Alexander Moszkowski
Das Panorama meines Lebens
Alexander Moszkowski

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Meine Circenses

Wer mich von Ansehn und Statur kennt, dürfte mit Recht zweifeln, ob er mir solche Extravaganz zutrauen soll. Und ich selbst würde meiner Eignung zu wilden Ritten oder zur Akrobatik aufs äußerste mißtrauen. Freilich hat man ja auf diesem Gebiete schon Überraschungen erlebt. In Berlin, Wien, Paris taten sich ehedem bei besonderen Anlässen die Unzünftigen zusammen, Pressemenschen, bildende Künstler, Schauspieler, um den gelenkigen Leuten der Zirkusmanege ins Handwerk zu pfuschen. Sie improvisierten Vorstellungen in der Arena, wagten sich persönlich an halsbrecherische Leistungen und erzielten damit Sensationen, die zu wohltätigem Zweck sehr viel Geld einbrachten. Einer der Unsrigen, der gefeierte Schauspieler Bassermann, dürfte noch heute imstande sein, mit den unglaublichen Fertigkeiten seines Körpers manchen Springkünstler vom Zirkusberuf auszustechen.

Aber ich habe die gelegentlich ins Stadion hineindilettierenden Geistesbrüder doch noch übertroffen. Zwar kam es mir niemals in den Sinn, ins Muskelfach zu wechseln, und meine kümmerliche Beweglichkeit an Galoppvoltigen, Drahtseil- oder Trapezevolutionen zu erproben. Ich gehe dem zahmsten Gaul in respektvollem Bogen aus dem Wege, und was meine Balance betrifft, so bin ich froh, wenn ich mit heilen Knochen quer übern Straßendamm komme. Also mit dieser Qualifikation wäre es nichts bei mir. Und trotzdem spielen die Circenses in meiner praktischen Betätigung eine Rolle. Viele Monate lang war ich der Arena verschrieben und über eine ganze Spielsaison hinweg habe ich dem größten Zirkus geradezu die Signatur gegeben.

Das war vor mehr als zwanzig Jahren. Einer meiner Freunde, der bekannte Berliner Rechtsanwalt Rosenstock – beiläufig bemerkt: Gatte der entzückenden Sängerin Lolo Barnay und Vater des schönen Filmstars Margit Barnay, beide von Ludwig Barnays Deszendenz – hatte mich mit dem Zirkusmonarchen Albert Schumann zusammengeführt. Als Syndikus seines Unternehmens begünstigte der Anwalt gewisse Reformabsichten des Direktors, und beide waren auf die schrullige Idee verfallen, die Verwirklichung dieser Reformen einem Schriftsteller anzuvertrauen. Es handelte sich um die Schaffung einer neuen großen Pantomime, eines Ausstattungsstückes, das den circensischen Möglichkeiten mit Sprengung der alten erstarrten Schablone einen erweiterten Rahmen geben sollte.

Denn mit der Zugkraft des vormaligen Genres war es vorbei. Man behalf sich mit den verblichenen Resten aus der Ära des weiland Zirkus Renz, mit den immer wieder auflackierten »Lustigen Heidelbergern« und ähnlichen Schmarren, die einst durch die komische Kraft eines Godlewsky zu Vaters Zeiten Jubel erregt hatten, jetzt aber zu versagen begannen. Zugleich war es Dogma der Direktion, daß alle equestrischen und athletischen Darbietungen nicht imstande wären, die Lauheit des Publikums auf die vormalige Siedeglut zu bringen, wenn nicht eine pompöse Schlußnummer den entscheidenden Trumpf herausbrächte. Also an der Pantomime hing Wohl und Wehe, hier galt es, an die Überlieferung der starken Wirksamkeit anzuknüpfen und zugleich die Tradition der überlebten Langeweile zu durchbrechen.

Gewisse Versuche, mit untauglichen Mitteln verübt, sind bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts verfolgbar. Damals waren zwei Zirkusdirektionen gleichzeitig auf die Idee verfallen, ihr Repertoire klassisch aufzumuntern, indem sie beide den Julius Cäsar in ihren Spielplan verpflanzten. Ich mischte mich ganz ungebeten in diese Angelegenheit und entwarf ad usum der reformlüsternen Herrschaften eine Druckschrift, in der ich nachwies, daß sich der Faust noch weit effektvoller für die Arena ausschlachten ließe, als der Cäsar. Mein öffentlich bekanntgegebenes Programm enthielt einige im Sinn jener Experimente ganz stilgemäße Nummern: Faust als Athlet zieht seine sämtlichen Schüler mit steifem Arm dreimal durch die Manege an der Nase herum; der dressierte Pudel in seinen fabelhaften Leistungen auf Saat und Stoppel; der Karneval auf den vom Eise befreiten Strömen und Bächen; Geschwister Undene und Sylphe in ihren unvergleichlichen Windungen und Verschwindungen; Parforcejagd der Frau Marthe auf Mephistopheles; Kraftproben des Schülers mit dem Mühlrad; Quadrille, geritten von acht Hexen auf ungesattelten Besen; Faust fährt mit der Czikospost zur Hölle.

Von diesem respektlosen Programm bis zu meinem ersten ernsthaften Angebot war ein weiter Schritt. Anderthalb Jahrzehnte waren verstrichen, und jetzt lag mir nichts mehr daran, das Institut zu ironisieren, ich wollte vielmehr beweisen, daß auf dem Schreibtisch eines Pressemenschen etwas zustande kommen konnte, was der ausgeleierten Stallroutine unerreichbar blieb.

Aber als ich den Zirkusherren und ihrem Anhang von »Sachverständigen« meinen Plan entwickelte, stieß ich zunächst auf starke Widerstände; denn ich entwarf ihnen eine szenische Gestaltung von unübersehbarem, abenteuerlichem Ausmaß: »Babel und Bibel« sollte meine Zirkuspantomime heißen. Und zudem verlangte ich für Dialog und getragene Deklamation die Mitwirkung wirklicher Schauspieler.

Ein Horror neben dem andern! »Aber was Sie da ausarbeiten, wird ja kein Zirkusstück, sondern eine Oper!«

»Was? Unserem Publikum wollen Sie biblisch kommen? Die Leute sind an Clownspäße gewöhnt, nicht aber zur Andacht aufgelegt. Mieten Sie sich doch eine Kirche, wenn Sie Bibel predigen wollen.«

»Und wie soll denn eine Deklamation durchdringen in diesem Zirkusbau, der mehr Plätze faßt als die fünf größten Theater Berlins zusammengenommen!« – Hätte man ahnen können, daß etliche Jahre später der nämliche Raum sich für Sophokles und Sheakespeare öffnen würde? Daß die Tierzwinger verschwinden müßten, um Reinhardts Großem Schauspielhaus Platz zu machen? Meminisse juvabit! Meine eigenen dichterisch wertlosen, pathetisch geschwollenen Strophen waren hier für Pionierarbeit vorbestimmt; als die ersten Sprechproben, die über die akustischen Hindernisse der ungeheuren Halle hinwegsetzten.

Der Zirkusdirektor Albert Schumann, der eine feine Witterung für kommende Effekte besaß, sprach allen Einwendungen zum Trotz die Entscheidung: diese Pantomime wird gemacht! Riesige Ausstattungsmaschinerien wurden aufgeboten, unter anderen ein babylonischer Turmbau, der in der Aufführung wie von Geisterhänden heraufgezaubert aus der Manege emporwachsen sollte. Und in endlosen Nachtproben wurde eine Massenarbeit gefördert, für die ich das Grundmotiv in einer professoralen Studie gefunden hatte; denn mein Text umschrieb in sehr freier, alle Chronologie niedertrampelnder Paraphrase die berühmte Babelschrift des Universitätsprofessors Delitzsch, der in der Ära Hammurabi, um ein Jahrtausend vor Moses, die Grundlagen der vorbiblischen Kultur nachgewiesen hat.

