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Zwei unerwartete Mitteilungen

Es war am anderen Tage mittags um 12 Uhr. Lady Georgiana, in tiefe Trauer gekleidet, saß in ihrem Boudoir und las soeben einen Brief, den Ralph ihr geschrieben, in dem er seinen Mißmut darüber aussprach, daß er sie heut nicht besuchen könne, da trat die Kammerfrau ein und meldete ihr, es sei eine Dame draußen im Vorzimmer, die die Lady zu sprechen wünsche. Da es durchaus nicht zu den aristokratischen Gewohnheiten gehörte, die Lady Georgiana seit ihrer Jugend beibehalten hatte, einen Fremden ohne weiteres vorzulassen, so hatte die Kammerfrau um Namen, Stand und Anliegen der Fremden gefragt und darauf die Antwort erhalten, die Dame heiße Mistreß Schwartz, habe keinen bestimmten Stand und wünsche Lady Blackbell in einer ganz vertraulichen Angelegenheit zu sprechen. Mit dieser Meldung erschien nun die Kammerfrau vor ihrer Herrin.

»Sie wissen, daß ich nie eine Fremde annehme,« sagte diese kurz. »Es sind meist Bettlerinnen. Ich will ihnen gern ein Almosen geben, aber ich habe weder Zeit noch Neigung, ihre wahren oder erlogenen Klagen anzuhören. Fragen Sie einmal nach dem Grunde dieses Besuches; erhalten Sie keinen bestimmten Bescheid, so weisen Sie die Person ab.«

Die Kammerfrau ging und kehrte nach einigen Minuten mit der Nachricht zurück, daß die Dame auf ihrem Wunsche beharre, da sie eine Mitteilung zu machen habe, die ganz und gar allein Lady Blackwell betreffe. Werde sie nicht vorgelassen, so werde sie nicht wiederkommen, da sie keinen Gefallen für sich beanspruche, sondern nur der Lady einen Dienst leisten wolle.

»Ich weiß nicht, was das heißen soll,« antwortete Lady Georgiana kurz. »Ich bedarf keines Menschen Dienste. Es wird doch nur eine Bettelei sein, bei der es darauf abgesehen ist, mich persönlich zu rühren. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht?«

»Um die Wahrheit zu sagen, nein! Mylady,« antwortete die Kammerfrau. »Die Dame ist gut, wenn auch einfach gekleidet, und in ihrem Wesen liegt nichts Bettelhaftes. Sie spricht unsere Sprache vortrefflich, aber ich halte sie doch für eine Fremde.«

»Sagen Sie ihr, sie solle sich schriftlich an mich wenden!« rief die Lady gelangweilt.

Die Kammerfrau ging abermals, kam aber mit der Antwort zurück, daß die Mitteilungen, die die Fremde der Lady machen wolle, nicht für einen Brief geeignet seien.

Lady Georgiana war mißmutig geworden; dennoch schien etwas von weiblicher Neugierde in ihr zu erwachen.

»Wenn es sein muß, so soll sie kommen!« rief sie verstimmt. »Bleiben Sie aber in der Nähe, und sobald ich klingle, ist das ein Zeichen, daß die Fremde mich belästigt, und Sie werden den Diener schicken, daß er sie aus dem Zimmer führt.«

Bald darauf trat die Dame in das Boudoir der Lady Georgiana. Ihr Kleid war, wie es die Kammerfrau beschrieben, einfach und doch von einer gewissen Eleganz, ihre Haltung fein, ihr Gesicht schön, ernst, ruhig und blaß. Es war sehr fraglich, welche von den beiden Damen die schönere sei. Jedenfalls hatte die Fremde noch den Vorteil der größeren Jugend voraus.

Lady Georgiana hatte die Fremde stehend erwartet, um sie mit einigen kurzen Worten abzufertigen. Unwillkürlich aber erwiderte sie die verbindliche Verbeugung der Fremden mit einer gewissen Höflichkeit.

»Mylady,« sagte die Fremde, »ich würde um Verzeihung bitten, daß ich Sie belästigen muß, aber ich glaube in der Tat, daß ich Ihnen einen Dienst zu erweisen habe, für den Sie mir, wenn auch nicht anfangs, doch später Dank wissen werden. Ich bemerke ausdrücklich, da ich weiß, wie vornehme Damen von allerlei Gesindel überlaufen werden, daß dieser Dank nicht in einer pekuniären Belohnung bestehen soll.«

Das Wesen und die Sprache der Fremden mußten Eindruck auf die stolze Witwe des reichen Mr. Blackbell und die Tochter des englischen Baronets gemacht haben, denn sie deutete auf einen Sessel und sagte:

»Nehmen Sie Platz und sagen Sie mir kurz, was Sie mir mitzuteilen haben.«

Ohne Zögern und nur mit einer artigen Verbeugung nahm die Fremde Platz, gegenüber der Lady, die sich ebenfalls setzte.

»Mylady,« sagte sie, »meine Worte werden Sie anfangs überraschen. Ich bitte Sie jedoch, mich ruhig aussprechen zu lassen. Wenn Sie erfahren, was ich Ihnen zu sagen habe, so verlange ich keinen Dank; Sie werden mir anfangs nicht glauben. Ich komme eigentlich auch gar nicht, um Ihnen einen Dienst zu erweisen. Ich will nur meinem Gewissen genügen und die Gemeinheit von einer gewissen Sorte von Männern aufdecken. Es bleibt Ihnen ganz überlassen, später zu handeln, wie Sie es für gut halten.«

»Ihre Worte sind mir durchaus rätselhaft,« sagte Lady Blackbell. »Sie würden mir einen Gefallen erweisen, wenn Sie sich möglichst kurz faßten.«

»So werde ich sogleich zur Sache übergehen, Mylady,« sagte die Fremde. »Sie lieben einen Mann, Sie wollen ihn heiraten, er hat Ihnen die Ehe versprochen, und doch sind alle seine Gedanken darauf gerichtet, dieses Versprechen zu brechen, denn er beabsichtigt eine andere zu heiraten – er weiß jedoch noch nicht, wie er sich seiner Verpflichtung entledigen soll. Er ist so weit gegangen, dem Schauspieler Wilkes Booth anzubieten, sein Nachfolger bei Ihnen zu werden, der lehnte jedoch mit der Entschuldigung ab, daß er schon früher von Ihnen abgewiesen worden sei.«

Eine Bildsäule konnte nicht starrer stehen, als Lady Georgiana bei diesen ruhig, aber scharf gesprochenen Worten der Fremden. Nur ihr Auge war lebendig und schien tausend Blitze auf die unwürdige, elende Person zu schleudern, die in dieser Weise mit ihr zu sprechen wagte. Dann plötzlich griff sie nach der auf dem Tisch vor ihr stehenden silbernen Klingel. Aber sie zögerte, zu läuten. Die Fremde sah sie so eigentümlich an, so traurig, so ernst; es lag nichts in ihren edlen Zügen, was auf Gemeinheit, auf Absicht und Lüge hindeuten könne, daß ihr der Mut zu einem entschiedenen Auftreten fehlte.

»Und wer sind Sie, daß Sie mir das sagen? Was gibt Ihnen die maßlose Kühnheit – –« stieß sie mühsam hervor, ohne den Satz zu vollenden.

»Wenn ich Ihnen meinen Stand nenne, so werde ich Ihnen als ein verworfenes Weib erscheinen,« antwortete die Fremde langsam, und dieses Mal auch mit einer gewissen Anstrengung. »Ich bin die Büfettdame eines Lokals, in dem die liederliche Jugend von Neuyork sich in Wein und Liebe berauscht und in dem sich auch Kapitän Pettow sehr häufig einzufinden pflegt.«

Dieses Mal zuckte ein glühendes Rot über die stolzen Wangen der Lady. Abscheu und Verachtung blitzten aus ihren Augen. Mit Festigkeit griff sie nach der Klingel. Aber – seltsamer Zufall – im selben Augenblick, als sie sie aufhob, fiel der kleine Klöppel aus dem Ringe auf den Tisch.

