unter ganz verschiedenen Bedingungen und in längst getrennten Kulturen leben wie etwa Süd-Amerika und Spanien, hat es natürlich keinen Sinn, sie zu vereinen, wenn aber ein alter, nie unterbrochener Kulturzusammenhang und unmittelbare Nachbarschaft bestehn, wie zwischen Deutsch-Österreich und Deutschland, ist der staatliche Zusammenschluß einfach einer der entscheidenden Schritte auf dem Weg von dem Zustand, den wir das Staatstier nennen durften, zum Menschenstaat.

 

Es gibt allerdings Leute, welche das leugnen.

Das sind zum kleinen Teil Ungeduldige, welche die nationale Idee ein »bürgerliches« Ideal nennen und es gleichgültig finden, ob Deutschböhmen zum Deutschen Reich oder zum tschecho-slowakischen Staat gehört, weil doch der Bolschewismus kommen muß oder die Welt eine geistige Ordnung erhalten wird, kurz, weil der nationale Zusammenschluß ja wirklich nicht das Wichtigste und Letzte ist; sie überspringen immer ein paar Stufen und sind offenbar Menschen, in denen nicht zwei Wahrheiten oder zwei Pläne gleichzeitig Platz haben, weil sie sich nur durch Fixation des Extremen in die Schöpfertrance versetzen können.

Meist aber leugnen oder verleugnen solche Leute die Wichtigkeit der nationalen Idee, welche von ihren Übertreibungen angewidert und ermüdet sind. Österreichischer Übernationalismus zumal war gewöhnlich nur eine Reaktion gegen die besonders plumpen Formen, welche der Nationalismus in Österreich angenommen hatte; aber gerade diese bilden einen Beweis zugunsten der nationalen Idee, denn sie sind die typischen Formen, welche sie annimmt, wenn ihr nicht Genüge geschieht. Der unbefriedigte Staats-Spieltrieb der Tschechen, der sich jetzt in ihrem Puppenstuben-Imperialismus auslebt und, enthielte er nicht so viel Rückgewandtheit, Großmannssucht und Eigensinn, eigentlich rührend wäre – wie er es zur Zeit der Königinhofer Handschrift war, als Millionen Menschen, durch einen Fälscher beschwindelt, der ihnen Dokumente einer alten selbständigen Kultur vorspiegelt, sich die Täuschung durch keine Widerlegung mehr rauben lassen wollten und so falschen Zeugnissen beinahe eine höhere Wahrheit als die historische, nämlich die des glühenden Verlangens gaben –, hat sein Seitenstück in der Erlösungsidee der »unerlösten« Italiener, die voll sentimentaler Romantik steckte und sich mit einem knabenhaften Pathos gab, das für erwachsene Kaufleute und Advokaten natürlich reichlich falsch war. Aber das, was man in Österreich deutschnational nannte, gehört auch dazu. Es hat zur Entschuldigung, daß es aus Abwehr entstand, und, was Politik betrifft, ist ihm meiner Ansicht nach manches nachzusehen, aber als Ideologie war es nichts als eine tot wuchernde Geschwulst. Ein Gemenge, das sich aus Wagner, Chamberlain, Rembrandtdeutschem, Felix Dahn, Studentenpoesie, Antisemitismus und unwissender Geringschätzung der anderen Nationen zusammensetzte, bildete den Inhalt eines durch den dauernden politischen Kampf verrohten Selbstbewußtseins. Man schwärmte für Erhöhung des deutschen Wesens in Österreich, meinte damit aber nicht etwa Rilke, obgleich der ein Deutscher, Österreicher und »Arier« ist, sondern kern-inniges deutsches Staackmannestum [vorwiegend österreichische Heimatdichter: die Autoren des L. Staackmann Verlags]. Diese Gesinnung lebt leider heute noch in vielen Köpfen, vor allem unter der Studentenschaft; man durfte sich darüber freuen, daß sie deutsch war, und mußte darüber trauern, wie sie es war. Wo die nationale Idee zu einem Kampfziel wird oder zu einer leidenschaftlichen Sehnsucht, dort entartet sie zu einer Hemmung, so wie sich bei Menschen ein hysterischer Knoten bildet, die es immer danach verlangt, endlich einmal ganz sie selbst zu sein, statt sich im natürlichen Verlauf täglicher Beschäftigung ständig auflösen und wiederfinden zu können.

Was man das Nationalitäten-Problem Österreichs nannte, dieses – ähnlich dem Verlauf einer Blutrache – ausschließlich und immer fester von einer einzigen Ursachenkette Umstrickt- und Gelähmtwerden, wird gewöhnlich als Grund dafür angegeben, daß es mit dem Staat nicht so recht vorwärtsging; zumindest ebenso stark wirkte aber auch der umgekehrte Zusammenhang: weil im Staatsleben nichts da war, um das Verstockende mitzureißen, konnte sich der eine Konflikt bis zur herrischen Monomanie verhärten. Seit der Verdrängung aus Deutschland durch den Sieg der kleindeutschen über die großdeutsche Idee und seit dem davon heraufbeschworenen »Ausgleich« mit Ungarn im Jahre 1867 war das ehemalige Kaisertum Österreich ein biologisch unmögliches Gebilde. In »Zisleithanien« (schon im Namen lebte noch die alte Staatskanzlei) hielten sich die Nationen in einem toten Gleichgewicht, keine war imstande, die Führung zu übernehmen und die andern zu einer gemeinsamen ausgreifenden Willensbildung in wirtschaftlichen und kulturellen Fragen zu bewegen. Dazu kam die verfassungsgemäß alle zehn Jahre wiederkehrende Erneuerung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn, welche mit ihrem Vor- und Nachtrab von Konflikten nach sachverständiger Schätzung das Entwicklungstempo der Wirtschaft wenigstens um ein Drittel verlangsamt hat. So konnte die Monarchie die unpolitische, indirekte Auswirkung des Jahres 1848, die Entfesselung des bürgerlichen Unternehmungsgeistes nicht mitmachen, welche in Deutschland eine Kraft und Bewegtheit ins Leben rief, die man als ungeheuer anerkennen muß, auch wenn man ihre Formen und Ergebnisse mit gutem Recht verdammt. Wäre Österreich ein Staat von so großem Tempo gewesen, so hätte es vielleicht die Interessen seiner Völker in einem dynamischen Gleichgewicht verschmelzen können; da es schwerfällig und schlecht ausbalanciert war und langsam fuhr, fiel es vom Rad.

Die nichtdeutschen Völker haben Österreich-Ungarn ihr Gefängnis genannt. Das ist sehr merkwürdig, wenn man weiß, daß dies bis zuletzt auch die Madjaren getan haben, obgleich sie längst die herrschende Nation der Monarchie gewesen sind. Es wird noch merkwürdiger, wenn man weiß, mit welcher Freiheit Südslawen und Tschechen in Österreich ihren antiösterreichischen Gefühlen Luft machen konnten; ich könnte da aus Zeitungsartikeln zitieren, die im Krieg erschienen sind, was in keinem andern Staat zu schreiben möglich gewesen wäre. Trotzdem Gefängnis? Man kann es nicht aus zwei Jahrhunderte alten Erinnerungen, sondern nur aus tiefem Mißtrauen gegen den Staat erklären, aus der Angst zu ersticken, aus Verachtung. Wäre es nur nationale Sehnsucht gewesen, so hätte nicht die Zerstörung der Monarchie im Programm der Tschechen eingeschlossen sein müssen und es hätten die Serbo-Kroaten und Slowenen die Stammverwandten in den kleinen Staaten jenseits der Grenze zum Eintritt eingeladen, statt sich selbst hinüberzuwünschen. Dieser schläfrige Staat, der mit zwei zugedrückten Augen über seinen Völkern wachte, hatte eben auch wirkliche Anfälle von Härte und Gewaltherrschaft; dies geschah immer dann, wenn er es zu weit hatte treiben lassen und kein anständiger Weg mehr aus noch ein führte. Dann fuhr er mit Polizeimaßnahmen, Staatsanwalt und absolutistischen Verordnungen darein, um – wenige Augenblicke später, von dem erbitterten Widerstand erschreckt, den er vorfand, ängstlich zurückzufahren und seine eigenen Organe zu verleugnen. Die intime Geschichte der österreichischen Verwaltung ist voll von traurigen und burlesken Beispielen, die sich ein halbes Jahrhundert lang in immer der gleichen Weise aneinanderreihen. Man kann den Geist dieses Staats absolutistisch wider Willen nennen; er wäre gerne demokratisch verfahren, wenn er es nur verstanden hätte. Aber wer war dieser Staat? Keine einige Nation und keine freie Vereinigung von Nationen trug ihn, die sich in ihm ihr Skelett geschaffen hätte, dessen Gewebe sie aus der Kraft ihres Blutes ständig auffrischt; kein Geist speiste ihn, der sich in der privaten Gesellschaft bildet und, wenn er in irgendeiner Frage eine gewisse Stärke erreicht hat, in den Staat eindringt; trotz des Talents seiner Beamtenschaft und mancher guten Arbeit im einzelnen, hatte er eigentlich kein Gehirn, denn es fehlte die zentrale Willens- und Ideenbildung. Er war ein anonymer Verwaltungsorganismus; eigentlich ein Gespenst, eine Form ohne Materie, von illegitimen Einflüssen durchsetzt, mangels der legitimen.

 

Unter solchen Umständen hat sich das herausgebildet, was von manchen recht naiv die österreichische Kultur genannt wird, der sie besondere Feinheit nachsagen, die angeblich nur auf dem Boden eines nationalen Mischstaats gedeiht; neuestens glauben einige sie vor dem Aufgehen in der deutschen »Zivilisation« schützen zu müssen und machen aus ihr sogar ein Argument für das Wiederaufleben Österreich-Ungarns in der aus den Angstträumen der Großindustrie geborenen Gestalt der Donauförderation.

Man spart viele Worte in dieser Frage, wenn man drei Feststellungen gleich zu Beginn macht. Erstens haben weder die Slawen, noch die Romanen, noch die Madjaren der Monarchie eine österreichische Kultur anerkannt, sie kannten nur ihre eigene und eine deutsche, die sie nicht mochten; die »österreichische« Kultur war eine Spezialität der Deutschösterreicher, welche gleichfalls eine deutsche nicht haben wollten. Zweitens waren auch innerhalb des österreichischen Deutschtums drei in Lebens- und Menschenart ganz verschiedene Gebiete zu scheiden, Wien, die Alpen- und die Sudetenländer; worin soll die gemeinsame Kultur bestanden haben? Es gab viel Provinz in Österreich, wo sie aber aufhellte, dort wurde einfach wie überall auf der Erde Anschluß an die Welt des Geistes gesucht und das Mittel, durch das dies geschah, war weder reichsdeutsche, noch österreichische, sondern einfach deutsche Kultur. Gewiß hatte Tirol, das schwärzeste Land, das dennoch irgendwie vom Süden beleckt ist, eine Eigenart, aber was hatten die Bukowina oder Dalmatien von ihr und ebenso umgekehrt? Die österreichische Kultur war ein perspektivischer Fehler des Wiener Standpunkts; sie war eine reichhaltige Sammlung von Eigenarten, durch die man den Geist mit Gewinn reifen lassen konnte, das durfte einen aber nicht darüber täuschen, daß sie keine Synthese war. Drittens wird jeder von der Gnade der Selbstbesinnung nicht ganz verlassene »Altösterreicher« eingestehn, daß er, von österreichischen Werten sprechend, nichts anderes meint, als das alte Österreich vor 1867. Dieses Österreich hat die schönen, breiten, weißen Straßen gezogen, auf denen sich's wie durch ein Märchen vom Norden zum Süden, von Asien nach Europa reisen läßt; in diesem Österreich lebten Grillparzer und Radetzky und Hebbel; dieses Österreich hatte den Typus eines wohlunterrichteten, wohlwollenden Verwaltungsbeamten erzeugt, der nicht nur als Vogt, sondern auch als Kulturmissionär an die Peripherie des Reichs hinausging. Dieses Österreich war ein Rest des alten, tüchtigen, in mancher Hinsicht nicht unsympathischen Obrigkeitsstaates. Seither hat sich aber das Rad der Welt um einiges weiter gedreht, und wenn jeder im Innersten an dieses Österreich denkt, sobald er von österreichischer Kultur schwärmt, und wenn unter den mehr als fünfzig Millionen Einwohnern sich seit dem Jahre 1867 keiner gefunden hat, der mit der gleichen Überzeugung von der modernen, der österreichisch-ungarischen Kultur gesprochen hätte, so verrät sich, was die ganze Kulturlegende ist: Romantik.

Als Eroberer und Kolonisatoren waren die Deutschen vor mehr als tausend Jahren ins Land gekommen, und der Zusammenhang mit Deutschland frischte ständig ihre Kraft auf; naturgemäß konnten sie deshalb bis zuletzt die bevorzugten Stellungen in der Verwaltung wie im Wirtschaftsleben besetzt halten, und man muß es wohl auch fast naturgemäß nennen, daß sie dadurch schließlich manche Züge eines Mandschutums aufgedrückt erhielten. Österreich ist das Land der »privilegierten« Unternehmungen gewesen, des mit Zusicherungen und Schutzbriefen arbeitenden Unternehmertums, das dadurch an Tüchtigkeit verlor. Es ist, zusammenhängend damit, das Land der »persönlichen Beziehungen« und der Protektion gewesen; so sehr, daß vorne die Zeitungen über kein bürgerliches Wohlfahrtsunternehmen zu berichten hatten, das sich nicht eines »hohen Protektorats« versichert gehabt hätte, und hinten im Anzeigenteil schamlose Gesuche standen, in denen für Geld öffentliche Protektion gesucht wurde. Der illegitime Einfluß des Adels und der Nobel-Bourgeoisie auf die Führung der öffentlichen Angelegenheiten war unter diesen Umständen so groß, daß man Österreich trotz seines wilden Parlamentarismus einen feudal regierten Staat nennen mußte. Wie weit das ging, sieht man am besten an den kleinen Alltagsgebärden, wie daß man selbst zur Bezeichnung geistiger Vornehmheit mit Vorliebe das Wort nobel verwandte und daß die Kutscher ihre Kundschaft mit Euer Gnaden ansprachen, wozu alle Welt nicht nur lächelte, sondern worin sie eine feine Spezialität erblickte, ohne zu empfinden, daß sie Zeugin einer Prügelstrafe war. Das österreichische Antlitz lächelte, weil es keine Muskeln mehr im Gesicht hatte. Es braucht nicht geleugnet zu werden, daß dadurch etwas Vornehmes, Leises, Maßvolles, Skeptisches usw. usw. in die Wiener Sphäre kam; aber es war zu teuer erkauft. Wenn nichts vorläge als diese »Wiener Kultur« mit ihrem esprit de finesse, der immer mehr zum Feuilletonismus entgeistete, als diese Vornehmheit, die Kraft und Brutalität nicht mehr auseinanderzuhalten vermochte: so wäre das genug, um das Untertauchen in der deutschen Brause zu wünschen.

Aber worin besteht denn überhaupt Kultur? Man mengt da immer zwei recht verschiedene Begriffe ineinander: geistige Kultur und das, was man unter persönlicher versteht, die Lebensform, der gute Stil; theoretisch sollte die Lebenskultur freilich herausgewachsen auf der geistigen sitzen, in Wirklichkeit kommen die beiden aber gewöhnlich getrennt vor. Zugegeben, daß von der persönlichen Form Österreich besonders viel hatte, so hatte es doch von der geistigen, der eigentlichen Kultur besonders wenig. Man vergleiche die Ausstattung der österreichischen Hochschulen mit der der deutschen, Zahl und Größe der Büchersammlungen, der öffentlichen Bildersammlungen, die Gelegenheiten, ausländische Kunst kennenzulernen, Zahl und Bedeutung der Revuen, Intensität und Umfang der öffentlichen Erörterung geistiger Fragen, den Gehalt der Bühnenleistungen, man denke an die Tatsache, daß fast alle österreichischen Bücher in Deutschland hergestellt werden, daran, daß fast alle österreichischen Dichter ihre Existenz deutschen Verlegern verdanken: und dann frage man, worin denn die Kultur eines Staats besteht, wenn nicht in diesen Leistungen?! Die Rede von der österreichischen Kultur, die auf dem Boden des nationalen Mischstaats stärker erblühen soll als anderswo, diese so oft beteuerte Mission der sancta Austria, war eine niemals bewahrheitete Theorie; daß sie hartnäckig im Gegensatz zur Wirklichkeit festgehalten wurde, war der Trost von Leuten, welche den Bäcker nicht bezahlen können und sich mit Märchen sättigen.

