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Die Millionen-Braut

Am folgenden Morgen war Mr. Büchting schon in aller Frühe auf. Er fühlte sich ruhiger und kräftiger. Auch gab ihm der Gedanke, daß Dantes in Neuyork sei, der Mann, zu dem er aufblickte, wie zu einem Wesen höherer Art, eine gewisse Zuversicht. Wenn auch mit keinem anderen Menschen, so konnte er mit Dantes über die entsetzlichen Mitteilungen des sterbenden Negers sprechen. Dantes, mit seiner tiefen Menschenkenntnis, seinem klaren Geiste, seinem edlen Herzen sollte alles erfahren und dann urteilen. Hatte der Neger die Wahrheit gesprochen, so sollte nichts Mr. Büchting abhalten, den Verbrecher zu verfolgen. Aber der Beweis – der Beweis! Der Neger war tot, und selbst wenn er noch lebte, würde sein Zeugnis in einem solchen Falle gegen einen weißen Mann, gegen einen Offizier der Union nicht ins Gewicht fallen. Nein, der Verbrecher müßte dahin geführt werden, sich selbst zu entlarven, und gerade in diesem Plane sollte Dantes Mr. Büchting unterstützen. Ralph mußte sich selbst verraten.

Mr. Büchting ging noch in seinem Zimmer auf und ab, als es leise an seine Tür klopfte und auf sein schnelles »Herein!« ein schöner Mädchenkopf in der nur halb geöffneten Tür erschien.

»Eliza, Du? Schon so früh!« rief Mr. Büchting verwundert.

»Darf ich zu Dir kommen?«

»Nun, gewiß!«

Das junge Mädchen war in einem einfachen Morgenanzug gekleidet; das lockige Haar von einem seidenen Netz zusammengehalten, eine wunderliebliche, schlanke aber nicht schwächliche Gestalt, eilte auf Mr. Büchting zu, der ihre Umarmung mit der ganzen Innigkeit und dem Stolz eines liebenden und glücklichen Vaters erwiderte. Wohl hatte er Grund, stolz auf sie zu sein. Von allen Mädchen, die er kannte, war sie die Sanfteste, Bescheidenste, Verständigste. Kein Dünkel in ihr, trotz des Reichtums, kein Hochmut, trotz ihrer hohen geistigen Bildung, kein Fehl an ihrem Herzen, immer das gute Kind, auf das das Wort »Gehorsam« keine Antwort finden konnte, da all ihre Neigungen, Wünsche und Gefühle schon im voraus mit denen der Eltern übereinstimmten.

Und auch die Schönste war sie! Was ließe sich vergleichen mit dem Glanz dieser klugen und doch so kindlich rein blickenden Augen, mit dem Adel dieser feinen Stirn, dem seidenen Schimmer dieses vollen Haares, der Frische der Lippen, den schön geschwungenen Linien des Halses und Nackens, alles an ihr, geistig und körperlich, so frisch und rein, so echt gesund und doch wieder verklärt von einem Hauche der Anmut und weiblichen Feinheit. Jeder, auch der vollkommenste, beschränkteste Geldmensch, fühlte das Ideale ihrer Erscheinung. Gesundheit, Kraft, Zierlichkeit und Grazie vereinten sich in ihr, um ihre Erscheinung zu verschönen. Und klang dann ihre wohllautende, etwas tiefe Stimme, der ihres Vaters ähnlich, sprachen ihre geistigen belebten Augen, so erhöhte sich der Zauber ihrer Erscheinung. Ach, die Millionenbraut hatte viele Männerherzen mit Unruhe erfüllt. Aber keiner wagte sich, ihr zu nahen ohne jene Ehrerbietung, die die Nähe eines reinen, körperlich und geistig vollendeten Wesens hervorruft. Sie glich den meisten ihrer eitlen, kokettierenden, von kleinen Wünschen und Kapricen bewegten Schwestern so wenig, daß sich ihr gegenüber nur die vertraulich und sicher fühlten, die selbst auf einer hohen Stufe der Bildung des Herzens und Geistes standen und den ganzen Wert dieses seltenen Mädchens begriffen. Die Jüngeren pflegten sie meist aus der Ferne sehnsüchtig zu betrachten, gewöhnlich waren es gereiftere Männer, die sich mit ihr unterhielten und aus dem Glanz ihrer Blicke, aus der Sinnigkeit ihres Gesprächs, aus dem ganzen Reiz ihrer Erscheinung jenen angenehmen und leichten Rausch tranken, der auch dem erfahrenen Manne die Ideale seiner Jugend wieder vor die ernst gewordene Seele führt.

Wer dieses Ideal heimführen und sein nennen würde?

Diese Frage hatte viele beschäftigt, als Eliza in New York erschien, und alle waren darin einig gewesen, daß Miß Eliza auch ohne ihre Millionen jeden Mann glücklich machen würde. Bald aber hatte man bemerkt, daß Eliza auf alle Huldigungen und Bewerbungen gar nicht achtete, sie gar nicht zu verstehen schien. Wurde ihr Vater befragt, so erklärte er, daß jeder Mann ihm recht sei, den seine Tochter erwähle; aber Eliza schien nicht wählen zu wollen. Sie bewegte sich in der großen New Yorker Gesellschaft, inmitten der jungen Welt, die von Liebes- und Heiratsgedanken bewegt wird, als sei sie ein Wesen aus einer anderen Welt, das derartige Empfindungen und Wünsche gar nicht kenne. Obwohl freundlich und selbst heiter, wenn auch nie kindisch oder ausgelassen, wußte sie doch stets einen Ernst zu bewahren, der ihr entweder angeboren oder zur zweiten Natur geworden zu sein schien. Sie bot nie die Gelegenheit, mit ihr im Scherz über Liebe zu sprechen; und wer hätte es im Ernst wagen wollen!

So hatte sich denn das Gerücht verbreitet, Miß Eliza habe längst ihr Herz verschenkt an irgendeinen wunderbaren, abwesenden Mann, der plötzlich erscheinen und sie entführen werde, wie der Prinz im Märchen. Andere, die zu weniger romantischen Anschauungen hinneigten, glaubten, daß Kapitän Pettow die meisten Aussichten habe, da er der Verwandte und mutmaßliche Erbe Mr. Everetts, des intimsten Freundes Mr. Büchtings, sei. Im allgemeinen nahm man an, Miß Eliza sei aus einem so besonderen Stoff geformt, daß sie nie einen Mann leidenschaftlich lieben werde, ja daß sie eigentlich über allen Männern stehe und deshalb wahrscheinlich zuletzt eine gute Verstandeswahl treffen werde. Die Welt kannte dieses edle und leicht erregbare Herz sehr wenig; keiner wußte, welche Fülle des Gefühls, des wärmsten Lebens diese scheinbar so ruhige und kühle Erscheinung in sich barg. Eine wahrhafte edle weibliche Natur streut die Schätze ihres Herzens nicht vor aller Welt aus; sie bewahrt das Heiligste und Beste, was sie hat, für Wenige – für ihre Familie und für den, in dem sie einst aufgehen und der das Haupt ihrer eigenen Familie bilden soll. –

»Was hat Dich denn so früh herausgelockt?« fragte Mr. Büchting, der am Abend vorher seine Frau und seine Tochter nur auf eine Viertelstunde gesprochen hatte.

»Ich habe in der Nacht nicht gut geschlafen,« antwortete Eliza.

»Ah, und warum nicht? Du siehst doch sonst wohl aus?« fragte Mr. Büchting.

»Ich war sehr aufgeregt, Papa.«

»Aufgeregt – wodurch? Hat Dir jemand etwas zuleide getan? Hast Du irgend etwas Wichtiges erfahren?«

»Nein, lieber Vater,« antwortete sie, ihm den Arm auf die Schulter legend und sich an ihn schmiegend. »Aber Du mußt mir nicht böse sein – es betrifft Einen, über den ich eigentlich nicht viel sprechen soll.«

Mr. Büchting verstand sie sogleich. Dieser eine war Richard. Der Name des unglücklichen jungen Mannes wurde in der Familie so wenig als möglich erwähnt. Mr. Büchting hatte nicht einmal zu Hause erzählt, in welcher Absicht er nach Athens gefahren war. Seine Familie glaubte, daß er dort mit Mr. Everett und Ralph einen Geschäftsbesuch gemacht habe.

»Nun, sprich nur, liebes Mädchen – wenn es Dir das Herz erleichtert!« sagte er.

»Ja, das tut es!« rief Eliza. »Also, lieber Vater – da wir nicht wußten, wann Du zurückkehren würdest, und da wir ohne Dich nicht viel anzufangen wissen, so fuhren wir gestern gegen Abend nach dem West-Bahnhof. Wir glaubten, es sei doch möglich, daß Du mit dem Schnellzug kämest. Wir fuhren vorher ein wenig spazieren – dann ließen wir das Verdeck des Wagens aufschlagen und sagten dem Kutscher, er solle in der Nähe des Perrons halten, dort wo alle Passagiere vorbei müssen. Als wir nun da hielten und scharf in der Dunkelheit auslugten, sah ich plötzlich einen alten Herrn mit weißem Haar und einen anderen Herrn neben ihm. Sie gingen schnell nach dem Wagenstand. Jeder trug eine kleine Reisetasche. Der jüngere von ihnen – sein Gesicht sah ich nicht – war ihm so ähnlich, die Bewegungen, das Haar, nur kürzer als früher – daß ich unwillkürlich mich aus dem Wagen lehnte und ihm nachblickte. Aber ich konnte nichts weiter sehen.«

»Nun – und?« fragte Mr. Büchting leise.

»Und nun, lieber Papa, habe ich die Nacht nicht viel geschlafen. Denn immer, immer wieder stieg das Bild, die Gestalt vor mit auf und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren – –«

»Daß es Ähnlichkeiten gibt!« ergänzte Mr. Büchting ernst, als Eliza schwieg.

»O, ich weiß, was Du sagen willst,« rief sie, ihren Arm noch fester um ihn schließend. »Ich soll mich nicht so törichten Hoffnungen hingeben. Und doch, Papa, hast Du mir selbst gesagt, daß er nicht tot gefunden worden, daß er nur verschwunden ist – –«

»Mein liebes Kind,« unterbrach sie Mr. Büchting sanft und traurig, »ich kann Dir nicht verbieten, diesen Gedanken nachzuhängen. Aber begreifst Du nicht selbst, daß mit jedem Monat, mit jeder Woche die Hoffnung schwindet?«

»Nein, wächst, lieber Vater, wächst!« rief Eliza und blickte ihn mit ihren großen, jetzt feucht gewordenen Augen wie verklärt an. »Wenn er nun alle Hindernisse überwunden hätte, die seiner Rückkehr im Wege standen, große Hindernisse, die ihn lange fern gehalten – dann muß er ja jetzt kommen. Und jeder Tag führt uns dem Wiedersehen näher!«

»O, Eliza,« sagte Mr. Büchting schmerzlich, »was soll daraus werden, wenn dieser eine Gedanke Dich immer beherrscht! Ich fühle mit Dir. Aber ist es gut, ist es zu billigen, wenn Du an einer Hoffnung festhältst, die nie in Erfüllung gehen kann? Wäre es nicht besser, Du versuchtest, Dich in das zu finden, was unvermeidlich ist? Bedenke, wenn ich oder die Mutter stürbe. Könntest Du dann erwarten, uns wiederkehren zu sehen, nachdem man uns ins Grab gelegt? Fühlst Du denn nicht, daß in dem Festhalten einer Hoffnung auf die Unmöglichkeit etwas Widersinniges liegt?«

»Ja, Vater, das würde ich fühlen, wenn eine Unmöglichkeit, ein unabänderliches Naturgesetz mir entgegenträte. Aber Richard ist nicht tot gefunden. Weshalb also soll ich nicht hoffen? Jahre vergehen dem, der mit schweren Hindernissen zu kämpfen hat, schnell genug. Die Verbindungen sind gestört. Richard kann gezwungen worden sein, in ein Regiment, vielleicht in ein südliches, zu treten. Seine Briefe sind verloren gegangen – –«

»Liebes Kind, aus Deinen Hoffnungen und Träumen erkenne ich, daß wahrscheinlich nie ein anderer Mann in Dein Herz einziehen wird.«

»Das glaube ich selbst, lieber Vater,« antwortete sie leise. »Und weshalb auch? Bin ich nicht so glücklich, als ich sein kann, mit Euch? Genügt mir nicht jetzt meine Hoffnung? Wird mir nicht später die Erinnerung genügen?«

»Ein trauriger Blick in die Zukunft!« sagte Mr. Büchting leise. »Nun, so hoffe denn! Und gebe Gott, daß Deine Hoffnungen in Erfüllung gehen!«

Ein Diener unterbrach das Gespräch. Er brachte einen Brief; aus der Adresse erkannte Mr. Büchting sogleich die Handschrift des Missionärs. Er entließ seine Tochter mit einem Kuß und erbrach den Brief.

Dantes schrieb:

»Mein lieber Sohn! Ich bin gestern angekommen und habe die Wohnung bezogen, die Du mir ausgesucht hast. Aus Gründen, die ich Dir nicht lange vorenthalten werde, möchte ich nicht, daß irgend ein anderer, als Du und Everett, um meine Anwesenheit wissen. Ich vermeide es deshalb, Euch aufzusuchen. Everett werde ich bitten, am Mittag zu mir zu kommen. Dich hätte ich gern schon früher gesehen. Komm also zu mir, sobald Du kannst. Ich bleibe zu Hause.«

Sobald Mr. Büchting den Brief gelesen, kleidete er sich an, sagte seiner Gattin Guten Morgen und Adieu und fuhr in einem Mietswagen bis in die Nähe von Field-Street. Er kannte den Besitzer des Hauses Nummer 7. Es war ein ihm treu ergebener, zuverlässiger Mann, der ihm das feste Versprechen gegeben hatte, die Anwesenheit der beiden Mieter vor jedermann geheim zu halten. Daß es sich bei einer Angelegenheit, die von Mr. Büchting ausging, nicht um etwas Gesetzwidriges handeln könne, davon war Mr. Bird überzeugt.

Als Mr. Büchting das kleine freundliche Haus, das so ziemlich am westlichen Ende von New York lag, betrat, kam ihm Mr. Bird selbst entgegen und sagte ihm, daß der »alte Herr« sich im Garten befinde. Dieser Garten war groß und dem Obst- und Gemüsebau gewidmet. Doch befand sich auf der einen Seite eine schöne, breite Allee von alten Ulmen. In dieser gehe der »alte Herr« spazieren, sagte Mr. Bird.

Büchting eilte nach jener Seite.

Er sah den Missionar, der langsam die Allee hinabschritt. Er war wie gewöhnlich in Schwarz gekleidet, den langen Rock bis oben zugeknöpft. Doch trug er das weiße Haar etwas kürzer, als Büchting es in früheren Jahren bei ihm gesehen hatte. Seine Haltung war dieselbe; aufrecht, fast noch straff; nur der Kopf zeigte eine leichte Neigung nach vorn, wie man es auch bei jüngeren Leuten findet, die sich viel mit ernsten Gedanken beschäftigen.

Sobald er Mr. Büchtings Schritte hörte, wandte er sich um, kam ihm dann eilig entgegen und schloß ihn mit der ganzen Liebe eines Vaters in seine Arme. Die erste Viertelstunde galt gegenseitigen Fragen über persönliche Verhältnisse, über die Familie des Missionärs, die sich jetzt in der Kapstadt befand, und die Familie Büchtings.

»Nun, und habt Ihr nichts von Richard Everett gehört?« fragte dann der Missionär plötzlich. »Welches Resultat hat Eure Reise nach Athens gehabt?«

»Keines, das uns über Richards Schicksal aufgeklärt,« antwortete Büchting. »Und doch für mich ein furchtbares Resultat, das mir das Herz abdrückt und mich mit Sehnsucht die Stunde erwarten ließ, in der ich mich Dir anvertrauen könnte.«

»Nun sprich, mein lieber Sohn!« sagte Dantes.

Darauf erzählte Büchting, was er von dem Neger vernommen hatte. Dantes unterbrach ihn mit keiner Silbe, sondern ging, die Blicke vor sich hin gewandt, die Arme auf den Rücken gelegt, gedankenvoll neben ihm. Nur als Büchting schwieg sagte er:

»Was denkst Du darüber?«

Büchting gab ihm nun, als spräche er mit sich selber, ein treues Spiegelbild seiner Gedanken und Vermutungen. Als er geendet, ging Dantes noch eine Zeitlang schweigend neben ihm. Dann sagte er:

»Das Resultat Deiner Betrachtungen geht dahin, daß Ralph Pettow schuldig sein könnte?«

»Ja und nein. Ich mache mir Vorwürfe darüber, daß ich einem Menschen überhaupt so tief mißtrauen kann, wie ich Pettow mißtraue; ich will an solche Verworfenheit nicht glauben. Und doch kann ich mich des entsetzlichen Gedankens nicht erwehren, es könnte wahr sein!«

»Wenn es nun wäre, welche Strafe könnte einen so entmenschten Verbrecher treffen, welche Strafe wäre dem Verbrechen angemessen, und welche gäbe eine Hoffnung auf Besserung für den Verbrecher selbst?« fragte Dantes.

»Wenn er schuldig wäre, so würde keine Strafe ihn bessern. Denn er ist der vollendetste Heuchler!« antwortete Mr. Büchting. »Er hätte nicht aus Leidenschaft, aus Zorn, aus Not, aus Blutgier, aus tierischen Trieben gemordet, sondern mit kalter Ueberlegung und mit dem Vorsatz, das Geschehene zu vergessen, um sich einem ungestörten Genusse des Lebens, wie er ihn versteht, hinzugeben. Keine Strafe wäre groß genug für ihn. Aber ich kann es noch nicht glauben! Und doch, das scheue Wesen, daß er seit dem Augenblick zeigt, in dem der Neger zu mir sprach, sein Entsetzen im Eisenbahnwagen – –«

Er erzählte Dantes die Szene auf der Station.

»So wäre es die furchtbarste und gerechteste Strafe für ihn,« sagte Dantes darauf, »ihn glauben zu lassen, Richard lebe noch und könne plötzlich vor ihn hintreten, er müßte bei dieser Hoffnung Freude heucheln und würde doch Todesangst im Herzen tragen – die bitterste Strafe für seine Heuchelei!«

»Aber er wird wohl am besten wissen, daß Richard tot ist!« sagte Mr. Büchting düster und traurig. »Ich lasse mich von meinen Gedanken schon verleiten, zu glauben, Richard sei ihm vielleicht das erste Mal entgangen und erst in Providance ein Opfer der unnatürlichen Grausamkeit Ralphs geworden. Er hat Richard dort erschießen lassen.«

»Du mußt in der Tat großes Mißtrauen gegen einen Mann hegen, den Du solcher Verbrechen fähig hältst, auf die Beschuldigung eines einzigen Mannes hin,« sagte Dantes ernst. »Rechtfertige mir Dein Mißtrauen!«

»Gott weiß es, wie sehr ich mit mir selbst gekämpft habe, um diesen Verdacht nicht in meinem Herzen Wurzel fassen zu lassen,« antwortete Büchting tief ergriffen. »Aber wenn ich alle Umstände erwäge – wenn ich bedenke, daß Ralph damals in der Nähe war, daß er ferner mit Staunton bekannt gewesen ist, und daß die Mitteilungen des Negers in betreff des Ueberfalls auf meine Pflanzung ebenfalls seltsam stimmen und zugleich eine Erklärung zu dem ersten Morde liefern – wenn ich mir ferner zurückrufe, wie eigentümlich sich Ralph jedes Mal benahm, wenn von dem jähen Tode oder Verschwinden Richards die Rede war, wie er dann stets erklärte, er könne nicht davon sprechen hören, es ergreife ihn zu sehr, und hinausging – ich sage, wenn ich alles das erwäge, so schleicht sich mir der Verdacht immer tiefer in das Herz. Und vor allen Dingen, mein lieber, väterlicher Freund, gibt es gewisse Antipathien, denen selbst der ernste, alles überlegende Mann sich nicht entziehen kann. Früher habe ich auf Ralph Pettow wenig geachtet; neben Richard verdiente er auch in der Tat keine Aufmerksamkeit. Als er aber nach Richards Verschwinden uns öfter besuchte, als ich zu bemerken glaubte, daß ihm an Elizas Zuneigung gelegen sei, da begann ich schärfer auf ihn zu achten und ich habe ihn in jeder Hinsicht unzuverlässig gefunden. Er ist falsch; er affektiert Gefühle, die er nicht hat und verrät sich dem aufmerksamen Auge durch seine Uebertreibung. Eliza und meine Frau teilen meine Antipathie. Wir haben uns nie darüber bestimmt ausgesprochen, aber schon darin, daß wir ein Gespräch über Pettow vermeiden, daß wir flüchtig über alles hingehen, was ihn betrifft, liegt die Uebereinstimmung unserer Gefühle und Gedanken. Ich sage nicht, daß ich glaube, Ralph habe den Mord begangen, aber ich kann mich, Ihnen gegenüber, offen dahin aussprechen, daß ich ihn dessen für fähig halte.«

»Und welche Strafe könnte einen so hinterlistigen Mörder treffen?« fragte Dantes nach einer kurzen Pause.

»Das weiß ich nicht – ich würde dem Gesetze freien Lauf lassen. – Aber die Beweise?« fragte Büchting.