»Lassen Sie sich von diesem Zufall bestimmen, mich noch einige Minuten anzuhören, Mylady,« sagte die Fremde mit ernster, gepreßter Stimme. »Ich sage, ich könnte Ihnen verworfen erscheinen. Und doch hat nur ein einziger Mann mich berührt, ein Mann, von dem ich hoffte, daß er das Glück meines Lebens sein würde. Das schwöre ich Ihnen. Ich bin übrigens eine nahe Verwandte von Ihnen, wenn ich auch wahrscheinlich niemals das Recht und die Ehre in Anspruch nehmen werde, mich so vor der Welt zu nennen. Ich sage es Ihnen nur, um Sie zu einer Art von Rücksicht gegen mich zu zwingen, denn freiwillig werden und können Sie mir diese Rücksicht kaum gewähren. Ihr Bruder, der Baronet Stevensbury, hat eine deutsche Komtesse geheiratet, eine Gräfin Zenderstein. Der Bruder dieser Komtesse ist mein Gemahl, den ich unmittelbar nach der Trauung verlassen habe, um ihm für ewig zu entfliehen. Wenn Sie auch nur im geringsten von den Ereignissen in Ihrer Familie unterrichtet sind, so wird Ihnen diese Tatsache nicht unbekannt sein. Ich bin eine geborene von Helffenburg, Anna von Helffenburg.«

Lady Georgiana erblaßte. Sie hatte die starren, ausdruckslosen Blicke auf die Fremde gerichtet, als stehe ein Gespenst vor ihr.

»Träume ich denn?« rief sie, und sprang plötzlich auf. »Bin ich wahnsinnig? Wer wollen Sie sein?«

»Die Schwägerin Ihres Bruders,« antwortete Anna Schwartz ernst und traurig. »Indessen liegt es nicht an mir, wenn diese Ehe noch nicht getrennt ist. Unser Schicksal sieht sich leider ähnlich. Sie gaben sich, um die Ehre Ihres Vaters zu retten, einem ungeliebten Manne hin; ich tat dasselbe, als ich in eine Heirat mit dem Grafen Zenderstein willigte. Sie suchten später ihr Glück in der Liebe zu einem anderen; ich liebte, einsam hier in Amerika und dem Elend preisgegeben, jenen Booth. Ich bin verraten! Sie sind es ebenfalls, ohne es noch zu wissen. Der einzige Unterschied zwischen uns beiden ist, daß Sie die Witwe Mr. Blackbells sind und zwei Millionen Dollars besitzen, während ich, einem Gatten, den ich nie wiedersehen will, entflohen war, von dem Manne, der mir alles war, verlassen bin. Ich habe nun eine schmachvolle Stellung eingenommen, weniger um mich zu ernähren, was ich auch in anderer Weise könnte, als um mich zu rächen, oder richtiger noch, um den Elenden, der mich betrog, zu überwachen und vielleicht diese oder jene schmachvolle Tat, die er beabsichtigt, zu vereiteln. Nun, Mylady, kennen Sie mich. Die Beweise für das, was ich sage, kann ich Ihnen früher oder später beibringen. Ich komme nur zu Ihnen, um Sie beizeiten zu warnen. Kapitän Pettow ist nicht besser als Booth. Hüten Sie sich beizeiten.«

Der Stolz der Lady war gebrochen, wenigstens für jetzt. Ihre Hände griffen in die Luft und sie sank halb ohnmächtig in ihren Sessel zurück. Anna Schwartz erhob sich, ergriff ein Fläschchen mit kölnischem Wasser, das auf einem Seitentisch stand, und sprengte der Lady einige Tropfen ins Gesicht. Mistreß Blackbell erholte sich sehr schnell und mit dem Bewußtsein schien auch ihr Stolz zurückzukehren.

»Weib!« rief sie, »Sie sind entweder eine schamlos freche Lügnerin, oder – – –«

»Oder eine Leidensgenossin!« ergänzte Anna Schwartz. »Im übrigen ist es mir gleichgültig, wofür Sie mich ansehen, ob für die ebenbürtige Gräfin Zenderstein oder die Baronesse Helffenburg, oder die Büffet-Dame eines geheimen Hauses – denn ich bin das alles und bin doch um nichts schlechter, als irgend eine Lady, die ihr Herz an einen Unwürdigen verloren hat.«

»Können Sie mit den geringsten Beweis für das geben, was Sie behaupten?« fragte die Lady leise.

»Ich werde Ihnen die Geschichte meines Lebens erzählen und darin alles verflechten, was ich über den Grafen Zenderstein und seine Schwester weiß,« antwortete Anna Schwartz, und setzte sich wieder. »Sie werden daraus ersehen, daß ich die Wahrheit spreche. Indessen sollten Sie selbst an meiner Herkunft und Vergangenheit zweifeln, so können Sie doch versichert sein, daß ich in allem, was Sie betrifft, die vollste Wahrheit sage, und deshalb bin ich nur gekommen.«

»Sprechen Sie!« sagte die Lady, und stützte den abgewendeten Kopf in die Hände, ihr Gesicht war halb verdeckt.

»Ich zweifle nicht,« sagte die geheimnisvolle Besucherin, nachdem sie ihre verhängnisvolle Unterredung mit Booth in Richmond geschildert, »daß es mir vom Geschick bestimmt war, gerade diesen Mann zu lieben, und zwar als Strafe für den Betrug, dessen ich mich gegen den Grafen schuldig gemacht, wenn ich es auch aus Beweggründen tat, die vielleicht edel erscheinen können. Mein Herz war damals, als ich Booth kennen lernte, der Liebe bedürftig, es lechzte nach Liebe. Und Sie kennen Booth; er ist nicht nur ein schöner Mann, sondern auch ein Dämon, der jede Seite des Gefühls anzuschlagen versteht und eine unwiderstehliche Sprache spricht, sobald er von Leidenschaft erfüllt ist. Rechnen Sie dazu meine entsetzliche Einsamkeit, den Ueberdruß der neuen, mir wenig zusagenden Zustände, die meinen früheren Gewohnheiten so gar nicht entsprachen, und Sie werden begreifen, daß Booth seine Rolle kaum so gut zu spielen brauchte, als er es wirklich tat, um mich zu unterjochen. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß er sein ganzes Glück darin setzte, mich zu seiner Gattin zu machen. Hätte ich etwas anderes ahnen können, so würde allerdings mein Stolz über meine Leidenschaft den Sieg davongetragen haben. Wie konnte ich glauben, daß ein armer, in Schulden versunkener Schauspieler mich, die Baronesse, die Gräfin, nur als ein Spielzeug betrachtete, mit dem er sich einige Monate amüsieren wollte! Ja, Mylady, auch die Stärksten von uns sind nur ärmliche Geschöpfe, wenn unsere Leidenschaft erweckt ist, und wenn wir die innere Festigkeit verloren haben! Natürlich war es meine Absicht, meine Ehe trennen zu lassen, und ich schrieb in dieser Angelegenheit mehrere Briefe an den Grafen Zenderstein, in denen ich ihm offen mitteilte, wie ich über ihn dachte, und ihm volle Freiheit gab, meine Handlungsweise als Scheidungsgrund anzuführen. Erst gestern ist mir klar geworden, warum ich nie eine Antwort erhielt. Booth hat meine Briefe unterschlagen, weil er eine Heirat mit mir nicht wollte, und weil ich ihn doch nicht heiraten konnte, so lange ich nicht von dem Grafen getrennt war.