Damit diese Angriffe nicht am Ende dort treffen, wohin sie nicht zielen, sei noch einmal ausdrücklich gesagt: sie gelten dem Kulturwert des Staats und nicht dem der Einzelmenschen in Österreich. Selbst ihr Durchschnittstypus ist wertvoll. Das Leben ist da nicht so verbaut, man sieht den Himmel und hat Raum und Zeit. Man fühlt sich tiefer in diesem Land leben als im Reich. Und der Mensch hat, selbst in Wien noch, etwas vom Stifterschen Menschen in sich und mehr vom russischen als der deutsche. Es sind jedenfalls nicht die schlechtesten Deutschen jene Österreicher, die solche Gründe anführen, um vor dem Aufgehen im M. W. [= Machen wir: s. S. 504, Ziff. 46; S. 858] des Reichs zu warnen. Aber sie übersehen, daß das, was sie das Berlinertum nennen, nur eine Teilerscheinung der Weltentwicklung war; und schließlich war ja auch Österreich gar nicht der Staat, der aus höherer Einsicht bei der Postkutsche und dem Weimarer Bildungsideal stehengeblieben wäre, sondern es hatte genau so Eisenbahn und Journalistik eingeführt wie die übrige Welt, nur fuhr man mit beiden schlechter als anderswo. Und das hängt nicht von der Tüchtigkeit des einzelnen ab; sie war in Österreich jederzeit und ist groß, was schon der Anteil beweist, den Österreicher, auf deutschem Boden wirkend, der deutschen Kultur gegeben haben. Gerade um des wertvollen Österreichers willen muß die Legende von der österreichischen Kultur zerstört werden!

Die Kultur eines Staats entsteht nicht als Durchschnitt der Kultur und Kulturfähigkeit seiner Bewohner, sondern sie hängt von seiner gesellschaftlichen Struktur und mannigfachen Umständen ab. Sie besteht nicht in der Produktion geistiger Werte von Staats wegen, sondern in der Schaffung von Einrichtungen, welche ihre Produktion durch den Einzelmenschen erleichtern und neuen geistigen Werten die Wirkungsmöglichkeit sichern. Das ist wohl fast alles, was ein Staat für die Kultur leisten kann; er hat ein kräftiger, williger Körper zu sein, der den Geist beherbergt. Kann man Deutschland, bildlich gesprochen, vorwerfen, daß es seit dem Aufschwung zu sehr seiner Körperlichkeit gefrönt habe, so läßt sich das durch einen Wechsel der Sinnesart gutmachen; Österreich aber müßte seinen Körper in allen Gewebsschichten wechseln, was viel schwerer ist. Aus diesem Grunde tut ihm das Aufgehen in Deutschland not und zwar sowohl dann, wenn morgen schon die aus dem Osten kommende Bewegung der Welt eine neue, die Grenzen brechende Gestalt geben sollte, wie dann, wenn im Westen die Beschränktheit von gestern noch einmal siegen sollte. In beiden Fällen werden ungeheure Aufgaben gestellt sein, die zur Lösung der zweckmäßigst zusammengefaßten Kraft bedürfen.

Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit
[1921]

I

Indem ich anhebe, die Frage des Nationalgefühls als eine Frage zu behandeln, während sie seit 1914 nur als Antwort zu existieren scheint, als leidenschaftliche, unbekümmerte Bejahung oder Verneinung, indem ich dies mitten in einem überaus kritischen Abschnitt unseres Schicksals versuche, wo scheinbar jeder Zweifel am Begriff der Nation vermieden sein sollte, muß ich dennoch die Entschuldigung abweisen, ich tue es, weil ich eine neue Antwort weiß und mich der Prophet treibt, sie zu verkünden. Ich kenne in der Tat nur Teilantworten oder Antworten, die nur zum Teil befriedigen. Aber gerade in diesem Mangel, der ungeachtet allen Bemühens, ihn zu beheben, bestehen bleibt, erkenne ich die Notwendigkeit, daß einer einmal nicht in fertiger Überzeugung von der Sache spricht, sondern aus der unverhohlenen Hilflosigkeit heraus, in der wir uns trotz aller Phrasen ihr gegenüber befinden.

II

Die, für welche die Nation einfach nicht existiert, machen es sich zu leicht. Dieser Geist, der sich im Namen des Geistes für exterritorial und übernational erklärt, treibt angesichts der auf uns allen lastenden Verachtung und Sklaverei Vogelstraußpolitik; er steckt den Kopf in den Sand, was nicht hindern kann, daß ihn die uns allen geltenden Schläge dort treffen werden, wo seine Straußfedern sitzen.

Dieser individualistische Separationsgeist übersieht aber noch eines: jenes bekannte Sommererlebnis im Jahre 1914, den sogenannten Aufschwung zur großen Zeit, und ich meine das durchaus nicht nur ironisch. Im Gegenteil, was man anfangs stammelte und später zur Phrase entarten ließ, daß der Krieg ein seltsames, dem religiösen verwandtes Erlebnis gewesen sei, kennzeichnet unzweifelhaft eine Tatsache; Entartung beweist nichts gegen den ursprünglichen Charakter. Es ist zu einer Phrase gemacht worden, in der üblichen Weise eben dadurch, daß man es ein religiöses Erlebnis nannte und ihm damit eine archaistische Maske gab, statt zu fragen, was da eigentlich an einem doch längst entschlafenen Vorstellungs- und Gefühlsbereich so heftig seltsam poche: dennoch läßt sich nicht leugnen, daß die Menschheit zu jener Zeit (und natürlich alle Völker in der gleichen Weise) von etwas Irrationalem, Unvernünftigem, aber Ungeheurem berührt worden ist, das fremd, nicht von der gewohnten Erde, war und deshalb, noch bevor die eigentlichen Kriegsenttäuschungen kamen, einfach weil es sich bei seiner atmosphärisch unbestimmten Natur nicht fassen und halten ließ, schon als eine Halluzination oder ein Gespenst erklärt wurde.

Darin war auch das berauschende Gefühl enthalten, zum erstenmal mit jedem Deutschen etwas gemeinsam zu haben. Man war plötzlich Teilchen geworden, demütig aufgelöst in ein überpersönliches Geschehen, und spürte, von ihr eingeschlossen, die Nation geradezu leibhaft; es war, als ob mystische Ureigenschaften, welche in einem Wort eingeschlossen die Jahrhunderte verschlafen hatten, plötzlich so real erwachten wie die Fabriken und Kontore am Morgen. Man muß schon ein kurzes Gedächtnis oder ein weites Gewissen haben, um über späterer Besinnung das zu vergessen. – Selbst die wenigen, die sich diesem ungeheuren Druck entziehen wollten, konnten es nicht durch ruhiges Beharren tun, sondern nur durch Gegenstoß. Wer schon zu Beginn Kriegsgegner war, mußte es fanatisch sein; er spie der Nation ins Gesicht, er meuchelte sie und bewies damit nur – die Konträrfaszination.

Will man nun glauben, daß es nichts gewesen sei, wenn Millionen Menschen, die zuvor nur für den Eigennutz und in übertünchter Angst vor dem Tode gelebt hatten, plötzlich mit Jubel dem Tod für die Nation entgegenliefen? Man muß schon ein sehr ungebildetes Ohr für das Leben haben, um über der pazifistischen Gewissensstimme diese Stimme des Geschehens nicht gehört zu haben. Und selbst wenn Millionen von Menschen sich, ihre Existenz, ihre Lebensziele, ihre Nächsten, ihren Gesamtbesitz an Heroismus bloß einem Phantom geopfert haben sollten: kann man denn da einfach wieder zu Bewußtsein erwachen, aufstehen und weggehen wie nach einem Rausch, das Ganze eine Trunkenheit, eine Psychose, eine Massensuggestion, ein Blendwerk des Kapitalismus, Nationalismus oder was immer nennend? – Man kann es ganz gewiß nicht, ohne dadurch ein Erlebnis zu unterdrücken, das nicht erledigt ist, und gerade dadurch die Ursprünge einer ungeheuerlichen Hysterie in die Seele der Nation zu senken!

III

Aber auch die, für welche die Idee der Übernationalität nicht existiert, machen es sich zu bequem. Braucht man das eigentlich zu sagen?

Wenn aber nicht, warum hört man dann so selten die Anklage gegen den Betrug erheben, der an uns beim Kriegsende durch Wilson und sein trojanisches Pferd der vierzehn Punkte begangen worden ist? Gewiß waren wir damals am Ende; aber in dem Augenblick, wo wir die zum Ekel gewordenen Waffen fallen ließen, hatte sie etwas uns aus der Hand geschlagen oder geschmeichelt? War nicht eine österliche Weltstimmung da: verfrüht wie ein warmer Februartag, die Überzeugung, daß eine neue Zeit für die Menschheit anhebt? Und auch sie war, verglichen mit dem erschütternden Dementi, das sie erlitt, nur eine Trunkenheit, eine Psychose, eine Massensuggestion, ein Blendwerk gewesen.

Wir haben also zwei große, einander entgegengesetzte Illusionen und beider Zusammenbruch erlebt, empfindlicher erlebt als andere Nationen: ist es zu verwundern, daß wir daran geistig niedergebrochen sind? Der wilde Haß, der in der deutschen Nation zwischen den zur Wiederermannung Eifernden und den dagegen Eifernden aufriß, die durcheinandergellenden Appelle an die nationale Erhebung von 1813 und an die internationale Erhebung von Moskau, der Kontrast zwischen den vor der Entente palmwedelnden Pazifisten und den Morden an unseren eigenen Politikern, die leidenschaftlichste Trauer um die verlorene Selbständigkeit der Nation gleichzeitig mit unerlaubten Auslandsgeschäften, Florieren der Schieber, der Tanzsäle und tausenderlei wenn selbst nicht unerlaubtem, so doch unangebrachtem Gedeihen, endlich die ungeheure seelische Ermattung und der Zerfall der Nation in müde, mürrische, einander fremd gewordene Teile: das entspricht nicht mehr bloß der Schwere erlittener materieller Verletzungen, sondern zeigt die geistige Erschütterung an.

IV

Zur Wiederaufrichtung gehört wohl eine klare und feste Seele; ist es richtig, daß jene Illusionen und ihr Zusammenbruch uns geschwächt haben, und daß wir eigentlich an einem seelischen Vakuum leiden, so haben wir wenig Dringenderes zu tun, als uns mit ihnen auseinanderzusetzen.

Wie falsch die leider oft in Deutschland zu hörende Schulbubenausrede: Wir haben's nicht getan! Sondern die Kaiser, die Generäle, die Diplomaten! Natürlich haben wir's getan: wir haben es gewähren lassen; es hat es getan, ohne daß es von uns gehindert worden wäre. Bei uns wie bei den andern. Wie falsch auch die andere oft zu hörende Rede: wir hätten bloß nicht genug Festigkeit gehabt und hätten uns betören lassen. Das übersieht das wahrhaft Neue, zu dem sich damals der Wille bilden wollte. Wenn man aber die Verhandlungen von Versailles in den französischen Blättern nachliest, so sieht man es sich listig, nein fast mechanisch, hilflos und mit Notwendigkeit gegenbilden, was diesen Willen bezweifelte, so wie er auch bei uns bezweifelt wird, verdächtig machte mit alten Erfahrungen und ihn mit einer Mentalität umfing, deren Apparat nicht anders konnte, als die junge Saat zerdrücken. Versailles war ein Brennspiegel des europäischen politischen Denkens. Der einzelne aber war der gleiche vor 1914, im Sommer 1914, bei Brest-Litowsk, bei den vierzehn Punkten, in Versailles; der gleiche in Frankreich und Deutschland; er hat bloß die entsetzlichsten Gegensätze erlebt, fast ohne die Übergänge zu merken; er hat sich bloß als zu allem fähig erwiesen und hat es gewähren lassen; bei voller Illusion eigenen Willens folgte er willenlos. Wir haben's getan, sie haben's getan; das ist keiner, das ist »Es«.

Betrachten wir dieses Es.

Daß der Wille der Gesamtheit nicht die Summe der Einzelwillen darstellt, ist nichts Neues; wenn nicht früher, so findet man bei Lagarde diesem Gedanken Wichtigkeit beigemessen, und seither ist er ein oft erörtertes und genau untersuchtes Thema geworden. Selbst eine Urabstimmung drückt nicht allein die Stimme der Befragten aus, sondern auch die des dazu aufgebotenen Apparats, und so sind alle Äußerungen eines Volks nicht nur es selbst, sondern sind mitbestimmt von seinen Apparaten der Bürokratie, der Gesetze, der Zeitungen, der wirtschaftlichen und ungezählter anderer Einrichtungen bis in die scheinbar individuellsten und doch teilweise abhängigen Leistungen der Literatur hinein. Ein Volk ist die Summe der einzelnen plus ihrer Organisation, und da diese Organisation in vieler Hinsicht ein selbständiges Leben führt, so ergibt sich – nimmt man noch die in hohem Maß zufällige Zusammensetzung der öffentlichen Ideenatmosphäre eines bestimmten Augenblicks hinzu – jenes Es, von dem die Rede war. Seine Bildung soll in der Folge als genügend bekannt und ungenügend durchschaut vorausgesetzt werden; es ist merkwürdig, wie wenig ausgenützt diese doch schon feststehenden Wahrheiten werden, und es würde nicht viel dazu beitragen, obgleich es sehr umfänglich wäre, wenn ich sie hier wiederzugeben versuchte.

Hingegen ist das ideologische Gewand, in dem dieses Es auftritt, im Zeitpunkt vor einer Erneuerung mit pflichtschuldigem Argwohn zu betrachten.

V

Es dürfte nicht viele Menschen geben, welche, direkt befragt, Nation mit Rasse gleichsetzen würden – alle Welt weiß schließlich, daß die Nationen Rassengemische sind –, aber merkwürdigerweise wird trotzdem im Leben immer wieder ganz unbefangen der Begriff der Rasse dem der Nation unterschoben, und es wird mit ihm hantiert, als wäre er so eindeutig wie der Begriff eines Würfels: darin liegt die Erscheinung, welche hier betrachtet werden soll. Es ist mir ferne, mich über die Rassenfrage verbreiten zu wollen, aber um zu ihrer ethischen Bedeutung zu gelangen, ist es allerdings nötig, an die theoretische Eigenart des Rassegedankens anzuknüpfen.

Wenn sich von einem bestimmten Augenblick ab die Tische durch Zeugung statt durch Bestellung vermehren würden, so würden wir alsbald aus den jetzt lebenden Tischen (und zwar mit der gleichen Evidenz, mit der wir in einem Friesen den Friesen erkennen) die Rassen der vierbeinig-rechteckigen, der einbeinig-ovalen und dergleichen mehr Tischrassen entstehen sehn. Es wäre gar nichts geschehn, als daß je zwei Tische einen dritten zeugten, der ihnen nach einem bestimmten Mischungsgesetz der Eigenheiten ähnelte und die Eigenschaft besäße, sich in der gleichen Weise weiter fortzupflanzen. Daß dabei ein Teil der Eigenschaften während mehrerer Generationen bloß in den Keimanlagen weitergereicht werden kann, ohne sonst in Erscheinung zu treten, ändert gar nichts daran, daß sich alles nur zwischen und an Individuen abspielt. Bei der ganzen Angelegenheit hat die Rasse nichts zu tun, als daß sie schließlich da ist, weil sie gar nirgends anders sein kann; so wie der Regen da ist, wenn Tropfen vom Himmel fallen. Sie selbst hat keine andere Möglichkeit, in das reale Sein einzutreten, als durch die Individuen, und keine andere[n] Wirkungen als die Wirkungen von Individuen; eine solche Existenz ist aber eben eine nur gedachte, ein Kollektivbegriff. Natürlich gibt es Rassen, aber die Individuen bilden die Rasse.

Ist das der Sachverhalt, so ist seine Umkehrung durchaus nicht berechtigt, und diese fast theologische Verdrehung lautet: das Individuum wird von Rassen gebildet. Bekanntlich ist gerade diese Formel die des Alltagsgebrauchs.

Es bleibt nach ihr von einem Menschen so wenig übrig wie von einem Strumpf nach Abzug der sich verkreuzenden Maschen. Meist mag es ja nur eine Bequemlichkeit der Verständigung sein, wonach ein Mensch zuerst durch seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe gekennzeichnet wird – kann es die Familie X sein, warum also nicht auch die germanische Rasse? –, und es klingt uns heute schon fast natürlich, wenn Bismarck sagt, »das Fällen von Bäumen ist kein germanischer, sondern ein slawischer Zug«, oder ein jüdischer Kritiker von Wassermanns Buch Mein Weg als Deutscher und Jude behauptet, »es ist für einen Juden unmöglich, ein rein deutscher Künstler zu werden«: trotzdem ist es gerade in den harmlosen Fällen ein gefährliches Zugeständnis an eine lasterhafte Denkgewohnheit. Man kennt ja jene Literatur, die sie verursacht hat und von ihr verursacht wurde. Sie hat nicht Schädelindizes, Augenfarbe und Skelettproportionen, was nur wenig Menschen anlockt, zum Gegenstand, sondern Eigenschaften wie religiösen Sinn, Rechtlichkeit, staatsbildende Kraft, Wissenschaftlichkeit, Intuition, Kunstbegabung oder Toleranz des Denkens, von denen wir insgesamt kaum anzugeben wissen, worin sie bestehn, und spricht sie mit Hilfe eines anthropologischen Küchenlateins den angeblichen Rassen zu oder ab, weil sie glaubt, der Nation Würde durchs Ohr flößen zu können, wenn sie mit der Stimme der Jahrtausende vor ihr bauchredet.