Weit kühner als irgendein Assyriologe der Welt jonglierte ich selbst hier mit den Jahrtausenden. Was nur aus orientalischer Vorzeit sich der Absicht fügte, quirlte ich in einem Zeitbrei zusammen, um nur Vorwände für Schaugepränge und Versgedröhn zu erwischen; ich verkuppelte in szenischen Gewaltsprüngen die Semiramis mit dem Sardanapal, die hängenden Gärten mit dem glühenden Moloch, die Schlange im Paradiese mit dem schwarzen Walfisch zu Askalon. Auf einer hohen Estrade im Zirkus hatte ich eine »Weltenuhr« aufbauen lassen mit hammerschwingenden Riesen, die klirrend den Ablauf der Jahrhunderte rückwärts und vorwärts genau so schlugen, wie es gerade für die freche Mythologie des Textbuches erforderlich war. Und zwischen den legendären Figuren, den Herrschern, Kriegern, zu Massenballetts zusammengetrommelten Bacchantinnen, bewegten sich, jeden Rest von Vernünftigkeit zerstampfend, clownartige Gestalten, die in den assyrischen Bottich haarsträubende Berliner Witze hineinsprudelten. Aber dies sträfliche Gemengsel gefiel, die Presse antwortete mit lobendem Echo, – das Publikum quittierte die Unverzeihlichkeit mit stürmischem Andrang den ganzen Winter hindurch, und im Kassenbüro des Unternehmens galt es als ausgemacht: das war die Pantomime auf höchster Leistungsstufe, das war die große Reform, von der man im Zirkus so lange geträumt hatte!

Aber die reinste Freude in dieser Angelegenheit erfloß mir von der königlich preußischen Zensurbehörde, die ja, wie begreiflich, bei solcher Reform ein Wörtchen mitzureden hatte. »Bibel« im Zirkus – Blasphemie! Davor mußte der Staat geschützt werden. Es gab Konferenzen im Polizeipräsidium, bei denen ich schließlich ein Kompromiß durchsetzte: ein einzigesmal, bei der Erstaufführung durfte der volle Titel auf Anschlagsäulen und Programmen erscheinen, dann entschwand die Bibel in die behördliche Versenkung, und »Babel« allein blieb übrig. Ein Hilfszensor, Sohn des berühmten Schauspielers Ernst von Possart, hatte zwischendurch noch angeregt, das phonetische Bild des Titels aufrecht zu erhalten, nur mit einer winzigen Veränderung im Gefüge der Konsonanten: ich sollte statt »Babel und Bibel« drucken lassen »Fabel und Fibel«, das klingt vorzüglich und würde im Plakat geradezu faszinierend wirken. Und Herr von Possart war sehr erstaunt, als ich das ablehnte und mich an den ursprünglichen Konsonanten festklammerte. Allein vom Kultusministerium her reckte sich eine noch weit schwierigere Klippe entgegen: in dem Stück befand sich ja eine paradiesische Szene mit Adam, Eva, Schlange, Obst und Zubehör, und auch dieses Aufgebot verstieß nach Strafparagraphen soundso gegen das Seelenheil der Bevölkerung. Ich kämpfte wie ein Löwe für die Aufrechterhaltung dieser Nummer und erzielte ein groteskes Zugeständnis: wir ließen drei Adams, drei Evas, drei Schlangen auftreten, und da das Alte Testament von dieser Multiplikation mit drei nichts weiß, so durfte die Szene herauskommen, und das Gewissen der Dame Zensur blieb beruhigt. Im übrigen verfuhren die Vollstrecker des Gesetzes sehr gemütlich: die Oberzensoren ließen sich die Szenen in der Verballhornung einmal vorspielen, erklärten das Staatswohl als gerettet und behelligten uns nicht weiter, als wir in den nächsten Aufführungen Adam und Eva wieder in den Urzustand des Singularis zurückwandelten.

Ich hatte im Zirkus für den Fall eines Erfolges für mich als den Autor ausbedungen: freibleibend von allen Ovationen. Allein ich konnte es nicht verhüten, daß mich am Ende der Premiere ein Lorbeerkranz von fabelhaften Dimensionen ereilte, ein Ruhmesgemüse, dessen Menge ausgereicht hätte, um alle Kostgänger der Schiller-Stiftung zu sättigen. Die Direktion hatte diesen Gigantenkranz gestiftet, ein vielköpfiges Publikum applaudierte dazu wie besessen, und an jenem Abend von 11 Uhr 30 Minuten bis 11 Uhr 35 war ich ein berühmter Mann.

*

Es galt als unverbrüchliches Gesetz, daß jedes große Zirkusstück mit einer Wasserpantomime schließen mußte, so wie ehedem jede Lokalposse in einen Leuchtspringbrunnen auslief, den man auch Fontaine lumineuse oder auf urberlinisch-spreeathenisch »Kalospinthechromokrene« nannte. Die Sehnsucht des Schaupublikums nach den bunten Wassereffekten blieb unstillbar, und wo die kostspielige Einrichtung erst einmal installiert war, da zog man allabendlich die Schleusen und ließ brausen, was die Reservoire hergeben wollten. Im Zirkus spielten noch zahlreiche Maschinentricks und Ausstattungswunder hinein, um jede irdische Angelegenheit in eine neptunische zu verwandeln und um dem Pindarschen Wort Ariston men hydor, das Beste ist das Wasser, Geltung zu verschaffen. Ich werde hier nicht entwickeln, wie ich mein Babelprogramm mit diesen hydraulischen Anforderungen vereinigte, und ich kann mich auch nicht mehr in eine Geistesverfassung zurückversetzen, die eine so unwahrscheinliche Synthese ermöglichte. Es ist mir aber so, als hätte ich damals die Wasserfläche (im Durchmesser der Manege gleich zwölf Meter) als einen Weltozean aufgefaßt mit Kultur-Inseln und dem Ausblick auf ein zukünftiges Friedensparadies, wodurch ich szenisch und deklamatorisch einen vortrefflichen Gegensatz zur blutwütigen menschlichen Vorzeit erreichte. Die Wasserpantomime war also vom prophetischen Geist der Völkerharmonie erfüllt, und ich brauchte mir deswegen keinen Vorwurf zu machen, denn ich folgte ja nur den Spuren Kants und habe mich mit meiner Wasserprognose nicht stärker blamiert, als er mit seinem Traktat vom ewigen Frieden.

Ich muß ferner bekennen, daß die gesamte Reform in den Folgejahren nicht so ersprießlich durchgriff, wie es nach den Verheißungen der Babel-Ära zu erwarten war. Die weiteren Pantomimen verfolgten wieder die Überlieferung des alten Schlendrian, und meine Mitwirkung an ihnen hielt sich in bescheidenen Grenzen. Es kam nun nicht mehr auf eine originelle Idee an, sondern auf Spektakel-Entfaltung, auf Schauwunder, so in einem Radaustück »Femina«, das mit Aufgebot großer Ausstattung ein voltigiertes, ins Circensische übersetztes »Bonheur des Dames« darstellte. Ich versuchte hier, wenigstens einige Züge der sozialpolitischen Frauenemanzipation hineinzubringen und hielt mich dabei ein bißchen an das Rezept des Kollegen Aristophanes, der ja in seinen »Ekklesiazusen« den satirischen Nachfahren so hübsch vorgearbeitet hat. Meine Zutaten wurden auch aufgenommen und gelangten zur Aufführung, ich muß indeß feststellen, daß in den betreffenden Szenen außer mir selbst kein Mensch etwas von dem Aristophanischen Geist bemerkt hat. Eine andere ganz lustige Pantomime, die gänzlich auf meinem Acker gewachsen war, blieb aus nicht ganz erforschlichen Gründen ungespielt, obschon sie der Direktor frisch vom Manuskript mit Vertrag und Honorar erworben hatte. Sie gab die Manege in der Manege und bot die Karikatur einer Zirkusschmiere mit aller Drastik eines »Serenissimus«, der von der Loge aus die grobklötzigen Vorgänge der Arena mit seinen Stupiditäten begleitete. An der humoristischen Wirkung dieser Anlage mit ihrem Doppelspiel der Clownerie in der Tiefe und in der Loge zweifelte niemand. Wenn der Zirkus schließlich auf diesen knalligen Effekt verzichtete, so lagen vielleicht uneingestandene höfische Rücksichten zugrunde. Denn ein Institut, das die vertaperte Hoheit eines Serenissimus mit Eclat herausstellte, konnte allerdings beim aristokratischen Teil der Besucher in den Verdacht subversiver Tendenzen verfallen. Und seitdem der Zirkusvater Renz für seine Ankündigungen die Formel gefunden hatte »An den hohen Adel der Residenz« mochte es wohl als ausgemacht gelten, daß man es auf einen Adelsboykott nicht ankommen lassen durfte.