»Ich bin gegen die Todesstrafe,« sagte Dantes, »nicht weil ich sie für grausam halte, sondern weil sie den, der wirklich bereut, an der vollen Empfindung, ich möchte sagen, an der ganzen naturgemäßen Entwickelung der Reue hindert. Gewöhnlich wünschen zwar alle, die einen Mord begangen haben und ihn aufrichtig bereuen, die Erlösung von ihren Qualen durch den Tod. Für einen so kaltherzigen, reuelosen Verbrecher aber, wie er sich uns in diesem Ralph darstellen würde, – falls er der Täter wäre – erscheint mir ein schneller Tod eine zu geringe Strafe. An Reue ist bei ihm nicht zu denken, nur die Furcht kann ihn entweder schrecken, oder falls noch irgend eine Hoffnung ist, Einfluß auf sein Gemüt üben. Wir müssen ihn glauben lassen, daß Richard noch lebt!«

»Aber wie ist das möglich?« rief Büchting. »Er wird doch am besten wissen, daß der gutherzige Junge nicht mehr unter den Lebenden ist!«

»Es scheint nach allem, was Du mir mitgeteilt, wahrscheinlich, daß Richard dem ersten Mordanfalle entgangen war und wirklich in Providence von Ralph verleugnet und dem Urteile des Kriegsgerichts überlassen wurde,« sagte Dantes. »Könnte man den Gedanken in Ralph erwecken, jener Gefangene sei nicht tot, so würde er durch seine Unruhe sich verraten oder eine entsetzliche, aber in diesem Falle nur zu gerechte Strafe mit sich herumtragen.«

»Darum ist kein Zweifel,« sagte Büchting traurig. »Aber er wird seiner Sache sicher sein.«

»Wir wollen in das Haus gehen,« sagte Dantes, das Gespräch abbrechend. »Ich habe Dir verschiedene Briefe zu zeigen und Dir auch manches über Lotario mitzuteilen.«

Sie gingen schweigend nach dem Hause. Zu Mr. Bird, der im Garten arbeitete, sagte Dantes, daß er und sein jüngerer Begleiter für diesen Herrn, Büchting stets zu Hause seien, empfahl ihm aber dann noch einmal die allergrößte Vorsicht. Hierauf gingen sie in das einfache, sehr saubere Zimmer, in welchem Dantes wohnte.

»Ich habe Dir etwas zu sagen, mein Sohn,« begann Dantes dann mit ernster Stimme, Büchtings Hand ergreifend. »Kannst Du eine sehr freudige Nachricht ohne Vorbereitung ertragen? Kannst Du Dir denken, daß Everetts Hoffnungen, Elizas Ahnungen gerechtfertigt seien, daß –«

»Daß Richard noch lebt?« rief Büchting, bleich vor Aufregung. »Mein Gott – das Mädchen wollte ihn – oder wenigstens jemand, der ihm ähnlich ist, am West-Bahnhof gesehen haben, als der Zug aus Chicago kam!«

»Sie hat recht gesehen; das Auge der Liebe ist das schärfste von allen,« sagte Dantes.

»Und wo ist er? Um Gottes willen – er ist wirklich bei Ihnen?« rief Mr. Büchting.

Der so besonnene, ernste und feste Mann war ganz außer sich vor Aufregung und blickte nach allen Seiten um sich, als müsse Richard jeden Augenblick erscheinen.

»Er ist bei mir!« antwortete Dantes, die Hände Büchtings ergreifend und festhaltend. »Aber versprichst Du mir, es niemand zu sagen? Ich habe eine bestimmte Absicht und wünschte, daß Du Dir noch einige Zeit den Zwang auferlegtest, darüber zu schweigen.«

»Ich will alles tun!« rief Mr. Büchting. »Aber wie ist es möglich? Erzählen Sie mir. Es kann kein Irrtum sein, wenn Sie es mir sagen. Dann hat ihn auch Ralph in der Nacht auf der Station gesehen. Er fuhr entsetzt zurück –«

»Ah, also das war er; ich erkannte ihn nicht!« sagte Dantes. »Richard schlief, und ich sah einen Mann, der aus dem haltenden Zuge herausblickte, entsetzt zurückfahren. Nun, dann beginnt ja bereits die Strafe, die ich ihm zugedacht. So wisse denn, Wolfram, daß Ralph der Mörder ist, doppelter Mörder; denn er erkannte Richard in Providence, verleugnete ihn und überließ ihn dem Kriegsgericht.«

»Und Everett? Weiß er es?« rief Büchting, und seine Stimme zitterte vor innerer Bewegung.

»Nein, noch nicht. Darüber wollte ich eben mit Dir sprechen – doch später! Willst Du ihn sehen?«

»O mein Gott – ob ich ihn sehen will!« rief Büchting, den Blick zum Himmel erhebend. Dann faltete er die Hände und seine Lippen flüsterten ein Gebet. Der alte Missionar legte den Arm um ihn; seine Miene war ernst und feierlich. So führte er, gleichsam die Stütze des jüngeren Mannes, den Freund an die Nebentür. Als er diese öffnete, stand Richard mitten im Zimmer. Er war vorbereitet auf das Wiedersehen und erwartete es deshalb mit um so größerer Ungeduld. Als er den Vater Elizas erblickte, stieß er einen hellen Ruf der Freude aus und eilte ihm entgegen. Lange hielten sie sich umschlungen.

»Und wie geht es meinem Vater?« fragte Richard dann leise.

»O, er wird aufleben,« rief Büchting, den jungen Mann mit dem gebräunten Gesicht, dem wallenden Haar und dem treuen Auge voller Entzücken betrachtend.

»Und Eliza?« fragte Richard noch leiser.

»Sprechen wir nicht von ihr, sondern danken wir Gott von ganzem Herzen!« rief Mr. Büchting.

Daß nun eine Stunde folgte, in welcher Fragen und Antworten blitzschnell miteinander wechselten, lag in der Natur der Sache. Dantes überließ die Beiden sich allein; er saß schweigend am Fenster und betrachtete die beiden lebhaften und aufgeregten Männer mit dem Blicke eines Vaters. Als Richard endlich zu der Erzählung der Erlebnisse in Providence gelangte und in den Worten glühendster Dankbarkeit schilderte, was Dantes für ihn getan, erhob der Greis nur leicht abwehrend die Hand. Dann sagte er:

»Meine Aufgabe war leichter, als ich es mir gedacht. Dadurch, daß man mich für tot hielt, war Staunton, der mich mehr als irgendeinen anderen Menschen fürchtete, sicher geworden. Leider hatten mich meine ersten Forschungen weit über den Bereich der Verbrecher hinausgeführt. Wir hatten keine Ahnung davon, daß sich die Vagabunden so unmittelbar in der Nähe von Toledo aufhielten, und waren bis tief in Texas hineingedrungen, ohne eine Spur zu entdecken, so daß ich es endlich für das beste hielt, umzukehren und neue Nachrichten einzuziehen. So erfuhr ich denn, daß Richard vermißt werde. Da ich aber dem Antonio Yerrez nicht traute, so zeigte ich mich nicht öffentlich, sondern beschloß, ihm auf eigene Hand zu folgen. Dabei verlor ich freilich seine Spur und fand sie erst wieder auf, als es zu spät war.«

»Ich gelangte an das Bayou und belauschte ein Gespräch zwischen den Banditen. Ich vermutete sogleich – ebenso wie die Banditen selbst –, daß sich Yerrez nach Providence gewendet habe, um dort das Geld, falls es angekommen sei, zu erheben. Anfangs schien es mir unmöglich, Richard zu retten. Als ich aber den wackeren katholischen Priester fand, der mich früher in manchen Ehrlichkeiten begleitet, schöpfte ich frischen Mut.

Er kannte den Offizier, der die Exekution kommandieren sollte – er schien auch aus der Vergangenheit des Mannes manches zu wissen, was wohl den meisten Menschen verborgen geblieben, genug, der Offizier willigte ein – nachdem ich ihm außerdem fast alles Geld gegeben, das mir zur Verfügung stand – Richard zu retten und die scharfen Patronen der exekutierenden Soldaten, welche auf Richard zu zielen hatten, mit einfachen Pulverpatronen zu vertauschen. Genug, ich rettete ein Leben, das, wie ich hoffe, der Welt nicht vergebens erhalten worden ist.«

»Leider verfiel Richard, als wir die Vorposten der Unionstruppen erreicht hatten, in eine schwere Krankheit, die ihn zwei Monate an das Krankenlager fesselte. Meine Nachrichten wollte ich einem Brief nicht anvertrauen. Ich konnte auch unmöglich in einem Briefe alles sagen. Und erfuhr Pettow, daß Richard noch lebe, so verlor er gewiß keinen Augenblick, um den lebendigen Zeugen seiner Nichtswürdigkeit mit aller Sicherheit zu vernichten. Denn nicht nur selbstsüchtige Absichten, sondern ohne Zweifel auch Haß und Gemeinheit sind die Beweggründe, die Pettow zu seinem Verbrechen antrieben. Er würde Richard auch jetzt nach dem Leben trachten. Das Geheimnis mußte also bewahrt werden. Dazu kam, daß kein einziger Zeuge Richard zur Seite stand.«

»Von einem Neger, der das Verbrechen auf der Wiese bei Liberty-Plantation gesehen, wußten wir nichts. Staunton war tot und seine Genossen sind jetzt vermutlich in alle Winde zerstreut; überhaupt mögen sie den wahren Zusammenhang nicht kennen. Dennoch wären wir schon eher nach Neuyork zurückgekehrt, wenn mich nicht traurige Kämpfe zwischen Weißen und Indianern auf den westlichen Prairien zurückgehalten hätten. Ich versuchte, Frieden zu stiften, und es gelang mir auch in vielen Fällen. Richard war mein treuer Begleiter, und ich glaube, daß er aus unseren Verhandlungen mit den Ansiedlern des Westens und den roten Kindern der Prairien manche heilsame Lehre für die Zukunft gezogen hat.«

»Gelobt sei Gott!« rief Mr. Büchting. »Aber was nun? Wie verhalten wir uns gegen Everett? Soll er die Ankunft Richards nicht erfahren?«

»Du weißt, wie sehr ich ihn liebe,« sagte Dantes. »Gewiß ist er einer der verständigsten Menschen. Und doch weiß ich nicht, ob sein weiches Gemüt die Freude über das Wiedersehen Richards vor der Welt verbergen könnte. Und darauf kommt es doch an! Denn wenn Ralph erfährt, daß Richard noch lebt, so sind wir gezwungen, ihn sogleich verhaften zu lassen, denn sonst ist Richards Leben in Gefahr. Und das wollte ich jetzt wenigstens vermeiden. Glaubt Ihr aber beide, daß Everett Selbstbeherrschung genug behalten werde, um seine Freude zu verbergen, nun, so würde es mich gewiß am meisten glücklich machen, wenn ich ihm schon heut Richard in die Arme führen könnte.«

»Die Freude könnte er vielleicht verbergen,« sagte Büchting gedankenvoll. »Aber die Abscheu gegen den Mörder würde er nicht bemeistern können.«

»Gewiß, ich dachte auch daran,« sagte Dantes. »Aber gibt es denn ein Mittel, ihm Richards Rettung mitzuteilen, ohne ihm den Mörder zu nennen?«

»Nun, das wäre doch wohl möglich,« sagte Richard leise und mit bittender Stimme.

»Aus Dir spricht die Sehnsucht, den Vater zu sehen,« sagte Dantes. »Und Gott weiß es, wie gern ich Euch alle glücklich machen und mich selbst an Eurem gemeinsamen Zusammenleben erfreuen möchte. Aber ein Mensch wie Ralph darf nicht straflos ausgehen, und das würde er, wenn Richard, ohne einen Zeugen zu haben, vor ihn hintreten wollte.«

Es gab keinen Einwand gegen diesen Schluß, und die drei Männer sahen in tiefem Schweigen vor sich nieder.

»Wenn Sie, Mr. Dantes, meinem Vater das Versprechen abnähmen, gegen jedermann zu schweigen, so würde er gewiß auch zu Ralph nicht sprechen,« sagte Richard dann. »Er setzt solches Vertrauen in alles, was Sie ihm sagen, daß er Ihrem Wunsche gehorchen würde, ohne nach den Gründen zu fragen. Es wird ihm sonderbar erscheinen, daß ich nicht öffentlich auftrete und den Mörder verfolge, aber er wird sich in alles finden, wenn er einige Stunden mit mir zusammen gewesen ist und sich überzeugt hat, daß ich noch unter den Lebenden bin.«

»Und wenn man ihm gar sagte, daß ein einziges Wort über Richard zu einem Menschen außer uns Richard von neuem ins Verderben stürzen könnte, so glaube ich sicher, daß er schweigt!« rief auch Mr. Büchting lebhaft.

»Ihr werdet mich in der Tat überreden,« sagte Dantes lächelnd. »Aber wird nicht dann auch Miß Eliza erfahren müssen, daß ihr junger Freund ihr enthalten worden ist?«

Richard errötete tief.

»Ich übernehme es, Eliza einige Worte zu sagen, die ihre Hoffnung oder vielmehr ihren Glauben beleben – denn sie hat nie an Richards Tod geglaubt.«

»So sei es! Da aber die größte Vorsicht nötig ist, so bitte ich Dich, lieber Wolfram, selbst Everett abzuholen,« sagte Dantes. »Ich mag ihm keinen Brief senden, aus Furcht, der Brief könnte in unrechte Hände fallen, und ebensowenig mag ich mich in der Stadt zeigen. Fahre zu ihm und führe ihn selbst hierher.«

Eine Stunde darauf lag Richard in den Armen seines Vaters. Mr. Everett hatte, auf Büchtings Wunsch, in seiner Wohnung hinterlassen, daß er einen Ausflug in die Umgegend machen wolle, und so fiel es niemand auf, daß er den ganzen Tag nicht zurückkehrte. Diesen Tag verbrachte Mr. Everett, dessen Glück keine Feder beschreibt, an der Seite Richards und Dantes. Freilich bedurfte es des ganzen feierlichen Ernstes, der in dem Wesen des letzteren lag, um Mr. Everett zu bewegen, das bestimmte Gelöbnis abzulegen, zu keinem Menschen auf der Welt davon zu sprechen, daß Richard unter den Lebenden sei. Er war namentlich erstaunt, als man ihm sagte, daß Ralph ebenfalls in Unwissenheit darüber bleiben solle. Er begriff überhaupt das Geheimnis nicht und schüttelte immer wieder den Kopf. Erst wenn Richard ihn umarmte und ihm zurief: »Aber ist es Dir nicht genug, daß ich lebe? Willst Du denn, daß ich einen neuen Kampf auf Leben und Tod bestehe, wenn mein Feind erfährt, daß ich lebe?« – erst dann gab er wieder nach. Am meisten wirkte der Grund auf ihn: Jener Feind Richards sei auch mit Ralph bekannt und Ralph, wenn er die Wahrheit wisse, werde sich vielleicht im Gespräch hinreißen lassen, die Wahrheit zu verraten und jenem Elenden den Handschuh ins Gesicht zu schleudern.

Staunton und der in Providence erschossene junge Mann mußten natürlich als Betrüger ausgegeben werden, das ging nun einmal nicht anders. Nicht unmöglich aber war es, daß Mr. Everett, wenn er erst ruhiger geworden war und alles still bei sich zu überlegen begann, allmählich die Spur der Wahrheit von selbst fand und sich mit einer Vermutung vertraut machte, die ihn, wäre sie ihm als nackte Tatsache hingestellt worden, zu Boden geschmettert hätte.

Am Abend desselben Tages begleitete Mr. Büchting, wie er es oft tat, seine Tochter hinüber in ihr Zimmer. Zum Abschiede küßte er sie zärtlicher als gewöhnlich.

»Du hast heut ein eigentümliches Leuchten in Deinen Augen, Vater,« sagte Eliza. »Weißt Du auch, daß Dich jeder junge Mann beneiden könnte um diesen Glanz?«

»Auch Richard?« fragte er leise.

Sie zuckte zusammen. Ihr Herz erriet sogleich, daß es einen Zusammenhang geben müsse zwischen diesem Leuchten und dem Namen, der soeben ganz gegen alle Gewohnheit über des Vaters Lippen kam. Sprachlos blickte sie ihn an.

»Irgendeine Ahnung – freilich auch weiter nichts! – mag Dir vorgeschwebt haben, als Du ihn gestern zu sehen glaubtest,« flüsterte Mr. Büchting. »Ich hatte jede Hoffnung aufgegeben. Heute habe ich etwas erfahren, was mich wieder hoffen läßt. Es ist wohl möglich, daß Briefe verloren gegangen sind. Doch – Eliza – zu keinem Menschen ein Wort von dieser, vielleicht törichten Hoffnung, selbst nicht zur Mutter! Es ist sogar unrecht, daß ich zu Dir davon spreche ...«

»Nein, mein Vater!« flüsterte sie leidenschaftlich, die Lippen dicht an seinem Ohr. »Es ist nicht unrecht – es ist ein Trost für mich. Ich will hoffen – ich habe immer gehofft. Ich will sterben mit der Hoffnung des Wiedersehens!«

»Nun gute Nacht!« flüsterte er. »Schlafe süß, schlafe ruhig!«

Sie führte seine Hand an ihre Lippen, schaute ihn noch einmal mit einem Blick unaussprechlicher Liebe und Dankbarkeit an und ging dann, wie träumend, in ihr Zimmer.

*

Acht Tage waren seitdem vergangen. Ralph Pettow befand sich nicht in der besten Laune. Er hatte einen scharfen Blick, den außerdem das Gewissen oder wenigstens der Argwohn schärfte, und es entging ihm nicht, daß sämtliche Personen, die er sah und die seinen Geist beschäftigten, gegen früher verändert waren.

Zuerst Georgiana. Allerdings hatte sie sich von dem furchtbaren Schlage, den sie durch die Mitteilungen der Fremden erhalten, bald erholt. Ihr Stolz erlaubte ihr nicht, zu glauben, daß sie die Wahrheit gehört. Ein Mädchen, daß einem Grafen Zenderstein entlaufen – falls dies noch Wahrheit war – um sich einem Booth in die Arme zu werfen, konnte keinen Glauben verdienen. Und hatte selbst Ralph mit Booth oder einem anderen Aehnliches gesprochen, so war es sicher nur ein Scherz gewesen, oder die Absicht, Booth zu täuschen. Unter jungen Männern sind ja derartige Scherze, wenn sie nur nicht an die Oeffentlichkeit kommen – erlaubt, oder man muß sie wenigstens ignorieren. Trotz alledem aber saß der Widerhaken in ihrem Herzen fest. Ihr Verstand suchte sie täglich zu überreden, daß jene fremde Person eine Intrigantin sei, die irgend welche Zwecke und Absichten unter ihren Mitteilungen verborgen habe – vielleicht suchte sie Ralph für sich selbst zu gewinnen! Aber es hatte etwas in der Erscheinung dieser Fremden, in dem Ton ihrer Sprache gelegen, das immer noch vor Lady Georgianas Augen stand, immer noch in ihren Ohren klang. »Und es ist doch wahr!« rief sie zuweilen in Verzweiflung zu sich selbst. Jedenfalls war ihr ein Gift in die Seele gegossen, das trotz aller geistigen Gegenmittel fortwirkte und ihr Vernichtung drohte.

Wie sollte sie die Wahrheit erfahren? Sie hatte zu Ralph geäußert, daß sie von einer Freundin sonderbare Dinge über jenen Klub gehört. Ralph hatte kühl geantwortet, daß er einige Male dorthin gegangen sei, um politische Bekannte, Rebellenfreunde und Verräter, wie er, zu sprechen, lehnte aber jede genauere Kenntnis von dem, was dort getrieben werde, ab. Dennoch hatte er sich im Stillen seine Gedanken über die Andeutungen Georgianas gemacht. Sollte Booth mit ihr gesprochen haben? Ralph, der jeder Verräterei fähig war, glaubte natürlich auch an einen Verrat von seiten Booths. Dieser aber hatte, wie sich herausstellte, schon am Tage nach jenem Abend Neuyork auf einige Tage verlassen, um in Boston zu spielen, konnte also nicht geplaudert haben. Doch beunruhigte ihn das nicht sehr. Wichtiger war ihm eine andere Frage Georgianas. Ein kleines Neuyorker Blatt, das sich hauptsächlich mit Stadtgeschichten beschäftigte und viel von der »fashionablen« Welt gelesen wurde, hatte wieder eine Andeutung gebracht, daß Kapitän Pettow neulich auf dem Korso an der Seite der schönen Miß Eliza gesehen worden sei. Lady Georgiana hatte ihm lächelnd – mit einem eigentümlichen Lächeln! – das Blatt gezeigt und gefragt:

»Welcher von Deinen Freunden will Dich durchaus zum Manne der Millionenbraut machen und läßt diese Dinge in die Zeitung setzen?«

»Irgend ein Narr!« hatte er kurz geantwortet, denn das sonderbare Lächeln Georgianas war ihm aufgefallen.

»Ja, gewiß ein Narr – sage es ihm!« hatte Lady Georgiana darauf erwidert. »Es muß Dir doch peinlich sein, wenn man Dich für den Liebhaber der Miß Büchting hält und später glauben könnte, Du hättest einen Korb erhalten.«

Ralph hatte etwas wie Verdacht aus den Worten der Geliebten herausgehört und zugleich in ihren Mienen etwas gelesen, das fast eine verhaltene Drohung war. Wie kam Georgiana, die noch vor acht Tagen so vertrauend an ihm hing, jedes seiner Worte als die vollste, reinste Wahrheit hinnahm, zu diesem Zweifel? Was hatte er zu tun, um das Unwetter, was von dieser Seite aufsteigen konnte, abzulenken?