Man wird nicht leugnen können, daß ein gut Teil unseres nationalen Idealismus in dieser Denkkrankheit besteht.

Wohin das führen muß, ist nicht schwer zu sehen. Wenn im Guten und Bösen für alles nicht der einzelne verantwortlich gemacht wird, sondern die Rasse, wirkt das genau so, wie wenn man sich immer auf einen anderen ausredet; die Folge ist nicht nur, daß Wahrhaftigkeit und intellektuelle Feinheit abstumpfen, sondern eine Entartung aller Keimzellen der Moral. Wo die Tugend durch Prädestination zum Nationaleigentum erklärt wird, ist der Weinberg des Herrn expropriiert, und niemand braucht fortab in ihm zu arbeiten. Es wird dem einzelnen vorgeschmeichelt, er besitze alles Wünschenswerte, so er sich nur auf die Tugenden seiner Rasse besinne: offenbar ein moralisches Schlaraffenland, unser glückliches Deutschland, wo die gebratenen Tugenden ins Maul fliegen!

Schwieriger scheint sich erkennen zu lassen, woher es kommt. Man sagt Antisemitismus, aber das ist fast nur ein anderes Wort für die Erscheinung selbst; das Wesentliche ist, daß sich hinter ihr ein echter Idealismus birgt, ein typischer Fall jenes regressiven Ideenbedürfnisses, das jeden Gedanken auf ältere, ewige, für erhaben geltende zurückbezieht statt ihn auszudenken; kurz eben das, was hierzulande für Idealismus gilt. Das erzeugt den Menschen mit dem festen Rezept und den erhaben einfachen Regeln, der sich des geistigen Erlebens überhebt, den Pharisäer. Es ist bei uns ein sonderbares und äußerst gefährliches Verhältnis entstanden: die Respektlosigkeit vor dem Geist im Namen des deutschen Geistes. Weite – und fast möchte man sagen die bestwilligen – Kreise unseres Volks haben es verlernt, eine Leistung nach ihrem Gehalt zu empfinden, und prüfen sie nur nach ihrer Herkunft und darauf, wie sie ins System der Vorurteile paßt; es wird das Weite am Engen gemessen, der mannigfaltige Geist an einer seiner Ausgeburten; die Aufmerksamkeit hat sich von den Werten zu ihren Nebenumständen abgewendet, von der Wirklichkeit zur Hypothese, und es hat sich derer, die zu folgen berufen sind, eine sektiererisch anmaßende Besserwisserei bemächtigt. Da mit etwas so Urtümlichem, wie es die Rasse ist, überdies nur urtümliche Tugenden verknüpft sein können, werden schließlich auch die Geister, welche sich des gleichen Bluts berühmen dürfen wie ihre Richter, nicht mehr ans Ohr der Nation gelassen, falls sie nicht so schreiben wie Herr Walter Bloem oder so denken wie Herr Hilthy [= Carl Hilty?], also nicht treu, tapfer, keusch sind und mit weiteren fünf deutschen Indianertugenden ihr Auslangen finden. Auf diesem Wege des Idealismus ist der Rassengedanke zur deutschen Selbstbeschädigung geworden und saugt der Nation in jahrzehntelangem Mißbrauch das Mark aus.

VI

Unter allen ideologischen Bekleidungsstücken der Nation ist aber der Staat das leibhafteste. Fast möchte man schlechtweg sagen: er ist ihr Leib; aber er ist ja mehr, er ist ja leider fast auch ihre Seele. Siehe das alte kaiserliche Reich, siehe aber auch das neue Rußland. Er ist eine alle inneren Teile durch und durch wuchernde Schutzkapsel.

Es ist überaus merkwürdig, wie in der Geschichte des Denkens von den Griechen bis auf den heutigen Tag maßlose Hochstellung des Staates mit maßloser Tiefstellung fast in der Regelmäßigkeit von Pendelschwingungen wechseln. Er wird bald für die höchste menschliche Erziehungsanstalt oder den Inbegriff aller Güter angesehn, bald für den alles Höhere verschlingenden Leviathan, und wenn schon für unentbehrlich, so doch für ein unentbehrliches Übel. Es ist klar, daß so hartnäckige Widersprüche nicht nur theoretischer Natur sein können, sonst hätte sich im Lauf der Zeit, wie bei allen Verstandesfragen, ein Ausgleich herausgebildet. Sie erweisen sich auch als unabhängig von den großen Weltanschauungstypen; Hellas, das katholische Mittelalter und die Aufklärungszeit mußten gleichermaßen beiden Auffassungen in sich Raum geben. Da er nicht zu schlichten ist, hängt der Streit wahrscheinlich mit einem Gefühlsverhältnis zusammen; da er sich aber auch den tiefsten Unterschieden des Weltgefühls gegenüber als unbeeinflußbar erweist, dürfte er auf einen noch tieferen Unterschied hinabreichen; es liegt nahe, diesen in dem Gegensatz von Einzel- und Gesellschaftswesen zu suchen, der vor die Anfänge der menschlichen in die tierische Gesellschaft hinabreicht und von jedem in sich getragen wird. Jeder einzelne ist gespalten in Liebe und Haß der Gesellschaft gegenüber, wenn auch die Lebensumstände eines von beiden oft nicht bemerken lassen oder beide zur Gleichgültigkeit abschwächen.

Dieses widerspruchsvolle Verhältnis des Menschen zum Staat äußert sich nun auch in dem folgenden fürchterlichen Rechenexempel: Die einzelnen Menschen sind, wenn man auf die Übertreibungen der Rassenidee verzichtet, in den verschiedenen Staaten einander nahezu gleich; die Staaten sind, wenn man sie als Apparate miteinander vergleicht, auch nahezu immer dieselben – dennoch ergibt einzelne plus Staat jene vernichtenden Gegensätze, die sich in Kriegen entladen und zu Friedenszeiten in dem seltsamen Zeremoniell von Gesandtschaften, Noten, Empfängen und Demarchen äußern, das so genau dem ähnelt, nach welchem Hunde auf der Straße einander begegnen. Sucht man diesen Widerspruch, daß die gleichen Menschen, in gleicher Weise organisiert, einen dauernden Gegensatz bilden, aufzulösen, so kann seine Ursache nur in der Art der Organisation zu suchen sein. Schon die flüchtigste Prüfung unter dieser Fragestellung ergibt vor allem, daß der Staat so etwas wie eine verhärtete Haut ist, eine geschlossene Fläche, welche den größeren Teil der in ihrem Raum wirkenden Kräfte nach innen zurückwirft und nur den weitaus kleineren durchläßt; ein Isolator; Meinungsaustausch, Verkehr, geistige Organisation, kirchliche Gemeinschaft, selbst Sozialismus, dieser aller »Kraftfelder« sind außen sehr viel verdünnter als innen. Es kommt dies daher, daß nahezu nur der Staat wirksame »Organe« ausgebildet hat; die Nation hat ja fast keine; die, welche sie hat, sind der Staat. Deshalb denkt, fühlt, entscheidet, handelt er in den meisten Fällen für die einzelnen mit einer Generalprokura, die sich jeder Kontrolle entzieht; denn die Kontrolle ist, wenn man den Begriff des Staates nur in genügend weitem Sinn nimmt, wieder er selbst. Es bilden ja nicht nur die Regierung und die Exekutive diesen Apparat des sogenannten gemeinsamen Willens, sondern auch die Parteien und die Interessenvertretungen jeder Art; es besteht da ein durchgehendes, sozusagen histologisches Aufbaugesetz, wonach die Elemente der Organisation wieder nur Organisationen sind, und es wird anscheinend desto fühlbarer, je weiter ins Demokratische die Entwicklung geht. Demokratie ist nicht Herrschaft des Demos, sondern seiner Teilorganisationen.

Immer aber, wenn eine Gruppe für die einzelnen handelt, wird ein Rest zu finden sein, ein Opfer, eine Duldung; nur dann nicht, wenn ein starker Schwung, die Einstellung auf eine besondere Leistung, ein erregter Herzschlag sie wegspült, nicht zu Bewußtsein läßt. In so großen, inhomogenen, gealterten Gruppen, wie sie die Staaten sind, wird das nur in besonders gehobenen Augenblicken geschehn; gewöhnlich »drückt« der Staat den Menschen, wo er mit ihm in Berührung kommt. Man braucht also kein Antietatist zu sein und kann die große Bedeutung des Staates voll anerkennen, so bleibt es doch angesichts dieser Verhältnisse eine tatsachenwidrige Ideologie, in ihm den Vertreter der höchsten, weil allen gemeinsamen Güter zu sehn und ihm dafür eine Art Überwillen zuzusprechen oder ihn für irgendeine Art menschlicher Vervollkommnungsanstalt zu halten. Das ist ein Ideenrest aus der Zeit des Obrigkeitsstaats, der sich in die Sprüchlein der Erzieher des jungen Deutschen Reichs gerettet hatte und leider auf dem besten Wege ist, im Sozialismus wieder aufzuleben, dessen Ethik im Altruismus einer Brüderschaft steckenzubleiben scheint. Es ist auch ein Fall jenes »Überwälzungsidealismus«, der die Würde, die der Mensch für sein persönliches Leben nicht zu gewinnen vermag, auf dessen Hintergrund überträgt, auf die Rasse, auf seinen Kaiser, auf einen Verein, auf die Erhabenheit des Sittengesetzes oder sonst eine Tapete.

VII

Das gewöhnliche Verhältnis des einzelnen zu einer so großen Organisation, wie sie der Staat darstellt, ist das Gewährenlassen; überhaupt repräsentiert dieses Wort eine der Formeln der Zeit. Das Zusammenleben der Menschen ist so breit und dick geworden, und die Beziehungen sind so unübersehbar verflochten, daß kein Auge und kein Wille mehr größere Strecken zu durchdringen vermag, und jeder Mensch außerhalb seines engsten Funktionskreises unmündig auf andere angewiesen bleibt; noch nie war der Untertanenverstand so beschränkt wie jetzt, wo er alles schafft. Ob er möchte oder nicht, muß der einzelne gewähren lassen und tut nicht. Es ließ der Engländer und Amerikaner nicht die Kinder in Mitteleuropa verhungern, sondern er ließ es bloß zu, und wir selbst haben unseren Teil an den Greueln nicht getan, selbst wenn wir die Täter waren, sondern wir haben ihn bloß zugelassen. Wenn man das ändern will, muß man sich aber auch klarmachen, wie notwendig es ist. Wer glaubt – und es scheinen nicht wenig und gerade die eifrigsten Seelen zu sein –, daß da etwas statt durch kaltblütige Organisation von der Wärme des Herzens her zu richten wäre, der schlage an einem beliebigen Morgen seine Zeitung auf und lese, was es alles darin an einem einzigen Tag an Leid und Unglück gibt, das zu verhindern möglich wäre: und wenn er das alles nicht zulassen wollte, ja wenn er bloß die Fähigkeit besäße, es sich leibhaft deutlich zu machen, nein, nur so weit deutlich zu machen, wie es das Wort »mitfühlend« von jedem Menschen verlangt – er würde ein Narr werden! – Das aktive Gegenstück zu diesem Gewährenlassen ist die summarische, allgemeine, aktenmäßige Behandlung menschlicher Fälle; der Akt ist das Symbol der indirekten Beziehung zwischen Staat und Mensch. Er ist das geruch-, geschmack- und gewichtslos gewordene Leben, der Knopf, den man drückt, und wenn deshalb ein Mensch stirbt, so hat man es nicht getan, weil das ganze Bewußtsein von der schwierigen Handhabung des Knopfes erfüllt war; der Akt, das ist das Gerichtsurteil, der Gasangriff, das gute Gewissen unserer Peiniger, er spaltet den Menschen aufs unseligste in die Privatperson und den Funktionär, aber seine Indirektheit der Beziehung ist unter heutigen Verhältnissen eine anscheinend unentbehrliche Hygiene.

Der einfache Mensch korrigiert das darauf ruhende Mißgebilde, indem er stiehlt und auf belieb[ige] Weise die ihm gemachten Vorschriften hintergeht. In der Tat bleiben außerhalb dieses Systems eigentlich nur illegitime und fast als unerlaubt anrüchige Einflüsse: der freie Wirtschafts-, Meinungs- und Lebensverkehr. Es bilden sich immer wieder trotz aller Widerstände Gedanken, die schließlich der Entwicklung eine kleine Änderung geben; auf die verstaatlichte Kirche wirken Häretiker ein, auf den verstaatlichten Geist das freie Schrifttum, und vor allem sind es die Süchte, – darunter beherrschend und regelnd die nach dem Geld –, welche das menschliche Gegengewicht zur Organisation bilden. Sie sollten nicht nur angeklagt, sondern verstanden werden als das luziferische Korrektiv zu dem sehr unvollkommenen Gotte Staat. Augustinus schied zwischen dem Staat und der civitas dei, der Sphäre des Gottesreichs, wo sich der einzelne Mensch jedem Zugriff der Allgemeinheit entzieht. Heute stürzt sich die civitas dei ins Kino, gibt die Existenz hin für den Jimmy und schiebt mit Devisen unbekümmert den Staat an den Rand des Grabs. Das ist natürlich Entartung; es ist aber wichtiger, sich einzugestehn, daß es nach der anderen Seite bloß Kehrseite des Staates ist, etwas in seinem Wesen Begründetes, das in den Dombau eingemauerte spukende Menschenopfer.

Die Existenz der Nation war weder als Rasse noch in der Form des Staates zu finden; in diesen beiden hat man sie aber tatsächlich gesucht: der deutsche Gedanke stützte sich entweder auf Rassenphantasien oder auf eine Aufopferungsphilosophie für die Summe aller Summen, welche der Staat sein sollte, fast auf eine Art individueller Erbsündigkeit, die nur durch das Aufgehen im Ganzen abgelöst werden könne. Es blieb außerhalb dieser beiden als Drittes die civitas dei, und ihr entspricht als dritte der Fassungen, eben schon berührt, die Nation als Geist. Unsere Ciceros sagen: die überpersönlichen ideellen Güter, der Gemeinschaftsgeist, die dem gemeinsamen Willen entsprossenen Einrichtungen, die gemeinsame Kulturtradition (worin der Komplex Staat nur einen Teil ausmacht) integrierten die Nation. Ohne das leugnen zu müssen, was viel Richtiges enthält, ist es erlaubt, dem ein doch wohl richtigeres Bild entgegenzustellen. Welcher Geist ist denn etwa einer Universität mit einem Zuchthaus gemeinsam – und es sind doch zwei Anstalten, in denen heute die Exponenten der beiden am stärksten entwickelten Tüchtigkeiten stecken? Welcher Geist Herrn Anton Wildgans mit Nietzsche? Gewiß einer, aber das wird so schwer festzustellen sein, daß man ihn besser beiseite läßt. Man achte lieber darauf, daß es da zuhauf viele Millionen Einzelner gibt, die innerhalb eines recht auseinanderklaffenden Zeitraums den Kopf in eine Welt gesteckt haben, welche sie dem Grad und der Art nach sehr verschieden verstehen, von der sie ganz Verschiedenes wollen, von der sie nicht viel mehr sehen als den Faden ihres Erwerbs und einen großen, beziehungslosen Lärm hören, in dem hie und da etwas anklingt, das sie die Ohren spitzen macht. Diese ungeheure, ungleichartige Masse, der sich nichts ganz eindrücken kann, die sich nicht ganz ausdrücken kann, deren Zusammensetzung täglich ebenso wechselt wie die der sie treffenden Reize, diese zwischen fest und flüssig schwankende Masse, Nicht-Masse, dieses Nichts ohne feste Gefühle, Gedanken und Entschluß ist, wenn auch nicht die Nation, so doch die ihr Leben eigentlich erhaltende Substanz.

Von ihr selbst wird jene ideelle Einkleidung als ein falsches »Wir« empfunden. Es ist ein Wir, dem die Wirklichkeit nicht entspricht. Wir Deutsche, das ist die Fiktion einer Gemeinsamkeit zwischen Handarbeitern und Professoren, Schiebern und Idealisten, Dichtern und Kinoregisseuren, die es nicht gibt. Das wahre Wir ist: Wir sind einander nichts. Wir sind Kapitalisten, Proletarier, Geistige, Katholiken . . . und in Wahrheit viel mehr in unsere Sonderinteressen und über alle Grenzen weg verflochten als untereinander. Der deutsche Bauer steht dem französischen Bauern näher als dem deutschen Städter, wenn es darauf ankommt, was reell ihre Seelen bewegt. Wir – jede Nation für sich allein – verstehen einander wenig und bekämpfen oder betrügen uns wo wir können. Unter einen Hut sind wir allerdings dann zu bringen, wenn er auf dem Kopf einer anderen Nation eingetrieben werden soll; dann freilich sind wir beseligt und haben ein mystisches Gemeinsamkeitserlebnis; aber man darf annehmen, daß die Mystik dieses Erlebnisses darin besteht, daß es so selten für uns eine Realität ist. Noch einmal: das gilt ebensogut für die anderen wie für uns Deutsche; aber wir Deutsche haben in unseren Krisen den unschätzbaren Vorteil, daß wir die wahre Zusammensetzung deutlicher erkennen können als sie, und auf diese Wahrheit sollten wir unser Vaterlandsgefühl aufbaun und nicht auf die Einbildung, daß wir das Volk von Goethe und Schiller oder von Voltaire und Napoleon sind.