»Soll ich Ihnen beschreiben. Mylady, was ich empfand, als in mir die Ahnung aufdämmerte, daß Booth meiner überdrüssig sei und mich ebenso plötzlich verlassen werde, als er zu mir gekommen? Sie werden Aehnliches bald empfinden lernen, deshalb verschone ich Sie mit der Schilderung meiner Qualen. Ich war lange Zeit unschlüssig, ob ich mich oder ob ich Booth töten sollte. Jede Hoffnung, ihn dauernd an mich zu fesseln, verschwand, als ich seine Vergangenheit erfuhr. Ich hatte einen Gott geliebt und fand einen Teufel in ihm. Daß es mit allem, was das Leben dem Menschen bietet, für mich vorüber sei, wußte ich. Ich kennte keines ehrlichen Mannes Frau mehr werden; ich war völlig gebrochen. Andere hätten mich vielleicht entschuldigt; ich verdammte mich selbst erbarmungslos. Ich überlegte nur, wie ich dieses Leben in Zukunft noch ertragen könne; ich fragte mich, ob es für mich irgend noch einen Zweck des Daseins gebe, und ich kam endlich, wie ich Ihnen schon andeutete, zu der Erkenntnis, daß es mir vielleicht noch vergönnt sei, andere vor meinem Schicksal zu bewahren und mich an dem zu rächen, der gewissenlos den schwachen Moment erspäht, der sich vielleicht jedem Weib einmal darbietet – an ihm und an seinen Genossen. Ich löste selbst das Verhältnis, in dem er zu mir stand. Mir ekelte vor ihm. Ich ließ ihn glauben, daß auch ich seiner überdrüssig sei, und daß der kurze Rausch, den ich durchlebte, alles, was von Leidenschaft in mir ist, verzehrt habe. Ich wurde das kalte, überlegende Weib, das ich jetzt bin oder zu sein scheine. Booth ist mir fremder geworden als irgendein anderer Mensch der Erde. Ich begreife nicht mehr, daß ich ihn in meinen Armen gehalten habe. Wenn ich nicht wüßte, daß mein Herz sich noch zuweilen regt, wenn ich von Gemeinheit und Unrecht höre, so würde ich glauben, daß mein Herz von Stein geworden sei. Deshalb nahm ich die Stellung an, die Booth mir bot. Sie ekelt mich an; aber ich sehe ihn und seine Genossen fast täglich, und ich bereue es nicht, daß ich in den Vorschlag eingegangen bin, den er mir machte. Denn ich bin heute imstande, Ihnen einen Dienst zu leisten. Sie sind geopfert, das unterliegt keinem Zweifel. Aber Sie werden nun wenigstens nicht blind ins Verderben rennen. Sie werden Ihre Würde aufrechterhalten.«

Vollkommen regungslos hatte die Lady zugehört, sie regte sich auch nicht, als Anna Schwartz eine kurze Pause machte. Dann erzählte sie, wie sie am vergangenen Abend Zeugin der Unterredung zwischen Ralph Pettow und Wilkes Booth gewesen. Zur Erklärung fügte sie hinzu, daß sie schon früher in dem Klub über das Verhältnis Ralphs zur Lady sprechen hörte, und daß sie aufmerksam geworden sei, als sie den Familiennamen der Lady, Stevensbury, hörte. Sie habe dann aus den einzelnen Andeutungen, die sie vernommen, im allgemeinen den Zusammenhang erraten. Da sie mit den Räumlichkeiten vollkommen vertraut war, hatte sie sich in ein kleines Zimmer begeben, das sich neben dem Kabinett befand, in das sich Ralph und Booth zurückgezogen hatten, und von dem aus sie alles sehen und hören konnte, was in dem Kabinett vorging. Booth hatte es früher selbst benutzt, um einige Bekannte zu belauschen. Anna Schwartz wiederholte das Gespräch zwischen den beiden Männern zum Teil wörtlich und schloß mit den Worten, daß es ihr nicht als unmöglich erscheine, Ralph könne selbst zum Gift greifen, um die ihm lästigen Bande loszuwerden.

Lady Georgiana hatte in der Tat ihre Ruhe wiedererlangt, oder sie zwang sich doch zu einem wenigstens äußerlich ruhigen Auftreten – sie war jetzt ganz die Tochter des englischen Baronets, als sie sich jetzt erhob.

»Ich sehe wohl, daß ich Ihnen zu danken habe,« sagte sie, »denn ich zweifle nicht an Ihrer Aufrichtigkeit, obwohl Sie sich in Einzelheiten geirrt haben können. Kapitän Pettow wird sich mit Mr. Booth einen Scherz gemacht haben, der freilich nicht zu billigen ist, aber unter Männern kommt das wohl öfters vor. Ich werde sofort nach England schreiben und mich genau nach den einzelnen Umständen der Verheiratung des Grafen Zenderstein erkundigen. Gewinne ich die Ueberzeugung, daß Ihre Angaben richtig sind, so erlauben Sie mir wohl, Ihnen meine Dienste anzubieten, um Ihnen Ihre Stellung angenehmer zu machen und eine Auflösung der Ehe herbeizuführen.«

»Ich danke Ihnen, Mylady,« antwortete Anna Schwartz, die sich erhoben hatte; sie war vollkommen ruhig und ohne eine Spur von Gereiztheit. »Ich werde meinen Weg durch das Leben allein gehen und bedarf keiner Unterstützung. Ich habe Sie gewarnt; an Ihnen ist es, meine Warnung zu benutzen oder nicht, ganz wie Sie wollen. Hier ist meine Adresse,« sie legte ein Blatt Papier auf den Tisch. »Rufen Sie mich, wenn Sie meiner bedürfen.«

Und ohne ein weiteres Wort der stolzen Lady abzuwarten, verneigte sie sich leicht und verließ das Zimmer.

Als die Kammerfrau eine Viertelstunde später leise eintrat, fand sie Mistreß Blackbell ohnmächtig auf der Erde liegen und erst nach längeren Bemühungen gelang es ihr, die Lady ins Bewußtsein zurückzurufen.

*

Um die gleiche Zeit saß Mr. Everett, einer der reichsten Bankiers von Neuyork, in seinem Kontor auf dem Broadway. Er ging nicht mehr nach der Börse; seine Gesundheit hatte in den beiden letzten Jahren gelitten. Ralph Pettow, der Sohn eines seiner verstorbenen Vettern, verwaltete fast unumschränkt die Geschäfte des Hauses. Allerdings war Ralph auch Soldat. Aber bei der eigentümlichen Art der Kriegsführung – zwischen den einzelnen Schlachten entstanden meist monatelange Pausen –, sowie bei der eigentümlichen Stellung der Freiwilligen, erhielt der Kapitän sehr häufig Urlaub und kam oft auf Wochen und Monate aus dem Lager herüber, um die Geschäfte seines Verwandten zu führen.

Mr. Everett war ein kleiner, feiner, fast zart gebauter Mann von schwächlichem Aussehen. Wie er so an seinem Pult saß, das Auge auf die Papiere gerichtet, ohne sich mit ihnen zu beschäftigen, glich er eher einem Träumer, als einem rastlos tätigen Geschäftsmanne, der sich allein durch seine eigene Kraft Millionen erworben hatte. Seine Wangen waren eingefallen, seine grauen Locken dünn geworden. Vor dem Verschwinden Richards war er ein rüstiger, tätiger Mann gewesen, die Seele seines Geschäfts. Nun war er plötzlich alt geworden. Früher hatte man ihm seine sechzig Jahre kaum angesehen; jetzt hielt man ihn für einen Siebziger. Man glaubte allgemein, Richard sei das Kind einer Dame, die Mr. Everett in seiner Jugend geliebt hatte. Er hatte sie aber nicht heiraten können, und so war sie später die Gattin eines anderen Mannes geworden. Sie sollte bei der Geburt Richards gestorben sein und ihr Mann folgte ihr bald ins Grab nach. Mr. Everett sprach nie darüber. Aber er liebte Richard wie seinen eigenen Sohn. Er selbst war nie verheiratet gewesen.