Aber auch Mr. Everett gab ihm zu denken. Mit dem alten Herrn war eine eigentümliche Veränderung vorgegangen. Er schien aufzuleben. Er hatte das stille, traurige menschenscheue Wesen verloren, das jeder seit Richards Verschwinden an ihm bemerkt. Er lächelte zuweilen, wenn er sich unbemerkt glaubte, ganz glücklich vor sich hin, und als einmal jemand über Richard zu ihm sprach, sagte er zwar mehrmals: »der arme, gute Junge!« aber in einem anderen Tone als sonst, ungefähr wie man von jemand spricht, den man im Grunde genommen für gar nicht so unglücklich hält, oder dem nur ein leichtes, bald zu verschmerzendes Unglück widerfahren. Wie hing das zusammen? Sollte der alte Herr auf Heiratsgedanken gekommen sein und deshalb Richards Verlust leichter nehmen? Ralph mußte sich auf die Lauer legen – er mußte es erfahren. Zwar war es ihm ziemlich gleichgültig, ob ihn Mr. Everett enterbte, wenn er der Schwiegersohn des reichen Büchting, der Gatte der Millionenbraut wurde. Aber Ralph hatte keine Ruhe, wenn er nicht die Geheimnisse der anderen durchschaute. Mr. Everett war jetzt fast täglich längere Zeit abwesend und niemand wußte, wo er sich inzwischen aufgehalten. Ralph mußte wissen, was das bedeute. Er mußte seine Pläne danach einrichten.

Selbst an Mr. Büchting fiel ihm eine Veränderung auf. Der Vater Elizas war immer freundlich und höflich gegen ihn gewesen, wie gegen einen alten Bekannten, und war es auch jetzt noch. Aber Ralph – der, wie gesagt, ein scharfer Beobachter war – las auch in den Blicken Mr. Büchtings etwas Eigentümliches, etwas Kaltes, Fremdes, Zurückhaltendes, das ihm früher nicht aufgefallen. Und immer, wenn Ralph über diese Blicke nachdachte, fiel ihm der Neger in Athens ein. Er wußte nicht warum. Was konnte der sterbende Nigger Mr. Büchting gesagt haben? Gewiß doch nichts, was auf Ralph Bezug hatte! Und doch hatte Ralph diesen kalten, über ihn gleichsam hinwegsehenden Blick zum ersten Male an jenem Abend in Athens an Mr. Büchting bemerkt.

Selbst Eliza war verändert. Dieser Unterschied war noch viel feiner, unbedeutender, und doch bemerkte ihn Ralph. Sie zeigte sich ihm freundlicher als sonst. Aber diese Freundlichkeit war nur ein einzelner Strahl der allgemeinen angenehmen Erregung, von der sie durchglüht schien und die jedem auffiel. Welchen Grund hatte diese Erregung? Sollte Miß Elizas Herz von irgend jemand gefesselt worden sein? Ralph wußte recht gut, daß er ihr nichts war. Er wußte, daß sie Richard und seitdem keinen andern geliebt. Eben deshalb hatte er darauf gehofft, daß er als Freund Richards, als ein guter alter Bekannter, der fast täglich im Hause Mr. Büchtings erschien, die nächste Anwartschaft auf ihre Hand habe. Es ist ja eine bekannte Tatsache, das sich Mädchen, deren erste Liebe unglücklich endet, in der Wahl ihres Gatten später vom Verstande leiten lassen, und er galt ja in aller Augen als derjenige, der ihr am nächsten stehe. Was war also nun in ihr vorgegangen? Es umschwebte sie ein Hauch von Wohlsein, von stillem Glück, den er früher nicht an ihr bemerkt. Ihm galt diese Aenderung nicht, das gewahrte er wohl, denn in einzelnen zerstreuten Momenten war sie so ruhig, kühl, selbst kalt gegen ihn wie nur je. Was war es also? Was hatte sich in ihrem Herzen ereignet?

Diese Gedanken quälten, beunruhigten, beschäftigten ihn, die Strafe, die Dantes für den Verbrecher bestimmt, begann sich bereits fühlbar zu machen. Ralph grübelte, überlegte. Aber er kam zu keinem Resultat. Offen um Eliza anzuhalten, eine Entscheidung herbeizuführen, lag nicht in seinem Plane. Selbst wenn Georgiana nicht gewesen wäre, hätte er sehr vorsichtig verfahren müssen. Miß Eliza ließ sich nicht erobern, sie gab sich selbst. Das tat sie aber gewiß erst dann, wenn sie sich überzeugt, daß ihr Vater und Mr. Everett den Kapitän begünstigten, und wenn sie sich so an ihn gewöhnt, daß ihr die Fortsetzung ihres bekanntschaftlichen Verhältnisses durch die Ehe gewissermaßen als eine ausgemachte Sache erschien.

So wenigstens faßte Ralph die Sache auf. Zuweilen überkamen ihn freilich Zweifel, und dann war er halb und halb entschlossen, jeden Gedanken an Eliza aufzugeben und sich nur der Witwe Blackbells zuzuwenden. Diese verzagte Stimmung dauerte jedoch nicht lange. Er liebte Eliza – auf seine Weise, mit einer stillen tückischen Leidenschaft, die nur als eine Mischung von Ehrgeiz und Sinnlichkeit zu bezeichnen war. Er wollte Eliza für sich gewinnen. Sie war die Schönste, Klügste, Tugendhafteste von allen, die er kannte. Wenn sich ihr Blick zuweilen in Gedanken zum Himmel erhob, wenn ein tieferer Atemzug ihre Brust schwellte, schoß es ihm wie Feuer durch die Adern und er hätte sich wie ein Raubtier auf sie stürzen mögen, um sie in die Tiefe der Wälder zu schleppen, sie zu seinen Füßen zu sehen, die Hand auf sie zu legen und zu sagen: »Du bist mein!« – In solchen Momenten würde er noch zehn Nebenbuhler getötet haben, hätten sie zwischen ihm und Eliza gestanden.

Die Sehnsucht nach dem Besitz Elizas war eine Krankheit bei ihm geworden. Sie stumpfte ihn ab gegen jede andere Neigung; die schöne, hingebende Lady Georgiana wurde ihm verhaßt. Er heuchelte ihr nur noch Zärtlichkeit. Anfangs, als er glaubte, daß Eliza ihm sicher sei, ihm nicht entgehen könne, war sein Herz nicht beteiligt gewesen.

Jetzt aber verzehrten es Sehnsucht und Eifersucht, denn er begriff, daß seine Pläne kühner waren, als er gedacht. Das eben reizte ihn und stachelte ihn auf. Bei dem Gedanken, daß ein anderer kommen und Eliza ihm entreißen könne, drang ihm das Blut in den Kopf und es war ihm, als müsse er eine Waffe suchen. Zuweilen, wenn er in ihrer Nähe und auf Augenblicke mit ihr allein war, mußte er an sich halten, um sie nicht mit wahnsinniger Gewalt in seine Arme zu schließen und ihr zu sagen: Liebe mich, werde mein! Oder ich töte Dich! –

Gewöhnt, seinen Willen stets durchzusetzen, von Natur heißblütig und außerdem durch ein wildes und üppiges Leben aufgeregt, konnte er nicht an ein Hindernis glauben, war er seiner Leidenschaft gegenüber machtlos. Der Besitz Elizas war der Zweck seines Lebens geworden und sein Leben wollte er daran setzen, ihn zu erreichen.

Um diese Zeit traf die Nachricht ein, daß Don Alfonso von Toledo nach Neuyork kommen werde, teils um seinen Oheim Büchting zu besuchen, teils um an dem Entscheidungskampfe der Union mit den Rebellen teilzunehmen. Ralph wurde doppelt von dieser Nachricht getroffen. Wußte Alfonso von dem Aufenthalte Richards in Toledo? Das Schweigen der Familie Don Lotarios über diesen Punkt war für Ralph immer noch ein Rätsel. Es schien kaum glaublich, daß sich Richard dort nicht zu erkennen gegeben habe, daß er eine so lange Gastfreundschaft genossen, ohne sich zu nennen. Und dann mußte er doch auch gesagt haben, wer ihm nach dem Leben getrachtet.

Wenn – wie bereits früher erwähnt – diese eigentümlich dunkle Frage an ihn herantrat, so schlug er sie sich damit aus dem Kopf, daß Richard ja nun tot sei, daß also nichts bewiesen werden könne und daß man ja bereits glaube, jener angebliche Richard sei ein Abenteurer, ein Betrüger gewesen. Dennoch blieb das Schweigen rätselhaft und Ralph mußte darauf gefaßt sein, von dieser Seite Gefahren aufsteigen zu sehen. Er wappnete sich also mit der Kaltblütigkeit des Gewissenlosen. Bewiesen konnte ihm nichts werden – die Anklage mußte jedermann als unglaublich erscheinen, daß ein Betrüger existiert hatte, ging nach Ralphs Ansicht aus den Vorfällen in Providence hervor, und jeden etwa gegen ihn aufsteigenden Verdacht wollte er von vornherein mit der ganzen Kraft eines grundlos Beleidigten niederschlagen und als Wahnsinn oder Täuschung hinstellen. Und über all' diesen Bedenken, Entschlüssen, Vermutungen, geheimen Intriguen schwebte die wilde Freude, daß er, den sie betrafen, doch nun einmal tot sei, was auch geschehen möge, niemals überführt werden könne.

Aber die Ankunft Don Alfonsos beschäftigte ihn auch noch in anderer Beziehung. Hing das Erscheinen des jungen Mannes etwa mit der veränderten Stimmung Elizas zusammen? War er etwa der Erkorene, der Zukünftige der Millionenbraut? Stets zum Mißtrauen geneigt, überall bei anderen egoistische Wünsche voraussetzend, erschien es ihm nur natürlich, daß Don Alfonso Pläne in bezug auf die schöne Eliza Büchting entworfen habe und jetzt deren Ausführung versuchen wollte. Wie war dem entgegenzuarbeiten, falls diese Vermutung sich bestätigte? Ralph wäre vor einem zweiten Morde nicht zurückgeschreckt.

Er hatte kein Gewissen; der erste Mord lastete nicht auf ihm, und überdies ist es eine Tatsache, daß wilde Naturen durch jedes Opfer, das ihrer niedrigen Leidenschaft fällt, nur noch mehr aufgestachelt werden.

Aber hier konnte er es bequemer haben. Alfonso wollte in ein Regiment der Union eintreten, wollte selbst gegen die Rebellen kämpfen. Wie leicht verirrte sich da eine Kugel, wie leicht konnte Alfonso auf einen Posten gestellt werden, von dem er nie zurückkehrte! Kein Schachspieler konnte kühler und kaltblütiger überlegen, wie er den Springer seines Gegners auf die beste, bequemste und ihm selbst am wenigsten schädliche Weise zu nehmen habe, als Ralph überlegte, wie er sich Don Alfonsos entledigen könne, falls dieser ihm irgendwo im Wege sei.

Alfonso hatte angezeigt, daß er ebenfalls über Chicago kommen werde, und seine Reiseroute genau angegeben. So reiste ihm denn Mr. Büchting, ohne vorher davon zu sprechen, entgegen und hatte unterwegs Gelegenheit, den jungen Mann zu unterrichten, was in Bezug auf Richard geschehen sei und welches Verfahren Ralph gegenüber innegehalten werden solle. Davon, daß Richard noch lebe, war den Bewohnern der Hacienda mayor schon früher durch Dantes Nachricht gesandt worden, mit der Bitte, das tiefste Schweigen zu bewahren.

Don Alfonso war also vollkommen darauf vorbereitet, dem Mörder Richards in der Familie Büchtings und bei Mr. Everett zu begegnen, mußte sich jedoch sehr großen Zwang antun, seine Ruhe zu bewahren, ja selbst ein gewisses freundschaftliches Entgegenkommen zu heucheln. Er bemerkte sehr bald, daß er von Ralph mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit – im doppelten Sinne des Wortes – behandelt werde. Ralph hatte die Absicht, womöglich von Alfonso selbst zu erfahren, wie dieser über Eliza denke. Alles was er hörte und sah, schien seinen Verdacht zu bestätigen. Nicht nur, daß Eliza den jungen, bescheidenen Mann mit großer Freundlichkeit behandelte – denn sie erkannte in ihm sogleich den guten und braven Menschen –, auch Alfonso schien für Eliza zu schwärmen und sprach von ihr in Ausdrücken der lebhaftesten Bewunderung. Es wäre ja auch nicht möglich gewesen, dem gewinnenden, anmutigen Wesen Elizas diesen Tribut, den alle ihr zollten, vorzuenthalten. Er hatte die Wunde, die Marion Lamothe ihm geschlagen, wie es schien, vergessen. Da er in Büchtings Hause wohnte, so war er fast stündlich mit den Damen zusammen, fuhr mit ihnen aus und führte sie ins Theater.

In Neuyork begann man bereits zu plaudern, daß der reiche Toledo den Sieg über Ralph davontragen werde. Andere erklärten freiwillig die Verwandtschaft für zu nah. Aber wie oft waren Verbindungen zwischen leiblichen Cousins geschlossen worden!

Es blieb freilich – für die Uneingeweihten – immer noch fraglich, ob nicht Jeannette Corizon, Elizas liebenswürdige und schöne Gesellschafterin, den jungen Gast aus Arizona mehr fesselte, als Eliza Büchting. Denn gewiß verdiente Jeannette jede Huldigung, die ihr dargebracht wurde, und hätte sie nicht farbiges Blut gehabt, – ein Greuel für den echten Yankee! –, so würden längst Hunderte sich um ihre Hand beworben haben. Jeannette Corizon war die Tochter eines Pflanzers und einer Terzerone. Als der Sohn eines reichen Mannes hatte der Vater seine Verbindung mit der Farbigen eine Zeitlang geheim gehalten; er wollte die Geliebte erst dann heiraten, wenn er selbständig und mündig sei. Aber er starb, als er noch nicht vierundzwanzig Jahre alt war, und die Geliebte folgte ihm bald ins Grab. Der Vater, ein vollkommener Verächter der Farbigen, hatte sich um das Kind seines Sohnes gar nicht gekümmert und es verkauft – an Mr. Büchting, der das wunderliebliche Kind zur Gespielin und später zur Gesellschafterin seiner Tochter machte. Jeannette Corizon war gewissermaßen die zweite Tochter im Hause Büchting. Wer nicht wußte, welche Stellung sie einnahm, würde sie unbedingt für ein Kind des Hauses gehalten haben. Und sie verdiente diese Stellung. Kindlich sanft, bescheiden, stets heiter, klug, in allen Sprachen und Künsten Meisterin, war sie eine ebenbürtige Genossin Elizas, und die beiden Mädchen hatten sich auch nie anders betrachtet, als mit schwesterlichen Blicken.

Die lachende, singende, wie ein Vögelchen plaudernde Jeannette war eine wunderbare Ergänzung der ernsteren Eliza, selbst in ihrem Aeußeren. Das blauschwarze Haar, das tiefblaue Auge, die wie vom schönsten Carmin gefärbten Wangen, die etwas volle, aber ungemein bewegliche Gestalt hoben die Ruhe, den Adel, die nordisch-ernste Anmut in der Erscheinung Elizas noch deutlicher hervor und wurden umgekehrt neben Eliza noch bemerkbarer. Freilich war es eine nicht wegzuleugnende Tatsache, daß Jeannette bei aller schwesterlichen Liebe Eliza wie einen Abgott verehrte und nie eine Vergleichung mit ihr duldete. So hatte sie zum Beispiel bestimmt erklärt, sich nie von Eliza trennen, sich nie verheiraten zu wollen. Wenn einst Eliza die Gattin eines anderen geworden, sagte sie, so werde sie bei ihr als Dienerin bleiben. Bei Eliza müsse sie bleiben, und wenn sie sie auch nur beim An- und Auskleiden sehen dürfe.

Jeannette Corizon, deren Erscheinung die gröberen Naturen viel mehr reizte, als das mehr geistig verklärte Wesen Elizas, war in New York der Gegenstand mancher Nachstellung gewesen. Glücklicherweise wußte sie davon nichts. Sie ahnte es in ihrer Herzenseinfalt gar nicht; und überdies war in der Familie Büchting niemals darauf hingedeutet worden, welcher Abstammung sie sei.

Mr. Büchting aber, der Neuyork und dessen Jugend kannte, wußte sehr gut, was er von den Huldigungen zu halten habe, die man Jeanette darbrachte. Er hatte darüber mit seiner Gattin gesprochen, und ohne daß Jeanette es wußte, fand sie sich besser bewacht, als wenn man sie selbst gewarnt hätte.

Glücklicherweise hatte übrigens bis jetzt kein einziger der Gesinnungsgenossen Ralphs auf sie den mindesten Eindruck gemacht. Sie hatte nicht geliebt, sie wollte auch nicht lieben, sagte sie; sie wollte nur Eliza anbeten.

Seit einiger Zeit freilich war Jeannette Corizon ein klein wenig ernster geworden als gewöhnlich, und Eliza überraschte sie zuweilen, wenn sie, den Kopf auf den prächtigen, schneeweißen und runden Arm gestützt, am Fenster saß und höchst nachdenklich in die Wolken sah. Eliza achtete nicht darauf, oder richtiger gesagt, sprach nicht darüber. Sie sah nur, daß Jeannette, wenn die Dienerin Don Alfonso meldete, gewöhnlich rot und dann sehr blaß wurde, sich erhob und einige Schritte durch das Zimmer tat, als müsse sie eine Bewegung beruhigen, von der sie ergriffen worden, ohne daß sie ihr zum Bewußtsein kam. Dann zog ein leises, glückliches Lächeln um die feinen Lippen Elizas, und Don Alfonso – der keine Ahnung von dem Grunde hatte – überraschte nicht selten Eliza, wie sie ihre Freundin mit einer Innigkeit küßte, die er mit der herzlichen Freundschaft dieser beiden Mädchen, die den ganzen Tag über miteinander lebten, erklärte. Jeannette selbst schien sich nicht über diese plötzlichen Umarmungen zu wundern. Sie war ein Naturkind durch und durch. Sie wußte nur, daß sie in jenen Augenblicken das Bedürfnis hatte, umarmt zu werden und liebte Eliza um so mehr, weil diese die Aufwallung ihres Herzens erriet. Aber weshalb sie eine Umarmung wünschte, und daß Eliza ihr ganzes Herz besser durchschaute, wie sie selbst – davon hatte sie keine Ahnung.

Auch zwischen Alfonso und Eliza wurde der Name Richard nie erwähnt – Alfonso war von Mr. Büchting darum gebeten worden. Der Eintritt des jungen Toledo in ein neugebildetes Neuyorker Regiment, das im Sommer nach dem Kriegsschauplatz abrücken sollte, war bereits vermittelt worden, und sonderbarerweise sprach von dieser Zeit an niemand mit größerem Schrecken von den Gefahren des Krieges, als Jeannette Corizon, für deren Stammeltern und Blutsgenossen doch dieser Krieg geführt wurde, und sie hoffte täglich auf seine Beendigung. Ja, sie war selbst bis zu einem gewissen Grade »Demokratin« geworben, und meinte, man solle doch dem Süden einige Zugeständnisse machen, damit er sich um so eher beruhige.

Ehe Alfonso zur Armee abgehen sollte – Ralph hatte sich seltsamerweise einen vollständigen, auf ein halbes Jahr lautenden Urlaub zu verschaffen gewußt – wollte Mr. Büchting noch eine größere Gesellschaft geben. Er meinte, die Handwerker Neuyorks müßten auch ein wenig verdienen und man dürfe über den Soldaten die zurückbleibenden Arbeiter nicht ganz vergessen. Es wurde also beschlossen, in dem kleinen Garten des Hauses eine Frühlingsnacht zu feiern, und Gärtner und Dekorateure arbeiteten bereits seit acht Tagen in dem Garten und den daran stoßenden Gemächern des Hauses. Mr. Büchting hatte während des ganzen Krieges noch keine größere Gesellschaft gegeben. Er fühlte also die Verpflichtung, wenigstens einmal alle die, bei denen er mehrmals eingeladen gewesen war, um sich zu versammeln.

Es war am Morgen vor dem Feste und Ralph Pettow lag, obwohl er bereits seit einer Viertelstunde munter war, noch im Bett und dachte an mancherlei, vor allem aber daran, ob er auf dem Feste nicht eine Gelegenheit finden werde, sich Miß Eliza zu nähern und ihr irgend ein – wenn auch nicht entscheidendes, so doch wenigstens ermunterndes – Wort zu entlocken. Für Ralph, der in allem eine Absicht sah und nach geheimen Beweggründen suchte, lag in der Anordnung dieses Festes der Entschluß der Familie Büchting, die geheime und stille Trauer, die sie bis dahin um Richard getragen hatte, nun endlich abzulegen. Es lag darin gewissermaßen die Erkenntnis, daß der Vermißte nun wirklich auch für sie gestorben sei und daß man sich in die Notwendigkeit finden müsse.

Ralph hatte mit halbgeschlossenen Augen diesen Gedanken nachgehangen, als ihn plötzlich Schritte in seinem Zimmer aufschauen ließen. Statt des Dieners, den er zu sehen erwartete, sah er mitten im Zimmer einen alten, schwarzgekleideten Herrn, den er früher irgendwo gesehen zu haben sich dunkel erinnerte. Es war Edmond Dantes, der Haar und Bart etwas kürzer und eine andere Form der Kleidung trug, so daß er für jemand, der ihn nicht genau kannte, nicht sofort wiederzuerkennen war.

