Alexander Moszkowski
Das Panorama meines Lebens
Alexander Moszkowski

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Zwischen Sumpf und Himmel

Diese Flegeljahre erstrecken sich reichlich über ein Dezennium, wenn auch nicht in lückenloser Folge. Längere unverflegelte Zeiträume liegen dazwischen, Intervalle, in denen ich mich auf mich selbst besann und in strammer Berliner Arbeit einem löblichen Philisterium oblag. Aber wie der Quartalstrinker der periodischen Versuchung unterliegt, so packte es mich in längst verflossener Jugend alle Jahre ein paarmal mit der unbezwinglichen Gewalt, die man sonst nur dem Heimweh zuschreibt. Ein Teil meines Selbst, – heut muß ich wohl bekennen: der schlechtere Teil – wurzelte in der Pariser Bohème, und es war die Stimme des Zigeunerblutes, die mich immer wieder in jenen romantischen, grotesken Kreis zurückrief. Dagegen war ich wehrlos, und offen gesagt, ich strengte mich auch nicht sonderlich an, um mich gegen die Verführung zu waffnen. Oft hockte ich noch am Spätnachmittag an meinem Berliner Schreibtisch, bastelte an irgend einem kunsttheoretischen Aufsatz, in der sicheren Umfriedung der Penaten, unverlockt von Plänen, die auch nur über die nächste Straßenecke hinausgegriffen hätten, – und zwei Stunden später saß ich mit hastig gepacktem Ranzen im Nachtschnellzug, beglückt vom Eisenbahnrhythmus, aus dessen Synkopen es mich schon wie eine Vorahnung aller »Cris de Paris« anflog. Niemals hatte ich dabei die Vorstellung eines extravaganten Entschlusses, kaum eines leichten Impromptus. Man fuhr eben nach Paris, weil der Trieb der Minute sich meldete. Ein Ausflug nach Potsdam erfordert heut mehr Vorbereitung, Umständlichkeit, Kassensorge, als damals eine Reise, an deren Zielpunkt eine andere Welt sich aufbaute; das seltsame Zauberreich der Murger und Dumas, bevölkert von Kunstjüngern, Studenten und Halbdirnen, die in Not und Bedürftigkeit ein Elysium erleben; Figuren eines Dramas, in dem die Motive der Tragödie mit denen des ausgelassenen Schwankes bunt durcheinander wirbeln. Das ist die Vie de Bohème, die lange bestand, bevor sie entdeckt wurde, und die länger bestehen wird als die nach ihnen geformten Opern von Leoncavallo und Puccini. Regentin dieses Lebens ist die Fee Illusion; sie hatte vordem ihr Lager auf dem linken Seineufer, und ich war dabei, als sie nach dem hügeligen Gelände des Montmartre übersiedelte, mit ihren Requisiten und magischen Laternen, aus denen sie die Blendeffekte einer Fata Morgana entwickelte.

Wenig oder nichts von diesem bekam der Fremdling zu spüren, der sich bei einem Pariser Aufenthalt lediglich nach den Gesichtspunkten der Sehenswürdigkeit oder der großen Sensation einrichtete. Man mußte erst mit dem Allerwelts-Paris fertig sein, mit den Museen und Theatern, mit der Historie und den Monumenten, bevor man in den Hintergrund vordrang, der dem Betrachter so gar nichts an äußerlichem Reiz entgegenstellte. Ja, genau genommen, gab es da durch Jahrzehnte überhaupt nichts zu sehen, sondern nur zu erfühlen, denn diese Bohème war eine Bühne ohne Parkett, und wer nicht mitzigeunerte auf der Szene, der fand nicht einmal einen Platz zum Beobachten.

Wie ich selbst da hineingeriet? Jedenfalls nach keinem vorüberlegten Plane, ohne Vorsatz. Der Zufall hatte eine siebenköpfige Schar von Jungmannen und Jungmänninnen zusammengeführt, einige von französischem Geblüt, die anderen von österreichischer Herkunft und etliche Reichsdeutsche. Entscheidend war der Genius loci in unserem Quartier der Rue Baudin, nördlich der Rue Lafayette, der Geist des Hauses selbst, der keinen Unterschied nach Nationalitäten machte, sondern jeden Bewohner dieser ziemlich spelunkenhaften Wirtschaft mit seinen Essenzen beträufelte. Damals war der Roman Pot-bouille von Zola noch gar nicht geschrieben; als ich ihn später las, erkannte ich in ihm viele Züge unseres eigenen undisziplinierten Hausrats von der Rue Baudin. Und als ich noch später die vorerwähnten Bohème-Opern sah, kamen sie mir wie Verschlechterungen der Wirklichkeit vor. Denn die wirkliche Bohème ist gar nicht dramatisch, sondern sie spinnt sich ziellos als eine von zahllosen Humorlichtern übersprühte Lyrik. Wir beide, ich und mein Bruder, der Komponist, wir standen nach Gesinnung und Lebensvergangenheit anfänglich noch über der Sache und ließen uns das direktionslose Bummeltreiben eben nur gefallen, ohne ihm flegelhafte Impulse zu erteilen. Allein der liederliche Hausgeist verwirbelte uns schnell genug in das Lebensgesudel der Genossen, und nach kurzer Zeit schwammen wir mit aller Virtuosität in dem trüben Gewässer, das an der Oberfläche so hübsch irisierte.