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Über das menschliche Milieu des Zirkus, wie es in Beziehung von Person zu Person wahrnehmbar wird, herrschen in weiten Kreisen recht falsche Anschauungen. Vielfach überträgt man den Begriff der Kraftmeierei von der Leistung auf den Verkehrston, und in mancher Vorstellung spukt der mythologische Nachhall an die Brutalität der Zentauren, deren artistische Abkömmlinge man in den Parforcereitern der Manege wiedererkennt. Als Gegenbild der Rohheit erscheint die Zirkusdame, von Stallduft umwittert, in Frivolität verstrickt, von Natur und Beruf darauf angelegt, Sinnlichkeit zu wecken und sich in sinnlichen Abenteuern auszuleben. Diese Vorstellungen beruhen fast durchweg auf Gedankenkonstruktionen, die kritiklos aus älteren Romanen und Witzblättern übernommen und um so leichter geglaubt werden, als die Folgerung mit der Prämisse anscheinend recht gut harmoniert.

Aber in Wirklichkeit sieht die Sache anders aus, und auf Grund meiner ausgedehnten Erfahrungen möchte ich mich zu der Behauptung versteigen, daß das Zirkusvolk, sobald der Berufsflitter abgestreift wird, eher zum bürgerlichen Philisterium neigt als zum Kraftprotzentum oder zur Leichtfertigkeit. Nichts berechtigt zu der Annahme, ich könnte da nur ein verabredetes Maskenspiel beobachtet haben. Denn dazu lag nicht die mindeste Veranlassung vor, einem Mitarbeiter gegenüber, der in langen und angestrengten Proben ganz zum Bau gehörte; und dann hätten die Leute auch bei vorgefaßter Absicht ihre Rollen etwas interessanter gestaltet, nicht so schwerblütig, deutlicher gesagt: nicht so langweilig. Losgelöst vom farbigen Glanz der abendlichen Vorstellung waren sie trockene, der Pflicht unterjochte Figuren, einige von ihnen etwas sensitiv angehaucht, die meisten in ihrem Benehmen weltenfern von der Romantik ihres Standes und von irgendwelcher Extravaganz. Soweit ich urteilen kann, geht es hinter den Kulissen jeder Oper, jedes Sprechtheaters, ja jeder Kinobude verwegener her, bunter und dramatischer auch im Betracht des Klatsches und der Intrigue, für die in der klösterlich abgesteckten Ordnung des Zirkus gar kein Spielraum übrig blieb.

Will man den Bildvergleich mit den Zentauren festhalten, so läßt sich die Parallele verlängern, da schon die Mythologie vom veredelten Hengstmenschen zu erzählen weiß. Ursprünglich zottige Wildnaturen, umgeben sie sich später mit Eroten und Nymphen, sie kultivieren sich in Berührung mit musischer Kunst und finden schließlich in dem Zentauren Cheiron, einem Musterbild von Gerechtigkeit und Weisheit, den vorzüglichsten Ausdruck ihrer Rasse. Ich behaupte nun nicht etwa, daß mir in den Zirkusräumen ein Cheiron begegnet sei, aber doch so mancher von sanftem, ja elegisch gestimmtem Wesen, das eine gewisse Scheu vor der eigenen Kraft verriet. Angefangen vom Direktor Albert Schumann, der mir als eine gütige Natur erschien, mit altruistischen, auf seiner tiefen Verbundenheit mit der tierischen Kreatur beruhenden Kennzeichen. Ich habe ihn wiederholt bei seinen Pferdedressuren beobachtet, und es machte Eindruck auf mich, daß der nämliche Mann, der abends mit diktatorischer Gewalt über die Tiere auftrat, in den Vorübungen am Tage mit den Quadrupeden verhandelte wie ein väterlicher Präzeptor. Niemals habe ich dabei die Anwendung eines Gewaltmittels, eines schmerzhaften Zwanges bemerkt, vielmehr gewahrte ich durchweg die Methode einer Verständigung, als ob es darauf ankäme, die Absicht des Herrn suggestiv auf das Tier überfließen zu lassen. Und das Verständigungsmittel war: die Sprache. Er hatte dabei einen gedämpften Tonfall mit Nuancen der Stimme, wie sie außerhalb dieser Studien niemals vorkamen; also eine psychologische Einfühlung in die Mentalität der Pferde. Es erinnerte etwa an das zärtliche Glucksen, das der Hahn bisweilen hören läßt, wenn er mit den Küken redet. Kein Zweifel: in dem besonderen Timbre dieses Organs lag etwas, das die Tiere nicht nur zur Aufmerksamkeit anhielt, sondern auch ihren Willen in der Linie des Gehorsams erregte, ein Überredungszwang, der aus der Wirklichkeit hinausführte in ein Fabelreich, wo die zoologischen Grenzen nicht mehr gelten. Wenn man hier wahrnahm, wie die Pferde auf das leise, sonderbar getönte Stimmsignal lauschten, zu verstehen suchten, errieten, probierten und schließlich das Verlangte auszuführen begannen, so veränderte sich der Begriff der Dressur: sie hing nicht mehr von bloß mechanischen Eingriffen ab, von Reizen zwischen Schmerz und Verlockung, sondern von sprachlich mitgeteilten Motiven. Und ich glaube, daß aus solchen Vorgängen Einsichten erfließen, die für die Beurteilung der tierischen Intelligenz wertvoll werden können. Ich erinnere an die staunenswerten Leistungen der ausdrucksbegabten, rechnenden »Elberfelder Pferde«, die ihrerzeit mit dem bequemen Schlagwort »Dressur« abgetan wurden, obschon Leuchten der Wissenschaft wie Professor Wilhelm Ostwald in den Elberfelder Phänomenen neue Erkenntnisquellen der geistigen Biologie erblickt hatten. Die Berufung auf den Sprachfetisch »Dressur« hatte damals das Rätsel nicht gelöst, sondern nur auf ein anderes Geleise verschoben; denn die Höhe eines Tierintellekts, die für solche Dressuren vorausgesetzt werden müßte, würde gegenüber der landläufigen Auffassung vom beschränkten Tierverstand nur ein neues und noch schwierigeres Rätsel hinstellen. Es darf nicht verschwiegen werden, daß ein Sachkenner wie Albert Schumann die Elberfelder Rivalen seiner eigenen Zöglinge recht abfällig beurteilte; und ich erkläre das dadurch, daß sich seine Kennerschaft einseitig auf die Leistungen innerhalb seiner Arena konzentrierte, die ja den Intellekt der Geschöpfe mit ganz anderen Aufgaben in Anspruch nahm. Er selbst mag sich auch in naiver Auffassung der Dinge als Dresseur gefühlt haben, ohne sich über die theoretische Bedeutung seines sprachlichen Fluidums klar zu werden. Er präparierte einfach die Nummer, den equestrischen Akt, ohne zu wissen, daß er mit seiner Abrichtung an Geheimpforten der Naturerkenntnis pochte. Er staunte über die Magie seines Zuspruches so wenig, wie ein geschickter Mechaniker staunt, wenn er eine Schallplatte mit Akkordfolgen, Obertönen und Klangfarben herstellt. Die hundertfache Erfahrung, der Zwangslauf der Wirkung betäubt das Mysterium, allein man braucht sich nur einen Augenblick jenseits der eingeübten Routine zu stellen, um zu spüren: hier ist ein Wunder, glaubet nur! –