Ralph öffnete die Augen weit, und er würde wahrscheinlich den unangemeldet zu solcher Zeit Eintretenden einige sehr grobe Worte an den Kopf geworfen haben, hätte nicht das eigentümlich ernste, fast feierliche Aussehen des Mannes und der Ausdruck von Hoheit und von Vornehmheit, der in dem ganzen Wesen desselben lag, ihm unwillkürlich die Zunge gefesselt. Er stieß nur mühsam die Worte: »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« hervor, richtete sich auf dem einen Arm auf und blickte den Missionar mit halb mißtrauischer, halb verwunderter Miene an.

»Mein Name ist Edmond Dantes,« antwortete der Missionar. »Vielleicht haben Sie den früher gehört.«

Gewiß hatte ihn Ralph gehört! Er kannte die Beziehungen, in denen der Missionar zu Mr. Everett und Mr. Büchting stand.

»Verzeihen Sie,« rief er, »daß ich Sie so empfange, aber Sie kamen so unerwartet – wo war mein Diener?«

»Ich traf niemand,« antwortete Dantes. »Und hätte ich auch jemand getroffen, so würde ich ihn fortgesandt haben, da es meine Absicht war, mit Ihnen allein zu sprechen.«

»Ich bin erstaunt, daß Mr. Büchting und Mr. Everett mir noch nicht gesagt, daß Sie in Neuyork sind,« rief Ralph, der unter dem ruhigen, ernsten Blick des Missionars eine eigentümliche Beklemmung fühlte.

»Ich bin nach Neuyork gekommen, um mit Ihnen, mit Ihnen allein zu sprechen,« sagte Dantes. »Glauben Sie an eine irdische und himmlische Gerechtigkeit?«

»Was soll diese Frage?« rief Ralph erbleichend, und unwillkürlich griff er nach dem Klingelzug über seinem Bett. Denn entweder war dieser Mann – so dachte Ralph – nicht recht bei Sinne, oder er kam in einer Angelegenheit, von der niemand wissen sollte und durfte. Sein Blick suchte den Revolver, der auf seinem Nachttisch zu liegen pflegte, der aber dort fehlte. Entweder hatte er vergessen, ihn dorthin zu legen, oder der Fremde hatte ihn fortgenommen. Er sah, daß der Revolver auf einem Tisch lag, der ziemlich entfernt von dem Bett neben dem Fenster stand.

»Ehe ich Ihnen antworte, Mr. Dantes,« rief er etwas heftig, erlauben Sie wohl, daß ich mich wenigstens notdürftig ankleide. Ich führe nicht gern Unterhaltungen aus dem Bett. Wollen Sie auf einige Minuten in jenes Nebenzimmer treten?«

»Nein!« antwortete der Greis ruhig. »Bleiben Sie, wo Sie sind! Ich komme, um Ihnen einen wichtigen Dienst zu erweisen, und deshalb überhebe ich mich gewisser Rücksichten und Förmlichkeiten, die ich einem andern gegenüber nicht vernachlässigen würde. Sie sind der Mörder Richard Everetts. Wollen Sie der Anklage auf Mord aus dem Wege gehen, oder wollen Sie dieselbe in Neuyork erwarten? Das ist die Frage, die ich Ihnen vorzulegen habe.«

Es wäre unmöglich, zu beschreiben, was bei dieser Frage, die ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf, durch den Kopf Ralphs ging. Was wußte der Mann von dem Morde? Weshalb kam er? Woher wußte er die Tatsache? Und wie sollte Ralph ihm begegnen? Er wußte nicht, daß sein Gesicht in einer halben Minute mehrmals die Farbe wechselte, daß er unwillkürlich die Hand nach dem Nachttisch ausstreckte, wo der Revolver gewöhnlich lag – er war eine halbe Minute lang betäubt, besinnungslos. Dann arbeitete sich sein Geist allmählich aus dieser Betäubung heraus.

»Mein Herr,« antwortete er mit schwacher Stimme, »erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich Ihre Gegenwart nicht gewünscht habe, daß sie mir seltsam erscheint und daß ich glaube, Sie haben sich in der Person geirrt. Sie sprechen von einem Mörder Richards. Wer ist es? Wir suchen ihn seit langer Zeit. Sie scheinen nicht zu wissen, daß ich der intimste Freund des Gemordeten war. Sind Sie stets Herr Ihrer Gedanken?«

»Das hoffe ich zu Gott!« antwortete Dantes ernst. »Doch ist fasse mich kurz. Ich weiß – ich sage nicht, daß andere es wissen – also ich weiß, daß Sie auf der Prairie bei Liberty-Plantation Ihren Freund Richard durch einen tückischen, hinterlistigen Schuß niedergestreckt haben. Ich weiß, daß Sie Richard, der durch eine Art Wunder dem Tode entgangen, in Providence dem Urteil des Rebellenkriegsgerichts überlieferten und sich durch diesen entsetzlichen Verrat eines Mannes entledigten, der Ihnen nie ein Haar gekrümmt hätte. Wollen Sie die Anklage auf Mord hier erwarten, oder wollen Sie Neuyork verlassen, sich in einen anderen Teil der Welt begeben und dort Ihr Verbrechen bereuen und versuchen, der Menschheit vielleicht noch irgend etwas zu nützen? Ich lege Ihnen die Frage kurz und klar vor. Ich habe die Beweise des Mordes in Händen. Aber ich bin ein Gegner der Todesstrafe, die Ihnen unfehlbar zuerkannt werden würde. Ich will Sie warnen und Ihnen Gelegenheit geben, noch zur Zeit Ihres Lebens das schwere Verbrechen, das auf Ihnen lastet, abzubüßen. Entschließen Sie sich kurz!«

Also hatte Richard doch Gelegenheit gefunden, sich zu irgend jemand auszusprechen! Hing der Besuch dieses Mannes nicht vielleicht mit Alfonsos Ankunft zusammen? Hatte Alfonse dem Missionar erzählt, was Richard in Toledo berichtet? Gleichviel, der gefürchtete Augenblick war da und Ralph fühlte die Kraft, ihm zu begegnen.

»Mister Dantes,« sagte er, »da Sie ein Freund Mr. Büchtings und Mr. Everetts sind, so fühle ich die Verpflichtung, die Rücksicht gegen Sie auch nicht einen Augenblick zu vergessen. Haben Sie den beiden Herren bereits die Anklage mitgeteilt, die Sie gegen mich erheben?«

»Halten Sie sich genau an meine Worte!« sagte Dantes, ihm unerschütterlich fest ins Auge blickend. »Ich komme, um Sie zu warnen. Verschwinden Sie aus Neuyork, bereuen Sie, suchen Sie anderswo ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden und dadurch die Lücke auszufüllen, die Sie durch Ihren Mordanfall und durch Ihre Verräterei in die Reihen der Lebenden gerissen! Ich lasse Ihnen vierzehn Tage Zeit. Sind Sie heut über vierzehn Tage nicht abgereist, so fällt der Schleier des Geheimnisses, der bisher diese Freveltat bedeckte, für alle Welt, und ich trete als Ihr öffentlicher Ankläger auf, sowie ich jetzt nur als Ihr Warner erscheine. Doch stelle ich außerdem die Bedingung, daß Sie Neuyork als armer Mann verlassen und sich Ihr Brot im Schweiße Ihres Angesichts anderswo verdienen. Ich werde Sie später überall zu finden wissen, so gut, wie ich Sie hier zu finden wußte.«

»Mann, sind Sie wahnsinnig!« rief Ralph, trotz seines Entschlusses, kalt und ruhig zu bleiben, von einem entsetzlichen Grauen erfaßt. »Ich weiß nur, daß der arme Richard verschwunden ist – der aber, den ich in Providence sah, war er nicht – war ein Betrüger –«

»Sie wissen ja was geschehen!« unterbrach ihn Dantes. »Ihre Zukunft liegt in Ihrer Hand. Ich wollte Sie warnen, der Welt das scheußliche Schauspiel zu ersparen, das Ihre öffentliche Anklage ihr gewähren würde. Handeln Sie, wie es Ihnen Ihr Gewissen eingibt.«

Er wandte sich ab und schritt zur Tür hinaus.

Ralph riß am Klingelzug und sprang dann aus dem Bett, eilte nach einem der Vorderzimmer und blickte dort durch den herabgelassenen Vorhang eines Fensters auf die Straße. Er sah Dantes zu einem Wagen gehen, der in der Nähe hielt.

»John,« rief er dem Diener zu, der ihn suchte. »Jenem Manne nach, ich muß wissen, wo er wohnt!«

Der Diener, erschreckt von dem gewaltsamen Ausdruck in Ralphs Stimme, eilte fort. Ralph sah dem Wagen nach, der sofort in eine Nebenstraße einbog – er prägte sich das Aussehen des Kutschers, der Pferde, des Wagens ein, um sie wieder zu erkennen. Dann sank er, nur mit dem Hemd bekleidet, auf einen der schönen Plüschsessel. Er zitterte und bebte. Plötzlich sprang er auf, eilte nach einem Nebenzimmer, ergriff eine geschliffene Karaffe mit einer dunkelroten Flüssigkeit und trank einen großen Teil davon. Endlich setzte er die Karaffe ab, hustete lange und schien mit einem Erbrechen zu kämpfen. Noch immer zitternd kroch er dann wieder in sein Bett.

Die enorme Quantität Rum, die er getrunken hatte, wirkte bald. Sein Gesicht rötete sich, seine Augen nahmen einen starren, gläsernen Ausdruck an. Nun preßte er die Zähne aufeinander und ballte die Hände. So saß er in seinem Bett, eine Flut von Gedanken erfüllte ihn. Da kam der Diener zurück.

»Nun?«

»Es war unmöglich, Herr Kapitän, dem Wagen zu folgen,« antwortete der Diener. »Er fuhr sehr schnell fort – es waren zu gute Pferde – mein Mietswagen konnte nicht folgen – wir verloren ihn aus dem Gesicht.«

»Kanntest Du Pferde und Wagen?«

»Nein.«

»Kanntest Du den Mann?«

»Nein. Doch schwebt mir eine Erinnerung vor, als hätte ich ihn vor Jahren mit Mr. Everett oder Mr. Büchting zusammen gesehen.«

»Hast Du ihn in diesen Tagen mit jenen Herren zusammen gesehen?«

»Nein.«

»Auch nicht bei Mr. Everett? Besinne Dich!«

»Nein, gewiß nicht, Herr Kapitän, der Mann wäre mir aufgefallen.«

»Wenn Du ihn siehst, so folge ihm. Laß alles andere darüber gehen, wie es will; folge ihm und versuche seine Wohnung zu erfahren. Du erhältst tausend Dollars, wenn Du mir melden kannst, wo er wohnt.«

»Ich werde mir alle Mühe geben, Herr Kapitän!«

»Und weshalb hast Du ihn eingelassen?« fuhr Ralph auf. »Seit wann dürfen fremde Menschen und zu solcher Zeit in mein Schlafzimmer dringen? Menschen, die mich ermorden wollen, die mir nach dem Leben trachten? Antworte, Du Schurke!«

»Gerechter Gott – ich war, wie jeden Morgen, gegangen, um frisches Wasser zu holen,« antwortete der Diener bestürzt. »Es ist ja noch nie vorgekommen, daß ein Fremder hier eingedrungen ist. Und er sah so ehrwürdig aus!«

»Ehrwürdig – er ist ein Meuchelmörder!« rief Ralph. »Wo Du ihn siehst – oder sollte er wieder zu mir kommen – rufe die Polizei. – Nein, laß das! Rufe mich, benachrichtige mich heimlich! Und vor allen Dingen suche durch die Diener zu erfahren, ob dieser Mann – Du hast ihn ja gesehen und kannst ihn beschreiben – zu Mr. Everett oder zu Mr. Büchting kommt. Das ist ein gefährlicher Mensch, man muß acht auf ihn haben. Jetzt laß mich noch eine Stunde lang allein – melde im Kontor, daß ich nicht recht wohl sei und erst später kommen würde.«

Der Diener ging. Ralph hüllte sich in die Decke seines Bettes. Aber er konnte es dort nicht aushalten. Er sprang auf, kleidete sich schnell an und ging durch die ganze Wohnung, immer auf und ab.

Woher hatte dieser Mann sein Wissen? Alfonso konnte ihm erzählt haben, was Richard bis zu dessen Aufenthalt in Toledo widerfahren war, aber woher kannte er die Ereignisse in Providence? Nun, vielleicht durch die Zeitungen des Südens, die von der Exekution gesprochen hatten. Dieser Dantes – ein Schwärmer, ein Narr, der seine Millionen verschenkt! – hatte sich alles zusammenkonstruiert, und seine Schlüsse kamen allerdings der Wahrheit nahe; die Wahrheit selbst aber, wie wollte er die beweisen? Nein, niemand konnte etwas beweisen. Ralph rief das unbewußt laut vor sich hin. Sie waren alle Narren, Betrüger, Dummköpfe, getäuscht durch einen Abenteurer! Wer wollte mit den Beweisen in der Hand vor ihn hintreten? Wer hatte gesehen, daß er Richard auf der Prärie niedergeschossen? Sie sollten herankommen, sollten sich mit ihm messen – er wollte ihnen die Spitze bieten!

Und dennoch – wenn es sich nun beweisen ließ – lag dann nicht eine schauerliche Warnung in diesem Besuch? Mußte er dann nicht dankbar die Hände zu dem verhaßten Manne erheben, der ihn soeben verlassen hatte. War es nicht besser, wenn er alles zusammenraffte, was er fand, und fliehen – fliehen weit fort?

Nein, ehe er Neuyork und Eliza verließ, seine Pläne aufgab, – lieber den Tod! Daß Richard seinen Mörder angegeben, stand fest. Aber wer würde das Märchen glauben? Mr. Büchting, Mr. Everett, Eliza – nein, sie sollten es nicht glauben! Hohnlachend wollte er diesen Dantes und diesen Alfonso, der wahrscheinlich die Nachricht nach Neuyork gebracht hatte, als Betrüger niederschmettern. Und hätte er hunderttausend Morde begehen müssen, um diesen einen Mord zu verbergen, er wäre nicht davor zurückgeschreckt.

Er war im Begriff, wieder die Rumflasche zu nehmen. Aber schnell wandte er sich ab. Es fehlte ihm nicht an einer wilden Energie. Er wollte kein Trinker werden, sich nicht ruinieren, sich nicht abhängig machen von diesem verführerischen Gifte, dem bereits so viele seiner Genossen erlegen waren.

»Ich will ihnen mit kaltem Blute die Stirn bieten!« sagte er zu sich selbst. »Was wollen sie? Niemand liefert mir den Beweis! Ich werde sie züchtigen, wenn sie auch nur den Gedanken aussprechen, ich könne der Täter gewesen sein.«

Allmählich beruhigte er sich mehr und mehr. Offenbar hatte Dantes nicht zu Mr. Everett gesprochen, denn Mr. Everetts Benehmen war ihm gegenüber unverändert geblieben, und die kleinen Zerstreutheiten seines Oheims schienen mehr auf eine angenehme, als auf eine düstere Benachrichtigung hinzudeuten. Anders war es mit Mr. Büchting. Aus den Blicken dieses Mannes glaubte Ralph – wie schon erwähnt – zuweilen die Kenntnis eines furchtbaren Geheimnisses herauszulesen. Aber er konnte sich auch irren. Das Mißtrauen Mr. Büchtings wäre ihm freilich von allen Hindernissen, die sich seinen Plänen entgegenstellen konnten, das gefährlichste gewesen. Er mußte es beseitigen. All seine Gedanken mußten sich jetzt darauf konzentrieren, jenen Richard, der in Toledo erschienen, als einen Betrüger hinzustellen, dessen Gründe, ihn, Ralph, als Mörder zu beschuldigen, er nicht kenne und auch nicht kennen wollte.

Am Mittag, als er im Kontor erschien, war er wieder ganz ruhig. Er sagte zu Mr. Everett, der sehr früh ausgegangen war und erst jetzt zurückkam, – wieder eine jener geheimnisvollen Promenaden, die Ralphs Argwohn schon seit langer Zeit erregten! –, daß er abermals einen leichten Anfall seines Herzübels gehabt habe und versprach dem besorgten Oheim, jetzt ernstlich einen Arzt zu Rate zu ziehen. Dabei beschäftigten ihn jedoch Mr. Everetts rätselhaften Ausgänge viel mehr, als sein eigener Zustand. Es war ihm bisher nicht möglich gewesen, zu erfahren, wohin sein Oheim ging. Mr. Everett pflegte zu so verschiedenen Zeiten auszugehen und dies so heimlich zu tun, daß man jetzt nie mehr wußte, ob er in seinem Zimmer war oder nicht. Ralph beschloß, ihn selbst zu fragen.

»Sie gehen jetzt sehr viel spazieren, Oheim,« sagte er. »Das ist recht. Ich finde, es bekommt Ihnen vortrefflich. Sie sehen viel besser aus, und auch Ihr Gemüt finde ich freier und heiterer, als seit langer Zeit!«

»Nicht wahr?« antwortete der alte freundliche Herr mit einem etwas verlegenen Lächeln. »Diese Promenaden bekommen mir recht gut. Ich will sie noch eine Zeitlang fortsetzen.«

»Auch mir hat der Arzt Bewegung angeraten,« sagte Ralph. »Wir gehen dann vielleicht gelegentlich zusammen.«

»Gewiß, gewiß!« antwortete Mr. Everett, wandte sich aber dabei leicht errötend ab und suchte unter seinen Papieren.

Es ist also ein Geheimnis! dachte Ralph.

Dantes schien noch nicht mit dem Oheim gesprochen zu haben; Ralph kannte den alten Herrn; der hätte eine so schwere Anklage nicht so leicht in sich verschließen können, er müßte sie denn – was noch besser gewesen wäre! – als vollkommen lächerlich und gar keiner Beachtung für wert gehalten haben.

Ralph ging wie immer nach der Börse. Aber sein Blick hatte etwas Suchendes, Unruhiges. Er schaute immer aus, ob er nicht irgendwo Dantes sähe, und nach dem Schluß der Börse fuhr er zu einem Polizeibeamten, den er genau kannte, beschrieb ihm den Greis und bot ihm eine bedeutende Summe, wenn er ihm seinen Aufenthalt nachweisen könne.

Ja, die Strafe begann! Ralphs Leben war jetzt dem Mißtrauen, der Beobachtung, der Furcht geweiht.

*

An diesem Vormittag saßen Eliza und Jeannette auf dem kleinen Balkon, der nach dem Garten hinaus lag. Die große Markise war herabgelassen, so daß die beiden jungen Mädchen im Schatten saßen und die laue Luft des Morgens ohne Unbehagen genießen konnten. Die Vorarbeiten zum Feste waren im Garten bereits beendet. Nur der Dekorationskünstler, der die Ausschmückung übernommen hatte, ging noch im Garten mit einigen Gehilfen auf und ab und ordnete oder änderte hier und da eine Kleinigkeit.

Die beiden jungen Mädchen hatten über die Toiletten gesprochen, die sie tragen wollten. Es sollte ein Kostümball sein, mit einer gewissen Beschränkung; die Kostüme sollten nämlich der italienischen Tracht des Mittelalters entlehnt werden. Mr. Büchting hatte ganz absichtlich diese Bemerkung auf die Einladungskarten gesetzt, damit seine reichen Freunde genötigt wären, Ausgaben zu machen. Den ganz alten Herren war es erlaubt, in der einfachen und bequemen Tracht italienischer Mönche zu erscheinen. In ähnlicher Weise ließen sich auch für die alten Damen leicht passende Kostüme finden. Fehlen würde deshalb doch niemand, das wußte man, denn ein Fest bei Mr. Büchting ließ niemand, der eine Einladung erhielt, vorübergehen. Auch war es erlaubt, Masken zu tragen, jedoch nur am Anfang des Festes, bis 11 Uhr. Der Idee des Festes entsprechend war auch der Garten nach italienischem Geschmack ausstaffiert, und die an der Umfassungsmauer aufgeführten Dekorationen stellten Ansichten von Straßen und Plätzen aus Florenz zur Zeit der Medicäer dar. Bei Tage boten diese Dekorationen mit ihren grellen Verzierungen natürlich einen etwas sonderbaren Anblick, und Eliza und Jeannette hatten mehrmals darüber gescherzt, denn Beide besaßen einen feinen Kunstsinn und malten sehr gut.

Die beiden Freundinnen waren übereingekommen, als die beiden Leonoren aufzutreten, wie sie Goethe in seinem »Tasso« geschildert hat, und deren Darstellung so manchen Maler reizte. Eliza, als die Tochter eines Deutschen, sprach und las vortrefflich deutsch, und Jeanette hatte es mit ihrem wunderbaren Sprachtalent in wenigen Jahren dahin gebracht, die deutschen Klassiker mit der größten Leichtigkeit zu lesen. Sie fühlten, daß die Rolle der beiden Freundinnen sich vorzüglich für sie eigene und waren entschlossen, einander nicht von der Seite zu weichen. In der zweiten Abteilung des Festes wollten sie jedoch auf den Wunsch des Vaters ein anderes reicheres und farbenhelleres Kostüm anlegen, Eliza das einer Venetianerin, Jeannette das einer Albanerin. Es schien, als beabsichtige Mr. Büchting, der doch sonst so wenig auf Außendinge gab, daß seine Tochter an diesem Abend so schön und liebreizend auftreten solle, als nur möglich.