Nichts ging hier nach Richtschnur und Gepflogenheit bürgerlicher Regel, höchstens waren Spuren eines geselligen Komments vorhanden, der sehr viele Erlaubnisse enthielt und auf der Gegenseite nur das Verbot, sich korrekt zu benehmen. Man verabscheute alle Gradlinigkeit und schwärmte für Lebenskurven mit recht vielen Unstetigkeitspunkten. Alles was man dachte, kam aphoristisch, paradox, unlogisch zum Vorschein. Schließlich wollten diese jungen Leute doch auch einmal Karriere machen, aber sie haßten die Karrieremacher, die Gesicherten, »Arrivierten« und sie glaubten, daß sie den Erfolg schon einholen würden, auch wenn sie gar keine Anstrengung machten, um sich ihm zu nähern. Es war eben Sache des Erfolges, die Befähigten herauszufinden und sie später einmal für die Ausdauer zu krönen, mit der sie am einstündigen oder keinstündigen Arbeitstag festgehalten hatten.

Es herrschte ein weitgehender Kommunismus, der sich bis auf Kleidungsstücke, Räume, ja bis auf Temperaturen erstreckte: hatte einer im Winter mittels primitiver Heizvorrichtung im Zimmer einen erträglichen Zustand erzielt, so lagen ihm die übrigen auf dem Halse, die ihre Anwesenheit durch vielfaches Gespaße rechtfertigten, Wärmegrade nassauerten und den Berechtigten bei jedem Anlauf zur Tätigkeit erfolgreich störten. Denn es kam allerdings vor, daß einzelne Arbeit markierten und sogar Geld verdienten, das dann gewöhnlich durch die im Hause verzweigten Pumpröhren rasch genug abfloß. Man war, ganz wie bei Murger, mit einem 20-Franc-Stück »le capitaliste«, und wenn sie Glück hatten, wußten sich die Kapitalisten tagelang im stolzen Besitz zu behaupten; so mein Bruder und der Wiener Liederkomponist Richard Prandl, die im Konzertleben bereits eine ansehnliche Stellung erreicht hatten. Natürlich wurde die Minderheit der Erwerber bei den gemeinsamen Mahlzeiten unserer Bohème mit besonders kräftigen Kontributionen herangezogen. Diese Gelage im Zimmer, auf defektem Geschirr und mit dem Komfort prähistorischer Bestecke, waren nach dem Prinzip Picknick organisiert. Wir kauften an den Viktualienständen was uns gerade in den Wurf kam und schwangen uns bisweilen bis zu grünbärtigen Austern empor, einer Sorte von Arcachons, die nach eingeseiftem Hering schmeckte und die man beim Straßenhändler häufelweise erstand; zu 60 Centimes eine hohe Tüte voll. Jeder hatte zu den Picknicks seinen Beitrag zu steuern an Weißbrot, Käsescheiben, Wurstfragmenten, Obst, bis zu gewissen Extravaganzen vom Geflügelmarkt, und es gehörte mit zum Programm, daß ein bemerkenswertes Mitglied unseres Siebengestirns, der Schriftsteller Philipp, durchweg den größten Appetit mitbrachte. Darüber hinaus verstieg er sich lediglich bis zum Pfefferdeputat. Niemals gelang es uns, ihn zu einer stärkeren Leistung zu begeistern: das Register seiner Lieferungen begann und endigte beim Pfeffer.

Aber Philipp hegte Pläne, sehr weit ausgreifende Pläne, und diese entwickelte er uns gewöhnlich während der gemeinsamen Schlemmerei in der Stube des mir brüderlich nahestehenden Pianisten. Dieser war der einzige unter uns, der ein leidlich präsentables Zimmer bewohnte und darin Spuren einer bürgerlichen Ordnung aufrecht hielt. Er besaß nicht nur einen Stutzflügel mit beinahe vollzähliger Saitenbespannung, sondern auch einen Dauerbrandofen vom Format eines Herrenzylinderhutes und obendrein einen geräumigen Wandschrank, der gleichzeitig als Musikbibliothek, Kleiderspind, Wäschekommode und Vorratskammer diente. In diesem beträchtlichen Spinde herrschte Regel und Übersichtlichkeit wie in einer vortrefflichen Registratur: so befanden sich in einem Fache lediglich Klavierwerke von Chopin und Strümpfe; in einem anderen Beethoven und Schlipse, im dritten Robert Schumann und Dauerwurst, darunter Richard Wagner und Rasierzeug, und so fort mit Ausschluß jeder Willkür. Alles war auf leichte Orientierung angelegt, und in der Behandlung dieser Schätze zeigte sich sogar eine gewisse Pedanterie. So litt es der Tonkünstler niemals, daß die Bedienerin seinen Universalschrank mit unzweckmäßigen Werkzeugen bearbeitete, er erläuterte ihr vielmehr: es schickt sich nicht, dieses Möbel mit dem Feuerhaken zu öffnen; in einem anständigen Hauswesen benutzt man hierzu den Pfropfenzieher!

Derartige Kleinlichkeiten lagen nicht im Horizonte unseres Schriftstellers Philipp. Unter ihm verschwand der Alltag der Rue Baudin, ja die Gegenwart überhaupt, da er unausgesetzt in hoffnungsfrohen Zukunftsträumen schwelgte. Er hielt sich für den Träger einer kosmopolitischen Idee, antizipierte gleichsam den späteren Romain Rolland, wenn auch nicht nach Ausmaß seiner geschriebenen Werke. Denn er zog mit federleichtem literarischen Gepäck durch die Welt, spürte aber darunter die Adlerschwingen und glaubte, um so höher fliegen zu können, je weniger er sich befrachtete.