Es bleibt immer und zu allen Zeiten ein Gefühl mangelnder Deckung zwischen öffentlichem und eigentlichem Leben; kann aber überhaupt irgend etwas von öffentlichem Geschehen dessen wahrer Ausdruck sein? Bin denn selbst ich Einzelner das, was ich tue, oder ist es ein Kompromiß zwischen unartikulierten Kräften in mir und bereitstehenden, umformenden Formen für die Verwirklichung? Beim Verhältnis zum Ganzen gewinnt diese kleine Differenz vertausendfachte Bedeutung. Eine unnatürliche Interessenverknüpfung kann außer durch träges Beharren nur durch gemeinsames Interesse an der Gewalt gegen andre zusammengehalten werden, es muß nicht gerade die Gewalt des Kriegs sein. Wenn man aber sagt, in den Zeiten von Kriegsausbrüchen seien Massensuggestionen im Spiel, so ist das nur als das Zerbersten einer Ordnung an ihren ungewollten vernachlässigten Spannungen zu verstehn. Dieser explosive Aufschwung, mit dem sich der Mensch befreite und, in der Luft fliegend, sich mit seinesgleichen fand, war die Absage an das bürgerliche Leben, der Wille lieber zur Unordnung als zur alten Ordnung, der Sprung ins Abenteuer, mochte es noch so moralische Namen erhalten. Der Krieg ist die Flucht vor dem Frieden.

VIII

Gerade gesprochen, ist die Nation eine Einbildung, in allen Fassungen, die man ihr gab.

Es fällt nicht leicht, sich das einzugestehn in einer Zeit, wo andere Nationen sich in ihrer Illusion blähen und uns Menschen deutscher Sprache die Solidarität der Entrechtung, Ausbeutung und Verschleppung in Sklaverei auferlegt haben. Man wird daher einwerfen, selbst wenn Vaterlandsgefühl, Nation und dergleichen nur Illusionen sein sollten, so bliebe dies doch jetzt besser verschwiegen. Unabhängig davon, ob es eine Nation gibt oder nicht, hat die Annahme, daß es sie gebe, einen Wert, ja gerade, weil nicht geleugnet werden kann, daß es in der Praxis mit der Einheitlichkeit der Nation nicht weit her sei, könne gar nicht suggestiv genug von ihrem Vorhandensein gesprochen werden. Es werden das besonders jene sagen, welche in der Nation ein Ideal sehen, das nur in ferner Zukunft verwirklicht werden kann und von Zeit zu Zeit dem Volk gezeigt werden muß, damit es dieses läutere. Aber ein Ideal wie dieses, das sich in Wirklichkeit zu einer läuternden Suggestion sozusagen nur an Feiertagen entfaltet hat und bei Gelegenheiten vom Rang einer Mobilisierung, hat das gleiche Verhältnis zum Menschen wie ein Haus, in dem ein Mann nur alle Schaltjahrspfingsten schläft, während er es sonst vorzieht, auf der sumpfigen Wiese daneben zu schlafen; etwas, das so wirkt, kann nicht unbedingt gut und geeignet sein.

Ja, man kann sagen, alles, was wir bisher sehen mußten, war eigentlich nur ein Spezialfall eines falschen Gebrauchs vom Idealen! So wie die Annahme einer Rasse nicht progressiv aufgefaßt wurde als etwas, worauf man zielen kann, sondern regressiv als ein mystischer Fetisch, wurde der Staat erhöht, indem man ihn dem Verlangen entrückte, ihn für respektlos verbesserbar wie eine Wohnungseinrichtung zu halten, und es wurde der Begriff der Nation nicht institutiv als etwas zu Bildendes zugegeben, sondern konstitutiv als etwas Vorhandenes behauptet, das sich bloß nicht rein äußert. Das ist ein Gebrauch, den wir von allen unseren Idealen machen, wahrscheinlich Rest aus Zeiten, wo es noch schwer war, den einfachsten Regeln Beachtung anders zu schaffen, als indem man sie für tabu erklärte. Dieses prähistorische Tabugepräge trägt noch heute unsere Ethik. Wir stabilisieren unsere Ideale wie die platonisch-pythagoräischen Ideen, unverrückbar und unveränderlich, und wenn die Wirklichkeit ihnen nicht folgt, so sind wir imstande, dies gerade als das Kennzeichnende der Idealität anzusprechen, daß die Wirklichkeit nur ihre »unreine« Verwirklichung ist. Der schwer berechenbaren Kurve des Seins bemühen wir uns das starre Vieleck, das durch unsere moralischen Fixpunkte geht, zu unterlegen, indem wir in immer neuen Ecken die Geradheit unserer Grundsätze brechen, ohne doch je die Kurve zu gewinnen. Mag sein, daß das innere Leben ein ebensolches Bedürfnis nach festen Beziehungspunkten hat wie das Denken; aber als Ideale haben uns diese dahin geführt, wo es weiter kaum mehr geht, da man – wie jedermann weiß – jedem Ideal so viele Einschränkungen und Widerrufe auferlegen muß, um es der Wirklichkeit zu nähern, daß kaum noch etwas von ihm übrigbleibt. Wenn ein weißer Grund ganz von dunklen Flecken bedeckt ist, wird der Augenblick kommen, wo man mit einem dunklen Grund und weißen Flecken in Gedanken arbeitet; auf ethischem Gebiet ist man noch weit davon. Dieses »Paktieren« mit der Wirklichkeit ist leider gerade das Gegenteil von dem, worin unsere Idealisten die Idealität erblicken. Ich nenne es Idealismus, die Wirklichkeit nach Ideen zu formen (und nur in zweitem Grade Idealismus, den durchgesetzten Ideen zu folgen so lange, bis die nächste Verwirklichungsstufe erreicht ist); wenn daher das Leben einem System von Idealen nicht folgt, so vermag ich in ihnen nicht viel Idealismus zu erkennen. Man sehe nur endlich ein, daß das Leben nicht aus Unfolgsamkeit nicht folgt, wie in der Schule, sondern daß die Fehler bei den Idealen liegen müssen.

Eine Moral, die heute nicht bloß ein Flickwerk sein will – meinethalben eine bloß »zivilisatorische« Moral mit Verzicht auf den schönen Atavismus Kultur, dessen Widerlegung man sich beiläufig aus dem Vorhergehenden ableiten kann –, muß sich auf der Ungestalt aufbaun, welche die europäische Zivilisation und das ungeheure Wachstum ihrer Beziehungen dem Menschen gegeben haben. Ich glaube, daß das seit 1914 Erlebte die meisten gelehrt haben wird, daß der Mensch ethisch nahezu etwas Gestaltloses, unerwartet Plastisches, zu allem Fähiges ist; Gutes und Böses schlagen bei ihm gleich weit aus, wie der Zeiger einer empfindlichen Waage. Es wird voraussichtlich damit noch ärger werden, und die Menschen werden den heute um sie gelegten, ohnedies halb ohnmächtigen ethischen Klammern immer mehr entgleiten. Denn man darf sich den Menschen wohl ursprünglich als ein Geschöpf denken, das ebenso gern gut wie bös ist, nämlich sozial wie egoistisch (beiseite gelassen, ein wie großer Einschlag von Egoismus noch zum Sozialen gehört); aber die Interessen, in welche er heute verflochten wird, sind zu viele, und die Undurchdringlichkeit um ihn, die ungenügende geistige Reizleitungsfähigkeit des sozialen Körpers bringt es mit sich, daß im Augenblick jeder Handlung immer nur ein kleiner Bruchteil der möglichen ethischen Determinanten auf ihn einwirkt. Darum hat heute jedes ethische Geschehen, wenn es wirklich erlebt wird, »Seiten«; nach der einen ist es gut, nach der anderen bös, nach einer dritten irgend etwas, von dem erst recht nicht feststeht, ob es gut oder bös ist. Gut erscheint nicht als Konstante, sondern als variable Funktion. Es ist einfach eine Schwerfälligkeit des Denkens, daß wir für diese Funktion noch keinen logischen Ausdruck gefunden haben, der dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit genügt, ohne die Vieldeutigkeit der Tatsachen zu drücken; die Sittlichkeit wird so wenig an ihm zusammenbrechen wie die Mathematik daran gestorben ist, daß die gleiche Zahl das Quadrat zweier verschiedener Zahlen sein kann.

IX

Diese Moral, die unsren Tatsachen gewachsen wäre, haben wir natürlich nicht. Immerhin fordert schon das Bewußtsein des Übergangs, weder Staat noch Nation als Ideale zu behandeln, sondern einfach als Gegenstände, welche ihren Zwecken zu entsprechen haben. Über diese Zwecke, welche sich mit der Zeit ändern, kann aber kein einzelner Bindendes sagen, außer: man überlasse es der Zivilisation, sie aus sich selbst zu entwickeln. Das heißt aber, wenn man in menschlichen Angelegenheiten den richtigen optimistischen Pessimismus hat – und weder glaubt, daß mit Mythos, Intuition und Klassizität einem Geschlecht von Maschinenbauern und ‑händlern zu helfen ist, noch die Kräfte übersieht, welche sogar in den Mißbräuchen dieser Zivilisation toben –, es den Menschen selbst zu überlassen, soweit es nur irgend mit dem Zusammenleben verträglich ist, sich ihren Weg für sich zu suchen und ihren eigenen Interessen zu folgen. Es ist das ein Prinzip, das wir doch schon in der Kinderschule anwenden, weil sich gezeigt hat, daß man dadurch bessere Schüler erzieht, und das wir nur endlich einmal auf die Mündigen zu übertragen brauchten. Proletarier, Kapitalisten, Ichthyologen, Maler und so weiter, das sind schon heute die natürlichen Weltverbände, die in sprachlich nationalem Zusammenschluß eigentlich bloß einen Unterverband darstellen. Die Auffassung, daß das Wirtschaftsleben eine internationale Einheit bildet, und daß staatsegoistische Wirtschaftspolitik statt Arbeitsorganisation im großen treiben, eine kurzsichtige Schikane darstellt, beginnt sich langsam durchzusetzen; braucht man Beweise für die tatsächlich bestehende Internationalität der geistigen Interessen hinzuzufügen? Diplomatische Konferenzen zwischen den Staaten über den Abbau ihrer Gegensätze weisen ein derart lächerliches Mißverhältnis zwischen Erfolg und Aufwand auf, daß man wirklich auf die Idee kommen muß, diese Organisationen seien nicht geeignet, die Entwicklung über den bisher erreichten Zustand hinauszuführen, und der Völkerbund in seiner jetzigen Form eines Staatskonviviums erweist sich immer mehr als eine Groteske. Den Staat abzuwerfen, gelänge aber nur durch die Weltrevolution: ist das Programm für das Leben nach diesem Tode der alten Ordnung fertig, oder erwartet man nicht fast, daß durch recht langes revolutionäres Denken die Evolution einem die Verantwortung der Entscheidung abnehmen werde? Einer natürlichen Gliederung der menschlichen Gesellschaft steht aber nichts ärger im Weg als die Überhebung der beiden Ideale Nation und Staat über den Menschen. Es bleibt nichts übrig, als an der Verstärkung des an ihnen sich vorbei Entwickelnden zu arbeiten und den Gedanken an ihre Überholtheit zu wecken und wach zu erhalten.

Man kann einwenden, daß überall dort, wo internationale Verbindungen sich zur Bedeutung durchkämpfen, schwerste materielle Interessen hinter ihnen stehn, und daß jede Organisation, da sie großer Mittel bedarf, auch nur dort zustande kommen kann, wo ein großer materieller Erfolg im Spiel steht. Man braucht ferner nur einen Blick auf die innere Politik zu werfen, um zu sehen, wie alles Ideelle nicht geht, wie nur die dicksten Interessen die Menschen zusammenzuhalten vermögen, und wie lästerlich gepaart in unsren politischen Parteien sich gealterte Ideenschönheiten von stofflichen Bedürfnissen aushalten lassen. Man sagt sich endlich, daß selbst die innere Rechtsordnung, welche der Ursprung jeder Zivilisation ist, nur durch eine sie ursprünglich setzende Gewalt geschaffen werden konnte, und daß sich auch im Bolschewismus die Gewalt zur Trägerin der Idee machen zu müssen glaubt. Möglich, daß auch die Seite einer zeitgemäßen Lebensform, von der hier die Rede ist, nicht ohne Gewalt zu erreichen sein wird. Aber Ideen weisen der Zukunft überhaupt nicht den Weg, sondern nur die Richtung; sie sind Netze, die einfangend über die Zukunft geworfen werden, von der sie immer zum Teil und nie ganz zerrissen werden. Welche Zukunft haben wir denn? Uns mit der Zeit über erlittene Unbill durch Wiederdickwerden zu trösten? Revanche, ohne die uns entrückten weltpolitischen Ziele? Oder: ein weltpolitisches Ziel zu schaffen! Bei Kriegsausbruch hat die Kirche versagt, hat der Sozialismus versagt, beide unter dem Druck einer Entweder-oder-Ideologie, die eine Aberideologie war. Das Volk, welches am frühsten beginnt, aus der Sackgasse des Imperial-Nationalismus herauszufinden zu einer neuen möglichen Weltordnung und allen seinen Maßnahmen diesen Atem der Zukunft zu leihen vermag, wird bald die Führung der Welt haben und seine berechtigten Wünsche durchsetzen können. Heute kann niemand noch den Weg dahin im einzelnen vorzeichnen; wohl aber gilt es, die Gesinnung zu schaffen, die auf den Weg führt.

Das hilflose Europa oder
Reise vom Hundertsten ins Tausendste
[1922]

 

Der Autor ist bescheidener und weniger hilfsbereit als der Titel glauben macht. Ich bin nicht nur überzeugt, daß das, was ich sage, falsch ist, sondern auch das, was man dagegen sagen wird. Trotzdem muß man anfangen, davon zu reden; die Wahrheit liegt bei einem solchen Gegenstand nicht in der Mitte, sondern rundherum wie ein Sack, der mit jeder neuen Meinung, die man hineinstopft, seine Form ändert, aber immer fester wird.

 

1

Ich beginne mit einem Symptom.

Zweifellos machen wir seit zehn Jahren Weltgeschichte im grellsten Stil und können es doch eigentlich nicht wahrnehmen. Wir sind nicht eigentlich geändert worden; ein bißchen Überhebung vordem, ein bißchen Katzenjammer nachdem; wir waren früher betriebsame Bürger, sind dann Mörder, Totschläger, Diebe, Brandstifter und ähnliches geworden: und haben doch eigentlich nichts erlebt. Oder ist es nicht so? Das Leben geht doch genau so dahin wie früher, bloß etwas geschwächter und mit etwas Krankenvorsicht; der Krieg wirkte mehr karnevalisch als dionysisch, und die Revolution hat sich parlamentarisiert. Wir waren also vielerlei und haben uns dabei nicht geändert, wir haben viel gesehen und nichts wahrgenommen.

Darauf gibt es, glaube ich, nur eine Antwort: Wir besaßen nicht die Begriffe, um das Erlebte in uns hineinzuziehn. Oder auch nicht die Gefühle, deren Magnetismus sie dazu aktiviert. Zurückgeblieben ist nur eine sehr erstaunte Unruhe, ein Zustand, als hätten sich vom Erlebnis her Nervenbahnen zu bilden begonnen und wären vorzeitig abgerissen worden.

Eine Unruhe. Deutschland wimmelt von Sekten. Man blickt nach Rußland, nach Ostasien, nach Indien. Man klagt die Wirtschaft an, die Zivilisation, den Rationalismus, den Nationalismus, man sieht einen Untergang, ein Nachlassen der Rasse. Alle Wölbungen sind vom Krieg eingedrückt worden. Selbst der Expressionismus stirbt. Und das Kino ist am Vormarsch (Rom vor dem Untergang).

In Frankreich, in England, in Italien – soweit man es als Nichtspezialist bei unsrem sehr schlechten Nachrichtendienst beurteilen kann – scheint die Unsicherheit nicht geringer zu sein, mögen auch die Einzelerscheinungen abweichen.

2

So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts.