Also die Kostümfrage war zwischen den beiden Freundinnen erledigt – die betreffenden Gewänder hingen ja auch bis auf einige Kleinigkeiten, über deren Wahl erst der Augenblick entscheiden mußte, im Toilettenzimmer – und das Gespräch wandte sich den Gästen zu. Eliza zog eine Liste der Eingeladenen hervor und die beiden Mädchen gingen die einzelnen durch. Es fehlte nicht an harmlosen, scherzhaften Bemerkungen; wenn auch der Umgang der Familie Büchting durchaus gewählt war, so gab es unter den Bekannten doch manchen, den man sich nicht ohne eine leichte Heiterkeit in dem romantischen Kostüm des mittelalterlichen Italiens vorstellen konnte.

»Ich glaube, Kapitän Pettow wird gut aussehen,« sagte Jeannette. »Er hat etwas Italienisches in seinem Aeußeren.«

»Das ist wahr,« erwiderte Eliza gleichmütig. »Ueberhaupt ist seine Erscheinung nicht übel. Sein geistiges Wesen sagt mir nicht sonderlich zu, aber ich muß gestehen, daß er das ist, was man allgemein einen schönen Mann nennt. Ich meine aber, ein reiches italienisches Kostüm müßte einen blonden Mann noch besser kleiden, der Kontrast eines schwarzen Baretts vom hellen Haar, der Kontrast des dunklen Samtes von einem rosigen Gesicht müßten einen sehr eigentümlichen und interessanten Eindruck machen.«

Jeannette antwortete nicht sogleich. Sie wußte recht wohl, an wen Eliza dachte. Aber auch sie durfte Richard nicht erwähnen. Um also schneller abzulenken sagte sie:

»Sir mißfällt, wie Du eben sagtest, Ralphs geistiges Wesen? Weißt Du denn, Herz, daß man Dich in Neuyork allgemein als seine Zukünftige betrachtet?«

Nie hatte Eliza davon gehört. Sie erbleichte und sah Jeannette mit einem langen, fast befremdeten Blick an.

»Wer sagt das?« fragte sie leise.

»Ich hörte es gestern, als ich Mistreß Howard besuchte,« antwortete Jeannette ganz unbefangen, »und ich war erstaunt darüber, daß man diese Verbindung als eine ausgemachte Sache behandelte.«

Eliza ließ ihre Stickerei fallen und blickte mit fest geschlossenen Lippen eine Zeit lang auf den Garten hinab.

»Ah,« sagte sie dann, »jetzt verstehe ich einzelne Anspielungen, die ich von Zeit zu Zeit hörte. Nun, die Leute kümmern sich mehr um mich, als ich es wünsche. Nein, liebes Herz, Ralph Pettow könnte nie mein Mann werden, auch wenn – auch wenn ich ihm sonst volle Gerechtigkeit widerfahren ließe. Ich fühle mich nicht zu ihm hingezogen; es ist etwas in mir, das ihn abstößt. Es geht mir mit ihm, wie Dir mit Don Alfonso.«

»Wie mir? – mit Don Alfonso?« rief Jannette, die Freundin voller Schrecken anstarrend.

Eliza lächelte.

»Nun ja,« sagte sie dann, »Don Alfonso klagte mir gestern, daß Du ihn nicht ausstehen könntest. Sowie er im Zimmer erschiene, ließest Du ihn fühlen, daß er nicht gern gesehen sei.«

»Ich?« fragte Jeannette; sie war ganz bleich geworden. »Und was kümmert sich Don Alfonso um mich?«

»Nun höre, ich dächte, meine liebe Freundin Jeannette, die schwarze Rose wäre schon ein Gegenstand, um den sich ein junger Mann kümmern könnte!« sagte Eliza, noch immer lächelnd.

»Du willst mich dafür strafen, daß ich vorschnell von Ralph gesprochen,« sagte Jeannette und senkte den Kopf tief.

»Ich Dich strafen?« rief Eliza aus. Sie ergriff ihre Hand. »Nein, im Ernst, Du könntest etwas freundlicher gegen Alfonso sein. Was hat er Dir denn getan? Er ist so liebenswürdig, so aufmerksam, –«

»Gegen Dich, gewiß, und das ziemt sich!« rief Jeannette. »Ich würde ihm sehr böse sein, wenn er auch nur einen Augenblick vergäße, daß jede Minute in Deiner Nähe ein Glück für ihn ist.«

»In meiner Nähe – nun, er ist ja mein leiblicher Vetter, außer einem Bruder also der nächste Verwandte,« antwortete Eliza lächelnd. »Zwischen so nahen Verwandten pflegt das Glück nicht so groß zu sein – es ist selbstverständlich und wird ohne Mühe errungen. Auch scheint mein lieber Cousin weit mehr durch Deine Zurückhaltung betrübt zu sein, als er über meine Zuvorkommenheit erfreut ist.«

Jeannette hob ihre Stickerei auf; sie hatte ihr Gesicht abgewandt.

»Man hat doch nicht etwa gar die Absicht, mich auch mit Don Alfonso zu verheiraten?« rief Eliza lachend. »Wußte Mistreß Howard nichts darüber?«

»Wie Du über so ernste Dinge spotten kannst!« sagte Jeannette erbleichend.

»Ja, in der Tat, wir haben jetzt die Rollen getauscht,« sagte Eliza. »Mein lustiger Vogel Jeannette ist kopfhängerisch geworden, und ich muß jetzt ein wenig Heiterkeit in unser Dasein bringen.«

»Und warum sollte man nicht an derartige Pläne denken?« sagte Jeannette kaum hörbar und mit noch immer abgewandtem Gesicht. »Ist Don Alfonso nicht –«

»Der liebenswürdige Kavalier und so weiter?« unterbrach sie Eliza. »Gewiß ist er das. Aber ist er nicht auch mein leiblicher Vetter, für mich also mein Bruder, an den ich nie anders als mit Empfindungen der aufrichtigsten schwesterlichen Liebe denken werde? Glücklicherweise hat er auch nicht die Absicht, mich auf die Probe zu stellen, dazu fühlt er viel zu fein. Und denkst Du denn« – dabei beugte sie sich zu Jeannette hinüber und senkte ihre Stimme – »denkst Du denn, man vergißt den so leicht, der – – –«

Sie sprach nicht weiter.

»Um Gottes willen, Eliza, Du hoffst noch immer?« rief Jeannette, den Kopf schnell erhebend und starrte sie erschreckt an.

»Wenn ich auch nicht hoffe, so kann ich ihn doch nicht vergessen,« antwortete Eliza und lächelte, ohne daß sie es wußte.

Jeannette schüttelte leicht den Kopf. Für sie, die das Leben nahm, wie es ist, deren Gefühl allerdings stark, treu und leidenschaftlich, aber auch frei von jenen fast mystischen Empfindungen war, die den nordischen Nationen eigentümlich sind, war Richard Everett ein Toter, ein unwiederbringlich Verlorener.

»Meinst Du nicht, daß Don Alfonso sehr gut als venetianischer Nobile aussehen wird?« fragte Eliza dann, um die Freundin abzulenken. »Ich habe sein Geheimnis erraten. Er wird wahrscheinlich maskiert erscheinen. Nun, unsere Augen würden ihn unter jeder Maske und Verkleidung herausfinden. Ich bin überhaupt neugierig, welche Maske vor dem durchdringenden Blick meiner Jeannette sicher sein wird. – Doch lieber Himmel – was habe ich getan!«

Jeannette schien ganz erschreckt über diesen plötzlichen Ausruf, und als sie Eliza die Hände mit trostloser Miene zusammenlegen sah, wußte sie in der Tat nicht, ob es sich um Ernst oder um Scherz handle, bis ein leises Zucken der Mundwinkel Elizas sie belehrte, daß hinter diesem Schrecken der Schalk sitze.

»Aber was ist denn?« fragte sie halb besorgt, halb lächelnd.

»Nun, ich bin eine so vergeßliche Törin, wie nur je eine von der Sonne beschienen worden ist!« rief Eliza. »Don Alfonso hat mir das Geheimnis seines Kostüms anvertraut, unter der ganz besonderen Bedingung, daß ich Dir – gerade Dir nichts davon sagen sollte, und nun mißbrauche ich sein Vertrauen in so leichtfertiger Weise.«

Wieder hatte bei der Erwähnung Don Alfonsos glühendes Rot Jeannettens Wangen gefärbt und sie hatte sich abgewandt, um die Glut zu verbergen.

»Ich verstehe nicht – weshalb sollte ich gerade es nicht wissen?« fragte sie mit stockendem Atem.

»Ja, was weiß ich!« antwortete Eliza. »Und nun ist es zu spät. Denn bis morgen abend kann Alfonso kein anderes Kostüm mehr erhalten. Es ist am besten, ich sage ihm gar nichts von meinem Verrat. Was ist denn am Ende auch daran gelegen, ob Du weißt, welche Kleidung ihn verbirgt! Ihr habt ja keine Geheimnisse voreinander!«

»Nein, das sollte ich meinen!« antwortete Jeannette schnell. »Und ich will gewiß tun, als ob ich ihn nicht kenne – wenn er denn einmal nicht gekannt sein will!«

»Das ist recht!« rief Eliza lachend aus. »Ich kann mir nur denken, daß er sich Dir unerkannt nähern wollte, um Dir – nun irgendetwas zu sagen, gleichviel was –«

»Mir?« fragte Jeannette leise.

»Nun ja, vielleicht einen Scherz, eine Torheit. Er ist ja noch so jung!«

»Dreiundzwanzig Jahre, glaube ich,« sagte Jeannette.

»Ein horrendes Alter!« scherzte Eliza. »Doch –«

Sie wurde durch eine Dienerin unterbrochen, die auf den Balkon trat und ihr ein sehr feines Billett überreichte, mit der Bemerkung, der Ueberbringer warte auf Antwort.

Eliza betrachtete das Billett, dessen Form und Farbe äußerst elegant war und dessen Aufschrift neben der Adresse noch das Wort »persönlich« trug. Die Handschrift war ihr unbekannt. Sie erbrach das Briefchen und las:

»Meine teure Miß Büchting! Wir haben uns nur einige Male sehr flüchtig in Gesellschaften gesehen, was gewiß niemand mehr bedauert als ich. Sie werden deshalb nicht wenig erstaunt sein, wenn Sie erfahren, welche ganz außerordentliche Bitte ich an Sie zu richten wage. Ich ersuche Sie um eine Eintrittskarte zu Ihrem Feste. Ich werde in einer Tracht und Maske erscheinen, die es Jedermann unmöglich macht, mich zu erkennen. Nur für Sie werde ich eine blaßgelbe Schleife auf der linken Schulter tragen. Noch vor der Demaskierung entferne ich mich, und niemand braucht zu erfahren, daß ich dort gewesen bin. Man kann glauben, Sie hätten irgendeiner Person Ihrer Bekanntschaft, die nicht offiziell eingeladen werden konnte, auf diese Weise Gelegenheit geben wollen, einen Teil des Festes zu sehen. Die vollständige Diskretion gegen jedermann ist natürlich für mich notwendig. Niemand darf, selbst später, erfahren, daß ich bei Ihnen war.

Glauben Sie mir, daß nur sehr wichtige Gründe mich bestimmen, Sie um diese Gunst zu bitten. Vielleicht bin ich später imstande, Ihnen Ihre Güte zu vergelten. Sie leisten mir einen sehr großen Dienst. Ich werde Ihnen unter allen Umständen dafür erkenntlich sein.

Georgiana Blackbell
geb. Baronesse Stevensbury.«

Eliza war nicht wenig überrascht; sie las das Schreiben noch einmal. Dann erhob sie sich und verließ mit einigen entschuldigenden Worten zu Jeannette den Balkon. Ganz auf eigene Hand durfte sie es nicht wagen, den Wunsch der Lady zu erfüllen, der ihr übrigens seltsam genug erschien. Sie mußte entweder ihren Vater oder ihre Mutter fragen. Mistreß Büchting war ausgefahren. So fragte sie denn nach dem Vater und erfuhr, daß er zu Hause sei. Sie ging zu ihm und zeigte ihm das Billett.

»Ich errate die Absicht der Dame,« sagte Mr. Büchting, nachdem er es aufmerksam gelesen und eine Minute nachgedacht hatte. »Bewilligen wir ihren Wunsch! Sie wird alles tun, um unerkannt zu bleiben.«

»Also Du ahnst den Grund?« fragte Eliza verwundert.

»Ja, mein Kind. Doch ich mag nicht darüber sprechen, da man in solchen Dingen zu leicht irren kann.«

Er nahm eine von den übrig gebliebenen, nicht ausgefüllten Karten und gab sie Eliza. Diese schrieb mit flüchtiger Hand einen fremden Namen auf die Karte, warf einige Worte, die die Zusicherung der strengsten Diskretion enthielten, auf ein Blatt, siegelte beides ein und übergab selbst das Billett dem Diener, den Lady Georgiana gesandt, und der nicht ihr gewöhnlicher Hausdiener zu sein schien. Dann kehrte sie nach dem Balkon zurück.

Dort fand sie Don Alfonso neben der eifrig stickenden Jeannette stehend. Wie immer war kein rechtes Gespräch zwischen den beiden zustande gekommen. Jeannette arbeitete, als hänge Tod und Leben davon ab, daß die Stickerei zu Mittag fertig werde. Alfonso sprach einige Worte über die Dekoration des Gartens. Der junge Mann hatte sich in den letzten Jahren bedeutend verändert; er war ein vollständiger Mann geworden; südliches Blut und südliches Klima hatten ihn schnell gereift. Der Bart auf der Oberlippe war stärker und sein sehr feines Gesicht trug einen entschiedenen männlichen Ausdruck. Er wünschte seiner Kusine herzlich Guten Morgen und küßte ihr mit ritterlichem Anstand die Hand.

Das war nicht mehr der Jüngling, der, nachdem er glücklich den Verführungen von Europa und namentlich von Paris widerstanden, in Marions Netze gefallen und dort einen guten Teil seines Herzens verschwendet hatte – nein, er war jetzt zum Selbstbewußtsein gekommen, er hatte das Willenlose, Knabenhafte abgestreift. – Wenigstens deutete das die Energie in seinen Zügen an, und wenn er trotzdem etwas befangen und gedrückt aussah, so mochte das andere Gründe haben, Gründe, die wohl auch den gereiften Mann eine Zeitlang seiner Entschlossenheit und seiner Festigkeit berauben.

Alfonso zog ein kleines Billett aus seinem Notizbuch und überreichte es Eliza. Es war von seiner Schwester Inez; er hatte es am Morgen mit einem Briefe von seinem Vater erhalten. Die Verbindung zwischen den östlichen Staaten der Union und jenen entlegenen südwestlichen Teilen war jetzt auf dem Landwege wieder hergestellt; die Rebellen waren auf den Herd der Insurrektion, auf die Staaten Virginia, Georgia, Albama, zurückgedrängt, und die Post konnte ihren Weg durch die westlichen Staaten, den Mississippi entlang, nehmen.

Eliza las freudig überrascht den Brief.

»Wie unendlich leid tut es mir, daß Inez nicht mit Ihnen gekommen ist, Alfonso!« rief sie dann. »Wie würde ich mich gefreut haben!«

»Und meine Eltern, die sie so lange entbehrt haben?« fragte der junge Mann mit einem leichten Anflug von Ernst.

»Ja, das ist wahr!« rief Eliza. »Ich nehme mein Wort zurück.«

»Einen von uns wollten die Eltern behalten,« sagte Alfonso. »Ich sagte sogleich, daß Inez in Neuyork viel willkommener sein werde, als ich. Aber die Mutter wollte sie nicht missen. Und dann war auch die Rede davon, daß der Vater mit Inez eine Reise nach Mexiko machen würde ...«

»Davon schreibt Inez,« rief Eliza. »Nun, da werden sie einen gewissen Kapitän Tréport treffen!« fügte sie lächelnd hinzu. »Und da dieser Kapitän nach allen Schilderungen ein ganz vorzüglicher Mann sein muß, so finde ich es nur für angemessen, wenn Inez einen Umgang aufsucht, den sie hier in Neuyork nicht finden könnte.«

Alfonso lächelte, sie blickten sich an; er verstand den Scherz.

»Und doch will es mir nicht in den Sinn,« fügte Eliza dann ernster hinzu, »daß Monsieur de Tréport immer noch unter den Fahnen Frankreichs bleibt, für die in einem Kriege mit Mexiko doch wahrlich wenig Ruhm zu holen ist.«

»Ihn fesselt die Pflicht,« sagte Alfonso, »und ich begreife das. Ein Soldat kann nicht seinen Abschied nehmen, solange der Kampf, an dem er teilnimmt, unausgefochten ist. Auch muß sich Edmond mit seinem Vater einigen. Aber sobald die Franzosen in Mexiko entweder gesiegt haben oder das Land verlassen müssen, wird Edmond seinen Abschied nehmen. Er hat sich bestimmt darüber zu mir erklärt. Er hat sogar schon, wie ich brieflich von ihm weiß, eine bestimmte Gegend von Mexiko gewählt, in der er sich ansiedeln will. Er hat sie auf einer Expedition nach dem Innern kennen gelernt.«

»Also ein neuer Kolonist – bravo!« rief Eliza. »Das freut mich. Und wie denken Sie denn über Ihre Zukunft, lieber Cousin? Wollen Sie die väterlichen Lorbeeren in Toledo weiter anbauen, oder denken auch Sie ein eigenes Heim in irgend einem unzugänglichen Winkel der Erde zu gründen?«

»Ich halte es allerdings für eine der größten und schönsten Aufgaben des Mannes, Bahnbrecher der Kultur in Gegenden zu sein, die für die Zivilisation verloren gegangen oder ihr noch gar nicht erschlossen waren. Aber – es ist eben ein Aber dabei!« fügte er, die Augen senkend, hinzu.

»Nun, welches Aber denn?« fragte Eliza ziemlich ernst, und auch Jeannette hatte den Blick von ihrer Arbeit erhoben und sah zu Alfonso empor, freilich ohne daß er es bemerkte.

»Nun, ich kann doch nicht allein in einer solchen Einsamkeit leben,« antwortete Alfonso dann herzhaft. »Und welches an die Annehmlichkeiten einer vergnügungsreichen Existenz gewöhnte Mädchen wird mich in meine Wüstenei begleiten wollen!«

»Dann hat mein lieber Cousin wenig Zutrauen zu sich selbst!« rief Eliza. »Dann glaubt er nicht, daß er mit einem treuen und braven Herzen allen Flitterstaat der sogenannten Gesellschaft ersetzen kann.«

»Vielleicht glaube ich es,« antwortete Alfonso, jetzt auch ernster. »Aber ich begreife auch, welch großer Entschluß dazu gehört, einem Manne auf der Bahn zu folgen, die mir nun einmal vorgeschrieben ist und die ich auch aus eigenem Antriebe wandeln will.«

»Das wüßte ich nicht!« sagte Eliza. »Für mich hätte es sogar etwas Verlockendes, in einer großartigen Einsamkeit, in selbstgeschaffener, wenn auch wechselvoller Existenz zu leben. Was meinst Du, Jeannette?«

»Ich?« antwortete diese, fast erschreckt über die plötzliche Anrede. »Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich würde Dir natürlich folgen.«

Das Lachen, womit Eliza antwortete, klang so heiter, daß Alfonso unwillkürlich einstimmte. Jeannette fürchtete, etwas Unrechtes gesagt zu haben, und wurde feuerrot.

»Du steckst wieder tief in Deiner Arbeit!« sagte Eliza. »Ich meine, würdest Du nicht ganz gern die Frau eines Mannes sein, der eine ähnliche Stellung einnimmt, wie sie mein Vater früher im Westen eingenommen hat, und wie sie Onkel Lotario jetzt in Toledo einnimmt?«

»Ich will gar keine Frau sein!« antwortete Jeannette, den Kopf tief niederbeugend und mit der Nadel kreuz und quer in die Stickerei hineinfahrend. »Ich will bei Dir bleiben.«

»Aber wenn ich Dich nun nicht mehr haben möchte?« sagte Eliza.

»Du willst mich nicht mehr haben?« rief Jeannette und ließ die Hände sinken.

»Ja freilich!« antwortete Eliza lächelnd. »Ich will mich doch eines Tages verheiraten, und dann dulde ich Dich nicht in meiner Nähe, Du wärst mir zu gefährlich. Nein, Du mußt Dich an demselben Tage verheiraten, wie ich!«

»Nimmermehr!« rief Jeannette. »Wenn Du mich fortjagst, setze ich mich auf die Türschwelle. Wir wollen doch sehen!«

»Aber da würdest Du mich sehr unglücklich machen, liebes Herz!« sagte Eliza. »Trennen müssen wir uns doch einmal. Und wenn Du so fortfährst, wie jetzt, so wird es nicht mehr lange währen. Du bist kopfhängerisch, verdrießlich, schweigsam. Ich muß zufrieden sein, wenn ich Dir den Tag über nur ein einziges Mal ein Lächeln entlocke. Denkst Du, das könnte ich lange ertragen?«

Jeannette starrte auf ihre Freundin, als traue sie ihren Ohren nicht.

»Ja, ja, ich will meine heitere Jeannette haben!« tief Eliza. »Sonst keine! Und auf die Trennung bereite Dich nur vor. Sie muß erfolgen!«

Jeannette, vollkommen betäubt, starrte noch immer auf die lächelnde Eliza, und wer weiß, welche Szene erfolgt wäre, hätte nicht ein Diener Don Alfonso gerufen, um ihm einen Besuch zu melden. Kaum hatte der junge Mann den Balkon verlassen, so schlang Eliza beide Arme um Jeannette und zog sie an ihr Herz.