Beharrlich entwickelte er uns seine Absicht, das geistige Frankreich mit dem geistigen Deutschland zu verschmelzen und eine Vereinigung der führenden Köpfe beider Nationen in die Wege zu leiten. Ein Universalsalon nach dem Muster des Hotel Rambouillet müsse geschaffen werden, mit Anklängen an Perikles, Plato und Aspasia, ein Brennpunkt des Wissens und des Esprits, der seine Strahlen weit hinaussenden sollte in alle Lande; nur mit dem Unterschied, daß bei der Marquise von Rambouillet Leute wie Balzac, Malherbe, die Scudéry, also lauter Franzosen, tonangebend gewesen wären, während im Kultursalon Philipp ein neuer Geist, der franko-germanische, unumschränkt regieren sollte. Diese wunderbare Synthese, sein Lebenswerk, würde man ihm dereinst höher anrechnen, als wenn er Dutzende von Romanen im Umfang der Balzacschen verfaßte. Es war völlig belanglos, daß er in diesem Zusammenhange die zwei Balzacs miteinander verwechselte und vermengte. Nur auf das künftige Universalwerk kam es an, und dieses trug er einmal besonders lichtvoll vor, als er auf ein von mir gestiftetes, von ihm mit Pfeffer gewürztes Schweinskotelett einhieb.

Ich warf die Frage auf, ob er denn seinen phänomenalen Kultursalon im fünften Stockwerk einer Burschenbude auf dem Montmartre einzurichten gedächte.

Aber mit dieser Ironie drang ich nicht durch. Der Reformator erklärte es als völlig verfehlt, seine Idee vom Standpunkte eines finanzprotzigen Luxus zu betrachten: »Einfach und gediegen soll es hergehen auf dem Neutralboden meiner Völkerverbrüderung, und zur Bereitung dieser Geisterarena bedarf es keines Palastes in den Champs Elysées, sondern nur einer Persönlichkeit, die imstande ist, ein Pantheon der Lebenden gleichviel wo zu errichten; das steht übrigens schon in meinem Feuilleton, das ich vor sechs Jahren im »Literarischen Magazin« veröffentlicht habe.«

»Ohne Ihnen nahetreten zu wollen,« warf ich ein, »mit welchem Rechte halten Sie sich für diese Persönlichkeit?«

Philipp begründete dies mit einer Kette von Argumenten. Er wäre im geistigen Paris kein Unbekannter. Emile Zola, Daudet und Maupassant besäßen Briefe von ihm mit Anregungen, die sich in den Schöpfungen dieser Meister merklich ausgewirkt hätten. Sarah Bernhardt habe die Lady Macbeth gespielt, unmittelbar nachdem er, Philipp, ihr schriftlich geraten hätte, sich mit Shakespeare zu beschäftigen: »das sind gewiß nur Einzelheiten, allein sie summieren sich doch zu einem Schwergewicht in der literarischen Welt. Jetzt warte ich nur noch, bis Paul Heyse einmal nach Paris kommt, dann nehme ich mit ihm die Sache in Angriff.«

Die Frage, ob Paul Heyse mit ihm in Kompanie gehen würde, beunruhigte ihn nicht weiter. Er berief sich darauf, daß er Heyse in seinem Feuilleton vor sechs Jahren lobend erwähnt hätte und für diese Gönnerschaft eine Gegenleistung erwarten dürfe. »Und selbst wenn Heyse sich spröde verhalten sollte, so bleibt mir noch Paul Lindau, den ich in dem nämlichen Feuilleton mit Sardou verglich.«

Mit diesem gedruckten Feuilleton hatte es seine Richtigkeit; es bildete auf der Lebensliste unseres Gefährten ein Unikum, ohne Vorläufer und Nachfolge. Seit Jahren hantierte er schriftstellernd überhaupt nur noch mit einer Schere und einem Taschenbleistift. Er schnitt aus allerhand Zeitschriften kleine Gedichtchen aus und registrierte sie auf Zigarettenpapier, um sie später einmal anthologisch zu verwerten. Hierfür bestand indes wenig Aussicht, da er diese Papierchen immer wieder mit Caporaltabak zusammendrehte und aufrauchte. Nicht viel besser erging es einem Dutzend Gedankensplitter, die Philipp ursprünglich auf seine Manschetten notiert hatte, denn die Hemdröllchen hatten sich längst im Wege aller Chlorwäsche zerfasert und verkrümelt. Kam dann die Rede auf positive literarische Leistungen, so nannte er als Vorbilder Sokrates und Diogenes, die doch überhaupt nichts geschrieben hätten und trotzdem von aller Welt als geistige Größen anerkannt wären.

Die Parallele mit dem besitzlosen Diogenes brachte die Finanzfrage wieder ins Rollen. Es wurde festgestellt, daß die Kapitalverhältnisse des Reformators unbeschadet ihrer späteren Blüte einer sofortigen Besserung bedurften; denn er saß nicht nur bei uns in der Kreide, sondern auch bei der Bedienerin und hatte sogar unlängst versucht, einen Gerichtsvollzieher auf der Treppe anzupumpen. In der Debatte tauchte das Wort »Conférence« auf. Ja, das war die erlösende Parole. Philipp mußte in einem großen Pariser Saale einen Vortrag halten als Prolog seiner deutsch-französischen »Geistesamalgamierung«, da war auf die Teilnahme der deutschen Kolonie bestimmt zu rechnen, und bei einem Eintrittspreis von zehn Francs für den Sitz blieb unserem Kumpan ein stattliches Erträgnis so gut wie sicher.