In dem Geschäft war es um diese Zeit ziemlich still. Die ersten Kontoristen – darunter schon ergraute Männer – befanden sich teils auf der Börse, teils in Geschäften außerhalb. Niemand störte ihn in seinem einsamen Kontor. Ueber dem einfachen Pult hing ein gut getroffenes kleines Oelbild Richards, das einzige, was ihm von seinem Adoptivsohn geblieben war. Er blickte zuweilen hinauf, zog dann, wie er es oft getan, den kurzen Brief, den Richard im Auftrage Stauntons an ihn geschrieben hatte, aus einem geheimen Fach des Pultes, zog einen anderen Brief des jungen Mannes, aus der Zeit vor dem Kriege, hervor und verglich, wie er es ebenfalls sehr oft getan, die beiden Briefe miteinander.

Dann schüttelte er traurig den Kopf, seufzte tief auf und versank wieder in Nachdenken.

Die Tür, die nach dem Kontor führte, öffnete sich, und Mr. Everett wandte sich um und erblickte die hohe und ansehnliche Gestalt Mr. Büchtings.

»Ah, Du bist es!« rief er, ihm die Hand entgegenstreckend. »Willkommen! Ich sitze hier und grüble, wie so oft. Du bringst mir Sonnenschein mit, wie immer! Wie geht es Mistreß Büchting? Was macht Eliza?«

Mr. Büchting schüttelte ihm herzlich die Hand und gab ihm die verlangte Auskunft. Dann lenkte er das Gespräch auf die Tagesneuigkeiten. Aus dem Süden waren gute Nachrichten eingetroffen. Die Unionstruppen hatten einige nicht unbedeutende Vorteile über die Rebellen errungen, und da man jetzt von seiten des Nordens nach einem bestimmten Plane zu handeln begann, war mehr Einheit in die Führung der Truppen gebracht. Da man gewaltigere Streitkräfte aufbot, so ließ es sich voraussehen, daß der Norden bald dauernde Vorteile erringen werde.

Dann sprachen sie über geschäftliche Angelegenheiten; Mr. Büchting hatte eine bedeutende Summe nach Europa zu senden und Mr. Everett sollte die Vermittlung übernehmen.

»Also meinem Liebling geht es gut?« sagte der Bankier dann. »Wie kann es auch anders sein! Und hat immer noch kein Glücklicher Eindruck auf ihr Herz gemacht?«

»Nein,« antwortete Büchting ernst. »Sie kann nun einmal Richard nicht vergessen, und ich tue ihr keinen Zwang an. Traurig würde es freilich sein, wenn mein einziges Kind dem höchsten Glück dieser Erde entsagen müßte. Aber sie soll nur eine Ehe nach ihrem Herzen schließen und findet sie keinen, zu dem es sie hinzieht – nun, so ist das leider nicht zu ändern.«

»Wenn ich daran denke, wie glücklich wir in dem Gedanken waren, daß Richard und Eliza sich gefunden!« sagte Mr. Everett, den Kopf in die Hand stützend. »O Gott – wenn ich wenigstens wüßte, wie er geendet! Ich kann mich immer noch nicht der Zweifel erwehren. Diese entsetzlichen Kriegszeiten können ihn verhindert haben zu schreiben, oder die Briefe können verloren gegangen sein – –«

»Mein lieber, teurer Freund,« unterbrach ihn Büchting bewegt, »Du mußt Dich mit männlicher Geduld in das Schicksal ergeben. Gott weiß es, daß Richards Rückkehr für mich eine Freude sein würde, wie sie mir vielleicht nie größer zuteil geworden ist, aber ich gestehe Dir, daß ich jede Hoffnung aufgegeben habe. Die Zeit ist zu lang – –«

»Aber man hätte doch seine Leiche finden müssen!« unterbrach ihn Mr. Everett.

»Freilich, freilich!« sagte Büchting. »Aber wie viele traurige Umstände können es veranlaßt haben, daß die Leiche verborgen blieb! Es ist vieles rätselhaft in diesem Morde oder in diesem Verschwinden, das muß auch ich immer wieder eingestehen. Aber da jedes Lebenszeichen nun schon seit so langer Zeit ausgeblieben ist, so wäre es Schwäche, jetzt noch auf eine glückliche Nachricht zu hoffen. Staunton, der Elende, hat gewiß um seinen Tod gewußt. Aber auch er ist tot.«

»Und diese wunderbare Aehnlichkeit der Handschriften!« rief Mr. Everett. »Strich für Strich, Buchstabe für Buchstabe! Kann ein Betrüger eine fremde Handschrift so genau nachahmen?«

»Das findet man leider nur zu oft,« sagte Mr. Büchting, auf die beiden Briefe deutend, die Mr. Everett ihm hingeschoben hatte. »Ich finde Pettows Auffassung richtig, der ja auch wohl vom ersten Augenblicke an behauptet hatte, daß die Handschrift nachgeahmt sei. Jener Staunton war entweder der Mörder, oder er wußte um den Mord. Deine zahlreichen Ankündigungen und Nachforschungen machten ihn darauf aufmerksam, daß er von Dir noch Geld erpressen könne, wenn er Richard als lebend hinstelle. Er ließ einen jungen Mann, der offenbar in das Geheimnis eingeweiht war, Richards Rolle spielen und seine Handschrift nachahmen – Briefe und andere Schriftstücke von Richards Hand haben sie wohl genug in seiner Brieftasche gefunden. Dann wird Stauntons Genosse auf den Gedanken gekommen sein – oder jener andere Mann, von dem uns Pettow erzählte, hat ihn ihm eingegeben, Staunton zu ermorden; sie haben das Geld erhoben und wären beinahe entkommen. Wenn Pettow mit Bestimmtheit behauptet, daß jener Mensch, der sich für Richard ausgegeben hat, nicht Richard gewesen sei, so ist es unmöglich, an der Betrügerei zu zweifeln. Wer Richard so genau kennt, wie Ralph, kann sich doch unmöglich irren!«

»Freilich, freilich!« seufzte Mr. Everett traurig, und in seinen blauen, klaren Augen standen Tränen.

»Was Dich noch immer hoffen läßt, das ist, ich weiß es wohl, die wunderbare Aehnlichkeit der Handschriften,« fuhr Mr. Büchting fort. »Aber ich habe Nachahmungen gesehen, die von dem Original nicht zu unterscheiden waren. Glaube nur, auch uns, meiner Frau und mir – von Eliza will ich gar nicht sprechen! – ist mit Richard die schönste Hoffnung unseres Lebens verloren gegangen. Trösten wir uns, so gut wir es können, mit dem Gedanken, daß gerade unsere schönsten Hoffnungen sich nie erfüllen. Eliza ist am meisten von uns zu beklagen. Ich möchte nur wissen, von wem das Gerücht ausgeht, daß Ralph Pettow der Zukünftige Elizas sei? Jedermann spricht mich darauf an. Und doch weiß ich besser als irgend jemand, daß Eliza dem Kapitän nie die geringste Hoffnung gemacht hat. Ja, er selbst, wenn er auch Eliza lieb zu haben scheint, hat noch keine Schritte getan, die auf eine bestimmte Absicht hindeuten können – und zwar aus dem sehr richtigen Gefühl, daß sie vergeblich sein würden.«

»Auch mir spricht man häufig davon,« sagte Mr. Everett, »und ich höre es ruhig mit an, denn am Ende könnte es mich ja nur freuen, wenn die Reden Wahrheit würden.«

»Aber es ist unmöglich!« sagte Mr. Büchting ernst und bestimmt. »Eliza hat einen unüberwindlichen Widerwillen gegen Ralph. Sie hat ihn immer gehabt, und wenn sie auch in der letzten Zeit Ralph gegenüber einen scheinbar freundlicheren Ton angenommen hat, so weiß ich doch, daß sie noch genau so über ihn denkt wie früher. Sie spricht sich nicht darüber aus; aber meine Frau sagt mir, Eliza möge vielleicht von allen Menschen den Kapitän am wenigsten leiden. Ja, sie geht so weit, zu behaupten, daß Ralph niemals Richards guter Freund gewesen sei.«

»Das ist wohl zu viel!« sagte der sanfte Mr. Everett fast betroffen.