»Du Törin,« flüsterte sie ihr ins Ohr, »weißt Du denn nicht, daß in der Bibel steht, das Weib soll Vater und Mutter verlassen um dem Manne nachfolgen? Also wenn er nun kommt...?«

»Welcher er?« schluchzte Jeannette.

»Nun, er, der Zukünftige!« flüsterte Eliza.

In diesem Augenblick erschien Mistreß Büchting in der Tür des Balkons, lächelte, als sie die beiden so innig beieinander sah und grüßte sie.

»Jeannette weint?« fragte sie dann, als sie das Gesicht des jungen Mädchens genauer betrachtete.

»Das hat sie jetzt so an sich!« erwiderte Eliza heiter. »Sie tut es alle Augenblicke, aber ich habe gar kein Erbarmen mehr mit ihr. Nun zum Frühstück!«

*

Es war zehn Uhr am folgenden Abend und Mr. Büchtings Fest in voller Blüte. Die Dekorationen bewährten sich vortrefflich in der schönen Dämmerbeleuchtung des Gartens und die Gesellschaft, die sich teils hier, teils in den Zimmern bewegte, war des Gastgebers und überhaupt der Stadt Neuyork, der Hauptstadt der großen Republik, vollkommen würdig. Freilich zeichneten sich viele Kostüme mehr durch Glanz als durch Geschmack aus, aber die Mehrzahl vereinte beide Eigenschaften, und manches Gewand hätte der sinnreichste Künstler nicht besser erfinden können. Liebreizend waren vor allen die beiden Leonoren; sie trugen ihre beiden Spitzenmasken nur, weil die ganze übrige Jugend maskiert erschien; es kannte sie doch jeder, denn zwei solche Erscheinungen neben einander gab es nur in diesem Hause. Unter den Männern zeichnete sich Ralph aus, der einen prächtigen Anzug trug, den Booth ihm entworfen hatte. Auch er trug natürlich eine Maske, aber es kannte ihn jeder an seinem lockigen schwarzen Haar, und vermutlich wollte er auch gekannt sein. Schwieriger zu erkennen war Alfonso in der ebenfalls kostbaren, der alten Mode getreu nachgeahmten Tracht eines venetianischen Nobile, der seinen feinen schlanken Wuchs vorteilhafter zeigte, als er es selbst ahnte. Er trug eine große Maske, und es schien ihm daran gelegen, wirklich unerkannt zu sein.

Im allgemeinen kannte sich trotz der Masken wohl der bei weitem größere Teil der Gesellschaft. Um so mehr fielen zwei Gestalten auf, von denen niemand auch nur annähernd anzugeben wußte, wer sie seien. Die eine war eine hohe Damengestalt, vollständig in das Gewand einer Nonne gekleidet und so dicht maskiert, daß es schien, als seien die Züge selbst unter der Maske noch absichtlich entstellt. Man sah von ihrem Haar gar nichts. Sie bewegte sich wenig unter den lebhaft verkehrenden Gruppen; meist stand sie an irgendeinem Pfeiler oder in einer Nische. Sie behielt nur eine einzige Person im Auge und gerade diese achtete gar nicht auf sie. Wie hätte sich auch Ralph träumen lassen können, daß die Dame mit der kleinen blaßgelben Schleife auf dem Nonnengewande Lady Georgiana Blackbell sei!

Wohl aber beschäftigte ihn die andere rätselhafte Maske – ein Mann im Kostüm eines Venetianers, und zwar eines der ernsten, furchtbaren Beamten, die die Gesetze der unerbittlichen Republik zu vollstrecken hatten. Auch dieser Mann hatte seinem Gesicht durch seine Maske einen ganz fremdartigen Ausdruck gegeben. Dennoch hielt ihn Ralph für Dantes, den Missionar. Diese Maske bewegte sich ebenfalls wenig unter der lebhaften jungen Welt; sie hielt sich meist beobachtend im Hintergrund.

Es war ein schöner lauer Frühlingsabend, und die junge Welt war deshalb meist im Garten, wo Springbrunnen, Bosquets und verschiedene Büfetts die Bildung größerer oder kleinerer Gruppen begünstigten. Eliza und Jeannette waren von jungen Rittern umschwärmt. Heute, unter der Maske, faßte mancher den Mut, Eliza die Huldigungen darzubringen, die er ihr frei ins Gesicht nicht zu sagen wagte. Ralph war damit nicht sonderlich zufrieden. Auch er hoffte, heute eine günstige Gelegenheit zu finden. Namentlich genierte ihn der venetianische Nobile, unter dessen Maske sich Alfonso befand, denn dieser war wie ein Schatten hinter Eliza und Jeannette. Jeannette schien ihm auszuweichen; dagegen neckte Eliza sich mehrfach mit ihm. Ralph lauschte und erkannte nun Alfonsos Stimme. Um so mehr Grund, den vermeintlichen Nebenbuhler zu verdrängen.

Jetzt war die Gelegenheit günstig. Einige Dilettanten, die zu der Gesellschaft gehörten, trugen an verschiedenen Orten im Kostüm und in Maske, von Zeit zu Zeit, Lieder oder Musikstücke oder auch Gedichte vor, meist italienisch, damit der Charakter des Festes gewahrt bleibe. Gerade jetzt sang eine Dame, etwas kühn als Romeo gekleidet, das bekannte Duett mit ihrer Julia aus der Bellinischen Oper, und da man wußte, wer die Damen waren, wurden sie umdrängt und lebhaft applaudiert. Eliza und Jeannette standen im Hintergrunde. Alfonso hatte sich neben Jeannette gestellt, Ralph glitt unhörbar an Elizas Seite.

»Die schöne Leonore von Este hält sich dem Kreise ihrer Sklaven viel zu fern!« sagte Ralph leise und dicht an Elizas Ohr.

Sie erkannte sogleich Ralphs Stimme, tat aber, als habe sie nichts gehört, und fuhr fort, dem Gesange ein aufmerksames Ohr zu leihen. Ralph blieb neben ihr.

»Wie glücklich wären heute die Dichter oder Künstler!« fuhr Ralph fort. »Sie hätten wenigstens Hoffnung, einen einzigen Tag von der schönen Leonore geliebt zu werden, und das wäre genug, ein Menschenleben glücklich zu machen!«

»In der Tat, mein edler Ritter,« antwortete jetzt Eliza mit leichtem Scherz, »Ihr seid bereits der Dichter, von dem Ihr sprecht, denn nie hat ein Dichter überschwenglichere Worte gewählt.«

»Weil jeder, der liebt, im Augenblicke, wo sein Innerstes sich erschließt, zum Dichter wird!« fuhr Ralph etwas sicherer fort – denn ihm war es schon erwünscht, daß er überhaupt eine Antwort erhalten hatte, an die er anknüpfen konnte. »Was gäbe ich darum, wenn ich zu den Bevorzugten gehörte, denen ein so stolzes und vornehmes Herz sich eröffnet!«

»Ihr seid kein wahrer Ritter des Mittelalters!« antwortete Eliza heiter. »Die wußten nur von einer Liebe, Ihr sprecht von mehreren Bevorzugten.«

»Da ich weiß, daß ich niemals der einzige Glückliche sein könnte, so würde ich mich schon damit begnügen, nur zu der Zahl der Bevorzugten zu gehören,« antwortete Ralph. »Und doch, nein – das könnte ich nicht. Wer eine einzige, glühende, tiefe Leidenschaft im Herzen trägt, für den ist es unmöglich, mit anderen zu teilen. Ihr habt recht – ich bin ein Ritter des Mittelalters im wahren und echten Sinne: ich kenne nur eine Liebe und für diese – in den Tod.«

Seine Stimme hatte den leichten, bei Maskenscherzen erlaubten Ton verloren; sie war erregt, halbunterdrückt, leidenschaftlich zitternd.

»Dann wünsch' ich Euch, mein edler, unbekannter Ritter, daß Ihr ein Herz finden möget, das dem Euren eine gleich echte Liebe entgegenbringt,« antwortete Eliza ganz unbefangen und mit ziemlich lautem Ton, wie um anzudeuten, daß sie nicht über den Maskenscherz hinausgehen wolle. »Die Gegenwart ist nicht reich an derartigen Exemplaren – es müßte denn ein günstiger Zauber Euch auf diesem Feste die Ersehnte finden lassen.«

»Ich weiß nur eine, die alles ist, was das edelste, beste Weib sein kann!« erwiderte Ralph mit derselben düsteren Glut. »Und sie ist hier – Ihr seid es – Leonora von Este!«

»Viel Dank, mein edler Ritter!« antwortete Eliza lachend. »Man sieht, Kleider machen auch Frauen, und seit ich die Kleider der Prinzessin trage, scheine ich selbst ein Wesen höherer Art geworden zu sein.«

»Das seid Ihr stets – Eliza!« flüsterte Ralph.

Miß Büchting richtete sich ein wenig auf.

»Ihr irrt Euch, edler Ritter!« antwortete sie dann kurz. »Ich trage den Namen nicht, den Ihr nennt. Leonora – wir wollen ein wenig näher zu den Sängerinnen gehen!«

Dann reichte sie Jeannette die Hand; sie nahm sie wie träumend. Jeannette ließ sich mehr fortziehen, als sie selbst folgte. Alfonso blieb neben ihr und sprach lebhaft mit ihr.

War das Eis zwischen den beiden gebrochen?

Ralph wußte es nicht, aber er erriet, daß es Jeannette sei, der Alfonso den Hof mache. Was nutzte es ihm? Eliza hatte ihn stolz, fast schnöde zurückgewiesen. Er täuschte sich nicht darüber. Es gibt eine Bewegung auch bei der vorsichtigsten Frau, die dem ungestümen Bewerber zeigt, daß er zu weit gegangen ist, daß er sogar verletzt hat und auf Gegenliebe nicht hoffen darf – ein Achselzucken, ein Aufwerfen des Kopfes, das deutlicher spricht, als ein langer Brief. Ralph hatte es verstanden. Die Lippen auf einander gepreßt, blickte er Eliza nach.

»Aber wer ist es denn?« fragte er sich selbst. »Dieser schwächliche Spanier ist es nicht – er sucht die Farbige, das liegt im Blute. Sollte sie mich nicht erkannt haben? Torheit. Ich hörte ja vorhin, wie sie zu ihrem Vater sagte: »Wende Dich an Kapitän Pettow, er steht da in der Ecke, er kann es Dir vielleicht sagen.« Also, sie weiß, wer ich bin, und doch –«

Er preßte knirschend die Zähne aufeinander. Eine hohe dunkle Frauengestalt erhob sich von einer im Gebüsch versteckten Bank dicht vor ihm. Sie schien ihn anzusehen, aber er achtete nicht auf sie. Die Maske – es war die Frau mit der blaßgelben Schleife auf der Schulter – verließ den Garten und das Fest. Ein Wagen erwartete sie draußen auf der Straße. Sie fuhr zuerst zu einer Modistin, um das Kostüm abzulegen, und dann nach ihrer Wohnung.

Hatte Lady Georgiana genug gesehen und gehört? –

Inzwischen fuhr Alfonso fort, lebhaft in das Ohr Jeannettes zu flüstern. Ja, es war etwas zwischen ihnen vorgegangen. Alfonso hatte gewagt, sie zu fragen – natürlich als ein Unbekannter und unter dem Schutz der Maske – weshalb sie so kalt gegen seinen Freund Alfonso sei, der ihm täglich sein Leid klage. Darauf hatte Jeannette kurz erwidert, daß besagter Don Alfonso sich darum wahrscheinlich höchst wenig kümmere, denn er gebe sich nicht die geringste Mühe, zuvorkommend gegen sie zu sein; etwas artiger sei er gegen Eliza, aber bei weitem nicht genug. Ein Mann, der sich nicht sterblich in Eliza verliebte, sei gar kein Mann.

»O,« hatte Alfonso lebhaft geantwortet, »mein Freund schätzt und achtet seine teure Cousine über alles – aber er liebt sie nicht, und das ist ja auch ein wahres Glück –«

»Ein Glück?«

»Ja, in der Tat, denn er könnte nie Erwiderung finden, könnte sie auch nie heiraten, und wenn das alles auch nicht wäre, – er kann sich doch nicht ändern, sein Herz zieht ihn zur – anderen Leonore!«

Auf diese sehr deutlichen Worte hatte Jeannette keine Antwort gefunden; der ungestüme Freiwerber wollte ihre Hand ergreifen, aber sie entzog sie ihm sofort, so daß Alfonso sich mit schwerem Herzen zurückziehen wollte. Aber trotz der Maske sah er die Glut auf Jeannettens Wangen und auch ihm schien plötzlich der Augenblick günstig.

»Darf ich meinem Freunde irgendwelche Antwort bringen?« hatte er leise gefragt.

»O ja. Sagen Sie ihm, daß er – – –«

Sie brach ab. Endlich fügte sie auf seine bittende Frage hinzu:

»Erinnern Sie ihn an eine Unterredung zwischen zwei Freundinnen, die er gestern auf einem Balkon gehört hat!«

»O, er hat es mir erzählt! Das war Scherz!« antwortete Alfonso mutiger. »Wenn die schöne schwarze Leonora einmal ihr Herz ernstlich sprechen hörte, so würde sie wissen, daß die Liebe mächtiger ist als die Freundschaft.«

»Wie?« antwortete Jeannette lebhaft. »Ihr Freund bildet sich ein, ich – ich könnte jemals meine Freundin um eines Mannes willen verlassen?«

»Er hatte es gehofft. – Aber nach dieser Erklärung wird er es nicht mehr hoffen!« sagte Alfonso mit gesenktem Kopfe und wollte zurücktreten.

Aber in diesem Augenblick griff eine Hand nach der seinen und eine zitternde Stimme flüsterte, den Kopf von ihm abgewandt:

»Sagen Sie Ihrem reichen Freunde, er solle zu dem armen Mädchen nie so sprechen, wie Sie jetzt mit mir gesprochen haben. Er würde sie sehr elend, sehr unglücklich machen. Denn sie kann ihm nicht glauben und – sie verläßt Eliza nicht.«

»Sie kann ihm nicht glauben? Bei allem, was heilig ist, warum nicht? War – war Alfonso je ein Lügner?«

»Nein – aber zu mir darf er nicht so sprechen, denn er kann nicht meinen, was et sagt, und er kann es auch nicht halten. Zwischen uns liegt eine Kluft, die für mich unübersteiglich ist. Mein Trost, meine Rettung ist meine Liebe zu Eliza.«

Nun war es vorüber mit Alfonsos Ruhe und Mäßigung. Es stieg ihm die Ahnung auf, daß Jeannette allerdings seine Huldigungen ahne, aber in ihm den reichen Erben sehe, der nur mit ihr scherzen wolle. Dieser Gedanke, der seine Ehre kränkte, regte ihn auf, machte ihn leidenschaftlich. Er sprach schnell und eifrig aus sie ein. Jeannette stand mit tief gesenktem Kopf, errötend und wieder erblassend, und lauschte diesem Strom von Worten.

Ungefähr in diesem Augenblick hatte Eliza Jeannettens Hand ergriffen und die Freundin, die von sich selbst nichts wußte und unter dem Zauber eines ungeahnten, unglaublichen Glückes stand, dessen Wahrheit sie noch nicht begriff, mit sich fortgezogen.

Alfonso, entschlossen, den Augenblick zu verfolgen und nicht imstande, sich jetzt, da sein Inneres einmal Worte gefunden, zu beherrschen, folgte ihr; er hielt die andere Hand Jeannettens in der seinen, vielleicht, ohne daß beide es wußten. So gelangten sie zu der Schar, die die Sängerinnen umdrängte. Das Duett war zu Ende. Ein Beifallssturm überschüttete Romeo und seine Julia, und die Gruppe löste sich in kleine Gruppen auf.

»Dieser Signor scheint uns eine ganz besondere Treue und Aufmerksamkeit zu widmen!« sagte Eliza; sie war zufrieden, daß sie sich von den unangenehmen, beängstigenden Empfindungen, die während der letzten Minuten ihre Brust bedrückt hatten, befreien konnte.

»Ja, es ist wahr!« rief Jeannette, aus ihrem schönen Traume aufschreckend. »Verlassen Sie uns, Don –«

»Teuerste Cousine,« flüsterte Alfonso, sich zu Eliza wendend, »wenn wir auch jetzt fremde Tracht tragen, so bedarf doch mein Herz der Wahrheit. Was sich im Scherz anknüpft, soll mir heiliger Ernst sein. Erlauben Sie mir, ich beschwöre Sie darum, mit Jeannette noch wenige Minuten zu sprechen.«

»Der Herr Robile verletzt die Gesetze dieses Festes, indem er Namen nennt, die nicht genannt werden sollen. Aber es sei ihm verziehen, da er so inständig zu bitten versteht.«

Sie glitt auf eine Bank nieder und begann ein Gespräch mit einer vorübergehenden weiblichen Maske.

Alfonso hatte wieder die Hand Jeannettens ergriffen.

Was sprach er? Er wußte es später nicht, und Jeannette konnte es ihm wahrlich nicht sagen. Nur wenn sie später eine herrliche Melodie oder den Gesang der Vögel im schattigen Walde, oder den melodischen Fall der Tropfen eines Springbrunnens hörte, umweht von lauer Frühlingsluft und umhaucht von dem Duft der zartesten Blumen, – dann war es ihr, als tauche die Erinnerung an diese Minuten in ihr auf und als wüßte sie nun plötzlich, was Alfonso gesprochen und was sie geantwortet hatte, aber die Worte hätte sie dennoch niemals anzugeben vermocht.

Er sprach von der Verwirrung, die sie in seinem Herzen hervorgerufen hatte, und daß er nun erst wisse, was Liebe sei, nachdem früher sein Herz unter einer unwürdigen Leidenschaft gelitten, an die er nur mit Scham oder Reue zurückdenken könne.

Sie antwortete ihm nur durch den Druck ihrer Hand. Dann sagte sie leise: »Es ist unmöglich! Es kann nicht sein! Sie dürfen nicht!« Die Tränen quollen ihr in großen Tropfen unter der Spitzenmaske hervor.

Er antwortete um so eifriger, daß der wahren Liebe nichts unmöglich sei, und daß sie ihn wiederlieben müsse, und daß er sich ganz genau über alles Rechenschaft gebe, was er tue; daß seine Eltern glücklich sein würden, wenn es ihm gelinge, die Liebe eines so herrlichen Mädchens zu gewinnen, der Schwester Elizas, der Tochter im Hause Büchting.

»Nein, aber ich kann Eliza nicht verlassen!« sagte Jeannette, schwer und traurig den Kopf wiegend.

»O, sie wird uns schon erlauben, uns zu lieben,« antwortete Alfonso mit der rührenden Naivität eines Jünglings, der den großen Einfluß, den die gefeierte Cousine auf die Freundin ausübte, ohne weiteres als eine nicht wegzuleugnende Tatsache hinnimmt. »Sagte sie nicht gestern so schöne Worte?«

»Ja, im Scherz! – Aber im Ernst?« flüsterte Jeannette. »Ich kann, ich darf sie nicht verlassen.«

»Auch wenn Eliza die glückliche Gattin eines anderen würde?« fragte Alfonso.

»Ach, das glaube ich jetzt nimmer. Sie denkt stets noch an ihn, den Verlorenen, Toten!«

»Wenn nun aber Richard wiederkäme?« flüsterte Alfonso, nur für Jeannette verständlich.

»Ja, wenn das Unmögliche möglich wäre, dann könnte ich auch glauben, daß ich mich jemals von Eliza, wenn auch nur auf kurze Zeit, trennen könnte, und daß wir beide an verschiedenen Orten lebten –« antwortete Jeannette.

»So hoffe ich denn!« flüsterte Alfonso. »Wir wollen die Entscheidung über unsere Zukunft von Eliza abhängig machen. – Sie soll bestimmen, was ich zu tun habe, um meine geliebte Jeannette so glücklich zu machen, wie ich es wünsche. Denn daß Sie mich lieben, Jeannette, das weiß ich jetzt. O, wir beiden Toren, daß wir nicht ahnten, was gegenseitig in unseren Herzen vorging!«

Wieder ein Händedruck. Jeannettens Tränen rollten jetzt stärker.