Tags darauf erschien der Literat sehr aufgeregt in meinem Zimmer zu besonderer Rücksprache wegen der Fassung des Programms. Als Thema hatte er vorläufig gewählt: »Die deutsch-französische Literatur seit dem neunten Jahrhundert bis auf die Gegenwart«. Hierzu aber müsse er sich noch einige Quellenwerke verschaffen, und ob ich ihm zu diesem Zweck eine Summe vorstrecken wolle. Ich bewies ihm, daß das Thema in dieser Allgemeinheit uferlos und an einem Abend nicht zu bewältigen wäre, wir limitierten daher die Ausgangspunkte auf Goethe und Voltaire. Damit war der Spezialisierungstrieb in ihm rege geworden; am Nachmittag hieß das Thema nur noch: »Von Rousseau bis Heine«, und als das Programm druckfertig gemacht werden sollte, erschien die definitive Fassung: »Über einige Merkmale in den Schriften Paul Lindaus«.

Die Saalmiete machte Schwierigkeiten. Der »Trocadero« mit seiner Sitzgelegenheit für 6000 Personen empfahl sich zwar durch Größe, sollte aber ein Heidengeld kosten, die Aula der Akademie war schon anderweitig besetzt, und so nahmen wir schließlich einen kleinen Saal am Boulevard Clichy, der eigentlich nur die Dependance eines beliebten Tanzlokals bildete. Mit dem Kartenverkauf haperte es merklich. Bei uns Hausfreunden fanden zwar die ersten acht Billets zu Vorzugspreisen von je zwei Francs reißenden Absatz, allein eine neunte Karte wollte sich absolut nicht verkaufen lassen. Der Versuch, den deutschen Botschafter Hohenlohe zu einer Propaganda zu veranlassen, schlug gänzlich fehl, und nur ein großes Boulevardblatt erklärte sich bereit, zwanzig Karten abzunehmen und eine freundliche Besprechung in seinen Spalten zu liefern gegen Vorauszahlung von 2000 Francs an die Kasse des Zeitungsverlags.

Unser Freund arbeitete inzwischen krampfhaft an seinem Vortrage und vertilgte hierzu bei den Mahlzeiten unerhörte Quantitäten, um seiner Denkmaschine die nötigen Kalorien zuzuführen. Seit einigen Tagen besaß er Tinte, Federhalter und große weiße Papierbogen, mit welchen Utensilien er nicht nur die Behausung, sondern auch unser Stamm-Café unsicher machte; die Kellner bestaunten diesen Gast, der anstatt vor sich hinzuträumen, wie es einem poète allemand gezieme, offenbar in Graphomanie verfallen war. Daneben beanspruchte ihn die Neuordnung seiner Toilette, die allerdings noch weit reformbedürftiger erschien als das franko-germanische Geistesleben. Denn mit seinem eigenen, bereits viermal gewendeten Anzug hätte er nicht wagen dürfen, ein Pariser Parkett anzusprechen. Zum Glück befand sich in dem großen Wandspind meines Bruders ein Fach für Johann Sebastian Bach, Frack und Plätthemd, und es gelang, diesen Grundstock durch anderweitige Besitztümer des Kreises mosaikartig zu ergänzen. Und in dieser Galatracht, von der ihm nicht Faden noch Knopf gehörte, betrat unser Philipp tatsächlich an einem denkwürdigen Winterabende das Podium, um sich seine Conférence von der Seele zu reden.

Eine unserer Hausflammen, Alice Bijou, die Spezialfreundin des Liederkomponisten Prandl, hatte noch drei Damen aus dubiöser Gesellschaftsschicht mitgebracht. Sonst Besucherinnen der amüsanten Kneipe »Rat mort«, bekundeten sie, wie manche ihrer Art, feinschmeckerische Instinkte für das Schöngeistige, und obschon sie kein Wort Deutsch verstanden, heischten sie den Beginn des Vortrags, den Philipp von einer Viertelstunde zur andern hinauszögerte, weil ihm doch unsere spärliche bunte Reihe nur als ein sehr verblaßter Abglanz des literarischen Frankreichs zu erscheinen vermochte. Das Verlangen der Weiblichkeit nach der Leistung des poète allemand äußerte sich schließlich so stürmisch, daß dem Frackträger nichts übrig blieb, als seine Conférence steigen zu lassen.

Aber es war gar keine Conférence. Er zog vielmehr sein mehrfach beöftertes Feuilleton von anno Olim aus der Tasche, und las dessen verjährten Text einfach ab. Hiergegen erhoben wir Freunde natürlich berechtigten Einspruch, der Wiener rief dazwischen, diese Wiederkäuerei wäre doch zu fad, es stünde ja übrigens ein Klavier in der Ecke, darauf sollte man lieber Musik machen, das könne weit lustiger werden als so ein literarisches Geplärr. Im Nu saß der Pianist an der Tastatur, die Klänge einer Contredanse brausten durch den Saal, und wie auf Kommando räumten wir die Stühle beiseite, um Platz für eine flotte Quadrille zu schaffen. Das wirkte wie ein befreiender Zauber, die Veranstaltung löste sich in einen wirbelnden Cahut auf, und in cancanierenden Rhythmen gestaltete sich der Abend zu einem höchst genußreichen für alle Teilnehmer.