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Das Sanftmütige im Kontrast zur Energie der Betätigung vor dem Publikum blieb für mich ein Hauptmerkmal meiner Bekanntschaften. Ich stellte mir eine antike Palaestra vor mit ihren Rennern, Diskuswerfern und Gladiatoren, und vergegenwärtigte mir die Grundnatur solcher Menschen: rauhe Gesellen, die sich gewiß nicht für ihr Kraftwerk geeignet hätten, ohne die brutale Energie ihres Wesens überhaupt. Das scheinen Untrennbarkeiten zu sein, der Athlet, der Kämpfer gibt sich unmittelbar zu erkennen, und ob er spricht oder schweigt, vor ihm her geht die renommistische Ansage: Mut in der Brust, siegesbewußt. Die Natur, so sollte man meinen, versteckt sich nicht, am wenigsten im Gebiet der Ausübungen, in denen die Körperlichkeit eine Rolle spielt. Der Schauspieler, der auf der Bühne seinen Achill, Macbeth oder Berlichingen hinlegt, wird im Leben nicht als ein ätherischer Amoroso erscheinen, man wird ihm aus Haltung, Geberde und Akzent das Fach ungefähr ablesen können. Mir ist da aus anno olim ein Merkbild erinnerlich, dessen Figuren einprägsam genug waren: Bogumil Dawison und Emil Devrient, die berühmtesten Schauspieler ihrer Zeit, die ich in Dresden oft auf gemeinsamen Spaziergängen und an Gartentischen gesehen habe. Wie scharf hoben sie sich gegeneinander ab, auch hier, fern von der Szene, wie verbunden mit ihrem Rollenfach. Devrient, der Idealsprecher, in wechselnder Folge ganz Tasso, ganz Marquis Posa, ganz Egmont in Nähe Clärchens; – Dawison mit rollenden, intriganten Augen, mit Anflügen eines Schlagadodro, die Faust auf den Tisch schmetternd, bis zu den Exaltationen des Othello im fünften Akt. Diesem Paradigma mag der Leser aus seiner Erfahrung viele andere Beispiele zuordnen, denn es handelt sich um eine Regel, die nur spärliche Ausnahmen erleidet, und auf der schließlich die literarische Psychologie beruht: der Darsteller repetiert im Leben die Rolle, wie diese den Berufsmenschen repetiert; wir stellen uns in beiden Fällen auf eine bestimmte Erwartung ein und werden nur selten getäuscht. Aber im Bereich des offenkundigen Muskelberufes versagt die Analogie, und wir erkennen im Leben den Menschen oft nicht wieder, der uns im Beruf als Kraftnatur entgegentritt. Seine Dynamik verwandelt sich in Statik, so wenigstens erschien es mir im Umkreis meiner Bekanntschaften, die allerdings nur ein enges und zeitlich entlegenes Feld umfassen. Da war ein Reitkünstler, er hieß Hodgini, der auf sausendem Pferd stehend und agierend Unbegreiflichkeiten verrichtete, als ein verkörpertes, eruptiv geladenes Kraftfeld, sonst aber als gepflegter Elegant auftrat, blütenzart, ein Sinnbild ätherischer Feinheit. Der auffälligste aber war für mich Herr Seeth, der herkulisch gebaute König aller Dompteure, der den ganzen Innenzirkus als einen Zwinger vergitterte, um darin mit seinen fünfundzwanzig abessinischen Löwen zu exerzieren. Soviel ich weiß, war er weder in seiner Kleidung unterpanzert, noch stützte er sich auf den Rückhalt eines Waffengerätes, sondern er verließ sich auf seine persönliche Überlegenheit, und besaß allen Grund dazu. Man hatte eigentlich weniger Ursache, den Seeth anzustaunen, weil er sich unter die Löwen wagte, als die Löwen, weil sie allabendlich ihr Abenteuer mit Seeth bestanden. Die von ihm ausgeschleuderten Energien wirkten phänomenal, zyklopisch; ein klatschender Schlag seiner hohlen Hand genügte, um eine ausgewachsene Bestie über ein paar Meter durch die Luft zu werfen. Und der nämliche Goliath war im persönlichen Umgang ein ganz sanfter Herr, zurückhaltend in der Bewegung, und bei der Begrüßung mit Händedruck hatte ich das angenehme Gefühl wie von einer Damenhand.

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In meinem Interesse für zirzensische Dinge steckt ein Stück Familienerbschaft. Mein Vater schwärmte für derlei Schaustellungen, und bei aller Bescheidenheit unseres Hausstandes in meiner Breslauer Knabenzeit verschaffte er sich wie der Familie an Dutzenden von Abenden den Eintritt zu diesen Herrlichkeiten mit einem Kostenaufwand, der im Hausbudget eine erhebliche Rolle spielte. Meine Erinnerungen in diesem Betracht reichen bis in unvordenkliche Tage zurück, aus denen sich sonst nichts auf der Gedächtnistafel gerettet hat; und mir ist einzelnes in Namen, inneren Bildern und Klängen gegenwärtig, was selbst den in Zirkussachen bewanderten alten Herren antidiluvianisch vorkommen muß. Zirkus Carré – Zirkus Wollschläger – Zirkus Hinné – wer weiß noch etwas davon? Zählen doch sogar Zirkus Renz, Ciniselli, Suhr-Hüttemann zu den verschollenen Exemplaren ihrer Gattung, und nur sehr wenige Überlebende können es aus eigenem Vergleich beurteilen, daß besonders in der Arena Renz die equestrischen und äquilibristischen Muster, gültig bis heute und teilweis unübertroffen, aufgestellt worden sind. Vor mir stehen sie, gerufen oder ungerufen – sobald ich nur überhaupt versuche, mir irgend etwas aus meiner persönlichen Urzeit heraufzuholen, erscheinen sie als begleitende Schatten. Unverklungen ist auch ein leises Nebenvibrieren, das mir ansagt, wie schrecklich verliebt ich in die Damen war, die da im Ballonrock und glitzernden Pailletten durch die Luft schwebten und pirouettierten. Manches lateinische Exerzitium mag ich verpatzt haben, weil mir die Renzischen Primadonnen im Kopfe herumspukten, und manche gymnasiale Strafarbeit trug ich leichter, wenn mir der Abend den Anblick der göttlichen Springerinnen verhieß.

War sie nicht einzig, die Amanda Ducos, die auf dem Nudelbrett des trabenden Schimmels Spitzentänze ausführte, leichter und virtuoser als die Balletteusen im Theater? O, ich konnte vergleichen, denn ich hatte dergleichen auf den Brettern der Breslauer Bühnen mehrfach gesehen, man hatte mich sogar zum Gastspiel der Weltberühmtheit Pepita de Oliva mitgenommen. Aber diese Exotin mit ihren Madrilenas und Seguedillas, in dem schwarzflatternden Mantel ihrer Haare war mir zu wild und deckte sich nicht mit der blonden Phantasie, die ich mir längst von einer olympischen Charitin entworfen hatte. Allerdings, die mythologischen Charitinnen sprangen nicht über Bänder und durch Reifen, und das war eben das einzige, was ihnen zur Vollkommenheit fehlte. Aber noch idealer als die Grazie Ducos erschien mir die Alleskönnerin Agnes Bridges, die der gestrenge Monarch Renz selbst als ein Phänomen betrachtete, und deren Schönheit so überwältigend war, daß sich eine Tertianerliebe da gar nicht herangetrauen durfte. Ihre Nummer war eine Feierlichkeit, ein Kultus. Stets wurde sie durch das Spalier der Stallmeister vom Direktor persönlich geführt mit einem Aufgebot von Devotion, die sie allabendlich aufs neue als Nonplusultra anzeigte. Sie war Schul-, Parforce- und Balancereiterin, Drahtseil- und Spannseilkünstlerin, Äquilibristin und Jongleuse, Amazone an Kraft und Wagemut, Sylphide an Grazie, unfehlbar in aller Bewegung, sie verschmolz das Monumentale mit dem Filigranhaften, und jede ihrer Stellungen rief nach Verewigung in Plastik. Schade, daß man damals von den optischen Möglichkeiten des Films noch nichts ahnte. Die neuzeitlichen Bewegungs-Ästhetiker, in ihrer Unkenntnis der klassischen Urbilder, hätten allerlei zu lernen, wenn man ihnen die Rhythmen der Bridges, die Tänze Fanny Elßlers oder der Marie Taglioni vor die Augen stellen könnte.