»O Alfonso, Alfonso,« bat sie dann mit tieftraurigem Tone, »überlegen Sie alles, alles! Lassen Sie mich nicht so wundervoll träumen, wenn ich doch bald erwachen muß! Ihre Stellung, Ihre Eltern, Ihr Reichtum –«

»Aber Jeannette,« unterbrach sie Alfonso stürmisch, »was glauben Sie nur? Muß ich mich nicht für den glücklichsten aller Menschen halten, wenn Sie mir sagen, daß Sie mich lieben? Und meine Eltern – o, wie unendlich werden sie sich darüber freuen, die zweite Tochter aus dem Hause Büchting zu ihrer eigenen Tochter machen zu können. Welche seltsame Besorgnis drückt Sie? Glauben Sie denn, daß meine Eltern und ich so niedrig denken, daß wir nach Reichtum sehen sollten, wo Geist und Herz allen Reichtum der Welt ersetzen? War mein Vater nicht arm?«

»O, lassen Sie, lassen Sie mich nur für heute!« bat Jeannette. »Mir ist das Herz zu voll. Ich bitte, gehen Sie!«

Es lag etwas so Unwiderstehliches in diesen Worten, daß Alfonso sich, wenn auch befremdet, sogleich zurückzog. Aber er blieb in der Nähe und sah, wie Jeannette, begünstigt durch die Dunkelheit des Platzes, ihre Arme um Eliza schlang, ihren Kopf an die Schulter der Freundin lehnte und still zu weinen schien. Dann sah er auch, wie Eliza sanft Jeannettens Wange streichelte, und er begriff, daß es in einem Mädchenherzen Stimmungen gibt, in die ein Mannesauge nicht hineinblicken soll. Jeannette liebte ihn, daran zweifelte er nicht mehr. O, hätte er nur jetzt einen Freund gehabt, dem er ebenso, wie Jeannette es getan, die Arme um den Hals schlingen könnte und ihm sein Glück mitteilen! Warum war Richard fern? – Man hatte ihm nämlich gesagt, Richard befinde sich nicht in der Stadt, und auch mit gutem Grunde; denn Alfonso würde stürmisch danach verlangt haben, den Freund zu sehen, wenn er gewußt hätte, daß er nur eine halbe Stunde von ihm entfernt sei ...

Inzwischen war Ralph mit finsteren und unheilvollen Gedanken im Kreise um die beiden Eleonoren gegangen. Seitdem er ahnte, daß er Eliza nicht nur fremd, sondern sogar zuwider war, ging eine eigentümliche Wandlung in ihm vor. Ja, er war ihr zuwider. Ton, Blick, Bewegung – alles hatte es ihm in derselben Sekunde gesagt. Und nun? Nun sollte sie gewiß niemals einem anderen gehören! Es tobte in ihm. Er hätte sie töten können. Aber sie aufgeben? – nein, auf keinen Fall! Nun erst recht wollte er Himmel und Hölle daran setzen, sie zu erobern und sie zu unterjochen, sie zur Seinigen zu machen.

Stolzes, hochmütiges Weib, Du sollst zittern vor dem, den Du jetzt verachtest und wie einen Schulknaben von Dir schickst!

Wie er aber sein Ziel zu erreichen habe – jetzt, wo ihm plötzlich die furchtbare Erkenntnis gekommen, daß er sich geirrt und daß Eliza nichts, weder Freundschaft noch Wohlwollen, nicht einmal die gewöhnliche alltägliche Zuneigung zu ihm fühlte – das wußte er noch nicht. Aber mit finsteren Augen, geballten Händen, tief atmend, gelobte er sich, sie in seine Macht zu bringen, und müßte er darüber alles andere verlieren, was ihm das Leben angenehm machte. Müßte er auch mit der eroberten Beute in jene Einsamkeit ziehen, von der der alte Missionar, wenn auch in einem ganz anderen Sinne, gesprochen hatte.

Da hörte er Stimmen, die Stillschweigen geboten. »Wieder ein Vortrag?« dachte er höhnend. »Die Narren, die sich breit machen, um Andere zu langweilen!« Ihm wäre es lieb gewesen, wenn jetzt die Blitze gezuckt, die Donner gekracht hätten. Indessen ging er doch näher, um zu hören. Er mußte irgend etwas haben, das seine Gedanken von der Niederlage abzog, die sein wahnsinniger Stolz nicht ertragen konnte – er mußte sich zwingen, äußerlich seine Ruhe zu bewahren. O, es begann für ihn eine schwere, aber auch herrliche Aufgabe: Alle zu täuschen, den Ergebenen, Lammfrommen zu spielen und im entscheidenden Augenblick mit einem Tigersprunge die Beute an sich zu reißen.

Es war eine Dame, die ein Gedicht vortrug, wie es damals bei keinem Feste fehlen durfte, eine Verherrlichung des Kampfes, den der Norden gegen den Süden zu bestehen hatte. Der leitende Gedanke des Gedichtes war die verräterische Art und Weise, in der der Süden schon seit Jahrzehnten heimlich den Kampf vorbereitet hatte, um die Union mit einem einzigen Schlage zu vernichten. Ralph hörte mit verächtlich verzogenem Munde zu. Er war noch immer überzeugt, daß der Süden triumphieren werde, obwohl in den letzten Monaten die Truppen der Union mehr und mehr Boden gewonnen hatten. Plötzlich jedoch verlor sich der höhnische Zug um seinen Mund, und er griff unwillkürlich nach der Lehne einer Gartenbank, um sich zu stützen, denn die Dame sprach folgende Worte, die sich ganz naturgemäß in das Gedicht einfügten:

»Wie wenn auf weiter blumenreicher Heide
Zwei Reiter nach demselben Ziele ziehn,
Von einem Stamm entsprossen, Brüder beide,
Der eine arglos fromm, von tück'schem Sinn
Der andere, dessen meuchlerische Hand
Die Todeswaffe längst schon hält umspannt –
Da kracht ein Schuß, und lautlos niedergleitet
Der eine von dem wild erschreckten Rosse:
So hatte längst den Mord schon vorbereitet
Der Süden, unser falscher Bundgenosse –«

Stürmischer Beifall unterbrach die Vortragende. Der Vergleich war treffend. Mit entsetzten, starren Augen stand Ralph und sah nach der kleinen Estrade hinüber zu der schweigenden Dame. Erst als der Beifallssturm sich gelegt hatte und die Vortragende fortfuhr, wagte er es, sich scheu umzusehen. Niemand achtete auf ihn. Nur die dunkle Gestalt des Mannes, den er für Dantes hielt, stand in seiner Nähe, und die Blicke dieses Mannes schienen auf ihn gerichtet zu sein. Ralph hatte in dem Augenblick, als er Dantes bemerkte, nur den einen Gedanken: ob nicht eine Kugel das Herz dieses Mannes ebenso gut treffen könne, wie das eines anderen?

»Von wem war das Gedicht, Francis?« fragte er einen seiner Bekannten, der an ihm vorüberkam und dessen Maske er kannte.

»Hast Du es nicht gelesen? Es stand ja heut morgen im Herald,« erwiderte dieser.

»Ah so!«

Ralph dachte bei sich, daß er nicht nötig habe, nach dem Verfasser zu forschen; er glaubte ihn in der dunklen Gestalt, die jetzt verschwunden war, gesehen zu haben. Er zog sich in den entlegensten Teil des Gartens zurück, um eine Zeitlang mit sich allein zu sein. Elizas Zurückweisung und dieses Gedicht hatten ihm vollauf zu denken gegeben. Dann trat er an das Büfett und ließ sich ein Glas Lacrymae Christi reichen – denn auch die Weine waren heut italienisch und die Erfrischungen nach Art der italienischen zubereitet, von der einfachen Eis-Limonade bis zum römischen Punsch.

Nun trat die Pause ein, die zugleich zur Demaskierung sowie zum Umkleiden der Herren und Damen diente, die auch jetzt noch nicht erkannt sein wollten; sie legten zwar die Maske ab, wechselten aber das Kostüm vorsichtigerweise. Der Garten wurde leerer. Ralph, der seinen Anzug anbehielt, setzte sich auf eine einsame Bank. Zufällig kam Alfonso, den seine Gedanken ebenfalls die Einsamkeit suchen ließen, nach derselben Gegend. Als er Ralph bemerkte, der seine Maske abgenommen, und den er überhaupt längst unter seinem nicht sehr verhüllenden Kostüm erkannt hatte, stutzte er und ging zurück.

»Ah,« dachte Ralph, »auch einer, der mehr weiß, als ihm zu wissen gut ist! Geh' nur bald zur Armee, Freundchen! Wir wollen schon für Deine Beförderung sorgen!«

Er lachte eigentümlich vor sich hin. Er dachte, daß Nero nicht so dumm gewesen, als er der ganzen Welt einen einzigen Kopf wünschte, um ihn mit einem Hiebe abzuschlagen. Er hätte in diesem Augenblick kaum gezögert, eine Mine anzuzünden, die diesen ganzen Garten in die Luft gesprengt hätte.

Die Pause war vorüber. Orchester stimmten im Garten und im Saale ihre Musik an. Wer tanzen wollte, konnte tanzen. Ralph hatte keine Lust dazu. Ihn drängte es, Eliza ohne Maske wiederzufinden. Und einen anderen drängte es ebenfalls, Jeannette ohne die verhüllende Spitzenmaske zu sehen. So trafen sie wieder zusammen, als die beiden Freundinnen Arm in Arm aus dem Hause traten und in den Garten niederstiegen.

Elizas Gesicht war heiter und ruhig, wie immer. Sie empfing jetzt erst die Grüße der Gäste und nahm sie mit ihrer stillen, freundlichen Anmut an. Jeannette sah ernst aus. Ihre Augen glänzten wie durch einen Schleier und wurden zuweilen feucht. Als sie Alfonso erblickte, der sich ein wenig im Hintergrund hielt, wandte sie sich schnell ab, und ein tiefes Rot färbte ihre Wangen bis zum kleinen Ohr. Alfonso wagte sich nicht näher. Er fühlte, daß heut genug getan sei, und daß er die Eindrücke der letzten Stunde in Jeannette weiter fortwirken lassen müsse, wie er ja selbst das Bedürfnis fühlte, die gewaltige Aufregung des ersten Geständnisses allmählich in sich ausklingen zu lassen.

Ralph war kecker. Der Dämon war über ihn gekommen und riß ihn fast wider Willen fort. Er wußte nun, wie er zu Eliza stand und wollte zeigen, daß er der Mann sei, sich in alles zu finden. Noch auf der Treppe kam er Eliza entgegen und küßte ihr die Hand mit solchem Anstand, solcher Zierlichkeit, daß manche junge Dame die Tochter des Hauses beneidete.

Eliza fühlte, daß Ralph ihr dabei tief in die Augen sah. Aber auch über sie war ein Entschluß gekommen, auch sie war fester geworden. Ralph traf hier einen Geist, der ihm ebenbürtig war, – Ueberlegenheit erkannte er nicht an. Das Lächeln, das bei der Begrüßung Ralphs um ihre Lippen spielte, wurde von manchem der jungen Leute in der Nähe als ein Zeichen besonderer Bevorzugung gedeutet, und doch wußte Ralph am besten, wie kalt es war und was sich hinter diesem Lächeln verbarg. Das reizte ihn nur noch mehr. Sie war es wert, daß man ihretwegen Leben und Seelenheil aufgab!

Auch zu Jeannette sprach er einige Worte, und er wählte solche, die ihr unangenehm sein mußten, die sie verletzen würden.

»Da unten steht jemand,« sagte er leise, »den ich vorher Hand in Hand mit der schönen Leonora gesehen. Werden uns die Zeitungen bald eine freudige Nachricht verkünden?«

Süßes, stilles, glückseliges Geheimnis der ersten Liebe – du bist entweiht, sobald eine fremde, kalte Lippe von dir spricht!

»Ich verstehe Sie nicht,« antwortete Jeannette, bis ins Herz erkältet und unwillkürlich Elizas Arm fester fassend.

»O, ich verstehe den Herrn Kapitän,« sagte Eliza und sah Ralph fest ins Auge. »In dieser Beziehung hat er sich nicht getäuscht.«

»Möge ich immer so glücklich sein!« antwortete Ralph mit einer Verbeugung. »Ich täusche mich in der Tat nicht oft, so vielen Widerspruch ich anfangs auch erfahren mag!«

»Welche seltene Verbindung von Jugend und Weisheit!« sagte Eliza. »Auf Wiedersehen, Herr Kapitän!«

Er blickte ihr lächelnd nach, während sie, ebenfalls lächelnd, die Treppen hinabstieg. Er wußte, daß sie ihm den Fehdehandschuh hingeworfen hatte. Um so besser! Er wollte nicht mehr von ihr erhört, wollte nicht mehr zu Gnaden angenommen sein. Er wollte sie erobern, bezwingen, unterjochen – erbeuten! Es fiel ihm gerade in diesem Augenblick ein, daß einer seiner Ahnen ein berüchtigter Pirat gewesen, und er dachte, daß er dessen Blut in sich habe, – echtes Flibustierblut.

Er ging in das Haus, durch die Zimmer und Säle und war sehr heiter, redete mit jedem, den er kannte. Den Missionär sah er nicht mehr.

»Ein Glück für den alten Herrn!« sagte er zu sich, denn er fühlte eine entsetzlich wilde Lust, den Missionär auf einem einsamen Gange oder in einem Nebenzimmer ein Messer ins Herz zu stoßen.

Jetzt traf er Mr. Büchting, der ihm die Hand reichte, mit derselben Miene, demselben Blick, wie immer.

»Ein schönes Gedicht, das Miß Shutting vortrug!« sagte er. »Es stand heute morgen schon im Herald.«

»Jawohl; wahrscheinlich wußte sie das nicht,« sagte Mr. Büchting. »Sonst hätte sie es vielleicht doch nicht deklamiert!«

»Nun, es verliert nichts von so schönen Lippen,« sagte Ralph. »Der Vergleich des Nordens mit dem Süden ist wunderbar schön – ich war tief ergriffen.«

»In der Tat, ich habe nicht so genau hingehört,« erwiderte Mr. Büchting, dessen Stirn sich in Falten legte. »Doch – ich bitte um Verzeihung – der Wirt muß heut überall sein.«

»Gewiß! Verzeihung, daß ich Sie aufgehalten!« rief Ralph, und zum erstenmal hatte er das ganz klare, bestimmte Gefühl, daß auch dieser Mann wisse, was geschehen sei, und eine Menge Gedanken, Befürchtungen, Berechnungen, Absichten rollte an ihn heran.

Da kam Miß Shutting selbst, am Arm ihrer Mutter. Ralph trat auf sie zu und sagte ihr Komplimente wegen ihrer herrlichen Deklamation.

»Sie hatten das Gedicht im »Herald« gelesen, nicht wahr?« fügte er hinzu.

»Nein, Herr Kapitän. Wir lesen den »Herald« nicht. Ich bekam das Gedicht zugeschickt mit der Unterschrift: Von einem Verehrer – für den heutigen Abend! – und da es mir sehr gut gefiel, so memorierte ich es sogleich. Es wundert mich fast, daß der »Herald« ein solches Gedicht gebracht.«

»Mich auch!« antwortete Ralph mechanisch. Bei sich aber dachte er: »Die Absicht ist klar. Es war kein Zufall!«

Er verbeugte sich gegen die Damen, verließ sie und ging wieder nach dem Garten. Die Luft war ihm in dem Zimmer zu schwül. Man tanzte im Garten. Er sah dem Tanz eine Zeitlang zu und die Leute kamen ihm alle vor wie Marionetten, die am Draht gezogen würden. Dann ging er längs der Dekorationen hin, die die Einfassung des Gartens bildeten. Er sah eine Gruppe von Herren und Damen vor einer Pforte stehen, die zu einem kleinen, im italienischen Stil errichteten Pavillon führte. Ueber dieser Pforte befand sich in leuchtenden Buchstaben eine Inschrift, die Ralph vorher nicht bemerkt hatte, und zwar in italienischer und englischer Sprache. Sie lautete: »Hier kann jeder die Person sehen, mit welcher seine Gedanken sich am meisten beschäftigen. Der Eintritt ist nur einzeln gestattet.« Die Herren und Damen traten nacheinander ein und kamen meist lachend wieder heraus.

»Ein Scherz von Mr. Büchting!« dachte Ralph. »Du willst auch hineingehen!« – und er blieb vor dem Pavillon.

»Nun, was haben Sie gesehen?« fragte er einen alten Herrn, der laut lachend herauskam.

»Ein Kolossalbild des Gottes Mammon!« rief dieser. »Mr. Büchting ist ein ganz geriebener Bursche! Mein Mädchen war vor einer Minute darin. Und wen hat sie gesehen? Im Spiegel sich selbst!«

Es war niemand mehr da, der gerade eintreten wollte. Ralph ging also in den Pavillon und befand sich vor einer Wand mit einer Oeffnung, durch die man in das Innere des Pavillons blicken konnte. Er sah hinein und gewahrte längere Zeit nur eine Art von Nebel, der wahrscheinlich durch das Vorüberziehen eines florartigen Gegenstandes hervorgerufen war. Aus diesem Nebel löste sich jedoch allmählich eine Gestalt in immer deutlicher werdenden Umrissen ab und Ralph erkannte sein eigenes Gesicht. Also mußte sich dort ein Spiegel befinden.

»Torheiten!« murmelte er vor sich hin und wandte sich ab.

In demselben Augenblick aber fiel sein etwas ermüdeter Blick auf eine Gestalt dicht vor ihm. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, aber das leichenblasse Gesicht, das mit Blut bedeckte Haar zeigte die Züge Richards. Die Augen waren geschlossen.

Ralph fuhr zurück, so daß er gegen die Bretterwand des Pavillons fiel, in der sich die Oeffnung befand. Es war Nacht vor seinen Augen. Ein dumpfer Schrei entrang sich seinen Lippen, denn es war ihm, als schnüre ein Krampf seine Brust zusammen, und er verlor die Besinnung, wenigstens die Fähigkeit, zu sehen, zu hören.

»Aber Kapitän, was ist Ihnen denn?« fragte eine Stimme neben ihm.

Es war das erste, was Ralph wieder verstand. Er raffte sich auf und erkannte einen der Gäste, einen alten, jovialen Herrn.

Ralph wollte sprechen, aber er konnte die Zunge nicht bewegen. Doch hatte er bereits soviel Besinnung, um zu lügen und mit der Hand auf sein Herz zu deuten – denn alle derartigen Schrecken ließen sich ja leicht auf eine Herzkrankheit schieben. Dabei irrte sein Blick durch die kleine Vorhalle. Es war nichts mehr von irgendeiner Gestalt zu sehen.

»War ich denn allein, als Sie kamen?« stammelte Ralph.

»Ganz allein,« antwortete der alte Herr. »Ich trat ein, um den Scherz zu sehen. Aber kommen Sie hinaus in die frische Luft, – sie wird Ihnen gut tun.«

Er nahm Ralphs Arm und zog den noch immer Kraftlosen mit sich fort. Draußen ließ sich Ralph auf eine Bank sinken. Als er sich mit der Hand nach der Stirn fuhr, fühlte er, daß diese mit kaltem Schweiß bedeckt war.

»Es ist schon gut – es geht vorüber!« flüsterte er. Er wollte allein sein.

»Wie Sie wollen,« erwiderte der Andere. »Sie scheinen noch etwas angegriffen zu sein.«

»Ja, ich danke Ihnen vielmals – es ist vorüber!«

Er nickte dem Herrn zu und sobald er ihn verlassen hatte, drückte er beide Hände vor die Stirn.

Was war das gewesen? Eine Täuschung der Sinne? Er hatte an Richard gedacht in jenen Augenblicken. Oder eine Absicht, um ihn zu erschrecken? Vielleicht ein nachgemachtes Bild? Weshalb hatte er nicht den Mut gehabt, sogleich auf die Erscheinung loszustürzen? Also war er doch schwächer, als er geglaubt hatte! Hastig sprang er auf, eilte nach dem Büfett, ließ sich ein paar Gläser Wein reichen und ging dann nach dem Pavillon.

Von der Tür des Pavillons war die Inschrift bereits wieder abgenommen, und Ralph traf nur noch einen Buchhalter Mr. Büchtings, einen schon älteren Mann, der den Scherz geleitet hatte. Ohne sogleich nach dem zu forschen, was ihn hauptsächlich beschäftigte, fragte Ralph nur, wie der Scherz ausgeführt worden, und Mr. Jenkins zeigte ihm sogleich die kleinen Apparate, die dazu nötig gewesen: gestand ihm auch, daß Mr. Büchting ihm im Voraus mitgeteilt, welchen Personen er bestimmte Bilder zeigen solle. Jenkins hatte durch eine kleine Oeffnung jeden Eintretenden erkannt und sich also vorbereiten können. Den meisten Personen war ihr eigenes Bild gezeigt worden, weil sie sich mit diesem am häufigsten beschäftigen.

Ralph benutzte die Minuten, die während dieser Mitteilungen hingingen, um auf eigene Hand Untersuchungen anzustellen. Er überzeugte sich, daß nirgends eine Tür, nirgends eine Versenkung sei. So gelangte er allmählich zu der beruhigenden Ueberzeugung, daß seine aufgeregten Sinne ihm ein nicht existierendes Bild vorgeführt, und er verließ den Pavillon.

Es war ihm plötzlich eingefallen, daß er heute vielleicht eine gute Gelegenheit finden werde, jenem Missionar zu folgen. Die Annehmlichkeiten des Festes hielten ihn nicht zurück, wenn es einen wichtigen Zweck galt. Und was erwartete ihn denn überhaupt noch Angenehmes auf diesem Feste? Mit Eliza mochte er jetzt nicht sprechen. Er mußte überlegen, welches Benehmen er ihr gegenüber einzuschlagen habe. So machte er sich denn auf, den Missionar zu suchen und ihm auf Schritt und Tritt zu folgen.

Aber er fand ihn nicht mehr. Weder im Garten noch in den Sälen sah er das dunkle Gewand und die ernste Gestalt des Missionars. Wieder eine vergebliche Hoffnung!

Er beschloß, Mr. Büchting selbst zu fragen, und erkundigte sich bei ihm nach dem alten Venetianer. Mr. Büchting antwortete ruhig, wahrscheinlich sei das ein Herr aus Detroit gewesen, der ihn im Laufe des Tages besucht und dem er eine Einladung zugehen ließ, doch wisse er es nicht genau. War diese Antwort aufrichtig, oder schloß sich ein Kreis von geheimen Feinden um ihn her zusammen, um ihn von allen Seiten zu umgarnen?