*

Ich nannte soeben eine unserer Hausfreundinnen, und ihr besonders möchte ich hier ein verspätetes Requiem singen; denn sie steht vor mir als die Vertreterin einer vermutlich ausgestorbenen Gattung, deren Spuren man in den Chroniken und Literaturdokumenten kaum noch auffinden wird. Die Mentalität unserer Alice Bijou ist schwer zu beschreiben. Sie war Trägerin eines Persönlichkeitswertes, dem ich ohne weiteres sittliche Größe zuspreche, obschon man sie, nach üblicher Taxe messend, dem Kokottentum zugeordnet hätte. Also etwa eine Traviata, eine Kameliendame, jenseits der Geschlechtsmoral, gutherzig, anhänglich dem jeweiligen kurzfristigen Verhältnis? Nein, darauf will ich nicht hinaus. Solche Figuren hat es vielfach gegeben, sie passen in ein allgemeines dichterisches Schema, und ihr Typus wird sich wiederholen. Aber diese Alice besaß einen Gemütstresor von besonderer Tiefe und darin eingelagert ein seelisches Kleinod, dessengleichen ich bei keiner ihrer Geschlechtsschwestern angetroffen habe. Sie hegte abseits ihrer sinnlichen Bedürfnisse ein ganz reines Freundschaftsgefühl für ihre Umgangsgenossen, und wenn sie einem bestimmten zeitweis körperlich treu war, so umfaßte sie doch uns alle mit geradezu leidenschaftlichen, übersinnlichen Empfindungen. Für sie war die Hausgemeinschaft an sich ein Motiv zur Berauschung. Weder für meinen Bruder noch für mich kam sie auch nur sekundenlang über das Kameradschaftliche hinaus in Frage. Aber ebenso zweifellos bestand es, daß sie ihren letzten Sou und ihren letzten Bissen geopfert hätte, um bei Gefahr einer Trennung das Zusammensein mit uns eine Stunde zu verlängern.

Ihre Wildlingsnatur setzte sich über alle Rücksicht hinweg und beobachtete nicht einmal die Schranken, die sonst auch die Gamine anerkennt. Auf der Straße verfiel sie nicht selten aus dem Trottoirgang in einen graziösen Tanzschritt, und plötzlich, zum Erstaunen aller Passanten, schoß diese schöne, schlank gewachsene und gut angezogene Person mitten auf dem Boulevard Kobolz, oder sie voltigierte bei hellem Tage radschlagend quer über den Fahrdamm. In der nächsten Minute stand sie vor der Auslage eines Bildes, einer Skulpturenhandlung, und äußerte Kunsturteile, so treffsicher, so feinfühlig wie eine diplomierte Kunstschülerin, rein aus der Intuition heraus, ohne jemals irgendein Kunstfach in Lehre oder Übung berührt zu haben. Sie konnte in Benehmen und in Sprechweise Gassenmädel sein, Zigeunerin und Dame, wie es der Moment ihr eingab, und alles stand ihr gleich gut. Aus der ruppigsten Tonart bog sie unvermutet in einen romantischen Gedankengang, und wenn sie dabei in Tonfall und Haltung die elegante Redeform anwandte, so war sie bei ihr in diesem Augenblick Original, niemals Kopie.

Nach Jahren, längst nachdem unser Junggesellenzirkel aufgeflogen war und wir Herren in gesitteten Ehen Unterkunft gefunden hatten, äußerte eine zu meinem Familienkreise gehörige Dame den Wunsch, jenes Geschöpf kennen zu lernen, das in unseren Reminiszenzen einen so bevorzugten Platz einnahm. Alicens Spur war verlorengegangen, und es bedurfte des Zusammenwirkens seltsamer Zufälle, um mich auf die Fährte zu leiten. In Paris ein verschollenes Wesen aufzustöbern, das setzt eine Expedition voraus von der Art Stanleys, als er auszog, um Livingstone zu finden. Endlich fand ich die versprengte Genossin, weit entfernt vom ursprünglichen Schauplatz, im Pariser Osten vereinsamt. Als ich unvermutet ihr Zimmer betrat, erlebte ich an ihr einen Gefühlsüberschwang, der für eine hochdramatische Opernszene ausgereicht hätte. Und als sie vollends von mir erfuhr, daß auch mein Bruder demnächst wieder in Paris sichtbar werden würde, erlag sie fast einem Paroxysmus, so daß ich selbst vor dieser schluchzenden, von Tränen überströmten Person ganz fassungslos wurde. Gewiß, ich hatte das freudige Aufleben einer alten Kameraderie erwartet, aber nicht einen Tumult, dessen Heftigkeit doch irgendwelche erotischen Beziehungen vorausgesetzt hätte. Alice besaß, wie gesagt, Nerven, die auf Freundschaft noch stürmischer reagierten als auf Liebe, und was bei ihr zum Durchbruch kam, war ein langverhaltener Trieb, in dem das Heimweh nach der versunkenen Gemeinschaft unserer Bohèmewirtschaft jäh emporloderte.