»Nun, sie denkt einmal so, und deshalb hat Ralph keine Hoffnungen,« erwiderte Mr. Büchting. »Wir werden ihr diesen Gedanken nicht ausreden. Und soll ich Dir die Wahrheit sagen, liebster Freund, so hege auch ich ein gewisses Mißtrauen gegen den Kapitän. Er spricht und handelt uns gegenüber anders, als er es im gewöhnlichen Leben tut. Wir halten ihn für einen soliden, gesetzten Menschen. Draußen sagt man ihm nach, daß er einer der eifrigsten Besucher der geheimen Klubs sei, in denen so viele unserer jungen Leute untergehen. Uns gegenüber scheint er ein wütender Republikaner und Abolitionist zu sein, dagegen habe ich erfahren, daß er mit den Rebellen in Verbindung steht. Ich will gerade nicht sagen, daß er ein Verräter sei; so weit gehen meine Nachrichten nicht. Aber ausfällig bleibt es immer, daß er mit erklärten Rebellen noch in Briefwechsel oder sonstiger Verbindung steht.«

»Weißt Du das ganz genau?« fragte Mr. Everett.

»Ich kann nicht daran zweifeln,« erwiderte Büchting. »Es liegt überhaupt etwas in seinem kalten, glatten Wesen, das mir ein gewisses Mißtrauen einflößt. Er scheint stets auf seiner Hut zu sein, und das macht ihn mir verdächtig. Ich will lieber junge Leute aufbrausen und eine Unvorsichtigkeit begehen sehen, als daß sie stets mit der Verschlagenheit eines alten Diplomaten eine studierte Rolle spielen. Seihe Deklamationen gegen die Rebellen und gegen die Gemäßigten in unserem eigenen Lager tragen den Stempel des Uebertriebenen, des absichtlich Gemachten. Ich weiß, daß er sonst sehr aristokratischer Gesinnung ist, und vor einem Neger habe ich ihn, als er sich unbemerkt glaubte, ausspeien sehen.«

»Es wäre traurig, wenn ich mich nun auch in Ralph täuschte, nachdem ich Richard schon verloren habe!« sagte Mr. Everett mit einem tiefen Seufzer. »Es ist keine Kleinigkeit, in wessen Hände man ein bedeutendes Vermögen legen soll, und von allen Lastern erscheint mir die Heuchelei als das schlimmste. Wenn ich an Richard denke ...«

»Ja, Richard!« seufzte Mr. Büchting. »Das war ein Mann nach unserem Herzen. Aber ich möchte die Hoffnung nicht ganz aufgeben, daß er wiederkehrt. In diesem gewaltigen Kriege kann ein Mensch verschwinden, aber er braucht nicht verloren zu gehen. Nimm einfach an, Richard sei südstaatlichen Werbern in die Hände gefallen. Sie hätten ihn verwundet aufgefunden, seine Papiere geraubt und später gezwungen, bei ihnen einzutreten. Möglich, daß er tot ist – aber es kann ihm vielleicht auch nicht gelungen sein, uns Nachricht zu geben – –«

»Nein, lieber Freund, Du willst mich trösten, mir eine süße Hoffnung lassen!« unterbrach ihn Mr. Everett traurig. »Ich hoffe aber nichts mehr!«

Mr. Everetts Kontor befand sich zur ebenen Erde; er hatte, da es ein sonniger Märztag war, das Fenster geöffnet. Jetzt ging der Briefträger unter dem Fenster vorbei, und da er es sehr eilig zu haben schien, so sagte er: »Bitte Sir,« und reichte ihm zwei Briefe in das Fenster. Es war dies ein seltener Fall. Ralph Pettow hatte es so einzurichten gewußt, daß sämtliche Briefe, auch wenn sie die Privat-Adresse Mr. Everetts trugen, durch seine Hand gingen. Erst in der allerletzten Zeit hatte er in seiner Aufmerksamkeit nachgelassen. Der Mann, dessen Briefe er zu fürchten hatte, war ja tot. Mit seinen eigenen Augen hatte er ihn erschießen sehen. Und auch der verräterische Staunton war tot. Von dieser Seite also war nichts mehr zu befürchten. Nur die Mitteilungen, die Richard in Toledo gemacht haben konnte, waren lange Zeit ein Gegenstand quälender Befürchtungen für den Mörder gewesen, und er hatte sämtliche Briefe, die von dort kamen, geöffnet, ehe er sie Mr. Everett übergeben hatte. Merkwürdigerweise aber war in ihnen nie von Richard die Rede gewesen, so daß Ralph zu glauben angefangen hatte, es liege entweder ein Irrtum vor, oder Richard habe aus ihm ganz unerklärlichen Gründen seine Vergangenheit verschwiegen.

Aber wie hatte Ralph selbst unter diesen Umständen erfahren können, daß sich Richard in Toledo befinde? Er war durch Staunton darauf aufmerksam gemocht worden. Der Freischaren-Kapitän hatte auf einem seiner Streifzüge in West-Virginien oder Tennessee erfahren, daß deutsche Einwanderer mit einem schwer verwundeten jungen Mann gegen Westen gezogen seien. Staunton, der den wahren Zusammenhang ahnte, hatte sich eine genaue Beschreibung des Verwundeten machen lassen und sich dann an Pettow gewandt. Von entsetzlicher Besorgnis ergriffen, Richard könne wieder auftauchen, hatte Staunton die Wahrheit gesagt und ihm den Auftrag gegeben, Richards Spur zu folgen und das auszuführen, was ihm mißlungen war.

Die Verhältnisse hatten diesen Plan insofern begünstigt, als Staunton wegen Fälschung und anderer Verbrechen sich genötigt sah, seine Stellung als Freischaren-Kapitän aufzugeben. Es hieß auch, er habe die Flucht eines Schwarzen aus dem Gefängnis in Richmond begünstigt, und das war eine der schwersten Missetaten in den Augen der Südländer. Genug, Staunton war nach dem Westen gezogen, teils um dort in der texanischen Rebellen-Guerilla zu kämpfen, teils um den Versuch zu machen, sich Richard zu nähern, dessen Aufenthalt in Toledo er ausgekundschaftet hatte. Wie diese Unternehmung geendet, ist erzählt worden.

Im übrigen war Ralph darauf gefaßt gewesen, von Richard oder von den Leuten, denen der junge Mann den Mordanfall mitgeteilt hatte, angeklagt zu werden, und er hatte seine Verteidigung bereits entworfen. Er wollte einfach leugnen und Richard für einen Verleumder erklären, dessen Beweggründe zu einer so wahnsinnigen Behauptung ihm unerklärlich seien. Um Richard zu verdächtigen, hatte er bereits einige falsche Dokumente anfertigen lassen, denen zufolge Richard als ein Wüstling erscheinen mußte, der seinen Vater um große Summen betrogen und deshalb vielleicht Entdeckung von seiten Ralphs fürchtete. Ehe das Gewirr von Anklagen und Gegenanklagen sich aufrollen konnte, hoffte Ralph sich seines Feindes für immer zu entledigen. Alle diese fein ausgeklügelten Manöver waren nun überflüssig geworden. Seit dem Tode Stauntons und Richards war Ralph ganz sicher. Ja, falls von Arizona aus Meldungen kämen, daß Richard dort wirklich gelebt habe, ließ sich jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit behaupten, jener Richard sei ein Betrüger gewesen, der im Einverständnis mit Staunton eine große Komödie aufgeführt, um alle Welt zu betrügen. Ralph wußte recht gut, daß die unbewiesene Behauptung, er, Ralph, habe seinem besten Freund Richard nach dem Leben getrachtet, bei jedermann Mißtrauen erwecken müsse. Und zu beweisen war sie nun nicht mehr. Ralph fühlte sich so sicher wie nie. Alles schien ihm zu gelingen. Auch Georgianas hoffte er sich auf gute – und ging das nicht, auf böse – Manier zu entledigen ...