Unter den Männern kam ihr an Leistungsstärke ein Ungar am nächsten, Slezak, der erste, der den freien Hochsprung vom Manegeboden aufs ungesattelte Galopp-Pferd fast ohne Anlauf ausführte und damit alles überbot, was bis dahin an kosakischen Leistungen verblüfft hatte. Dieser Jockei-Salto hat seitdem Schule gemacht und gehört wohl noch heute zum eisernen Bestand der Zirkusprogramme. Allein es verblieb ein Unterschied wie zwischen Kopie und Original. Unwiederholbar erschien Slezaks federnder Elan, der jeden Zufall ausschloß und den rhodesischen Sprung als ein kinderleichtes Hüpfen darstellte. Sicherlich hat der spätere sportliche Training der Körpertechnik neue Impulse erteilt, und an Bewegungswundern mag die Gegenwart reicher sein als die Renzische Vorzeit. Nur darf man dabei nicht übersehen, daß die schrankenlose Verallgemeinerung des Sports die Einzelleistung immer mehr als den Gegenstand eines Wettkampfes herausstellt, worin der Sieg nicht der Schönheit, sondern der Ausdauer und der überlegenen Brutalität zufällt. Der Maßstab wird vom Sechstagerennen, vom Ring- und Boxkampf hergeholt, jedes Kind kennt die Helden vom Knockout und operiert in Gedanken mit den Tausenden von Kilometern strampelnder Spitzenmannschaften. Und vielleicht erklärt es sich aus dieser Einstellung des Interesses auf Lungenmord, Rippenbruch und Blutorgie, daß das Höchstmaß der Ausbildung nicht mehr dort angetroffen wird, wo die schöne Linie, die Elastizität und die Eleganz der Persönlichkeit den Wert der Übung bestimmt. Diese Umbildung der Leibesübungen vom Gefälligen zum Wilden zeigt ein zyklisches Geschehen, und ich möchte darauf hinweisen, daß schon im Altertum derartige Betrachtungen aus ähnlichen Motiven am Platze waren. Gehen wir rückwärts vom modernen Sportpalast und Stadion zum antiken Zirkus, zur Palaestra und zu den Kampfspielen von Delphi, Olympia, Nemea und Korinth, so bemerken wir die Wiederkehr des Gleichen, und was ich hier als meine Laienansicht vortrage, gewinnt historische Stütze in den Berichten Aristipps, der ja bei Wieland nur wiederholt, was den Lebensästhetikern seiner Zeit im Gefühl lag. Denn schon damals, bei den Olympischen Spielen, wurde der Umschwung zur Roheit beklagt, die Verpöblung der Gymnastik, die Übertreibung des Dynamischen bis auf den Punkt, wo nur noch das Herkulische das Feld beherrscht und das Apollinische verschwindet.

Ich zitiere sinngetreu einige Sätze des Hedonikers, die gar nicht viel anders klingen könnten, wenn der Anlaß aus den neunziger Olympiaden in unsere sportliche Neuzeit überpflanzt würde: »Das grausenhafte Schauspiel, das uns die kaltblütige Wut der Faustkämpfer gab, und der furchtbare Handschuh, womit einige Paare neuer Eryxen und Herkulessen einander zermalmten, erfüllte mich anfangs mit einer seltsamen Art von schauerlichem tragischem Vergnügen; versetzte mich in die alte Heldenzeit, schien mir die dichterischen Erzählungen von den unglaublichsten Taten der Göttersöhne wahr zu machen. Ich wähnte eine Art unzerstörbarer titanischer Naturen zu sehen, die nur spielweise so grimmig aufeinander losfuhren, und deren Wunden sich ebensoschnell und narbenlos wieder schließen würden, als die Luft, die durch ihre gewaltigen Streiche zerrissen wurde. Aber die Täuschung war von kurzer Dauer. Als ich nach einem kaum viertelstündigen Kampf einen der Athleten – einen Paris an Schönheit, der einer Bildsäule des Apollo zum Modell hätte dienen können – für tot aus den Schranken tragen sah, so furchtbar zugerichtet, daß keine Spur seiner vorigen Bildung in seinem zertrümmerten Gesicht und an seinem ganzen, zu einem unförmlichen Klumpen zusammengehauenen Leibe zu erkennen war, da überwältigte mich der gräßliche Anblick dermaßen, daß ich mich nicht zurückhalten konnte, meinem Abscheu durch laute Ausrufe Luft zu machen . . . Was für Fortschritte in der Kultur kann man von einem Volke erwarten, das sich aus so wilden, lebensgefährlichen Übungen ein Spiel macht, das die Wut der Kämpfer, die sich zuvor nie gesehen, geschweige beleidigt haben, durch ungestüme Zurufe bis zum Weißglühen anbläst, und an einem so barbarischen Schauspiel die angenehmste Augenweide findet? Mit welcher Stirn können wir auf unsere wirklichen und vermeintlichen Vorzüge so stolzen Griechen alle übrigen Erdenbewohner Barbaren heißen, so lange es für uns eine Glückseligkeit ist, uns alle vier Jahr zu gemeinsamer Belustigung in die Zeiten zurückzuversetzen, da unsere eigenen Vorfahren rohe Waldmenschen und Räuber waren und an Humanität weit hinter den meisten asiatischen Völkern zurückstanden?« Tatsächlich ist der Turnus der Rückfälle auch heute noch nicht abgeschlossen, und aus der Vernachlässigung der Schönheitskultur, wie aus dem Überhandnehmen der athletischen Barbarismen ergeben sich düstere Prospekte. Und das schlimmste daran ist der consensus omnium, gegen die sich die Stimme der Entsetzten kaum noch aufzubäumen wagt. Ich rede hier nicht von der Stimme der Moral und der Geistigkeit, die in diesen Betrachtungen ganz aus dem Spiele bleibt, sondern nur von dem Widerstand, den das apollinische Bewußtsein des Körpermenschen den scheusäligen Exzessen entgegensetzen müßte. Der klassische Sport, der im alten Zirkus noch Pflege fand, besaß eine Kantilene, der heutige erschöpft sich in Akzenten des Röchelns. Und es ist mir sehr fraglich, ob er überhaupt zu jener Überlieferung zurückfinden wird, die ihre Antriebe von künstlerisch betonten Schwüngen, vom Choreographischen und Melodiösen empfing.

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Der Begriff Circenses steht im Begriff, sich mit einem neuen Sinn zu erfüllen, auch in sprachkritischer Hinsicht; es sind nicht mehr die Künste des Zirkus, sondern der Circe, welche die Menschen in Schweine verwandelt. Im alten Begriff steckte nichts Bestialisches, wenngleich in der Arena auch Bestien auftraten, und es läßt sich ohne Paradoxie vertreten, daß er ästhetische Spuren mit gewissen Merkmalen der Erhabenheit aufwies. Denn alle Äußerungen überlegener Kraft, sobald sie mit dem Takt verschwistert, vom Rhythmus gebändigt erscheinen, streben in die erhabene Kunstsphäre. Keine gültige Definition steht dieser Auffassung entgegen: Friedrich Vischer unterscheidet zwei Momente, den ersten, wo wir uns als Beschauer mit den auftretenden Gewalten messen und im Vergleich von den Gefühlen der eigenen Ohnmacht befallen werden; den zweiten, wo wir uns an der Leistung aufrichten, da sich auch in uns das Bewußtsein persönlicher Naturkraft geltend macht. So schlagen wir uns hinüber zum Gegenstand, zum Schauspiel gewaltiger Kräfte, unsere Phantasie jagt mit diesen Wellen davon, und die Unlust weicht dem Behagen. Auch die Ansagen Kants über das »Dynamisch-Erhabene« (in seiner Kritik des ästhetischen Urteils) lassen sich hiermit wohl vereinigen, so daß die Zirkusspiele in ihrer Grundsubstanz jenes Prädikat verdienen, trotz aller skurrilen Beimischung, die wir in ihnen antreffen. Denn diese bizarren Zutaten können als wirksam nur existieren auf der Folie des Großartigen, ja sie stehen zu ihm in dem nämlichen Verhältnis wie das Satyrspiel zur Tragödie; das Gebahren des Bajazzo ist die unmittelbare Parodie der zweckvollen Kraft und Gewandtheit, er wiederholt den antiken Mimus, er kontrastiert gegen das Bedeutende ringsum wie Thersites gegen den Odysseus, und seine komischen Effekte zeigen in dieser Analyse Züge homerischer Herkunft. Nur dadurch, daß sie sich von der Dynamik des Hintergrundes abheben, äußern sie selbst Wirkung, in direkter Abhängigkeit von der Eindringlichkeit der Vorlage, deren Travestie sie darstellen. Die Narretei kann parodistische Weisheit werden, wenn sie in einem Triboulet oder Rigoletto zum Ausdruck kommt im Gegensatz zum glanzvollen Hofstaat, oder im Shakespeareschen Narren, dessen Pointen die Shakespearesche Umgebung voraussetzen. An sich hat das »Lache Bajazzo« keinen rechten Sinn, sein Gelächter zerflattert ohne Echo, wenn ein deutlich bemerkbares Bezugssystem nicht vorhanden ist.