Tags darauf rüstete ich in meiner damaligen Wohnung, Rue Grammont, einen behaglichen Fünf-Uhr-Tee, um die beiden Damen aus der Halbwelt und der Ganzwelt zusammenzuführen. Hier war auf beiden Seiten Gelegenheit zur Erprobung des Taktes gegeben, und beiderseitig wurde die Aufgabe in gesellschaftlichem Sinne so vorzüglich gelöst, daß die getreue Wiedergabe dieser Begegnung in einem Pariser Sittendrama der Wirkung sicher gewesen wäre. Alice hatte für ihre Erscheinung einen leisen Anflug von Eleganz aufgeboten, nur so viel als nötig war, um der Feiertagsstimmung gerecht zu werden; denn sie spürte die Auszeichnung und war weit entfernt davon, mit Kurtisanenhochmut Klasse gegen Klasse auszuspielen. Anderseits indes gab sie sich ganz freimütig und ohne Verschleierung ihrer libidinösen Vergangenheit, um der fremden Dame keine Maskerade vorzumachen. Sie verleugnete weder ihre Sphäre, noch unterstrich sie deren Merkmale, und ich selbst empfand eine gewisse Genugtuung darüber, daß die von mir so oft gerühmte Alice als Studienobjekt vom Montmartre wie als Eigenperson hier so trefflich bestand. Meine Verwandte war ganz bezaubert von ihr, und wenn mich die Erinnerung nicht trügt, so kam es zwischen beiden Teilnehmerinnen der Teestunde zu offener Freundschaftserklärung. Die Episode fand ihren Abschluß in einem prächtigen Geschenk, das die rangierte Dame der nun fast ausrangierten zustellte. Eine melancholische Begleitempfindung sagte mir, daß Alice wurzellos dahintrieb und bald verwelken würde. Die Fähigkeit, sich anderen Gemütsbedingungen anzupassen, sich etwa in die Ordnung einer kleinbürgerlichen Existenz hineinzufinden, war ihr versagt. Sie konnte nur im Jugendlenz vegetieren, umgeben von der grundlosen Fröhlichkeit einer Kumpanei, die sich aus Nichtigkeiten eine Schlaraffenwelt gebaut hatte. Ich habe sie nicht wiedergesehen. Als ich nach einiger Zeit abermals nach ihr forschte, verliefen sich ihre Spuren ins unentdeckte Land, von dessen Bezirk kein Wanderer wiederkehrt.

*

Hätte ich mir vorgenommen die Pariser Irrgänge meiner Jugend genau zu registrieren, so würde sich das schriftliche Ergebnis keinesfalls zu einem Erbauungsbuch eignen. Aber auch wenn ich von mir zeitweilig absehe, um die Schilderung eines Milieus in den Vordergrund zu stellen, sehe ich mich genötigt, gewisse Retuschen anzuwenden und einzelne Erscheinungen nur wie durch einen Schleier zu zeigen. Ich möchte hier weder als Anwalt gewesener Lüsternheiten auftreten, noch sie kapuzinerhaft anschwärzen, versuche vielmehr aus den Gegebenheiten eine für diese Darstellung brauchbare Resultante zu ziehen.

Wenn man das Wort Seine-Babel ausspricht, so glaubt man immer zu übertreiben und verläßt sich darauf, daß der Vergleich nicht kontrolliert werden kann. Trotzdem wäre zu bezweifeln, ob in Altbabylon die voluptuösen Exzesse so beharrlich und so weitgedehnt betrieben wurden, wie im Babel an der Seine zur Zeit des ausgehenden Jahrhunderts und darüber hinaus, als man noch im Nachhall des Prädikates fin de siècle lebte. Denn nicht im Abstand vom Mythologischen zum Gegenständlichen lag das Wesentliche, sondern darin, daß die uralte Libido im Dienste einer Mylitta und Astarte staatlich-priesterlich gerechtfertigt war, während man in Paris alles darauf anlegte, behördliche Verbote zuerst zu erzwingen und nachher zu verhöhnen.

Es regnete Verordnungen über Verfügungen, diese verdichteten sich zu Gesetzen, kulminierten in der »Loi Bérenger«, benannt nach einem sittenstrengen Senator, der dafür jahrelang durch die Kotpfützen der Revuen und Spektakelstücke geschleift wurde. Der deutsche Tumult um die »Lex Heinze« bot nur ein schwaches Abbild dieser französischen Rebellion, die das Geschlechtstier im Menschen in voller Nacktheit herausstellte. Im Hintergrund entfaltete sich Rousseaus Banner mit dem Programm »Zurück zur Natur«, im Vordergrund tobte ein Exhibitionismus, der vom mänadischem Bacchantentum die Wildheit und von den Atelierkünsten der Modernsten das Raffinement entlehnt hatte. Und man mußte in ganz Paris schon sehr vorsichtig in der Wahl der Schaustätten sein, um nicht allabendlich auf Szenen zu stoßen, die mit Kleidung und Entkleidung, mit Sichausziehen und Ausgezogenwerden ein paradiesisch-satanisches Spiel trieben.