Freilich wird man einwenden, man sei zu nah. Das ist aber ein Gleichnis. Hergenommen vom Gesichtssinn; man kann zu nah an einem Ding sein, um es überblicken zu können. Kann man aber zu nah an einer Erkenntnis sein, um sie fassen zu können? Das Gleichnis stimmt nicht. Wir wüßten genug, um uns ein Urteil über Gegenwärtiges und Jüngstvergangenes zu bilden, wir wissen jedenfalls mehr, als spätere Zeiten wissen werden. Eine andre Wurzel des Gleichnisses heißt, noch zu beteiligt sein. Aber wir waren ja gar nicht beteiligt?

Die berühmte historische Distanz besteht darin, daß von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will. Darin aber, daß man diese fünf nun ansieht wie eine Mode von vor zwanzig Jahren oder ein lebhaftes Gespräch zwischen Menschen, die man nicht hört, bekundet sich die Objektivität. Man erschrickt über die Groteskheit menschlicher Handlungen, sobald sie nur ein wenig ausgetrocknet sind, und sucht sie aus allen Umständen zu erklären, die man nicht selbst ist, das ist aus den historischen.

Historisch ist das, was man selbst nicht tun würde; der Gegensatz dazu ist das Lebendige. Wenn unsre Zeit eine »Epoche« wäre, so dürfte man wohl fragen, ob wir uns am Anfang, am Ende oder in der Mitte befinden? Wenn es einen gotischen Menschen mit einer Vor-, Früh-, Hoch- und Spätzeit gegeben hat: in welcher Lage zu seinem Zenith befindet sich der moderne? Wenn es eine deutsche oder eine weiße Rasse gibt: in welcher biologischen Phase? Soll solcher Auf- und Niedergang nicht nur eine nachträgliche und recht billige Feststellung sein, so müßte man ein symptomatologisches Bild davon haben, wie solche Auf- und Niedergänge im allgemeinen aussehn. Das wäre eine andre Objektivität, aber daran fehlt es noch weit. Und vielleicht sind die lebendigen historischen Tatsachen gar nicht eindeutig, sondern erst die toten? Am Ende ist die lebendige Geschichte gar keine Geschichte, nämlich nichts, das sich mit den historischen Vulgärkategorien einfangen ließe?

Es ist da nämlich ein merkwürdiges Gefühl von Zufall mitbeteiligt.

3

Es ist ein sehr aktuelles Gefühl von Zufall mit bei allem, was geschah. Es hieße den Glauben an die Notwendigkeit der Geschichte doch beträchtlich überspannen, wollte man in allen Entscheidungen, die wir erlebt haben, den Ausdruck einer einheitlichen Bedeutung sehn. Leicht vermag man hinterdrein im Versagen der deutschen Diplomatie oder Feldherrnkunst zum Beispiel eine Notwendigkeit zu erkennen: aber jeder weiß doch, daß es ebensogut auch anders hätte kommen können, und daß die Entscheidung oft an einem Haar hing. Es sieht beinahe aus, als ob das Geschehen gar nicht notwendig wäre, sondern die Notwendigkeit erst nachträglich duldete.

Ich will nicht Philosophie treiben – Gott behüte mich, in einer so seriösen Zeit –, aber ich muß an den berühmten Mann denken, der unter dem berüchtigten Dach vorübergeht, von dem der Ziegel fällt. War das notwendig? – Gewiß ja und gewiß nein. Daß der berühmte Ziegel sich lockerte, und daß der berüchtigte Mann vorbeikam, trug sich – wollen wir sagen, unter Nachlaß der Lehre vom freien und unfreien Willen, bei der sich die ganze Geschichte noch einmal wiederholt – ganz gewiß mit Gesetz und Notwendigkeit zu; daß aber beides just zur selben Zeit geschah, tat es nicht, wenn man nicht an den lieben Gott glaubt oder an das Walten einer noch höheren Vernunft in der Geschichte. Weshalb man die Unglücksfälle zwar aus Gott oder einer Ordnung ableiten kann, aber nicht Gott oder die Ordnung aus den Unglücksfällen.

Schlicht gesagt: Was man geschichtliche Notwendigkeit nennt, ist bekanntlich keine gesetzliche Notwendigkeit, wo zu einem bestimmten p ein bestimmtes v gehört, sondern ist so notwendig, wie es die Dinge sind, »wo eins das andere gibt«. Gesetze mögen schon dabei sein – etwa der Zusammenhang geistiger Entwicklungen mit wirtschaftlichen oder der Stellungsfaktor in der bildenden Kunst –, aber doch ist immer auch etwas dabei, das so nur einmal und diesmal da ist. Und nebenbei bemerkt, zu diesen einmaligen Tatsachen gehören zum Teil auch wir Menschen.

4

Das Weltbild verliert dadurch an sogenannter Erhabenheit. Trösten wir uns durch einen Ausblick.

Ein grüner Jäger schießt im grünen Wald den braunen Hirsch. Versuchen wir, das rückgängig zu machen. Die Kugel fuhr aus dem Gewehr, der Blitz folgte, der Donner kam nach, der Hirsch brach ein, fiel zur Seite, sein Geweih prallte auf, dann lag er da. Rückfahrt: Der Hirsch richtet sich auf – aber er dürfte nicht aufstehn, sondern müßte in die Höhe »fallen«, sein Geweih müßte zuvor einen Spiegeltanz der Bewegungen des Aufprallens ausführen, und er müßte mit der Endgeschwindigkeit beginnen, aber mit der Anfangsgeschwindigkeit enden. Die Kugel müßte mit dem breiten Ende voran zurückfliegen, die Pulvergase müßten sich mit einem Knall in fester Form niederschlagen, und so weiter. Um auch nur einen Schritt davon zurückzunehmen, genügte nicht das Rückgängigmachen des Geschehenen, sondern man müßte dazu die umfänglichsten Vollmachten zum Umbau der gesamten Welt haben. Die Schwerkraft müßte nach aufwärts wirken, in der Luft müßte eine Vertikalebene aus Erde sein, die Ballistik müßte sich in einer ganz unausdenkbaren Weise ändern, kurz, wenn man eine Melodie von hinten nach vorn spielt, so ist es keine Melodie mehr, und man müßte Zeit und Raum erschüttern, damit das anders würde.

In Wahrheit muß, um auch nur einen erschossenen Hirsch wieder auf die Beine zu bringen, etwas ganz Neues geschehn, nicht bloß eine Umkehrung und Wiedergutmachung! Die Welt ist voll eines unbändigen Willens zum Neuen, voll einer Zwangsidee des Andersmachens, des Fortschritts!

5

Es gibt Leute, welche sagen, wir haben die Moral verloren. Andere sagen, wir haben die Unschuld verloren und uns mit dem Apfel im Paradiese die störende Intellektualität einverleibt. Wieder andre sagen, daß wir durch die Zivilisation hindurch zur Kultur gelangen müßten, wie sie die Griechen hatten. Und so mehreres.

6

Eine historische Betrachtungsweise, welche das Geschehen in aufeinanderfolgende Epochen zerlegt und dann so tut, als entspräche jeder ein bestimmter historischer Typus Mensch – also etwa der griechische oder der gotische oder der moderne –, und ferner so tut, als gäbe es da einen Auf- und Abstieg (etwa also der frühgriechische – der griechische – der hochgriechische – der spät- und verfallsgriechische – der nichtgriechische Mensch), und es wäre da etwas aufgeblüht und verwelkt, nicht bloß eine Entfaltung, sondern ein Wesen, das sich entfaltete, eine Menschenart, eine Rasse, eine Gesellschaft, ein real wirkender Geist, ein Mysterium: eine solche Betrachtungsweise, die heute nicht nur in der Essayistik üblich ist, sondern vielfach auch in der historischen Forschung selbst, arbeitet mit einer Hypothese.

Gegeben ist von der ganzen Sache nur das Phänomenale; eine bestimmte Art von Bauten, Dichtungen, Bildwerken, Handlungen, Ereignissen, Lebensformen und ihr deutliches Beisammensein und Zueinandergehören. Daß dieses phänomenale Substrat einer bestimmten Zeitspanne, Epoche, Kultur auf den ersten Blick als eine einmalige Einheit erscheinen mag, die nur dann und dort auftrat, hindert nicht zu bemerken, daß dies nicht ganz richtig ist; orientalische Lebenselemente wirken bekanntlich ins Hellenische hinein, und hellenische durchsetzen das Leben bis auf den heutigen Tag. Im Gegenteil, ähnliche Lebensäußerungen (und in der Geschichte handelt es sich ja doch nur um Ähnlichkeiten und Analogien) bilden durchaus, über Zeit und Ort verteilt, ein Kontinuum, das sich nur an bestimmten Stellen auffallend verdichtet, man könnte fast sagen, an bestimmten Umständen niederschlägt.

Ein solches phänomenales Bild erinnert den, der mit der statistischen Seite der äußeren oder inneren Natur ein wenig zu tun gehabt hat, an die Verschränkung einer dauernden, sagen wir ganz allgemein Determinante mit wechselnden, und ist die menschliche Konstitution diese dauernde Determinante, so kann sie nicht zugleich die Ursache der verschiedenen Epochen, Gesellschaften und dergleichen sein – im Sinne von tatsächlich wirkenden Wesenheiten genommen, und nicht bloß als harmlos deskriptive Sammelausdrücke –, sondern die Ursachen müssen in den Umständen liegen.

Die Botanik unterscheidet z. B. in einem so kleinen Land wie Niederösterreich ungefähr dreitausend Formen der wilden Rose und weiß nicht, ob sie diese in dreihundert oder in dreißig Arten zusammenfassen soll; so unsicher ist die Vorstellung von dem, was eine Art ist, selbst dort, wo so viele eindeutige Merkmale zur Verfügung stehn. Die Geschichte hingegen sollte es sich mit so durchaus nicht eindeutigen und so gewiß nicht »wesentlichen« Merkmalen zu tun vermessen, wie es die komplizierten Erscheinungen von Bauten, Werken und Lebensformen sind? Es handelt sich bei solchen Bedenken nicht darum, die phänomenale Existenz verschiedener Epochen zu leugnen, und in gewissem Sinn liegt auch jeder ein andrer Mensch zugrunde: aber es handelt sich um diesen Sinn!

7

Der Mensch hat sich seit 1914 als eine überraschend viel bildsamere Masse erwiesen, als man gemeinhin annahm.

Aus religiösen, moralischen und politischen Gründen hatte man vordem eine solche Erkenntnis nie recht wahrhaben wollen. Ich erinnere mich noch recht gut des sympathischen Aufsatzes eines repräsentativen deutschen Dichters, in dem dieser darüber staunte, daß der Mensch doch nicht so sei, wie er ihn, sondern so bös wie Dostojewski ihn gesehen habe. Andre mögen sich vielleicht der Bedeutung erinnern, welche in unsren Moralsystemen dem »Charakter« zukommt, das ist der Forderung, daß der Mensch mit sich als mit einer Konstanten rechnen lasse, während eine kompliziertere moralische Mathematik nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich nötig ist: Von einem Denken, das an die Fiktion des konstanten seelischen Habitus gewöhnt ist, ist der Schritt zur Annahme des Typus, der Epoche und dergleichen nicht weit.

Diese starre Einteilung widerspricht jedoch den Erfahrungen der Psychologie und unsres Lebens. Die Psychologie zeigt, daß die Phänomene vom übernormalen bis zum unternormalen Menschen stetig und ohne Sprung sich aneinanderbreiten, und die Erfahrung des Kriegs hat es in einem ungeheuren Massenexperiment allen bestätigt, daß der Mensch sich leicht zu den äußersten Extremen und wieder zurück bewegen kann, ohne sich im Wesen zu ändern. Er ändert sich, aber er ändert nicht sich.

8

Die Formel für diese Erfahrungen müßte ungefähr lauten: Große Amplitude der Äußerung, kleine im Innern. Es gehört gar nicht so viel dazu, um aus dem gotischen Menschen oder dem antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu machen. Ein kleines, dauernd in einer bestimmten Richtung wirkendes Übergewicht von Umständen, von Außerseelischem, von Zufälligkeiten, Hinzugefallenem genügt dafür. Dieses Wesen ist ebenso leicht fähig der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen Vernunft. Man soll nicht immer denken, daß es das tut, was es ist, sondern es wird das, was es – aus Gott weiß welchen Gründen – tut. Die Leute machen sich ihre Kleider, aber auch die Kleider machen Leute, und die Physiognomie ist eine unter dem Druck von innen und außen bewegliche Membran.

Es soll damit natürlich nicht der Unterschied zwischen primitiven Kulturen und entwickelten Gesellschaften geleugnet sein; er liegt in einer größeren Versa[ti]lität des Gehirns, die sich nur durch Generationen entwickelt – aber genau so wie das Kinn zurücktritt und der Gang aufrecht wird, nämlich als ein wirklicher physiologischer Unterschied, funktionell bedingt –, während es gar keinen funktionellen Unterschied ausmacht, ob man sein Gehirn aristotelisch oder kantisch turnen läßt. Wenn man Aufstieg, Höhe, Verfall einer bestimmten Menschenart oder Gesellschaft ohne solche Einschränkungen annimmt, so verlegt man das Entscheidende und Treibende zu sehr ins Zentrum; man muß es mehr, als es gewöhnlich geschieht, an der Peripherie suchen, bei den Um-ständen, beim »Ans-Ruder-Kommen« bestimmter Menschen- oder Anlagengruppen innerhalb eines im ganzen ziemlich gleichen Gemischs, beim Zufall oder, richtiger gesagt, bei der »ungesetzlichen Notwendigkeit«, wo eins das andre gibt, nicht zufällig, aber doch in der durchreichenden Aneinanderkettung von keinem Gesetz beherrscht.

(Um ein Beispiel zu geben: Wir wären ja wohl imstande, mit unsrer technischen und kommerziellen Organisation einen gotischen Dom in ein paar Jahren, und wenn es auf den Rekord ankäme, mit neuen Arten von Gilbrethgerüsten und »wissenschaftlicher Betriebsführung« in Wochen zu bauen. Er würde einheitlich nach einem Plan aufschießen, und wenn wir dazu selbst einen Originalplan verwendeten, würde es eine kahle Arbeit bleiben, weil die Zeit dabei fehlt, der Wechsel der Generationen, die Inkonsequenz, das organisch Gewordene, welches eben das unorganisch Zustandegekommene ist, und dergleichen. Die befremdlich lange Dauer von Willensimpulsen, die im Ausdruck der gotischen Seele liegt, entsteht so aus der langsamen, festhalten müssenden Technik der Verwirklichung, und Technisches, Kaufmännisches, Geistiges, Politisches verwirrt sich zu einem tausendfachen Gestrüpp von Ursachen schon in diesem einen Beispiel, wenn man es weiter verfolgt.)

9

Man nimmt häufig an, daß ein Hang zu solcher Betrachtungsweise grob mechanistisch, zivilisatorisch unkultiviert und zynisch sei. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß in ihm ein ungeheurer Optimismus steckt. Denn hängen wir mit unsrem Sein nicht an der Spule irgendwelcher Schicksalspopanze, sondern sind bloß mit einer Unzahl kleiner, wirr untereinander verknüpfter Gewichte behangen, so können wir selbst den Ausschlag geben.

Und dieses Gefühl ist uns verlorengegangen.

10

Wodurch?

Es ist wohl zum letztenmal in der Zeit der Aufklärung dagewesen; in jenem ausgehenden 18. Jahrhundert glaubten die Menschen an etwas in uns, das nur befreit zu werden brauche, um emporzuschnellen. Sie nannten es die »Vernunft« und hofften auf eine »natürliche Religion«, eine »natürliche Moral«, eine »natürliche Erziehung«, ja selbst auf eine »natürliche Wirtschaft«; sie schätzten Überlieferung gering und trauten sich zu, die Welt aus dem Geist neu aufzubaun. Der Versuch, auf einer viel zu schmalen Denkensgrundlage unternommen, brach zusammen und hinterließ einen platten Schutthaufen. Die Gegenwart fand das Entsetzen vor ihm (genauer vor einer im 19. Jahrhundert unternommenen, abgeschwächten naturwissenschaftlichen Wiederholung) noch den Büchern von Flaubert aufgeprägt, von Dostojewski, ja selbst noch von Hamsun; der »Rationalismus« war bei seinem Ende verächtlich und lächerlich geworden.

Es ist begreiflich, daß nach einem Fehlschlag des rational Konstruktiven ein Bedürfnis nach dem Irrationalen, nach Tatsachenfülle, nach Wirklichkeit folgt. Es kam auf zwei Wegen; ein Weg dieser Gegenwelle war: Geschichte. In gewissem Sinn war das plötzlich erwachende Interesse für sie ein Zurücksinken von der Anmaßlichkeit des Manns zum Lauschen des Kindes; Weite, Ruhe, Geführtwerden, die Vernunft aus den Dingen in den Menschen wachsen lassen: an die Stelle ethisch-aktivistischer Schroffheit tritt eine universalere, versöhnlichere, aber unbestimmtere Denkweise. Und, ach, die Tatsachenfülle wuchs zur Überfülle, die Geschichtsforschung wurde, einem Übermaß von Tatsachen gegenüber, notgedrungen immer pragmatischer und exakter: Ergebnis ein Alpdruck, ein stündlich wachsender Berg von Tatsachen, Gewinn an Wissen, Verlust an Leben, ein seelischer Fehlschlag, den zu vermeiden übrigens gar nicht ihr allein anheimgegeben war.