Im alten Zirkus Renz war es vorhanden, vielleicht zum letztenmal in der Entwickelung derartiger Schaustätten; und wenn der Chronist heute die Tabelle aufmacht, so nennt er auch auf den Groteskblättern ganz überwiegend Figuren von altem Datum, die in meine frühen Erinnerungen fallen. Manchem Pedanten mag es ja gegen den Strich gehen, wenn man wie von klassischer Dichtung und von klassischer Mechanik auch vom klassischen Ballett und klassischen Zirkus redet. Begreift man aber den Sinn des Prädikates, so verfährt man nur logisch, wenn man am Gegenpol der Darbietungen auch eine klassische Clownerie annimmt. Sie war verkörpert in Figuren von einer eminent komischen Begabung, die ja nicht in zerebral vertrottelter Spaßmacherei, sondern allemal in Nachdenklichkeit wurzelt.

Sie waren eben Parodisten, die die formalen Eigenschaften des Originals nachzubilden verstanden, menschliche Zerrspiegel, menschliche Präzisionsinstrumente. Hier sehe ich sie vor mir, die Renzischen Komiker Sestac und Gontard, die das wagemutige Athletentum persiflierten in Leistungen, die nicht nur äußerste Körpertechnik voraussetzten, sondern einen geistigen Einschlag und das Gebärdenspiel genialer, auf Falstaffrollen eingeschulter Schauspieler. In den Artisten-Annalen, wie sie von Flögel, Saltarino, Max Bauer festgehalten werden, stehen die Bajazzi Grimaldi, Louis Auriol, Qualitz, Little Wheal und Widdicombe als Berühmtheiten an der Spitze. Der letzte gilt als der Urtypus der »Aujust«-Figur, und dessen Nachfolger bei Renz, Tom Belling, ragt noch in meinen Gesichtskreis. Deutlicher allerdings der Meister des Sarkasmus, Price, der die Äquilibristik, die Eleganz und den Rhythmus gleichzeitig zu parodieren wußte, mit ausgezeichneten Violinvorträgen auf der obersten Sprosse einer freistehenden, vibrierenden Leiter, bei denen es darauf ankam, die Tücke des Objekts mit den Allüren eines eitlen Virtuosen klangbildnerisch zu illustrieren. An ihm, wie an manchem seiner Kollegen fiel mir schon damals der Widerstreit zwischen Beruf und Person auf. Price verkehrte als Kunde in einem Bankgeschäft am Breslauer Ring, und nach Mitteilung meines Vaters, der ihn dort kennen lernte, besorgte er seine Geschäfte mit der trockenen Umsicht eines erfahrenen Börsianers. Im Gespräch vermied er jede Anspielung auf sein groteskes Fach, er gab sich vielmehr in Haltung und Rede als ausgesprochenen Melancholiker.

Das paßt nicht gut zum üblichen Vorstellungs-Schema, denn wenn wir auch in Bild und Dichtung manchen tragischen Bajazzo erlebt haben, so halten wir doch in der Praxis an dem Begriff des fidelen Tölpels fest, der sein Rüpelamt gar nicht auszufüllen vermöchte, wenn er persönlich etwas anderes wäre als ein Extrem von Rüpelei und Dummheit. Allein die Wirklichkeit erzählt nicht nur vom elegischen Clown, sondern vom gebildeten. Welchen Maßstab wollen wir anlegen? Ich schlage vor, ihn aus der Lehre Karls des Fünften zu entnehmen: soviel Sprachen einer spricht, so oft ist er ein Mensch (»quot linguas quis callet, tot homines valet«). Wenn das gelten soll, dann rückt der komische Aujust aus dem Untermenschentum hoch empor in eine geistige Selekta: Tom Belling beherrschte elf Sprachen, und James Wheal, gleichfalls Clown bei Renz, war sogar mit klassischer Bildung gesättigt; er schrieb Briefe in fließendem Latein und betrieb in seinen Mußestunden eifervoll das Studium der altrömischen wie der altgriechischen Literatur.

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Die spätere Chronik meldet wenig von solchen Bildungswundern, ohne daß daraus zu schließen wäre, mit der Senkung des Geistesniveaus hätte sich auch die Körpertechnik ermäßigt. Im Gegenteil, die mechanischen Wunder vervielfältigten sich, und ein erheblicher Teil mußte vom Originalboden abgetrennt werden. Das Variété nährte sich von dem, was der Zirkus zuviel hatte. Beiden Instituten gemeinsam blieb die Überwindung der Hemmnisse im natürlichen Gebrauch der Glieder, die Einstellung des Menschen auf einen Kampf mit dem Objekt, in dem die schablonierten Regeln des Daseins keine Geltung besitzen. Dieser Kampf mit seinen stupenden Siegen des Willens, des Mutes und der Geschicklichkeit gehört zur intelligibeln Welt, die mit dem Theater als moralische Anstalt betrachtet und den sonstigen Geisteskünsten durchaus nicht abgeschlossen ist. Wenn die Ästhetik von diesem Nebenreich der intelligibeln Welt nur widerwillig oder gar nicht Notiz nimmt, so liegt das nicht an der Sache, sondern am Kurzblick der Betrachter, der durch die groteske Kruste nicht bis zum Kern vordringt. Mit hartnäckigem Vorurteil unterscheiden sie ein für allemal zwischen Kunststücken und Kunst, und sie lassen sich von der Plakatseite anwidern, deren schriller Radau sie von weiteren Untersuchungen abschreckt.

Mir war seit langem eine andere Betrachtung geläufig, und wenn ich mich nach dem Grunde des Vergnügens im Zirkus und Variété befragte, so geriet ich immer wieder an mechanische Probleme; mit dem Ausblick, daß hier die störrische Ursächlichkeit räumlicher Hindernisse in ähnlicher Art überwunden wird wie die gemeine Kausalität der Alltagsmotive im romantischen Epos und Schauspiel. Helmholtz rühmte von seiner eigenen Konstitution, daß er alle Züge und Drücke der umgebenden Natur in sich selbst sinnlich und gedanklich verspürte. Allein man braucht kein Helmholtz zu sein, um zu solcher Wahrnehmung zu gelangen. Wer sich zu aufmerksamer Selbstbetrachtung trainiert, dem kommen jene Züge und Drücke schmerzlich genug zum Bewußtsein, die in jeder Sekunde ihre Fatalitäten ausüben, feindselig gegen das eingebildete Bewußtsein irgendwelcher mechanischer Freiheit. In dieser Wahrnehmung wird schon jeder Spaziergang, jede frohlaunige Wanderung, wird schon das einfache Gehen zu einer verwickelten, schwierig zu vollziehenden Gymnastik. In der organischen, scheinbar so selbstverständlichen Gehbewegung liegt die Entwickelungsgeschichte aus Jahrmillionen, und immer noch vollzieht sich das Gehen als eine unübersehbare Kette von Korrekturen an Momenten des Falles, der in Schwerpunktsverschiebung immer wieder bewirkt und zugleich verhütet wird. Die anatomische Darstellung des Vorgangs durch die Brüder Weber, die kinematographische durch den Schnellphotographen gibt die Analyse dieser Bewegung, deren Berechnung von Moment zu Moment keinem Galilei möglich wäre. Jetzt aber entwickelt sich das Gehen zum rhythmischen Tanz und damit zu einer Stufe, auf der sich eine Fülle neuer Möglichkeiten erschließt. Mit dem beständigen, stetig gewollten und stetig aufgehaltenen Fall verbinden sich Rotationen und Zentrifugalkräfte, veränderte Zeitgliederungen, eine arithmetisch betonte Gymnastik, und wir sehen uns veranlaßt, zur Beurteilung des Vorgangs den ästhetischen Sinn anzurufen. Warum reden wir da von Kunst? Weil hier die Musik mitspielt? Aber die ist ja selbst nur eine Abstraktion der Bewegung, tönend bewegte Form, nur das klingende Abbild der Bewegung an sich. Die Kunstvorstellung kommt woanders her: Wir versetzen uns als Beschauer in die Körperlichkeit des Tanzkünstlers, wir verspüren seine Züge und Drücke mit Helmholtzischer Einfühlung in uns selbst, als ob es uns möglich wäre, diese Bewegungen, zu denen unser wirkliches Können nicht ausreicht, wenigstens virtuell in uns nachzubilden. Hierin steckt etwas Visionäres, Träumerisches, und eben in dieser traumhaften Einbeziehung einer Überlegenheit auf unsere Person ist das Wesen der Kunst begründet. Es liegt gar kein Grund vor, den Bezug eines räumlich abgetrennten Vorgangs auf unser Sensorium mit Wichtigtuerei auf das rein Gedankliche oder Ethische einzuschränken, ja die Musik als Begleiterscheinung des Gymnastischen müßte uns schon von dieser Einschränkung abhalten. Entscheidend ist vielmehr das Traumhafte der Einstellung, die Vision, die den Beschauer von der Grämlichkeit seiner eigenen Leibesmechanik befreit. Diese Vision ist unausbleiblich bei der Beschaffenheit unseres Sensoriums, weil unsere Koordinationszentren still mitarbeiten, sobald das Gehirn koordinierte Tätigkeiten wahrnimmt. Und wo sie auftritt, da ist intelligible Welt, da ist ein Reich der Kunst.