Ralph fühlte sich unruhig, verstimmt wie nie. Das Fest hatte keinen Reiz mehr für ihn und er verließ es noch vor dem Schluß.

*

Nach einer unruhigen und zum Teil durchwachten Nacht fühlte sich Ralph zwar immer noch von einer leisen, zitternden Aufregung ergriffen, aber klarer im Kopf. Nur trug diese Klarheit nicht zu seiner Beruhigung bei. Ralph war ein zu scharfer Kopf, um sich über irgend etwas zu täuschen. Die einzige Verblendung, die er besaß, bezog sich auf seine Persönlichkeit, die er überschätzte. In allen anderen Dingen leitete ihn ein sehr nüchterner Verstand. Ralph hatte sich nochmals gefragt, ob ihn wirklich eine Täuschung der Sinne irre geleitet habe, und er war zu dem Resultat gekommen, daß das nicht der Fall gewesen sein könne. Er hatte nie an solchen Täuschungen, nie im geringsten an Halluzinationen oder Illusionen gelitten, wie einzelne seiner Bekannten. Er mußte etwas Wirkliches gesehen haben. Was das gewesen, das war eben die Frage, und das zu erfahren, mußte seine nächste Aufgabe sein. Man hatte ihm irgendeine Gestalt unter dem Bilde Richards vorführen wollen, daran konnte er nicht mehr zweifeln. Aber wer hatte das getan? War Mr. Büchting mit dabei im Spiel? Hätte Ralph gewußt, in welcher Weise ihn Dantes strafen wollte, so würde er über die furchtbare Wahrheit erschreckt gewesen sein, die in den Berechnungen des Missionars lag, und über die Schnelligkeit, mit welcher diese Strafe sich zu vollziehen begann. Er hatte keinen andern Gedanken mehr, ja, er ließ selbst seine Pläne in bezug auf Eliza in den Hintergrund treten, nur um diesen Dantes unschädlich zu machen. Die Erscheinung des Abends stand ihm unablässig vor Augen und seine Gedanken lenkten sich, trotz aller Anstrengung, immer wieder auf sie zurück. Eine glühende Sehnsucht, auch diesen Dantes zu vernichten, verzehrte ihn. Daneben quälte er sich mit Plänen, Eliza trotz ihres Widerstrebens zu gewinnen. Für die Geschäfte hatte er keinen Sinn, keinen Scharfblick mehr, und so gewaltig er sich auch anfangs dagegen aufgelehnt hatte, Vergessenheit und vorübergehende Ruhe im Rausche zu finden, so unterjochte ihn allmählich dennoch das betäubende Gift des Alkohols, und langsam schwand sein Widerstand gegen das gefährliche Besänftigungsmittel, das Staunton so sehr geliebt und auch Booth gebrauchte, dahin.

Er beschloß übrigens schon heute eine kleine Rekognoszierung vorzunehmen. Als er im Kontor mit Mr. Everett allein war und sich mit ihm über das gestrige Fest besprach, an dem der Bankier nur als stiller Zuschauer teilgenommen hatte, flocht er plötzlich die Frage ein:

»Wissen Sie nicht, Oheim, was aus Mr. Dantes geworden ist?«

Ein klein wenig wurde Mr. Everett verlegen, aber doch nur so wenig, daß es nicht auffallen konnte. Er hatte sich in der letzten Zeit an das Geheimnis gewöhnt, und die unausgesetzten Beteuerungen Dantes und Richards, daß jede Verletzung des Geheimnisses für Richard lebensgefährlich werden könne, hatten ihre Früchte getragen.

»Ja,« antwortete er, »der seltsame Mann soll in Neuyork sein, aber er hält sich vor allen verborgen. Er mag wieder irgendeinen wunderbaren Zweck haben, den niemand kennen soll.«

»Aber Mr. Büchting hat ihn doch gewiß gesprochen?« fragte Ralph.

»Das ist wohl möglich,« antwortete Mr. Everett. »Aber er hat es mir nicht mitgeteilt; über allem, was Mr. Dantes tut, liegt ein Schleier, den ich niemals zu lüften wage, schon aus dem Grunde, weil es nicht meines Amtes ist, in das Geheimnis ehrenwerter Leute einzudringen.«

»Könnte sich nicht aber unter einer so rätselhaften Person auch ein Betrüger verbergen?« fragte Ralph. »Leute wie Cagliostro und St. Germain hüllten sich ebenfalls in ein undurchdringliches Geheimnis – –«

Mr. Everett ließ ihn nicht aussprechen.

»Das gilt nicht von Mr. Dantes!« rief er lebhaft. »Jene Menschen arbeiteten nur für ihren Vorteil, Dantes aber will nicht mehr für sich erlangen. Nein, nein, alles was dieser Mensch tut, trägt einen Stempel der Reinheit, des Edelmuts, der Uneigennützigkeit – – doch, lieber Ralph, darüber ist nicht zu sprechen, Du kennst ihn eben nicht.«

»Aber ich habe gehört, er leide zuweilen an fixen Ideen,« sagte Ralph, entschlossen, die Gelegenheit zu benutzen. »Das haben mir Leute versichert, in deren Urteil ich großes Vertrauen setze.«

»Dann beziehen sich diese fixen Ideen gewiß auf die erhabensten und heiligsten Gegenstände!« antwortete Mr. Everett lächelnd. »Es wäre nur zu wünschen, daß recht viele Leute solch fixe Ideen hätten.«

Ralph sah, daß er sich für jetzt zurückziehen müsse. Aber er hatte wenigstens einen leichten Angriff auf diesen Dantes, den Abgott seiner Freunde, gewagt, und er wollte bei Gelegenheit dieses Thema verfolgen. So viel war ihm jedenfalls klar geworden, daß Mr. Everett die Anklage Dantes gegen ihn, Ralph, nicht kenne, denn hätte er sie gekannt, so würde er sie auch geglaubt haben – das begriff Ralph nach dieser Unterredung.

Kapitän Pettow begab sich an diesem Tage abermals zu dem Polizeibeamten, dem er für den Fall der Entdeckung des Missionars eine bedeutende Summe versprochen hatte. Aber der Beamte hatte noch nichts in Erfahrung gebracht.

Am Nachmittag beschloß er, Georgiana zu besuchen, die er seit einigen Tagen nicht gesehen hatte. Das Verhältnis zu ihr war ihm eine Last geworden. Vergebens sagte ihm sein Verstand, daß er sehr vernünftig handeln würde, die schöne Witwe mit ihren zwei Millionen zu heiraten und mit ihr ins Ausland zu gehen. Er wollte nicht. Sein Schicksal hielt ihn fest und ließ ihm kein anderes Weib begehrenswert erscheinen als Eliza.

Wie er sich Georgianas entledigen sollte, das wußte er freilich noch immer nicht. Am Ende war es das Einfachste, ihr eines Tages zu sagen, et habe ältere Verpflichtungen und könne sie nicht heiraten. Mochte sie dann tun, was sie wollte; er fürchtete sich nicht. Selbst wenn sie zu Eliza ging und ihr seine Tücke klagte. War das nicht am Ende ein Beweggrund für Eliza, den zu lieben, der eine so schöne Frau ihretwegen verschmähte?

Ralph glaubte, daß kein Weib ohne Eitelkeit sei.

Als er heut zu Georgiana kam, fand er sie ganz wie sonst, nur ein wenig nachdenklicher. Er plauderte mit ihr von dem Feste am vergangenen Abend. Ralph bedauerte, daß sie nicht dort zugegen gewesen sei. Außer ihrer Trauer hinderte sie auch ihre geringe Bekanntschaft mit der Familie Büchting an dem Erscheinen in diesem Hause. Georgiana hörte ruhig und mit scheinbarer Teilnahme alles an, was Ralph ihr berichtete. Dann bemerkte sie, daß er sehr angegriffen, fast leidend aussehe, und sie sagte ihm das. Er gab zu, daß er sich nicht ganz wohl fühle. Darüber wurde es spät, und Ralph wollte gehen. Es war fast dunkel im Zimmer geworden. Als Ralph sich erhob, umschlang Georgiana plötzlich seinen Hals und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr, als habe sie bis auf den letzten Augenblick gezögert, ihm die Mitteilung zu machen.

Ein Ruf des Erstaunens, mit einer Beimischung von Schrecken und Verdruß entfloh Ralphs Lippen.

»Mein höchster Wunsch ist erfüllt!« flüsterte Georgiana, noch immer dicht an seinem Ohr, »Ich werde das größte Glück der Erde kennen lernen. Aber Du siehst ein, Ralph, daß wir nun selbst das Trauerjahr nicht abwarten dürfen. Wir müssen uns trauen lassen, ganz im geheimen. Unseres Kindes wegen.«

Ralph antwortete nicht. Die Nachricht, die er erhalten, betäubte ihn einen Augenblick lang. Er hatte geglaubt, seine Verbindung mit Georgiana in dem Moment lösen zu können, der ihm geeignet scheine. Aber nun trat auch diese Frage ganz plötzlich an ihn heran.

»Und weißt Du das sicher?« fragte er sie leise.

»Mein teurer Ralph, ganz sicher!« flüsterte Georgiana.

»Dann allerdings hast Du recht – obwohl – eine solche heimliche Trauung nicht meinen Wünschen – meinen Ideen entspricht,« antwortete er. »Was soll die Welt denken, wenn sie hört, wir hätten uns kurze Zeit nach Blackbells Tode trauen lassen!«

»Lieber Ralph, laß die Leute reden,« antwortete Georgiana.

»Wie Du willst. Ich würde Dir vorschlagen, nach England zu gehen. Ich komme nach, und wir lassen uns dort trauen. Hier könnte die Sache leicht ruchbar werden.«

»Gern, wenn Du mich nach England begleiten willst – aber allein gehe ich nicht!« antwortete Georgiana entschlossen. »Seit ich weiß, was ich nun weiß, zittere ich für Dein Leben.«

»Wenn nun Dein Kind den Namen Blackbell führte, was sich doch rechtfertigen ließe ...«

Dieses Mal unterbrach ihn Georgiana fast heftig.

»Du denkst leichter über diese Dinge als ich!« rief sie. »Nein, nein – unser Schicksal war auf ewig verbunden und ist es jetzt mehr noch als je. Ich lasse Dich nicht, trenne mich nicht von Dir. Du mußt heut noch einen Pfarrer suchen, dem Du trauen kannst. Wir sind beide frei – wir haben beide die Absicht, später Amerika oder wenigstens Neuyork zu verlassen. Wir haben also nicht nötig, anderen Einflüssen zu folgen, als den Eingebungen unseres Herzens.«

»Du hast recht,« rief er, ihr die Hände drückend – denn er mußte irgend etwas tun, um seinen inneren Mißmut und Zorn niederzukämpfen. »Ich eile fort. Leb wohl!«

Er küßte sie leicht und verließ auf der Haupttreppe das Haus.

Draußen warf er sich in einen Mietswagen und ließ sich durch die Stadt fahren. Auch das noch! Jetzt mußte es zur Entscheidung kommen! Aufhalten ließ sich Georgiana nur noch einige Tage. Er brauchte ja nur zu behaupten, daß er keinen zuverlässigen Prediger finden könne. Und was dann geschah? er wußte es noch nicht. Aber er wollte sich nicht von den Verhältnissen zwingen lassen, er wollte das Schicksal selber unterjochen. Sollte sich ein ungeborenes Wesen zwischen ihn und seine Pläne stellen? Nein, gewiß nicht. Er wollte ruhiger werden, ruhiger überlegen, und dann kalt und entschlossen handeln.

Die Gaslaternen wurden soeben angezündet. Ralph, der planlos umherfuhr, bemerkte unter einer Laterne Booth im Gespräch mit einem anderen gemeinsamen Bekannten. Booth – das war der Mann, den er sprechen mußte! Er hatte ihn seit jener Unterredung nur ein einziges Mal wiedergesehen, denn Booth gab Gastrollen in einzelnen Städten des Nordens, namentlich in solchen, in denen die Sympathien für den Süden nicht ganz erloschen waren.

Ralph ließ den Wagen halten, bezahlte den Kutscher und rief Booth an, der sich von seinem Genossen trennte und mit Ralph nach einem benachbarten Lokale ging, das nur von der Creme der reichen Neuyorker Jugend besucht wurde. Dort ließen sie sich ein einzelnes Zimmer geben. Ralph bestellte die feinsten Weine und dazu einige der auserlesensten Delikatessen. Booth war nicht so verdrossen und wortkarg, wie an jenem Abend. Er schien sehr erregt und zu Mitteilungen geneigt, begann auch, sobald die Aufwärter das Zimmer verlassen hatten, seinen Gedanken Worte zu geben. Es waren nicht persönliche Angelegenheiten, die ihn beschäftigten, sondern die Interessen des Südens, denen er mit Leib und Seele ergeben war, da die aristokratischen Gelüste des Südens seiner eigenen, hochfahrenden, ehrgeizigen, das arme Volk verachtenden Geistesrichtung entsprachen.

»Wir müssen etwas tun, Ralph.« flüsterte er und seine dunklen Augen leuchteten unheimlich. »Wir müssen alles auf eine Karte setzen, sonst ist unsere Sache verloren. Hölle und Tod – wer das geahnt hätte! Ist es nicht, als wären die Yankees und Philister plötzlich des Teufels geworden? Es ist ein kriegerischer Satan in sie gefahren, sie schlagen sich jetzt so gut, wie unsere Süd-Truppen, und da sie die Uebermacht haben, so ist das Ende vorauszusehen, wenn wir nicht zu Außerordentlichem greifen. Es darf nicht sein, sie dürfen nicht siegen, und müßten wir den ganzen Norden in die Luft sprengen. Seit sie Grants Operationspläne befolgen, kommt Ordnung in ihre alberne Kriegführung, sie ziehen den Kreis immer enger, sie ersticken den Süden. Fällt auch Vicksburg, so sind wir vom Westen abgeschnitten und die Yankees haben den Missisippi frei. Gestern abend war eine große Versammlung der Copperheads – Du warst nicht dabei –«

»Nein, ich konnte nicht wegen des Festes bei Mr. Büchting, ich durfte dort nicht fehlen –« antwortete Ralph Pettow.

»Nun gut, wir waren alle einig darin, daß es in der bisherigen Weise nicht weiter ginge,« fuhr Booth fort. »Lee muß alle seine Streitkräfte sammeln und einen gewaltigen Angriff machen, er muß durchbrechen, muß Washington nehmen, während wir zugleich in allen größeren Städten des Nordens, von Neuyork bis St. Louis hin einen Aufstand erregen und das Volk einschüchtern. Wir müssen den Yankees einen Schrecken einjagen, um ihnen einen Frieden abzuzwingen, natürlich nur einen vorläufigen. Die ganze volle Unabhängigkeit wird man dem Süden nicht zugestehen, und um diese handelt es sich doch – wir müssen sie erringen. Haben wir aber nur erst wieder Ruhe, können wir nur neue Hilfsquellen öffnen, so ist uns die Zukunft dennoch sicher. Jetzt steht es schlecht, Pettow, sehr schlecht.

Davis und die anderen haben nicht geglaubt, daß der Krieg länger als zwei Jahre dauern würde, haben auf die Anerkennung Englands, auf die tatsächliche Unterstützung Frankreichs von Mexiko aus gehofft, glaubten auch die Verbindung mit Europa und den Absatz der Baumwolle offen zu erhalten – nichts von alledem! Wir haben furchtbares Unglück gehabt. Wir wissen nicht mehr, woher wir neue Truppen nehmen sollen. Wollten wir auch die Nigger bewaffnen und sie mit Kanonen ins Feld treiben, so dürfen wir das um des Prinzips willen doch nicht tun. An Geld ist überall Mangel. Selbst wenn wir in einem halben Jahr Frieden haben, ist die Mehrzahl der südlichen Pflanzungen ruiniert. Nun, sie werden sich freilich bald genug wieder in die Höhe bringen. Aber es muß etwas geschehen, um das gesunkene Ansehen des Südens wieder zu heben. Lee muß nach Washington durchbrechen und wenn die Hälfte seiner Truppen dabei zum Teufel ginge, und wir müssen hier im Norden rebellieren, damit das dumme Volk eingeschüchtert und überzeugt wird, daß es hier nicht nur Feinde, sondern auch zahlreiche Freunde des Südens gibt. Der Plan ist bereits verabredet, die Rollen sind verteilt, die Leiter für die einzelnen Städte ernannt. Du wurdest vorgeschlagen für Neuyork, aber man wandte ein, Du hättest Dich in der letzten Zeit sehr lässig gezeigt.«

»Das ist wahr,« antwortete Ralph, der sehr aufmerksam zugehört hatte. »Ich mußte mich in der letzten Zeit sehr viel mit persönlichen Dingen beschäftigen. Aber damit ist noch nicht gesagt, daß ich nicht einer der ersten sein werde, um die Brandfackel auf Neuyork zu schleudern.«

Dabei blitzte eine so wilde Freude aus seinen Augen, daß Booth ihn verwundert ansah und ihm dann zunickte.

»Das dachte ich mir,« sagte et. »Hast Du mit Lady Georgiana gebrochen?«

»Noch nicht, aber die Sache geht mir im Kopf herum und muß sich bald entscheiden.«

Er teilte darauf dem Schauspieler mit aller Gleichgültigkeit das Geheimnis mit, das er heut von Georgiana erfahren.

»Goddam – das macht die Sache nicht besser!« rief Booth. »In der Tat, Mensch, ich begreife Dich nicht – ich würde die Witwe heiraten. Zwei Millionen Dollars!«

»Nun denn, so will ich es Dir sagen,« unterbrach ihn Ralph, »aber hüte Deine Zunge! Eliza Büchting muß mein werden, durch Güte oder Gewalt. Ich will kein anderes Weib zur Frau haben. Georgiana ist mir im Wege und sie muß fort.«

»Ja freilich, dann ist guter Rat teuer!« meinte der Schauspieler. »Glaubst Du, daß Büchting Dir seine Tochter gibt?«

»Wenn er sie mir nicht gibt, so nehme ich sie mir!« rief Ralph Pettow mit einem satanischen Lachen. »Mein Plan steht fest, und ich glaube, daß ich die Erneute, die wir in Neuyork erregen wollen, für meinen Plan benutzen kann, falls alle anderen Stränge reißen. Doch das will ich mir noch überlegen. Vielleicht bist Du mit von der Partie. Es ist da im Hause Büchting eine wunderhübsche Quarterone. Wenn ich mir Miß Eliza hole, könntest Du Dir vielleicht die Quarterone in Deine Reisetasche stecken.«

»Danke,« erwiderte Booth lachend. »Ich liebe nicht gemischtes Blut – kann's nicht vertragen. Mir wird im vollsten Sinne des Wortes übel, wenn ich nur daran denke.«

»Du hast sie nicht gesehen!« antwortete Ralph. »Wenn Du sie kennst, wirst Du anders sprechen. Sie ist so schön, daß Alfonso de Toledo, Büchtings Neffe, in allem Ernst daran denken soll, sie zu seiner Frau zu machen.«

»Nun, es hätte einigen Reiz, sie dem wegzunehmen!« lachte Booth. »Aber denkst Du in der Tat daran, Miß Büchting gewaltsam zu entführen? Das könnte doch Deinen Plänen eher schaden als nutzen, und Büchtings Millionen gingen Dir verloren – –.«

»Ich weiß noch nicht, was ich tue!« antwortete Ralph, als Booth eine Pause machte. »Nun, das ist gleich. Es wird sich alles finden. Sage den Freunden, daß sie sicher auf mich zählen können, und unterrichte mich von allem, was ihr beschließt. Und noch eins – hast Du zufällig von einem Manne namens Dantes gehört, einem alten Narren, der sich in alles einmischt, früher fabelhaft reich gewesen sein soll und sein Vermögen an Büchting und Toledo gegeben hat?«

»Ja, ich erinnere mich, es ist ohne Zweifel derselbe, vor dem Staunton in Richmond eine so große Angst hatte,« erwiderte Booth, und et beschrieb den Missionar.

»Gewiß ist er das!« rief Ralph überrascht. »Und was hatte Staunton mit ihm?«

»Genau weiß ich es nicht, aber der Alte konnte ihn leiten wie ein Kind. Es heißt auch, Staunton habe dem Alten zu Gefallen einen Neger aus dem Stadtgefängnis in Richmond befreit, und das war der erste Grund zu dem Mißtrauen, das ich später gegen Staunton geltend machte und ihn aus Virginien vertrieb.«

»Also Du kennst ihn,« sagte Ralph. »Nun, dann tue mit den Gefallen und folge ihm, wo Du ihn siehst. Wenn Du mir sagen könntest, wo er wohnt, so gebe ich Dir – nun, fordere selbst, eine so hohe Summe, als ich nur zahlen kann. Ich muß wissen, was dieser Mensch treibt, was er gegen mich hat – denn er intrigiert gegen mich. Willst Du?« –

»Gewiß! Ich verdiene gern leicht Geld!« antwortete Booth.

Sie trennten sich bald darauf. – –

Am andern Morgen schrieb Ralph an Georgiana, daß er noch keinen Prediger gefunden, der die Trauung übernehmen wolle und daß er selbst nach seinem Hauptquartier berufen worden sei und einige Tage ausbleiben müsse. Er wollte Zeit zur Ueberlegung haben. Dieser Zustand der Ungewißheit, unter dem er litt, mußte ein Ende nehmen. Aber wie er handeln sollte, das wollte er reiflich erwägen.


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