Denn die Geschichte hatte seit der Generation unsrer Großväter etwa, also in einer Zeit steigender Pragmatisierung des gesamten Denkens, wo sich die Philosophie hütete zu philosophieren, deren Aufgabe der Lebensauslegung im Nebenamt übernehmen müssen und erscheint daher gleich mit zwei schlechten Gewissen behaftet; einem pragmatischen, das über das Unzeitgemäße einer Geschichtsphilosophie spottet, und einem philosophischen, das über den seelenlosen Pragmatismus stöhnt, weil es ohne große ordnende Gesichtspunkte eben nicht geht.

11

Es sei hier eine Abschweifung gestattet, weil es noch immer zum Prestige der Schriftsteller gehört, auf den öden Pragmatismus böse zu sein.

Bekannt ist, daß schon »unsre großen klassischen Geistesheroen«, so der Ausdruck verstattet ist, die Ohren zurücklegten, wenn diese Geistesrichtung sich hören machte. Goethe, der Kant bewunderte, Spinoza liebte und ein Naturforscher war, stand sich besser mit dem Verstand als die Goetheseelein von heute (mit seiner Intuition wird Mißbrauch getrieben; in den naturwissenschaftlichen Schriften findet sich durchaus nicht jene »andre Art des Erkennens«, für die er so oft als Eideshelfer angerufen wird); wohl aber hatte die Klassik keine Freundlichkeit für englische Webstühle, für Mathematik, für Mechanik und, wenn ich mich recht erinnere, auch nicht für Locke und Hume, deren – nun, man sagt Skepsis, sie ablehnte, aber es war wohl eigentlich nur eine Form jenes Geistes der Positivität, der mit den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Industrie heraufkam und von der Klassik instinktiv als sie zersetzend empfunden wurde. (Noch Hebbel, der sonst wie ein Mittler zwischen damals und heute steht, ist darin ganz klassisch.) Wenn ich mir unsre großen Humanisten richtig vorstelle, so war es ihnen – wenn auch mit Einschluß alles möglichen Wirren der Menschenbrust – doch irgendwie um einen Kosmos, eine ruhende Ordnung, ein geschlossenes Gesetzbuch zu tun; jedenfalls hätten sie das Maß von geistiger Unordnung und Häßlichkeit, mit dem wir heute zu rechnen haben, als unerträglich erniedrigend empfunden.

Aber dieser abgelehnte Geist der selbstgenügsamen Faktizität in der Wissenschaft, der Statistik, der Maschinen, der Mathematik, des Pragmatismus und der Zahl, dieser Sandhaufen der Tatsachen und Ameisenhaufen der Menschlichkeit hat heute gesiegt.

Leider oder nicht: die nachgeborenen Goetheseelein und Goetheselein müssen mit ihm rechnen lernen.

Er grub den zweiten Weg, in den die aus einem zu engen Bett der Verstandeskonstruktion sich wieder befreiende Gegenwelle einbog; er hatte aber schon lang vor der Aufklärungszeit begonnen und wuchs hinter ihr bloß verstärkt weiter fort.

12

Jedoch wenn hier die Worte Pragmatismus und Positivismus gebraucht werden, so mögen sie nicht zu genau und nicht als philosophische Spezialbezeichnungen genommen werden. Gemeint ist keine Theorie, sondern eine Erscheinung des Lebens.

Seit in der Renaissance sich die Physik von der scholastischen Spekulation weg zur Feststellung der Tatsachen und ihrer funktionalen Zusammenhänge gewandt hat, ist nicht etwa der Rationalismus entstanden – denn die Scholastik war ja auch rationalistisch –, sondern es fand einfach eine restitutio in integrum statt; die spekulativ entartete Rationalität wurde wieder auf den festen Antäusboden der Tatsachen gestellt, wobei sie allerdings eine Richtung erhielt, in der die Probleme für die Philosophie, ja selbst für die Mathematik vorwiegend durch die quantifizierenden Naturwissenschaften angeregt wurden. Gleich zu Beginn tritt die quantitative, die – um heute beliebte Bezeichnungen dafür anzuwenden – unheilige und ungeistige Betrachtungsweise wie ein Feuer auf. »Wahres Erkennen ist nur dort, wo Quanta erkannt werden«, schreibt Kepler. Der Portugiese Sanchez – gestorben im Jahr, wo Locke geboren wurde – fordert den aggressiven Geist der Beobachtung und des Experiments auch für die Philosophie. Der große Galilei – in der Auffassung vielseitiger als Kepler und im Beispiel eine Zeitwende –, selbst ein Künstler wie da Vinci teilen diesen Furor der Abkehr zur Positivität, zur Sachlichkeit, zur Nüchternheit und zum Zeugnis des Verstandes und der Sinne.

Man muß das trennen von der Überspitzung, die es bald erhielt (Descartes), und muß sich heute, wo die Geisteswelt über die Fesseln einer »öden Mechanistik« klagt, mit aller Eindringlichkeit vergegenwärtigen, daß es einst und für große Menschen die Gewalt und das Feuer eines neuen erlösenden Erlebnisses gehabt hat.

13

Die Formel dafür lautet etwa: Mach Dir nichts vor. Verlaß Dich auf Deine eigenen Sinne. Greif immer bis auf den Stein! Es ist eine gewaltige Abstinenzbewegung von der Seele, durch die ein gewaltiger Seelenschwung in neuer Richtung entstand, und man darf sich nicht über das Feuer, die Kraft täuschen, die er noch in sich trägt.

Zwar ging auch hier die Entwicklung mehr in die Breite als in die Tiefe; die Tatsachenwissenschaften teilten sich bis zur Zersplitterung des Spezialistentums, die theoretischen Synthesen, trotzdem sie im einzelnen zu sehr großen Leistungen führten, hielten nicht Schritt, fast könnte man sagen, es etablierten sich alle Nachteile einer Demokratie von Tatsachen; der Berg, der Alpdruck schüttete sich auch hier auf, der schon die menschliche Leistung der Geschichte begrub. Aber es wird das fast immer ganz falsch so dargestellt, als sei es ein bloß negatives Kennzeichen unsrer Zeit, daß sie – abgekürzt zu sprechen – keine Philosophie habe, bloß als ob sie keine hervorzubringen vermöchte; es ist weit mehr ein auch positiv zu wertendes Zeichen, denn der pragmatische Mensch, der Kletterer an den festen Griffen der Tatsachen, verlacht, was ihm von den Kustoden als Philosophie angeboten wird. Diese Zeit hat keine Philosophie, weniger weil sie keine hervorzubringen vermag, als weil sie Angebote ausschlägt, die nicht zu den Tatsachen stimmen. (Wer ein Beispiel haben will, lese das zurückhaltend als naturphilosophischer Versuch bezeichnete Buch Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand des jungen Berliner Philosophen Wolfgang Köhler, und wenn er die Kenntnisse hat, um es zu verstehen, so wird er erleben, wie sich vom Boden der Tatsachenwissenschaften aus die Lösung uralter metaphysischer Schwierigkeiten schon andeutet.)

Darin verwandt trotz allem Trennenden sind dem führenden geistigen Typus der Zeit die führenden praktischen, der Kaufmann und der Politiker. Auch der Kapitalismus hat als seelische Grundlage das nur mit den Tatsachen Rechnen, das sich nur auf sich selbst Verlassen, den Griff, das Arbeiten in festem Stein, die Selbständigkeit des so dastehenden Menschen; und die Öde außer Dienst. Die Politik gar, wie sie heute verstanden wird, ist die reinste Gegnerschaft gegen den Idealismus, fast seine Perversion. Der mit dem Menschen à la baisse spekulierende Mensch, der sich Realpolitiker nennt, hält für real nur die Niedrigkeiten des Menschen, das heißt, nur sie betrachtet er als verläßlich; er baut nicht auf Überzeugung, sondern stets nur auf Zwang und List. Was davon sich aber während des Kriegs und nachher in der scheußlichsten Fratze gezeigt hat, ist im Grunde kein andrer Geist als der, in welchem auch Ministerien eines und desselben Staats untereinander verkehren, sobald sie in einer Frage nicht die gleichen Interessen haben, und der, in welchem der smarte Kaufmann stets mit seinesgleichen umgeht. Am tiefsten Punkt dieser Hölle liegt – dem einzelnen gar nicht mehr bewußt – wie die Spitze eines Kegels die luziferische Mißachtung der Ohnmacht des Idealismus, die nicht nur den verkommenen, sondern so oft auch den stärksten Menschen unsrer Zeit eigentümlich ist.

Es ist ebensoviel von dem tiefsten Selbstvertrauen der Zeit in ihr wie von der verzweifelten Situation. Es ist ein Unterwasserschwimmen in einem Meer von Realität, ein verbissenes Noch-etwas-länger-den-Atem-Anhalten: freilich mit der Gefahr behaftet, daß der Schwimmer nie wieder auftaucht.

14

Das Amt, diesen Menschen zu bändigen und zu Gleichmaß und Stete zu führen, in diesem Chaos Ordnung zu schaffen, das Amt der Sinngebung, der Lebensausdeutung zu übernehmen, war – im Nebenamt! – nichts als die Geschichte da. Sie besaß nicht die Begriffe dafür. Geschichtsphilosophie wird abgelehnt, rein historische Kategorien haben sich noch nicht zur Genüge gebildet: die Ordnungsbegriffe des Lebens fehlen; daher werden hinten herum und unkontrolliert subjektive, gemutmaßte Bestandstücke der Geschichtsphilosophie wieder eingeführt. Begriffe wie Vernunft, Fortschritt, Humanität, Notwendigkeit beherrschten spukend das Lebensbild, gemeinsam mit ungeeichten oder höchstens von der opinio communis geeichten ethischen Wertschätzungen; Ordnungsschein über einem Chaos. So konnte anfangs die bekannte Wendung zur historischen Immanenz wie eine Erlösung wirken. Es erschien anfangs wie ein Fortschritt, was die Geschichte jetzt lehrte, den »Zeiten« überhaupt keine bestimmte Denkweise entgegenzubringen, sondern »Urteil und Maß lediglich aus ihnen selbst zu gewinnen«. Versenken, einleben, Erscheinungen aus ihrer eigenen Sphäre heraus verstehn, keine Synthese von außen aufdrängen: Nie war eine Zeit so bereit und geschickt, das zu tun, wie unsre. Die Folge war – mit Eucken zu sprechen – Abschwächung des eignen Wollens und Wesens durch Beflissenheit, sich fremder Art anzuschmiegen. Just das Rechte in einem Entwicklungsabschnitt, der drängend voll eigner Probleme ist!

15

Wir haben den laufenden Tag eingeholt. Das Leben, das uns umfängt, ist ohne Ordnungsbegriffe. Die Tatsachen der Vergangenheit, die Tatsachen der Einzelwissenschaften, die Tatsachen des Lebens überdecken uns ungeordnet. Die Populärphilosophie und die Tagesdiskussion begnügten sich entweder mit den liberalen Fetzen eines ungegründeten Vernunft- und Fortschrittsglaubens oder sie erfanden die bekannten Fetische der Epoche, der Nation, der Rasse, des Katholizismus, des Intuitionsmenschen, welchen allen negativ gemeinsam ist eine sentimentale Nörgelei am Verstand und positiv das Bedürfnis nach einem Halt, nach gigantischen Knochengespenstern, an die man die Impressionen hängen kann, aus denen man nur noch bestand. (Dies ist, nebenbei gesagt, der Kern des literarischen Streits über Kultur oder Zivilisation; und ein Hauptgrund, weshalb der Expressionismus nicht viel mehr als eine Clownerie wurde; er konnte auf einem wesentlich impressionistisch gebliebenen Boden nicht weiterführen.) Man ist dabei so mutlos im direkten Beurteilen und Gestalten geworden, daß man die Gewohnheit annahm, selbst die Gegenwart historisch zu sehn; sobald ein neuer Ismus auftritt, glaubt man, ein neuer Mensch sei da, und mit Schluß jedes Schuljahrs hebt eine neue Epoche an! Alles, was zum Geist gehört, befindet sich daher heute in größter Unordnung. Der Geist der Tatsachen und der Zahlen wird bekämpft – traditionell und kaum mehr der Gründe bewußt –, ohne daß man ihm mehr als die Negation entgegensetzt. Denn wenn man verkündet – und wer verkündete nicht etwas davon?! –, unsrer Zeit fehle die Synthese oder die Kultur oder die Religiosität oder die Gemeinschaft, so ist das kaum mehr als ein Lob der »guten alten Zeit«, da niemand zu sagen vermöchte, wie eine Kultur oder eine Religion oder eine Gemeinschaft heute aussehen müßten, falls sie die Laboratorien und Flugmaschinen und den Mammutgesellschaftskörper wirklich in ihre Synthese aufnehmen und nicht bloß als überwunden voraussetzen wollten. Man verlangt damit bloß, daß sich die Gegenwart selbst aufgeben soll. Unsicherheit, Energielosigkeit, pessimistische Farbe zeichnet alles aus, was heute Seele ist.

Naturgemäß spiegelt sich das in einer unerhörten geistigen Einzelkrämerei. Unsre Zeit beherbergt nebeneinander und völlig unausgeglichen die Gegensätze von Individualismus und Gemeinschaftssinn, von Aristokratismus und Sozialismus, von Pazifismus und Martialismus, von Kulturschwärmerei und Zivilisationsbetrieb, von Nationalismus und Internationalismus, von Religion und Naturwissenschaft, von Intuition und Rationalismus und ungezählt viele mehr. Man verzeihe das Gleichnis, aber der Zeitmagen ist verdorben und stößt in tausend Mischungen immer wieder Brocken der gleichen Speisen auf, ohne sie zu verdauen. Schon äußerlich betrachtet, läßt solche Antitypik – solches Entfalten der Probleme in Paare von Gegensätzen, solche Vielheit von Entweder-Oder-Fragestellungen – erkennen, daß hier nicht genug geistige Arbeit geleistet wird; es liegt in jedem Entweder-Oder eine gewisse Naivität, wie sie wohl dem wertenden Menschen ansteht, aber nicht dem denkenden, dem sich die Gegensätze in Reihen von Übergängen auflösen. Und in der Tat entspricht diesen Fragestellungen praktisch ein aufs äußerste getriebener Grüppchenkollektivismus in unsrem geistigen Bild. Jede Lesegemeinschaft hat ihren Dichter; die politischen Parteien der Landwirte und der Handarbeiter haben verschiedene Philosophien; es gibt vielleicht hundert Verlage in Deutschland mit einem gefühlhaft mehr oder weniger fest organisierten Leserkreis; der Klerus hat sein Netz, aber auch die Steinerianer haben ihre Millionen, und die Universitäten ihre Geltung: ich habe in der Tat einmal in einem Gewerkschaftsblatt der Kellner etwas von der Weltanschauung der Gasthausgehilfen gelesen, die immer hochgehalten werden müsse.

Es ist ein babylonisches Narrenhaus; aus tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen, Gedanken, Musiken gleichzeitig auf den Wanderer ein, und es ist klar, daß das Individuum dabei der Tummelplatz anarchischer Motive wird, und die Moral mit dem Geist sich zersetzt.

Im Keller dieses Narrenhauses aber hämmert der hephaistische Schaffenswille, Urträume der Menschheit werden verwirklicht wie der Flug, der Siebenmeilenstiefel, das Hindurchblicken durch feste Körper und unerhört viele solcher Phantasien, die in früheren Jahrhunderten seligste Traummagie waren; unsere Zeit schafft diese Wunder, aber sie fühlt sie nicht mehr.

Sie ist eine Zeit der Erfüllung, und Erfüllungen sind immer Enttäuschungen; es fehlt ihr an Sehnsucht, an etwas, das sie noch nicht kann, während es ihr am Herzen nagt.

16

Ich glaube, daß der Krieg ausbrach wie eine Krankheit an diesem Gesellschaftskörper; eine ungeheure, ohne Zugang zur Seele arbeitende Energie brach sich diesen brandigen Fistelgang zu ihr hin. Ich habe allerdings eine Warnung vor solcher Auffassung des Kriegs als einer europäischen Kulturkrisis gelesen, was eine spezifisch deutsche Anschauung sein soll ([Ernst] Robert Curtius unter Berufung auf andre in dem sehr lesenswerten Heft: Der Syndikalismus der geistigen Arbeiter in Frankreich), aber es kommt doch wohl darauf an, welchen Inhalt man dieser Vorstellung gibt. Der Krieg mag tausend verschiedene Ursachen gehabt haben, aber es ist gewiß nicht zu leugnen, daß jede von ihnen – Nationalismus, Patriotismus, wirtschaftlicher Imperialismus, Mentalität der Generale und Diplomaten wie auch alle andren – an bestimmte geistige Voraussetzungen geknüpft ist, die doch eine gemeinsame und dann eben mitentscheidende Situation kennzeichnen.