Es wäre natürlich ein grobes Mißverständnis, wenn man mir unterschöbe, ich wollte sämtliche Kunstfächer über einen mechanischen Leisten schlagen. Die Visionswelt, die sich beim Durchbrechen der gemeinen Kausalität öffnet, enthält viele Provinzen von sehr verschiedener Ergiebigkeit; nur soll man sich nicht darauf versteifen, einer Provinz den Kunstwert zu versagen, weil sie mit mechanischen Zeichen bedeckt ist, mit Signalen, die auf Statik und Dynamik, auf Zahl und Geometrie hinweisen. Daß sich von diesem Bezirk aus neue Zugänge der Begreiflichkeit zur Musik, zur bildenden Kunst, zur Schönheitslehre überhaupt gewinnen lassen, habe ich in meinem Buch »Der Venuspark« anzudeuten versucht. Und hier halte ich daran fest, daß jene Exerzitien, die nur der vulgären Schaulust zu dienen scheinen, ästhetische Werte umschließen, nicht obschon, sondern weil sie mit mechanischen Mitteln die Phantasie zum Mitschwung anregen.

Am Beispiel wird das erkennbar. Heut wäre sehr wohl eine Programmsymphonie möglich, eine neue Eroica, die den Eroberer der Luft zum Helden wählte; etwa in moderner Abänderung des »Phaeton« von Saint-Saëns, der ja in seiner Flugmusik mit chromatischen Wendungen den Propeller schon vorweggenommen hat. Wenn aber der Hörer sich in solches Programm einfühlt, so empfängt er einen Bericht, kein eigenes Erlebnis, weil weder der Phaeton noch der Flieger der Neuzeit wirklich fliegt. Sie sind in eine maschinelle Wirkung eingespannt, die ihre Leibesmechanik gänzlich ausschaltet, und sie verhalten sich zu einem wirklichen Flugmenschen wie ein Reisender im Blitzzug zum Schubertschen Wanderer. Der eigentliche Flieger nämlich kommt nur in der Arena vor, und wenn er auch nichts Mythologisches erlebt und nur bescheidene Strecken bewältigt, so ist er doch der einzige, der in freier Muskulatur die erste Annäherung an den Vogel vorstellt. Lang ist es her, seit ich zum erstenmal dieses Bild wahrnahm, im alten Zirkus Renz, wo die Gruppe Bragazzi-Proserpi zwischen schwingenden Trapezen flog. Wenn mir der Anblick gegenwärtig blieb, so war es nicht das Schauwunder an sich, das mir den Eindruck lebendig erhielt, sondern das Fliegegefühl, das mich mit ergriff und mich auf Sekunden von der eigenen Erdenschwere ablöste. Diese virtuell gespürte Möglichkeit des Fliegenkönnens, dieses Phantasma im Raume gab mir Spannungen und Emotionen, die ich als grundverwandt den künstlerischen erkenne, zumal den musikalischen; wie es ja gar keine nähere Beziehung gibt, als die zwischen Raumfühlung und Hörfunktion, wofür zudem die physiologischen Beweise von Mach, Cyon und Kreidl experimentell erbracht worden sind. Soweit Menschen in Betracht kommen, wäre vielleicht der Trapezflieger dem Telemarkschwinger auf Schneeschuhen zu vergleichen. Ich bezweifle indeß auf Grund der mir bekannten Filmaufnahmen, daß mich der Telemarker zu ähnlichen Visionen anregen könnte; weil seinen Bewegungen das Rhythmisch-Tänzerische fehlt, das die Schwünge des Zirkusfliegers von vornherein graziös veredelt.

Es versteht sich hiernach von selbst, daß auch in den Leistungen der Jongleure die Beziehung auf das Koordinatensystem des Betrachters als das eigentlich Wirkungsvolle auftritt. Der Begleitgedanke: wieviel muß er geübt, wieviel Fehlgriffe überwunden haben, bevor er solche Vollendung erreichte, bleibt nebensächlich; primär dagegen ist das Bewußtsein unseres eigenen bodenlosen Ungeschicks, wenn wir unsere klobigen Hantierungen an den eleganten Griffen und Würfen der Artisten abmessen. Und diese Beziehung ist unausweichlich, denn genau genommen ist nicht dieser Cinquevalli, Kara, Spadoni, Sylvester Schäffer das Wunder, sondern wir sind das Wunder, freilich auf der Kehrseite der Welt; wir, denen die Natur Koordinationszentren eingepflanzt hat, ohne die Fähigkeit, irgend etwas zu koordinieren, das über das zufällig Allerleichteste hinausgeht. Alles was uns im Lehrbuch der Physik und am Experiment als Gravitation, Reibung, Adhäsion, Hebelkraft, Schwingung, Druck und Stoß begegnet, vereinigt sich zu dem aussichtslosen Kampf mit dem Objekt, in dem die Dämonen der Kleinwelt unsere Schätze an Arbeitsenergie und Nervensubstanz ausplündern, und dieser Raub ermöglicht sich allein dadurch, daß die einzige Abwehr, die Koordination, nur in rudimentären Spuren vorhanden ist. Im ganzen Tierreich gibt es kein Exemplar, in dem zwischen mechanischer Grundanlage und beweglicher Ausübung ein so schauriger Zwiespalt aufträte. Aber unter der Schwelle des Bewußtseins bleibt Platz für die Ahnung einer Welt mit sozusagen besserer Physik, in der sich die Sachen nicht hart im Raume stoßen, sondern leicht beieinander wohnen wie die Gedanken; für eine Weltmechanik, in der das Gleichgewicht nicht als ein schwankender Ausnahmefall unter Millionen von Störungen erzwungen und erschlichen wird, sondern sich durchweg von selbst einstellt. Und diese Phantasie wird aufgerufen beim Anblick des perfekten Jongleurs, da er den Kampf mit dem Objekt in Mustern aufstellt, die auf unsere Welt bezogen schwierig wären bis zur trostlosen Unmöglichkeit, während sie sich in der freundlichen Physik seiner Welt kaum als Probleme zu erkennen geben. Hier ist nichts labil, nichts ungestützt, nichts von gehässigen, absichtswidrigen Drücken bedroht; unsichtbare Fundamente durchziehen den Luftraum; und indem wir uns dieser Magie hingeben, erleichtert sich in uns das schauerliche Gefühlsintegral, das sich sonst aus unzähligem infinitesimalen Gestümper und Gestolper aufsummiert. Der Blick in die Jongleurwelt verschafft uns, ins Spielerische übersetzt, Illusionen, die wir im Ernstfall etwa dem gotischen Baustil zuweisen: hier wie dort das Aufstrebende, Entlastende, als ob die Schwerkraft von unten nach oben flösse, als ob die vermaledeite Naturkonstante aus der Welt wäre, die uns selbst an den Boden fesselt und bei jedem Griff nach der Substanz ein Verhängnis bereit hält; hier wie dort die Magie einer Befreiung vom Zwangsläufigen, die Illusion einer Existenzmöglichkeit abseits einer Mechanik, deren Formeln nur theoretisch die Welt ansagen, während sie in der Praxis eine unzerreißbare Kette von Verdrießlichkeiten darstellt. Unsere Abstraktion Oben – Unten, mit der Lustbetonung des Oben, ist der klare Ausdruck dafür, daß die erlebte Mechanik mit ihrer störrischen Tendenz nach unten unseren Wünschen dauernd entgegenarbeitet.