Die Künstlergilde vom Montmartre ging hier voran mit den Sensationsveranstaltungen des »Bal des quatre-z-arts« und des »Bal du Courrier«, die sich in den weiten Räumen des Moulin rouge austobten. Diese Bälle standen unter der Diktatur einer strengstens durchgeführten Kostümvorschrift, mit den wechselnden Forderungen Altgriechisch, oder Orientalisch, oder Renaissance usw., und man hatte eine Kette von Instanzen zu passieren, die mit geschärfter Sachkennerschaft jede Tracht prüften und jede nicht absolut stilechte aussperrten, mochte auch deren Inhaber durch Konnexionen und Zahlungskraft noch so sehr legitimiert erscheinen. Bis zur Mitternacht vollzog sich die Lustbarkeit als eine historisch getönte Augenweide in allen Formen der Dezenz, und durch keine Geste, noch Anspielung verriet sich die eigentliche Tendenz des Balles. Dann erschien plötzlich, von Lichtflut übergossen, eine vereinzelte Frauengestalt auf der Empore, die von der Festleitung vorbestimmte Signalgeberin, deren Kostüm so eingerichtet war, daß es mit einem bänderlösenden Griff abgeworfen werden konnte. Restlos, ohne Rückstand irgendwelcher Dessous. Und in der nächsten Minute flog von aller Weiblichkeit ringsum bis zur entlegensten Nische jede Verhüllung. Wie es möglich war bei solch allgemeinem Kostümabwurf die Eigentumsrechte an den Gewändern für die spätere Auslese zu sondern, das entzieht sich meiner Kenntnis. Genug, daß von diesem Moment die Tracht nichts mehr galt und die Fleischlichkeit alles. Bis auf die Begriffsspur war die Scham ausgetilgt, und der Chronist sieht sich genötigt, vor dem Prospekt der anschließenden Massenszenen den Vorhang zu ziehen.

Die Strafprozesse auf Grund des Code pénal und des Gesetzes Bérenger nahmen kein Ende, und die Gefängnisse füllten sich mit den Freundinnen und Modellen der Künstler. Denn der Einwand der »geschlossenen Gesellschaft« fiel gegenüber der erwiesenen Öffentlichkeit zu Boden, war auch von den Beschuldigten nicht ernst gemeint. Im Gegenteil, es gehörte zu den Standespflichten, eingesperrt zu werden, und diese Damen trugen ihre Strafregister mit dem nämlichen Stolz, wie die Genossinnen der Pentesilea ihre Kriegsnarben. Zählten sie doch überhaupt zu einer abgehärteten Rasse, die gewohnt war, den Gefahren und Wunden zu trotzen. In einem ihrer Hauptquartiere, in der steilen Rue Lepic, gab es Nacht für Nacht Messer- und Revolveraffären, und ein bedeutender Künstler hat mir versichert, er habe seit Jahren keinen heilen Frauenkörper zu Gesicht bekommen; kein Modell ohne wenigstens zehn Dolchstiche am Leibe.

Die Nuditätswelle überschwemmte ganz Paris. Mit Ausnahme der alten Elitetheater, die in ihrem gefestigten Repertoire einen natürlichen Deich fanden, widerstand keine Bühne der wilden Flut, und wie die Pilze schossen neue Schaustätten herauf, in denen das Thema der Nacktheit stupide oder witzig variiert wurde. Auf dem Theater Horloge, Champs Elysées, erschienen Prévost »Demi-Vierges« in travestierten Gesellschaftsszenen. Die jungen Damen des Stückes waren en façe ganz korrekt bekleidet, zeigten indes an der Kehrseite einen breiten Kleiderspalt vom Hals bis zu den Waden, so daß jede Halbjungfer, je nach Stellung und Wendung, als elegante Salondame oder als Venus Kallipygos wirkte. Das Olympia-Theater auf den großen Boulevards gab ein pantomimisches Drama, das alle Phasen einer Hochzeitsnacht mit peinlicher Genauigkeit darstellte. Als man späterhin versuchte, einzelne Teile dieses Stückes in kinematographischer Wiedergabe nach Berlin zu verpflanzen, verfiel schon der erste Ansatz der staatsanwaltlichen Guillotine, während es in Paris gegenüber einer Wiedergabe durch lebendige Schauspieler gar nicht mehr verlohnte, Zensur und Polizei zu mobilisieren. In der »Cigale«, einem reizenden Vorstadttempel der leichtgeschürzten Muse, wogte die Nacktheit über die Rampe hinweg bis in den Zuschauerraum. Nachdem es auf der Bühne nichts mehr zu enthüllen gab, warfen Kapellmeister und Orchestermusiker alles Entbehrliche ab, und bald beteiligte sich das Publikum an der Orgie des Blößenwahns. Auch der Widerstand wurde drollig markiert durch Mitglieder des Personals, die im Raume verteilt den Unfug vervollständigten. Da erhob eine scheinbar anständige Dame von ihrem Parkettplatz aus entrüsteten Protest; mit der Folge, daß zwei Polizisten über sie herfielen, um ihr die Kleider vom Leibe zu reißen und ihr die allgemeine Hausordnung des Déshabillé aufzuzwingen. In vielen Etablissements der Pigallegegend nahm die Splitternacktheit allegorische Formen an; man zeigte die Kardinaltugenden oder die sieben Todsünden als bewegte lebende Bilder, ohne Trikot-Ausflüchte, und man überspitzte die Effekte durch optische Hilfsmittel, besonders durch Spiegelreflexe, dergestalt, daß noch immer etwas Unbestimmtes zu erraten blieb, wenn auch schon alles blank vor den Augen lag. War es doch das Lustprinzip der sogenannten »Voyeurs«, möglichst viel zu sehen, im Versteck, durchs Schlüsselloch, mit der Illusion eines Restes von Heimlichkeit; daß in den Schaustätten die Schlüssellöcher so breit waren wie die Bühnen, gab nur Anlaß zu gelegentlichen verschmitzten Tricks, welche die erdrosselte Illusion hin und wieder zu galvanisieren trachteten.