Die beiden Briefe trugen die Privatadresse Mr. Everetts. Der eine war aus Athens, im Staate Ohio. Mr. Everett las ihn zuerst, fuhr zurück, las nochmals und gab ihn endlich Mr. Büchting. Dieser las ihn und sah, daß er von einem Geschäftsfreunde Mr. Everetts geschrieben war. Der Inhalt des Briefes bestand in folgendem:

Vor sechs Tagen war ein alter, hinkender Neger in der Umgegend von Athens halb sterbend gefunden worden. Man hatte ihn nach der Stadt und in ein Hospital gebracht und bei der Untersuchung ein altes, halb zerrissenes Notizbuch bei ihm gefunden, in dem Briefkuverts mit der Aufschrift Richard Everett waren. Dem Geschäftsfreunde Mr. Everetts war das sogleich aufgefallen. Er hatte sich des Mordes erinnert und deshalb sofort Sorge getroffen, das Notizbuch, sowie alle anderen bei dem Neger gefundenen Gegenstände gerichtlich deponieren und den Neger selbst sorgsam überwachen und ausforschen zu lassen. Bis jetzt war er noch zu krank um zu sprechen. Man fürchtete auch seinen baldigen Tod.

»Nun, was ist das?« fragte Mr. Everett, dessen Blicke in fieberhafter Ungeduld an der Miene des lesenden Mr. Büchting gehangen hatten. »Was meinst Du? Bisher glaubte ich, das Notizbuch sei in die Hände jenes Staunton gefallen und er habe die Handschrift Richards nachgeahmt.«

»Das schien uns allerdings wahrscheinlich,« sagte Mr. Büchting nachdenklich. »Indessen war es wohl nicht allzu schwer, auf andere Weise Geschäftsbriefe, die Richard geschrieben hat, in die Hände zu bekommen. Die Hauptsache ist, zu erfahren, wie der Neger Richards Notizbuch erlangt hat, von wem und wann er es erhalten. Es ist wohl keine Frage, daß Du sogleich nach Athens hinüberfährst. Oder soll ich es tun?«

»Nimmermehr! Willst Du mich begleiten, gut! Ich fahre auf jeden Fall. Ich werde sogleich Ralph benachrichtigen lassen.«

»Da ist wohl noch ein zweiter Brief,« sagte Mr. Büchting, als Mister Everett, vor Erregung ganz außer sich, mit zitternder Hand seinen Hut suchte.

Der Bankier nahm sich kaum die Zeit, den Brief zu öffnen. Aber als er es getan, brach er in einen freudigen Ausruf aus.

»Von Dantes!« rief er.

»Von Dantes?« rief Mr. Büchting hocherfreut. »Und was schreibt er?«

»Er kommt in den nächsten Tagen hier an,« antwortete der Bankier. »Er befindet sich jetzt in Chicago – bittet mich, ihm in einem der entlegensten Quartiere der Stadt eine Wohnung zu besorgen, für sich und einen Beamten, eine Wohnung, in der sich niemand um die beiden Mieter kümmern würde, und bei ganz sicheren Leuten. Es sei ein Geheimnis dabei, schreibt er, das – das auch mich vielleicht angehe. Nun, das verstehe ich nicht. Ich kenne nur ein Geheimnis, das ich durchforschen möchte, das von dem Verschwinden meines armen Jungen. Aber wer soll ihm nun die Wohnung besorgen? Ralph kann es tun. Doch – hier steht eine Nachschrift. Außer mir und Büchting, schreibt er, solle niemand um seine Ankunft wissen. Ja, was ist da zu tun? Du wirst die Wohnung besorgen müssen, lieber Freund.«

»Ich wäre gern mit Dir gereist,« sagte Büchting. »Wohin sollen wir ihm denn antworten?«

»Wir sollen die Adresse postlagernd auf dem Bahnhof der West-Eisenbahn abgeben,« sagte Mr. Everett, noch immer lesend. »Noch einmal schreibt er: Niemand außer Büchting darf darum wissen.«

»Ja, was ist da zu tun?« sagte Büchting. »Die Wohnung müssen wir besorgen, das dürfte nicht schwer sein.«

»Bleib Du hier,« sagte Mr. Everett. »Ich werde mit Ralph nach Athens reisen.«

»Es will mir nicht in den Kopf, daß ich nicht dabei sein soll,« erwiderte Büchting überlegend. »Auch könnt Ihr Beide, Du und Ralph, wohl nicht zusammen im Kontor fehlen.«

»Nun, das ließe sich schon einrichten,« sagte Everett.

»Um welche Uhr geht ein Zug nach Athens?« fragte Büchting.

»Um sechs Uhr abends geht ein Schnellzug,« antwortete der Bankier.

»Gut denn, bis dahin habe ich die Wohnung besorgt!« rief Büchting. »Wir treffen uns eine Viertelstunde vor sechs Uhr auf dem Bahnhof.«

»Abgemacht!« sagte Mr. Everett. »Ich denke, unser verehrter Freund würde am besten bei Mr. Smith, meinem früheren Kontordiener aufgehoben sein, der jetzt da drüben, ganz am Westende ein Häuschen besitzt.«

»Kennt er Dantes?« fragte Büchting.

»Halt – ja, das wäre möglich! Er mag ihn damals in meinem Hause gesehen haben,« antwortete der Bankier.

»Dann laß nur gut sein, Freund,« sagte Mr. Büchting. »Ich werde schon eine Wohnung finden. Ich schreibe dann in dem Brief zugleich an Dantes, daß wir nach Athens gereist sind und in welchen Angelegenheiten.«

»Ja,« rief Everett. »Ich will sogleich nach der Börse fahren und Ralph sagen, daß er sich für die Reise heute abend fertig hält.«

Die beiden Freunde trennten sich mit einem herzlichen Händedruck. Mr. Everett kleidete sich an und fuhr in dem kleinen, aber sehr praktischen und gefälligen Einspänner, den er für seine geschäftlichen Fahrten benutzte, nach der Börse. Er hatte Ralph bald gefunden und reichte ihm als beste und kürzeste Erklärung den Brief aus Athens.

Ralph verfärbte sich, wie immer, wenn Richards Name ganz plötzlich genannt wurde – und entschuldigte sich gewöhnlich, wenn er beobachtet wurde, mit dem Schrecken, den diese traurige Erinnerung stets in ihm hervorriefe. Aber er war sogleich gefaßt. Was konnte man ihm anhaben? Der Neger war durch Zufall in den Besitz der Brieftasche gekommen – wer weiß, wo Richard sie verloren! Die Beiden, deren Existenz ihm hätte gefährlich werden können, Staunton und Richard, waren ja tot!

»Natürlich begleite ich Sie, Oheim!« rief Ralph. »Es wird leider nichts bei der Reise herauskommen. Doch, man darf nichts unversucht lassen, den wahren Mörder zu entdecken. Wenn der Neger nur nicht stirbt, ehe wir kommen!«

»Hoffen wir!« sagte Mr. Everett. »Aber woher glaubst du wohl, daß der Betrüger, der sich für Richard ausgab, die Originale genommen, um Richards Handschrift nachzuahmen, wenn er die Brieftasche nicht besaß?«

»Er wird sich andere Briefe zu verschaffen gewußt haben,« antwortete Ralph ruhig. »Vielleicht hat auch der Neger die Brieftasche erst in der letzten Zeit in die Hände bekommen. Nun, wir werden das Alles erfahren, Oheim!«

Die Beiden kehrten zusammen nach Hause zurück. Ralph schrieb einige Zeilen an Georgiana, beurlaubte sich bei seinem militärischen Vorgesetzten und traf pünktlich 15 Minuten vor sechs mit Mr. Everett am Bahnhof ein. Mr. Büchting erwartete sie bereits.