Wenn man es als eine Aufgabe des Schauspiels bezeichnet, den wirklichen Menschen nachzubilden und ihn zugleich idealisierend zu erhöhen, so wird man unter den Meistern solcher Synthese den großen Jongleur nicht vergessen dürfen. Er vereinigt beide Werktätigkeiten in sich mit einer Schlagkraft, wie sie außerhalb seines Faches gar nicht angetroffen wird. Der ungeheure, durch viele Jahre anhaltende Erfolg der »Baggesen« war durch dieses meisterliche Doppelspiel gerechtfertigt. Ihr bis ins Extrem getriebener Kampf mit der Materie hielt dem Beschauer dessen eigenes Wirklichkeitsbild vor: Tat twam asi! Das bist du selbst, der grauenvolle mit allem Pech der Mechanik besudelte Tölpel, der Bewegungskrüppel, der sich nicht rühren kann, ohne ein Malheur anzurichten! War es Karikatur? Formal freilich, aber das Großartige dieser Verzerrung lag eben darin, daß sie die unwesentlichen Züge unterdrückte, die wesentlichen heraushob und vergrößerte. Hier war Spiegel und Mikroskop in einem Apparat; und das unbändige Gelächter, das Baggesen entzündete, enthielt die dröhnende Paraphrase der Anerkennung: Ja, so sind wir wirklich, und der Artist repetiert nur in Minuten unsere Stolpriangeschichte von Tagen und Jahren! Aber gleichzeitig erblickte man das Konträrbild auf ein und derselben Darstellungsplatte. Denn wiederum gehörte doch ein Extrem von Technik dazu, um so viele Knalleffekte der Unbeholfenheit in einen einzigen Akt pausenlos zu vereinigen. Das konnte nur ein Koordinationsgenie zuwege bringen, das damit jenes Problem löste, die fatale Wirklichkeit abzubilden durch Mittel, die uns transzendent erscheinen, weil sie in unserer Erfahrung nicht enthalten sind.

Derartige Darbietungen werden in ihrem Range schon durch die Seltenheit bestimmt; und es ist bezeichnend, daß sie auf die Intellektuellen, auf die Gehirnmenschen noch stärker wirken als auf die Besucher der obersten Galerie. Einer meiner Freunde, weltberühmter Dramatiker, war Stammgast bei diesen Vorstellungen, und er hätte sich eher die Lektüre eines neuen literarischen Humorwerks versagt, als den immer wiederholten Genuß der Baggesen-Exzentrizitäten. In ihm lebte die Resonanz für das Transzendente dieses Artistentums, und er wußte wohl auch: das kommt nicht wieder. Ein Seitenstück mag zuvor der Zirkusclown Louis Auriol geboten haben, der unerreichte Groteske der Franconischen und Renzischen Manege. Auch dieser verstand sich auf eine meisterliche Heraushebung menschlicher Tölpelei mit sinnfälligem Kontrast zu seiner persönlichen Behendigkeit, kraft deren er im Doppelsalto über zwölf berittene Stallmeister oder auch über vierundzwanzig Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten hinwegsetzte. Er war also ebenfalls Träger eines Koordinationssystems, das zu verschiedenen Einstellungen befähigt im jähen Wechsel zwischen verhaltener und explodierender Energie das Allzumenschliche mit dem Übermenschlichen verschmelzen ließ.

Nur so kann man zum Ansatz einer Analyse der besten Artistenleistungen gelangen, und wer hier nur von Virtuosität redet, erhebt sich nicht sonderlich über einen Beurteiler, der in einem Paganini oder Tausig lediglich den Hexenmeister erblickt. Die Bravour ist in beiden Fällen nur die Außenseite, während sich der Kern der Sache an die Organe wendet, in denen sich auf noch unerforschte Art das Quantitative ins Qualitative umsetzt; an das Raumorgan Ohr und an das allgemeine Sensorium, worin unsere mechanischen Erfahrungen aufgespeichert liegen.

In ihm liegen auch noch weitere Elemente, die über Raum und Zeit hinwegragen. Die Mechanik, auf die das Sensorium reagiert, weiß nichts von politischen Grenzstrichen, sie ist universal wie die Gravitationskonstante. Im Umkreis der Artistik herrscht sonach eine Internationalität, zu der sich andere Berufsstände, auch die künstlerischen, nicht aufzuschwingen vermögen. Selbst in der Musikgilde mit ihrer kosmopolitischen Tonsprache gibt es nationale Betonungen, die oft genug fremdfeindliche Akzente werden; der Komponist und sein Interpret gehört noch zur Scholle, und nur der Bewegungsartist vom Zirkus und Variété ist frei von jeder Nebenäußerung der Seßhaftigkeit, er vagabundiert unbedingt, und seine Leistungen bleiben in aller Welt gültig; weil sie sich aus Elementen der Dynamik und Statik entwickeln, die einer Färbung nach Land, Klima und geschichtlicher Erinnerung gar nicht zugänglich sind. Der einzelne Artist mag nach persönlichem Ausweis Deutscher sein, oder Engländer, Italiener, Ungar, in seiner Betätigung ist er es so wenig, wie Ikarus ein Grieche war, das Individuelle tritt in ihm zurück, die Gattung hervor, in einem mythologischen Urmenschentum. So schwebte er mir auch vor, als ich selbst für die Arena tätig war, und ich hatte es im Gefühl, daß man die Vorgänge eines Zirkusstücks aus der Zeit herausheben müßte in eine Zeitlosigkeit, welche die Aufstellung urmenschlicher Typen ermöglicht.

Banal sind die Melodieen der Circenses und der Variétéwelt, wenn man sie ablöst von den mechanischen Leistungen, und die Darsteller pflegen bei der Auslese ihrer Begleitmusiken nicht sehr wählerisch vorzugehen. Aber sie können nicht verhindern, daß im Empfangsorgan etwas Elementares mitklingt, aus Unter- und Übertönen, die der Körperrhythmik selbst angehören. Während ich hier einzelne Namen aufs Papier setze aus längst verschollener circensischer Vorzeit, höre ich ganz deutlich zugeordnete Orchesterklänge, die ungerufen aus der Zeitverschüttung aufsteigen. Und ich wüßte nicht zu sagen, was eigentlich dabei in mir das Primäre ist, die klangliche oder die gegenständliche Reminiszenz. Jedenfalls sind beide für mich aufs engste assoziativ verbunden, und ein halbes Jahrhundert vermochte den Zusammenhang nicht im geringsten zu lockern. Er ist so zählebig organisiert, daß er mir am Schluß dieser Betrachtungen bis in den begrifflichen Ausdruck fühlbar wird mit rhythmischem Einfluß auf Hand und Feder. Und so greife ich selber auf meine alten Tage nach einem jambisch-dithyrambischen Schwingtrapez:

Das ist die Welt der schwankenden Gestalten,
die uns der Urwelt buntes Abbild zeigt,
wo aus phantastisch aufgeschloßnen Spalten
ein Zauberdasein übersinnlich steigt;
was uns die Kunst verspricht, hier wird's gehalten
in wirrem Treiben, holdem Wahn geneigt,
es mahnt an Zeiten, welche längst vergangen,
Mysterien sind es, die uns hier umfangen.

Artistenwelt! Du gibst dem innern Sehnen,
das Widerspruch begehrt im Lebensspiel,
das zum Kontraste drängt mit starkem Dehnen,
du gibst dem Drang ein offenes Ventil:
hier darf es seiner Fesseln sich entwöhnen,
hier strömt es aus mit freiem Lustgefühl;
wie träumend wird es andern Daseins inne,
in einem regellosen Kult der Sinne.

Hier wird die starre Schranke hochgewunden,
die uns bei jedem Schritt in Banden hält;
»Unmöglichkeit« – der Zwang ist ganz verschwunden,
die Logik selbst wird auf den Kopf gestellt;
vom kettenden Gesetz ist losgebunden
zu unserm Staunen die Artistenwelt;
hier wohnt der Mensch, der nirgends sonst entdeckte,
der Sieger bleibt im Kampf mit dem Objekte.

Das ist der Sieg, den wir mit Lachen grüßen,
wir andern, die umklammert vom Objekt,
die wir das frohe Wunder mitgenießen,
das im Geschick geübter Muskeln steckt.
Aus starken Leibern kann Humor entsprießen,
mit unfehlbarem, stürmischem Effekt;
das ist der Zauber der Artistensphäre,
der uns befreit vom Rest der Erdenschwere!


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