Vor allem war ein sehr bezeichnendes Symptom der Katastrophe zugleich Ausdruck einer bestimmten ideologischen Lage: das völlige Gewährenlassen gegenüber den an der Staatsmaschine stehenden Gruppen von Spezialisten, so daß man wie im Schlafwagen fuhr und erst durch den Zusammenstoß erwachte. An dieses Gewährenlassen sind nicht nur die »denkenden Bürger« gegenüber den »handelnden Organen« des Staats gewöhnt, sondern auch die nebeneinander dahinlebenden Ideologien, welche sich gegenseitig anbellen, aber nicht beißen. Es ist die Kehrseite der Einordnung des einzelnen in die Gesellschaft, und man würde ein Narr vor Überbürdung, wenn man jede Gewissensfrage selbst lösen wollte; aber andrerseits gibt es deren welche, die man so wenig dem »Fachmann« überläßt wie das Heiraten oder die Ewigkeit, und solche Fälle müssen sich durch ein deutlich wahrnehmbares Signal auszeichnen. So lag auch in der Art, wie die Welt auf den Krieg zutrieb, vor allem ein Mangel an geistiger Organisation; das Nichternstnehmen der Anzeichen und hintreibenden Kräfte, ebenso wie auch der gegenwirkenden Kräfte ging aus einer Situation hervor, wo ideologische Fragen in ihrer Unordnung und Windigkeit für »schöngeistig« galten, während die realpolitischen Mächte wenigstens eine gewisse bürgerliche Rechtsfähigkeit vor ihnen voraus hatten.

Ein andres Kennzeichen war der Umfang, den die Katastrophe sofort annahm. Dieses plötzliche, ungeheure Umsichfressen des Feuers erscheint nur möglich, wo alles vorbereitet war und sich nach Erdbeben, Feuersbrunst und Gefühlsstürmen sehnte; wer den Ausbruch des Kriegs in voller Stärke erlebt hat, versteht ihn als die Flucht vor dem Frieden.

17

Es wäre natürlich unsinnig, eine so umfassende Katastrophe auf eine individuelle Formel zurückführen zu wollen. Wir wissen überhaupt noch wenig von der Soziologie des Kriegs, es hat Kriege in allen Kulturen gegeben, und schon deshalb ist es schwer, einen bestimmten Krieg als die Katastrophe einer bestimmten kulturellen Situation anzusehn; zweifellos wird Krieg als etwas Traditionelles, man kann fast sagen als eine periodische Institution hingenommen. Anders steht es jedoch um die Frage, wie ein Krieg in einer Zeit ausbrechen kann, deren Geist – ausgenommen die Knockabouts – entschieden pazifistisch war. Ferner gibt es unter den Kriegen viele, die sozusagen nur geduldet waren, und von ihnen sozial verschieden sind jene, die wie Brände um sich fraßen. Heute sind schlichtende Kräfte aus dem Bereich des common sense am Werk, um den Krieg als nutzlos und unvernünftig zu entwerten, und das sind gewiß schwere Argumente in einer auf Nutzen und Vernunft gerichteten Zeit; aber ich glaube, diese Art Pazifisten unterschätzt das explosiv-seelische Moment, das zu Kriegen jener zweiten Art gehört, das offenbar menschliche Bedürfnis, von Zeit zu Zeit das Dasein zu zerreißen und in die Luft zu schleudern, sehend, wo es bleibe. Dieses Bedürfnis nach »metaphysischem Krach«, wenn der Ausdruck erlaubt ist, häuft sich in Friedenszeiten als unbefriedigter Rest an. Ich vermag darin in Fällen, wo weit und breit keine Unterdrückung, keine wirtschaftliche Verzweiflung, sondern rings nur Gedeihen vorhanden war, nichts zu sehen, als eine Revolution der Seele gegen die Ordnung; in manchen Zeiten führt sie zu religiösen Erhebungen, in andren zu kriegerischen.

Sieht man die Erscheinung von dieser Seite an, so muß man hinzufügen, daß es sich nicht (nämlich nur scheinbar) um den Zusammenbruch einer bestimmten Ideologie und Mentalität handelt – etwa der bürgerlichen jetzt oder 1618 der katholischen –, um den Inhalt einer Ideologie also, sondern um das periodische Zusammenbrechen aller Ideologien. Sie befinden sich stets in einem Mißverhältnis zum Leben, und dieses befreit sich in wiederkehrenden Krisen von ihnen wie wachsende Weichtiere von ihren zu eng gewordenen Panzern.

Das ist heute, trotz der Müdigkeit nach dem kaum überwundenen Krieg, schon wieder nahen zu sehn. Nicht nur der französische Geist zeigt seinen Machthabern gegenüber ein schlimmeres »Gewährenlassen« als je einer vor dem Krieg, auch bei uns haben sich durch die neuen Erlebnisse nur die Inhalte geändert, die verworrene unsichere Art der Reaktion und Aktion ist die gleiche geblieben.

18

Keine Werte standen fest, in nichts lag Verantwortung, das Leben wurde mit Wollust in die Flammen geworfen: es scheint dennoch falsch zu sein, daß man mit einer Wiedergutmachung, einer restitutio in integrum, mit der Forderung von mehr Verantwortung, Güte, Christentum, Menschlichkeit, kurz mit irgendeinem Mehr von dem, was vorher zu wenig war, die Situation bessern könne; denn es fehlte nicht an der Idealität, sondern schon an den Vorbedingungen für sie. Dies ist nach meinem Glauben die Erkenntnis, welche sich unsre Zeit einbrennen müßte! Die Lösung liegt weder im Warten auf eine neue Ideologie, noch im Kampf der einander heute bestreitenden, sondern in der Schaffung gesellschaftlicher Bedingungen, unter denen ideologische Bemühungen überhaupt Stabilität und Tiefgang haben. Es fehlt uns an der Funktion, nicht an Inhalten!

Niemals wieder wird eine einheitliche Ideologie, eine »Kultur« in unsrer weißen Gesellschaft von selbst kommen; mag sie in Frühzeiten dagewesen sein (obgleich man sich das wahrscheinlich zu schön vorstellt): das Wasser fließt den Berg hinab, aber nicht hinauf. Eine gedeihende Gesellschaft befindet sich geistig in einem fortschreitenden Selbstzersetzungsprozeß. Immer mehr Menschen und Meinungen beteiligen sich an der allgemeinen Ideenbildung, und immer neue Ideenquellen werden durch Eindringen in frühere Zeiten und Verbindung zwischen entlegenen Ursprungsörtern aufgeschlossen. Was man Zivilisation im üblichen Sinn nennt, ist ja hauptsächlich nichts als die Belastung des einzelnen mit Fragen, von denen er kaum die Worte kennt (man denke an die politische Demokratie oder an die Zeitung), weshalb es ganz natürlich ist, daß er in einer vollkommen pathologischen Weise darauf reagiert; wir muten heute einem beliebigen Kaufmann geistige Entscheidungen zu, deren gewissenhafte Wahl einem Leibniz nicht möglich wäre! Da aber kaum bestritten werden kann, daß jeder der von da und dort sich kreuzenden Ideen ein gewisser Lebenswert einwohnt, Unterdrückung Verlust, und nur Aufnahme Gewinn ist, so liegt ein ungeheures Organisationsproblem darin beschlossen, daß man die Auseinandersetzung und Verknüpfung ideologischer Elemente nicht dem Zufall überlasse, sondern fördere. Diese notwendige Funktion der Gesellschaft existiert heute nur auf wissenschaftlichem, also reinem Verstandesgebiet; auf geistigem Gebiet ist sie nicht einmal von den Schaffenden als nötig erkannt.

Im Gegenteil, es ist gerade in geistigen Kreisen (wie hier abgekürzt im Gegensatz zur eindeutigen Verstandesarbeit gesagt werden möge) kein Vorurteil so hartnäckig wie dieses, daß an aller Mißentwicklung der Zivilisation und vor allem an der seelischen Zersetzung der Verstand schuld sei, dem sie fröne. Nun mag man dem Verstand alle möglichen Einseitigkeiten und schlimmen Nebenwirkungen nachsagen, wenn man aber behauptet, daß er zersetzend wirke, so meint man damit nie etwas andres, als daß er Werte, die ehedem ohne Riß und gefühlssicher galten, allmählich auflöst: aber das kann er nur dort, wo sie in ihren Gefühlsvoraussetzungen ohnedies schon gespalten sind; es ist nichts, was in seiner Natur läge, sondern es liegt in ihrer! Er selbst ist seinem Wesen nach ebenso bindend wie zerlegend, ja er ist wohl die stärkste bindende Kraft in den menschlichen Beziehungen, was merkwürdig oft von schöngeistigen Anklägern übersehen wird. Es kann sich also gar nicht um anderes handeln, als um ein Mißverhältnis, ein Aneinandervorbeileben von Verstand und Seele. Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele. Der Mißstand, dessen er geziehen wird, heißt in Wahrheit: es geht der Gewohnheitsweg unsrer Gedanken unter Ausschaltung des Ich von Gedanke zu Gedanke und Tatsache zu Tatsache, wir denken und handeln nicht über unser Ich. Darin liegt ja das Wesen unserer Objektivität, sie verbindet die Dinge untereinander, und selbst wo sie uns zu ihnen in Beziehung setzt oder – wie in der Psychologie – uns selbst zum Gegenstand hat, tut sie es unter Ausschluß der Persönlichkeit. Es gibt die Objektivität gewissermaßen das Innerliche an den Dingen preis, das Allgemeingültige ist unpersönlich oder – nach einer sehr glücklichen indirekten Kennzeichnung von Walter Strich [s. S. 228: Der Fluch des objektiven Geistes, 1919] –: für eine Wahrheit kann man nicht mit der Person einstehn. Objektivität stiftet daher keine menschliche Ordnung, sondern nur eine sachliche.

In der Tat tritt schon in jener früher erwähnten breiten Übergangszone zur Neuzeit, während deren das Tatsachendenken seinen Aufschwung nahm, dieser Protest dagegen mit aller Heftigkeit auf; Religion sei nicht Theologie, sagen ungefähr Schwenckfeld, Sebastian Franck und Valentin Weigel gemeinsam gegen den abgeirrten Mystiker Luther, sondern sie sei »Erneuerung des ganzen Menschen«. Es ist das der Protest des Gefühls, Willens, Lebenden, Wechselbaren, insgesamt der Menschlichkeit, was sich da gegen die Theologie, das Wissen, als den festen und erstarrten Niederschlag abgrenzt. Und dieses ist auch immer – wenn man sie aller theologischen Verbindungen und mit ihnen angenommenen Spezialitäten entkleidet – die Triebfeder aller Mystik gewesen; alle jene Worte wie Liebe, Schau, Erweckung und ihresgleichen in ihrer tiefen Unbestimmtheit und zarten Fülle bezeichnen nichts als eine tiefere Einbettung des Denkens in die Gefühlssphäre, eine persönlichere Beziehung zum Erlebenden.

Einen verwandten Erlebensgehalt und ein ähnliches Verhältnis zum Verstand hat aber auch das ganze Schrifttum unmystischer Lebensweisheit von Kungfutse bis Emerson und weiter, ja man kann behaupten, daß an dieser Linie auch eine Grenze zwischen Moral und Ethik läuft. Moral ist ihrem Wesen als Vorschrift nach an wiederholbare Erlebnisse gebunden, und ebensolche sind es, welche die Rationalität kennzeichnen, denn der Begriff kann sich nur an der Eindeutigkeit und – in übertragenem Sinn – Wiederholbarkeit ansetzen; so besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen dem zivilisatorischen Charakter der Moral und des Verstandes, während das eigentlich ethische Erlebnis wie das der Liebe oder der Einkehr oder der Demut selbst dort, wo es sozial ist, etwas sehr schwer zu Übertragendes, ganz Persönliches und fast Unsoziales ist. »Auch in Christus war ein äußerer und ein innerer Mensch, und alles, was er in bezug auf äußere Dinge tat, tat er vom äußeren Menschen aus, und stand dabei der innere Mensch in unbeweglicher Abgeschiedenheit«, sagt Eckehart. Was man in unsrer heutigen Literatur Ethik nennt, ist gewöhnlich ein schmales Fundament von Ethik und ein hohes Haus von Moral darüber.

Was es tatsächlich heute an Ethik gibt, lebt sehr unzulänglich in der Kunst, in der Essayistik und im Chaos privater Beziehungen. Die Musik wälzt Gefühle hin und her, in denen die Gedanken von Welt und Seele wurzeln, die Malerei sucht vom »Objekt« – dem Bazillenträger der Rationalität – sich loszuheben, die Dichtung bietet das Bild eines stagnierenden, in immer wiederholten Ansätzen fortschrittslosen Zustands der Seele, alles in allem ist es eine dumpfe, sich zu unbeständigen Erscheinungen überspitzende Unzufriedenheit, eine gärende Masse, in der immer wieder die gleichen Brocken an die Oberfläche stoßen, ohne daß der Chemiker käme und die Mischung klärte.

Unsre Geistesart ist vorläufig noch gar nicht darauf eingestellt, diesen Zustand zu ändern. Die Geschichte – wie gesagt, selbst der Hilfe durch Ordnungsbegriffe bedürftig – ist nur mißbrauchtes Hilfsmittel, sie zu schaffen, und der Humanismus, den wir treiben, ist ebenso höchstens im Nebenamt vergleichend, Lebenselemente herauslösend, ethisch, sucht vielmehr möglichst das Ganze von Persönlichkeiten, Zeiten und Kulturen zu verstehn und als Muster aufzustellen. Wenn man Goethe oder Lessing kennen lehrt als die in sich geschlossenen einmaligen Totalitäten, so hat das Exemplarische dieser großen Existenzen gewiß »Bildungswert«, aber allein vermittelt ist es im Grunde doch nichts andres, als wenn man in der Physik nur die Biographien Keplers oder Newtons vorbrächte. Der wesentliche Sachwert wird vernachlässigt, neben dem Biographischen fehlt das bewußt Ideographische und wird mehr oder weniger wie im Leben so in der Schule der persönlichen Willkür und Neigung überlassen. Wenn Goethe aber gedichtet hat: »Ist auf deinem Psalter / Vater der Liebe ein Ton / Seinem Ohr vernehmlich, / So erquicke sein Herz!« so steht das doch nicht nur allein da, und nicht nur im Zusammenhang mit dem jungen, etwas lästigen Herrn Plessing und der sonstigen Goethebiographie, und nicht nur in der Klassik und der literarischen Tradition, sondern es bildet auch eine Masche in der Reihe der Menschenliebe oder der Güte, welche Reihen durch die Vorstellungswelt von Anbeginn bis heute laufen, und durch den Platz in dieser Reihe wird es erst wesentlich bestimmt.

Solche Ordnung der Kunst, Ethik und Mystik, das ist der Gefühls- und Ideenwelt, vergleicht allerdings und analysiert und faßt zusammen und ist insoweit rational und den stärksten Instinkten unsrer Zeit wesensverwandt, aber sie ist kein Widerspruch gegen die Seele; sie hat ihr eigenes Ziel, und dieses ist nicht jene Eindeutigkeit, bei der sich etwa Ethos zur Moral verdichtet oder Gefühl zur kausalen Psychologie, sondern eine Übersicht der Gründe, der Verknüpfungen, der Einschränkungen, der fließenden Bedeutungen menschlicher Motive und Handlungen – eine Auslegung des Lebens.

Es mag dieser Ausklang einer Betrachtung unserer Situation in die Forderung einer Disziplin sonderbar sein: aber eine Zeit, die solche Arbeit nicht geleistet und solche Disziplin nicht erworben hat, wird nie zur Lösung großer Ordnungsaufgaben fähig werden.

Die Frau gestern und morgen
[1929]

Franz Blei gewidmet

Das, was man die neue Frau nennt, ist ein etwas verwickeltes Wesen; sie besteht mindestens aus einer neuen Frau, einem neuen Mann, einem neuen Kind und einer neuen Gesellschaft. Ich muß gestehn, daß ich mir das hätte überlegen sollen, ehe ich die Aufgabe übernahm, über sie zu schreiben; dabei ist es nicht einmal ganz sicher, ob es die neue Frau wirklich gibt oder ob sie sich nur vorübergehend dafür hält.