Die Fahrt nach Athens ist nicht kurz. Erst am Abend des andern Tags trafen sie dort ein. Doch begaben sie sich trotz der späten Stunde nach der Wohnung des Geschäftsfreundes, Mr. Fernau, der telegraphisch von ihrer Ankunft benachrichtigt war, und der ihnen in seinem Hause Quartier bereitet hatte.

»Lebt der Mann noch?« fragte Mr. Everett sogleich.

»Er lebt noch!« antwortete Mr. Fernau. »Ich habe soeben nach dem Hospital gesendet und die Nachricht erhalten, daß er zwar sehr schwer krank, aber nicht ohne Besinnung sei.«

»Und können wir ihn jetzt noch sehen und sprechen?«

»Das wird, da ich den Vorstand benachrichtigt habe, wahrscheinlich möglich sein,« antwortete Fernau.

»So gehen wir!« rief Mr. Everett.

Das Hospital, in dem der kranke Neger sich befand, war das ärmste der Stadt. Man hatte ihn, da vorauszusehen war, daß gerichtliche Nachforschungen stattfinden würden, in ein abgesondertes kleines Zimmer bringen lassen. Dort lag er regungslos, tief röchelnd, auf einem ärmlichen Bett. Der Arzt der Anstalt und der Vorsteher waren zugegen. Nach einem Richter war geschickt worden. Der Arzt untersuchte den Kranken und erklärte den Zustand für bedenklich; der Mann könne jeden Augenblick sterben, sagte er. Seine Versuche, ihn zu erwecken und zur Besinnung zu bringen, waren vergeblich. Er mußte also gewaltsame Mittel anwenden, und gab ihm sogleich einige Tropfen einer scharf riechenden Flüssigkeit ein. Das wirkte. Der Neger, ein häßlicher, von Hunger und von der Krankheit zu einem Skelett zusammengeschrumpfter Mensch, riß die Augen auf und blickte die Herren, die um sein Bett herum standen und von dem Lichte zweier Kerzen hell beleuchtet waren, lange mit starren, gläsernen, halb gebrochenen Augen an.

Mr. Everett hatte sich zu ihm niedergebeugt und fragte ihn leise:

»Wo hast Du die Brieftasche gefunden? Der Mann, dem sie gehörte, war mein lieber Sohn. Ich will nichts wissen, als wo Du sie gefunden.«

»Bob – sie genommen – von einem armen toten, feinen jungen Massa,« sagte der Neger mit abgebrochener Stimme, während sein Blick unverwandt auf Ralph ruhte. »Weißer Massa erschossen sein von weißem Manne. Bob Pferd, Geld und Papier genommen – das wahr sein.«

Dann verging ihm die Kraft. Er rang vergebens nach Worten.

Ralph war, ohne es zu wissen, bleich geworden. Hatte denn seine entsetzliche Tat wirklich einen Zeugen gehabt? Oder schwatzte der Neger, dem er am liebsten mit einem einzigen Schlage den Schädel zerschmettert hätte, Unsinn?

»Wir sind leider zu spät gekommen, Mr. Büchting,« sagte er, um doch etwas zu sprechen. »Aus diesem Manne wird nichts mehr herauszubringen sein.«

Dem schien nicht so. Der Name schien auf Bob gewirkt zu haben.

»Welcher Massa Büchting sein?« fragte er fast hastig.

»Ich bin es,« antwortete Büchting, auf ihn zutretend. »Hast Du mir etwas zu sagen?«

»Ja, aber Massa Büchting allein,« antwortete der Neger, und man sah, wie er alle seine Kraft zusammennahm.

Die anderen traten ein wenig zur Seite; Büchting beugte sich zu dem Kranken nieder.

»Massa Büchting guter Mann sein,« flüsterte dieser. »Alle schwarzen Männer Massa Büchting kennen, Bob auch. Bob auch vor zwei Jahren zu ihm kommen wollen – Bob gerade auf dem Wege sein, als zwei Reiter kommen – Bob sich fürchten und verbergen. Der eine Massa ein Pistol nehmen und den andern totschießen und wieder fortreiten. Bob Geld und Papiere nehmen – weil ein armer Mann. Bob nicht viel davon behalten. – Und im Herbst – in der Nacht, in einer Hütte Bob denselben Massa sehen, der mit einem von den Negerschlächtern sprechen – Bob nicht alles verstanden, nur hören, daß der Massa ein Verräter sein und mit Negerschlächter Staunton unter einer Decke spielen – Ueberfall auf Liberty-Plantation zusammen verabredet haben, um Massa Büchting zu täuschen –«

Seine Worte stockten ihm in der röchelnden Kehle.

»Ja, aber um Gottes willen, kannst Du mir den Mörder nicht genauer bezeichnen?« fragte Büchting, dem alles Blut zum Herzen getreten war.

»Er hier sein – schwarzköpfiger junger Mann dort,« flüsterte der Neger mit letzter Anstrengung.

Mr. Büchting blieb in derselben Stellung, ohne sich zu regen, aber er wußte eine Minute lang nicht, wo er war. Die Nachricht war zu entsetzlich und kam zu unerwartet! Der einzige schwarzköpfige junge Mann, der sich im Zimmer befand, war Ralph! Es wurde ihm dunkel vor den Augen – aber als er sich emporraffte, sah er, daß der Neger im Sterben lag, daß ihm die Augen brachen. Der Arzt eilte herbei, mühsam erhob sich Mr. Büchting.

»Mein Gott, was ist Dir?« rief Everett, auf ihn zueilend. »Du siehst ja leichenblaß aus!«

»Ja, um Himmelswillen, was ist Ihnen?« rief auch Kapitän Pettow. »Was hat Ihnen der Mann gesagt?«

»Er hat mir einen – großen Verrat mitgeteilt, der an – mir verübt worden!« antwortete Büchting mühsam.

»Wie, welcher Art?« fragte Pettow, der die Hände zusammengeballt hatte, um das Zittern zu verbergen.

»O, ein ander Mal davon,« antwortete Mr. Büchting. »Es betrifft nur mich.«

Der Arzt war um den Sterbenden beschäftigt. Der Richter kam. Zu spät! Noch einige Zuckungen, dann streckten sich Bobs Glieder, als ob er unsäglich müde sei – ein letzter Atemzug, der Neger war tot.

Mr. Everett stand mit gefalteten Händen, ebenso Mr. Büchting. Ralph Pettow, dessen Blicke unruhig sich immer wieder zu Mr. Büchting wandten, folgte ihrem Beispiel. Es herrschte tiefes Schweigen in dem Zimmer, das Alle dann gemeinschaftlich verließen. Der Kapitän begann zuerst zu sprechen, als ob ihn das Schweigen drücke. Er erinnerte Mr. Everett daran, daß er nichts Ersprießliches von dieser Reise erwartet habe. Die Rückkehr sollte am folgenden Mittag angetreten werden.