Ich werde also nur einige ausgewählte Fragen berühren können, für die ich besonderes Interesse habe, und dazu gehört seit je die veraltete Frau; deutlicher gesagt, ist es in diesem besonderen Fall die zuletzt, in unserer, der meisten heute lebenden Menschen Mitte veraltete. Sie ist in einer wichtigen Frage konsequenter gewesen als die neue: sie war vom Hals bis zu den Sohlen eingehüllt, während die neue erst teilweise nackt ist. Man frage einen sechzigjährigen Herrn nach seinen Jugenderinnerungen, so wird er erklären, daß sich heute die Frau weder anziehen, noch ausziehen kann, und es ist etwas Wahres daran, worüber man sich nicht durch die Wiedergabe alter Modebilder täuschen lassen darf, auf denen die Frauen so unverständlich lächerlich aussehen, daß einem die Gegenwart, mit Verlaub zu sagen, als ein Wunder der Neuzeit vorkommt. Das sind Gebilde, aus denen das Leben geflohen ist, Zeitlupenaufnahmen der Liebe, in denen die Form als solche erschreckt, was sie immer tut, wenn sie nicht mehr vom Fluß der Empfindungen umspült wird. Macht man sich jedoch von den gegenwärtigen Vorurteilen los, auch ohne noch sich in die der Vergangenheit zu versetzen, und sieht diese Kleider und Hüte etwa an, wie man es an Barockstatuen gelernt hat, so wird man an ihnen wohl höheren Geschmack vermissen, aber doch eine ungemein große Bewegtheit entdecken. Gerade in ihrer historischen Austrocknung wirken diese gefalteten, gepufften, gerüschten, übereinandergezogenen Kleidermengen als das, was sie sind: eine ungeheuerliche künstliche Vergrößerung der erotischen Oberfläche. Das Kunstwerk, das die Natur macht, indem sie durch das Aus- und Einfalten eines Hautblattes die Formen von Tier und Mensch und die Lockungen der Liebe hervorbringt, ist hier in einer etwas geschmacklosen, aber wirksamen Weise übersteigert worden. Das Kleid der veralteten Frau hatte (wie übrigens auch ihre Sittsamkeit) die Aufgabe, den eindringlichen Wunsch des Mannes aufzufangen und zu verteilen; es verteilte den so einfachen Strahl dieses Wunsches auf eine große Oberfläche (und moralisch auf Hunderte Schwierigkeiten), wie man mit einem einzigen Fluß meilenweites Land bewässert, und nach dem Gesetz, das der Lust und dem Willen unter den menschlichen Kräften eine Ausnahmestellung gibt, da sie an Hindernissen nicht weniger, sondern mehr werden, vervielfachte es das Verlangen, bis zu einem geradezu schon lächerlichen Grad, so daß der Mensch bei Entblößungen, die uns heute vollkommen gleichgültig sind, in erschütternde Abenteuer geriet. Aber man erinnere sich an die entzückenden Liebesgeschichten, die Stendhal in seinen Renaissancenovellen erzählt, um nicht nur darüber zu lächeln; auch ihr Fackelglanz kommt von den außerordentlichen Schwierigkeiten, die es den Liebenden selten und nur verstohlen in nächtlicher Lebensgefahr gestatteten, sich zu umarmen, und das sind Steigerungen, die endgültig zu verlieren wir heute im Begriff sind, wenn sie auch zuletzt nur in einer fast schon sinnlosen Erstarrung vorhanden gewesen sind.

Von dieser Sinnlosigkeit möchte ich allerdings noch gerne ein Beispiel wiedererzählen; ich verdanke es einem Mann, den grundlos nervöse Besorgnisse drückten, die sich an die Geschichte seiner Jugend knüpften. Er hatte diese Jugend, die Zeit an der Grenze des Knaben- und Jünglingsalters, in einem Institut verbracht und schilderte mißtrauisch die Art, in der er und seine Genossen, es mochte gegen Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gewesen sein, sich »die Frau« vorstellten. Eine alte Novellenbibliothek, irgendein Novellenschatz oder ‑schatzkästlein der Weltliteratur bildete die Quelle, aus der sie tranken, und alle Frauen, die darin vorkamen, waren schön, hatten eine dünne Taille, winzig kleine Hände und Füße und sehr langes Haar. Im Charakter waren sie teils stolz, teils sanft, teils heiter, teils schwermütig, aber alle überaus weiblich und am Ende der Geschichte so süß und weich wie Bratäpfel. Sie bildeten die Erwartung der jungen Männer, die noch nicht Gelegenheit hatten, selbst einen Blick ins Leben zu tun, und da zeigte sich etwas Merkwürdiges. Zu diesen Frauen gehörte auf Seiten der Männer ein Schnurrbart, den man auf ihre Lippen drücken mußte, und dieser Schnurrbart war nach der Ordnung der Natur etwas, das die jungen Leute immerhin bald erwarten durften; auf diese Weise kamen sie dazu, sich ihn als Vorlust zu wünschen, wie das, glaube ich, heute heißt, und weil er nach dem Novellenschatz blond oder schwarz, weich und lang sein mußte, hatte sich ihn der Erzähler als einen Bart gewünscht, dessen eine Schwinge blond, indes die andere vorsichtigerweise schwarz war, und er wurde auch von einem Mal zum anderen länger; erst war er nur so lang wie der Bart eines Helden, dessen Beschreibung er in einer der Geschichten gelesen hatte, als aber aus einer zweiten Erzählung ein ebenbürtiger Rivale hinzutrat, wurde er so lang wie beide Bärte zusammen und schließlich für alle Fälle so lang wie die Summe aller Schnurrbärte, die es überhaupt gibt, und noch um ein wenig länger. Als das soweit gediehen war, bemerkte der Knabe durch eine glückliche Erkenntnis, daß man sich einen solchen Bart überhaupt nicht mehr wünschen könne, und später schreckte ihn die Erinnerung daran, daß er in eine so merkwürdige Phantasieentartung unversehens hatte hineingeraten können. Von diesem Erlebnis beleuchtet, flößte ihm die Frau Furcht ein; die Kleinheit ihrer Füße, Hände und des Mundes und die Schmalheit der Taille waren, bei starker Betonung aller Partien, die die Physiologie als Fettpolster bezeichnet, Vorstellungen der Phantasie, in denen eine das Herz entleerende Tendenz zu unbegrenzter Verminderung lag. Die Taille konnte bald nicht mehr schmal genug sein, der ideale Mund hatte die Größe und Rundung eines Stecknadelkopfes und die Händchen wie Füßlein saßen mit der Ohnmacht kleiner Falter am üppigen Kelch des Leibes. In diesem Ideal wohnte zweifellos der Kern eines Wahnverhaltens, und wer ein wenig in der Psychologie Bescheid weiß, wird sich vielleicht an das unersättliche Sicherungsbestreben gemahnt fühlen, das nach der Schule Adlers eines der Merkmale des Neurotikers ist. Aber Krankheit ist dieses Wahnverhalten kaum zu nennen, denn in allem menschlichen Tun tritt, wenn es sich von seinem natürlichen Boden entfernt, wo es neben einer Menge anders- und entgegengerichteter Interessen entstand, ein solches leeres Wachstum auf, eine Entwicklung in der Richtung der Übersteigerung ohne Fülle. Die Mystik verändert sich in asketische Quälerei, die geistige Überlegenheit in Schachspiel, und Freude am Körper oder Kampf verzerrt sich zur Sklaverei des Rekords. Aus dem Augenblick, wo der groteske Schatten dieses eindimensionalen Verhaltens auch auf die Liebe fiel, ist nichts anderes zu schließen, als daß ihre bis dahin gültige Idealform schon in Auflösung war.

Es ist seitdem genug über die neue Frau geschrieben worden, um in wenig Worten von dem Übergang zu sprechen. Der gültige Liebesbegriff war bis zur Zeit der Eltern und Großeltern der zwei heute lebenden Generationen durch Jahrhunderte der des Ritters gewesen, der seine Dame sucht und findet; dabei waren im Lauf der Zeit allerdings die schweren Proben der Werke, die er um ihretwillen vollbringen mußte, immer mehr in die Sphäre schlechter Romane gerückt, und außerdem hatte sich das ursprünglich christlich-ritterliche Ideal so verteilt, daß auf den Mann mehr die ritterlichen, auf die Frau die christlichen Leistungen entfielen. Mit diesem Liebesbegriff, den es im Leben schließlich kaum noch gab, nach dem sich aber immerhin das Leben richtete, ist es wahrscheinlich nun vorbei. Mit ihm verschwindet die heute fast schon unbegreiflich gewordene Einengung des Liebesalters der Frau auf die kurze Spanne zwischen dem siebzehnten und dem vierunddreißigsten Jahr, die auf einen hochgespannten und überspannten Liebesbegriff zurückweist, der die Suggestion ausstrahlte, daß man ihm nur in der höchsten Blüte genügen könne. Ein ähnliches Hohlwerden mit daraus folgender Übertreibung machte bezeichnenderweise auch die soziale Stellung der Frau mit. Man muß sich vergegenwärtigen, daß ursprünglich der Tätigkeitskreis der Hauswirtschaft genügend groß und vielfältig gewesen ist, um einen ganzen Menschen zu brauchen, während schließlich nur noch Klein[ig]keiten davon übriggeblieben waren, die aber immer noch in Verbindung gebracht wurden mit dem längst dafür zu groß gewordenen Begriff der schaltenden Hausfrau; aus der mächtigen Bundesgenossin des Mannes ist auf diese Weise zuletzt ein etwas lächerliches Hausmütterchen geworden, das albern von seiner Tätigkeit schwätzte. Zwangsläufig war mit diesem Schicksal ein ähnliches im Verhältnis zu den Kindern verbunden. Die Problematik des Kindes oder, wie man heute gerne es nennt, das Problem der Generationen, liegt ja wahrscheinlich nicht dort, wo man es gewöhnlich sucht, in der zeitgemäßen Frühreife und dem mit ihr verbundenen frühen Unabhängigkeitsbedürfnis der Kinder oder in irgendeiner Wellenbewegung der Kultur, die Eltern und Kinder als Generationen gegeneinander aufbringt, sondern wohl ganz einfach in der Tatsache, daß heute höchstens Geld und Besitz vererbt werden, wogegen das früher beinahe mit dem ganzen Zuschnitt des Lebens geschah. Man könnte geradezu sagen, daß das Problem der Generationen eng mit dem Übergang vom eigenen, die Geschlechter überdauernden, Rang und Reichtum darstellenden Haus, das seine Bewohner prägte, zur Nomadenmietswohnung der Großstädte zusammenhängt. Damit war aber zugleich die Mutterschaft angegriffen, die der Frau Würde und auch Entschädigung für das frühe Opfer ihrer Jugendlichkeit gegeben hatte. Ihr fehlte jetzt das Gerüst, so daß nur der rein seelische Herrschaftsanspruch übrigblieb; mag ein solcher aber noch so durchgeistigt verwirklicht werden, das Ruhige und Selbstverständliche des ungeistig-Materiellen ist ihm nicht zu eigen, und Enttäuschungen in dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern werden schon dadurch unvermeidlich, daß dieses Verhältnis viel zu sehr mit Gefühlsanteil überladen ist. Die Beschränkung der Kinderzahl wirkt in der gleichen Richtung, das Verhältnis zwischen den Gatten und zwischen Eltern und Kindern, das an äußerer Geräumigkeit verloren hat, mit moralischen Ansprüchen zu überlasten. Andererseits ist die Abnahme der Fruchtbarkeit aber unmittelbar eine Folge der geänderten Wirtschafts- und Lebenszustände selbst, so daß man an diesem Beispiel sehr deutlich sieht, wie Antriebe der Entwicklung von ganz verschiedenem Ursprung einander ergänzen. Mit dieser Bedeutung ließe sich noch vieles anführen; die unhaltbare rechtliche Stellung der Frau, die Frauenarbeit, der Einfluß, den die Bedürfnisse der früher niederen Stände heute auf die Gestaltung der Sitte nehmen, das allgemeine Streben nach elastischeren Moralbegriffen, die Abwendung vom Individualismus und zuguterletzt wieder die Liebe höchstselbst, die nach den Höhepunkten im 18. Jahrhundert und in der Romantik in die Hände entgeistigter Roman- und Dramenschreiber gefallen ist. In dem weitläufigen Ineinandergreifen so vieler Einzelheiten liegt eine Gewähr dafür, daß die inzwischen eingetretenen Veränderungen nicht bloß eine Oszillation sind, sondern eine dauernde Abwendung vom Gewesenen bedeuten; aber wohin sie führen, bei solcher Verwicklung vorhersagen zu wollen, würde den Eifer eines Propheten erfordern. Uns allen ist die Flut der Schriften, Reden, Parteibildungen und Einzelaktionen ungefähr bekannt, aus denen im Lauf eines Menschenlebens das hervorgegangen ist, was man die neue Frau oder die neue Stellung der Frau nennt. Aber das Allerbezeichnendste ist es wohl doch, daß es schließlich anders gekommen ist. Der Krieg ist es gewesen, der den Massen der Frauen die Scheu vor den Mannesidealen und dabei auch vor dem Ideal der Frau genommen hat, und die entscheidende Schlacht ist nicht von den Vorkämpferinnen der Emanzipation, sondern am Ende von den Schneidern geschlagen worden. Die Frau hat sich auch nicht in der Weise freigemacht, daß sie dem Manne Tätigkeitsgebiete abnahm, wie es früher den Anschein hatte, sondern ihre entscheidenden Taten waren, daß sie sich seiner Vergnügungen bemächtigte und daß sie sich auskleidete. Erst in dieser Phase ist die neue Frau aus dem Ausnahmezustand der Literatur und aus der Separation der Lebensreformerei vor die Augen des Volks getreten und rasch zur Wirklichkeit geworden; ein Werdegang einer Revolution, der ein wenig zur Vorsicht mahnt.

Betrachtet man mit dieser Vorsicht und jener ewigen Sympathie, auf die ein Mensch Anspruch hat, der sich vor einem Mäuslein fürchtet und dennoch die Welt umstürzen muß, den Zustand, wie er augenblicklich ist, so darf man ungefähr das Folgende von ihm sagen: Die Frau ist es müde geworden, das Ideal des Mannes zu sein, der zur Idealisierung nicht mehr die rechte Kraft hat, und hat es übernommen, sich als ihr eigenes Wunschbild auszudenken. Die Schwüle älterer Männer kommt ihr selbst komisch vor, und darin liegt eine große Reinigung der Atmosphäre. Sie will überhaupt kein Ideal mehr sein, sondern Ideale machen, zu ihrer Bildung beitragen, wie die Männer es tun; wenn auch vorläufig noch ohne besonderen Erfolg. Sie ist noch ein wenig mädchenhaft unsicher bei ihrem neuen Tun; sie studiert im Durchschnitt bis zur Mitte des Gymnasiums oder der Universität und bevölkert die unkontrollierbaren Berufe; sie wendet sich vorläufig an die Knabeninstinkte des Mannes, ist bubenhaft mager, kameradschaftlich, sportlich spröd und kindisch; vor den unzähligen angekleideten Menschen, die in einem Theater sitzen, an Schaufenstern vorbeigehen oder Zeitschriften ansehen, zieht sie sich splitternackt aus, vor den wenigen, mit denen sie in einem Bad zusammenkommt, legt sie aber immerhin einige Stückchen Stoff auf sich, ja deren Umfang ist neuerdings sogar wieder im Wachsen. Das sind noch Störungen der Folgerichtigkeit, aber sie werden keine Rolle spielen. Wichtiger ist, daß das Verhältnis zu den Kindern sich in der Hauptsache vorläufig noch auf deren Verhütung beschränkt; die neue Frau ist etwas eiliger in Erscheinung getreten als die neue Mutter. Aber es scheint, daß die äußerst reizvolle Nüchternheit, die immer der Frau eigen war, wo sie sich natürlich und nicht nach den Einbildungen des Mannes gab (denn zarte Wesen sind oft zu ihrer Schonung ein wenig nüchtern und überlassen die Donquichotterien den mit festeren Knochen Ausgestatteten), sich auch in einer rationalisierten Kinderbehandlung äußern wird, und die Kinder werden sich dabei sehr wohl fühlen. Dieser Wirklichkeitssinn einer Gattung Mensch, die durch Jahrhunderte dazu verurteilt war, das Ideal eines anderen zu spielen, ist vielleicht heute in dieser Frage das Wichtigste. Ich stehe nicht auf Seiten derer, die über die Nüchternheit der jungen Frauen klagen. Der menschliche Körper ist auf die Dauer außerstande, sich nur als Empfänger von Sinnesreizungen zu fühlen, er geht immer dazu über, Darsteller, Schauspieler seiner selbst zu sein, in allen Verhältnissen, in die er gerät; so verbindet sich auch immer der Naturtrieb in ihm mit einem bestimmten System von Vorstellungen und Gefühlen, und diese Ideologisierung ist in den Jahrhunderten wie ein Strahl, der steigt und sinkt. Heute ist er in der Nähe seines tiefsten Punktes, fast eingeschluckt; aber er wird ohne Zweifel in einer neuen Verbindung wieder aufsteigen. Es sind unzählige und ganz verschiedene Möglichkeiten dafür gegeben, und die Zukunft verdeckt sie wirklich nur wie ein Schleier, nicht wie eine mit Vorurteilen bestückte Ringmauer.


 << zurück weiter >>