Mr. Büchting war nicht imstande, noch eine Stunde unten im Gastzimmer des Herrn zu bleiben, bei dem sie wohnten. Er ging in sein Schlafzimmer; er mußte mit sich allein sein. War es denn möglich? Hatte der Neger die Wahrheit gesagt? Mr. Büchting hielt die beiden Beschuldigungen zusammen. Die letztere war ihm freilich nicht ganz klar, aber als Mann von scharfem Verstande kam er der Wahrheit doch ziemlich nahe. Staunton hatte den Angriff gemacht, damit Pettow die Familie befreien könne. Der Kapitän stand also in verräterischen Beziehungen zu den Feinden der Union. Und welchen Grund hatte er haben können, als Retter der Familie Büchting aufzutreten? Doch nur, um sich bei Eliza und deren Eltern einzuschmeicheln. Hatte Ralph schon länger den Plan gehegt, sich um Eliza zu bewerben, dann lag auch ein Grund zu dem Morde Richards vor. Und war Richard nicht getötet worden, hatte ihn der Zufall in Stauntons Hände geliefert – dann war auch jener Brief, dessen Handschrift Mr. Everett mit solcher Bestimmtheit für echt erklärte, wirklich von Richards Hand gewesen und Ralph hatte ihn verleugnet und erschießen lassen! Furchtbare Reihenfolge von Schlüssen, aus denen sich schließlich das grausige Gespenst eines entsetzlichen doppelten Mordes erhob! Mr. Büchting schlief die ganze Nacht nicht. In seinem Herzen und in seinem Verstande kämpften die beiden Geister miteinander – der eine, der sich auflehnte gegen so viel Verworfenheit, der andere, der immer wieder auf die furchtbare Möglichkeit hinwies. Sollte Elizas ahnungsvolles Herz, das stets einen Widerwillen gegen Ralph empfunden, dennoch Recht behalten?

Der folgende Morgen war dazu bestimmt, auf dem Gericht die Brieftasche Richards in Empfang zu nehmen. Mr. Büchting hatte sich, als er Mr. Everett und Pettow wiedersah, so weit gesammelt, um wenigstens äußerlich ruhig zu erscheinen. Der Bankier und Ralph bestürmten ihn mit Fragen über die Mitteilungen des Negers. Es war ihnen nicht entgangen, daß die Nachricht, die er erhalten, von der allergrößten Bedeutung gewesen sein müsse. Mr. Büchting gab das auch zu, sagte aber, die Nachricht betreffe nur ihn allein, und er dürfe jedenfalls nicht eher darüber sprechen, bis er sich erkundigt habe, ob der Neger auch die Wahrheit gesagt.

»Das sollte ich doch wohl glauben,« sagte Mr. Everett. »In der Todesstunde pflegt man keine Lügen zu sagen.«

»O, das möchte ich nicht behaupten,« wandte Pettow ein. »Wohl aber schien es mir, als sei der Geist des Negers bereits gestört.«

»Möglich!« sagte Mr. Büchting. »Jedenfalls kann der Neger sich geirrt haben, als er die Wahrheit zu sagen glaubte. Ich werde es wohl noch erfahren.«

Auf dem Gerichte erkannten Mr. Everett und Ralph sofort Richards Brieftasche. Sie enthielt weder Briefe noch Banknoten mehr; sie wurde Mr. Everett überliefert. Am Mittag begaben sich die drei Herren nach dem Bahnhof, um nach Neuyork zurückzukehren.

Mr. Büchting hatte um Entschuldigung gebeten, wenn er zerstreut oder gedankenvoll sei und wenig spreche. Mr. Everett verzieh ihm gern, und auch Ralph schien beruhigt. Und allerdings hatte Mr. Büchting Grund, die Nachsicht seines alten Freundes Everett in Anspruch zu nehmen, denn teilnahmslos vor sich hinstarrend, saß er schweigend in dem Kupee, als ob weder Freund noch Welt für ihn vorhanden seien.

So kam die Nacht. Der Zug, mit dem die drei Herren fuhren, war kein Schnellzug. Sie kamen jedoch nach einer Station, wo der von Chikago kommende Schnellzug an ihnen vorüberfahren mußte. Hätten sie sich darnach eingerichtet, so hätten sie hier neue Billetts lösen und den Schnellzug benutzen können. Sie standen aber davon ab, als sie hörten, daß die Schnellzüge gewöhnlich überfüllt seien und der Unterschied ihrer Ankunft nur wenige Stunden betrage. Auch liebte Mr. Everett das allzu schnelle Reisen nicht.

Der Zug, in dem die drei Herren sich befanden, mußte auf dieser Station halten und den Schnellzug an sich vorüberfahren lassen. Es war tiefe Nacht; der Bahnhof der kleinen Station war von einigen Gaslaternen erleuchtet. Die Mehrzahl der Passagiere schlief; es herrschte also tiefe Stille. Da kam der Schnellzug aus der Ferne herangebraust, näher und näher, wie rollender Donner. Die wachenden Passagiere, auch Ralph, hatten sich aus den Waggonfenstern gelehnt, um den Zug zu sehen, der auf dem Gleise dicht nebenan vorüberfahren mußte und jetzt, als er in den Bahnhof einfuhr, seine Schnelligkeit ein wenig mäßigte. Plötzlich, gerade als der Zug an dem stehenden Zuge vorüberrollte, fuhr Ralph vom Fenster zurück, als habe er einen Schlag erhalten. Er griff sich mit den Händen nach dem Gesicht.

»Was ist Dir? Was ist Dir?« rief Mr. Everett, der aus einem leichten Schlummer erwacht war.

Ralph antwortete nichts. Ein Zittern ging durch seinen ganzen Körper. Endlich ließ er die Hände vom Gesicht niederfallen. Er war leichenblaß; die Augen starrten in der Dämmerung des Kupees geisterhaft.

»Aber, mein Gott, was ist Dir denn?« rief Mr. Everett wirklich besorgt. »Was ist geschehen?«

»Nichts, nichts!« antwortete Ralph sich schüttelnd. »Ich muß mir – als ich aus dem Wagen sah – die Gegend des Herzens gedrückt haben – ich hatte einen Krampf – es ist schon vorüber. Ja, ja, es ist vorbei, ganz vorbei. Aengstigen Sie sich nicht, Oheim. Es war nichts, eine Schwäche.«

Und er griff nach seiner Reiseflasche und tat einen langen, langen Zug daraus; noch zitterte seine Hand.

»Wollen wir aussteigen? Soll ich einen Arzt rufen?« fragte Mr. Everett.

»Nein, nein, es ist wieder gut – ich habe es schon öfters gehabt, aber nicht so schlimm!« antwortete Ralph und hüllte sich, wie vom Frost geschüttelt, in seinen Reisemantel. »Ich will ein wenig zu schlafen versuchen.«

Er schloß die Augen, öffnete sie aber dann sogleich wieder, als schrecke ihn etwas auf. Dabei bemerkte er, daß die dunklen Augen Mr. Büchtings ruhig auf ihn gerichtet waren, und er senkte den Blick.

»Ja, versuchen Sie zu schlafen!« sagte Mr. Büchting. »Es wird das beste sein. Ich wollte, ich könnte es auch.«

»Man sollte meinen, Sie hätten ein Gespenst gesehen, so erschreckt sahen Sie aus!« sagte ein vierter Reisender, der in demselben Kupee saß und mit dem sie bekannt geworden.

»Nein, nein, es war das Herz,« stammelte Ralph.

Aber ja, er hatte ein Gespenst gesehen. Dort in dem vorüberrollenden Zuge, in der Ecke des einen Kupees, hatte er bei dem Scheine der Laterne ein Gesicht gesehen, ruhig, mit geschlossenen Augen, das keinem Lebenden angehören konnte, angehören durfte! Es war eine Täuschung der Sinne gewesen. Seine Phantasie, erhitzt durch die Vorgänge in Athens, hatte ihm das Bild dessen vorgeführt, den er tot wußte. Eine Aehnlichkeit hatte ihn getäuscht. Er tat noch einen Zug aus der Flasche – das Signal zur Abfahrt ertönte. Es war vorüber. –

Als sie in Neuyork anlangten, ging Mr. Büchting in das Postbureau und fragte, ob der Post-restante-Brief abgeholt sei.

»Ja, vor drei Stunden.«

»Von einem alten Herrn?«

»Ja.«

Also mußte Dantes mit seinem Begleiter angekommen und auf jener Station an ihnen vorübergefahren sein. Er machte Mr. Everett, ohne daß Ralph es hörte, davon Mitteilung und nannte ihm auch die Adresse des Angekommenen: Field-Street 7, bei dem Gärtner Bird.

Dann kehrten sie zusammen in die Stadt zurück.


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