Im großen und ganzen war es wie eine Rückwärtsrevidierung des Bewußtseins bis zum zweiten Kapitel der Genesis: und sie waren beide nackt, der Mann und das Weib, und sie schämten sich nicht. Es gab eine in Flugschriften verbreitete Sendung der zielbewußten Exhibitionisten, die den biblischen Sündenfall rückgängig machen wollten, und diese neue Erlösung trieb die abenteuerlichsten Blüten, förderte Kuriosa an allen Ecken und Enden in dem ungeheuren Gebiete vom nordisch primitiven Moulin de la Galette bis zu den Spelunken des Montparnasseviertels. Ein Journalist meines Kreises wurde von einem frisch zugereisten Wiener Strizzi bestürmt, ihn in das Lokal zu führen: »wo die nackten Madeln Billard spielen«. Mein sehr ortskundiger Kollege lachte den Herrn aus, weil selbstverständlich für eine so hirnverbrannte Spezialität auch in Neubabel keine Möglichkeit bestünde. Aber das Gelächter war verfehlt, denn der forschungslüsterne Fremdling begab sich führerlos auf die Suche und entdeckte auf eigene Faust tatsächlich eine Taverne, in der nackte Mädchen Billard spielten.

Derlei Kuriosa bildeten nur vereinzelte Kotspritzer auf dem riesigen Gewebe, das von den Adamiten der Stadt übergeworfen war und sich durch Jahre als unzerreißbar behauptete. Die ganze Erscheinung war viel zu ausgedehnt und zu zählebig, als daß man sie nur wie eine extravagante Schrulle hätte abtun können, sie trug vielmehr die Züge einer Revolte, mit der sich ein aus der Zeitverschüttung aufsteigendes Urmenschentum ankündigte. Was der Chronist davon festhält, sind nur Episoden, nicht das Ding an sich, nicht der atavistische Trieb, der ins Große steigerte, was sich vordem zu Napoleonischer Zeit nur in vereinzelten Eskapaden herausgewagt hatte. Damals war es schon ein Ereignis, daß die Operettendiva Hortense Schneider, die erste Gerolsteiner Grande-Duchesse von Offenbachs Gnaden, bei hellem Tage eine Nacktpromenade vom Grand Hôtel bis zur Madeleine unternahm. Aber das war ein spaßiges Impromptu infolge einer Wette, weit entfernt von einer programmatischen Ansage, und dem Vorgang lag nichts anderes zugrunde als die Laune einer gefeierten Frau, die für ein paar Minuten mit ihrer Schönheit über alle Barrieren der Bürgerlichkeit und Polizei hinwegsetzen wollte. Ein vergleichsweise harmloses Abenteuer, mit den späteren Massenexzessen ebensowenig in Parallele zu bringen, wie der Ritt der Lady Godiva.

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Was der erwähnte Senator Bérenger mit der Hand auf der Klinke der Gesetzgebung praktisch durchsetzte, war eine fühlbare Verteuerung aller Eintrittspreise; denn die Bühnenleiter und sonstigen Unternehmer kalkulierten die Strafgefahr in ihren Etat hinein, wälzten sie finanziell aufs zahlende Publikum, und die ehrbaren Theater durften nicht zurückbleiben, weil sonst die Snobs geurteilt hätten: Aha, billiger, also weniger lohnend. – Für mich freilich und meine Genossen im Montmartre wurde die Steuer niemals drückend, denn wir verstanden uns auf die Leitsätze der »Combinaisons«, die damals mit den Kniffen einer Kamorra die Eingeweihten geheimbündlerisch versorgte. Wer bei gewissen Traiteuren speiste, durfte billig baden, wer zehnmal billig gebadet hatte, erhielt einen Erleichterungsbon für bestimmte Friseure und Ärzte, und so erstreckten sich die Kombinationen weiter, bis man in den großen Gemeindeteich der »droits d'auteurs« geriet, aus dem sich ganz unbegreifliche Vergünstigungen für abendliche Kunstgenüsse herausfischen ließen. Die Hauptsache blieb, daß man die richtigen Restaurants herausschnüffelte jenseits von Meyer und Baedeker. Ich entsinne mich eines Wirtes wundermild, unter dessen Händen sich die gemeine Kneipenarithmetik seraphisch verklärte. Er war Spezialist in Gemüsen, und in seiner Garküche duftete es wie in den Fruchtgärten von Schiras, in denen ja neben anderen Dolden auch der Knoblauch gedeiht. Das war in der Rue La Grange-Batelière, und der Wirt mit dem famosen Hexeneinmaleins seines Tarifes hieß Labiche. Für drei Francs gab es fünf schmackhafte Gänge mit Wein, Kaffee, Likör und obendrein ein Theater-Freibillett, wobei wir durchschnittlich unter acht Schaustätten die Auswahl hatten, angefangen von den ernsten Tempeln des Gymnase und Odéon bis zu den lasziven Variétés, in denen man Unglaublichkeiten vom Genre des »Petomane« zu hören bekam. Ich will diese Spezialität nicht näher erklären, verweise vielmehr auf das Sprachlexikon, und überlasse es der Phantasie des Lesers, sich den Zusammenhang dieser Kunst mit dem Vortrag ganzer Arien auszumalen. Ich erwähne dabei als Kuriosum, daß es bei einem Gastspiel dieses Künstlers zu einem Bombenskandal kam: der Bürgermeister von Bordeaux wollte das Auftreten verbieten und erzielte damit, daß er selbst, das Stadthaupt, unter dem Entrüstungssturm der Bevölkerung um die Ecke ging und von dem Petomanen aus Amt und Würden geblasen wurde. Wie denn überhaupt der Auspuff ungebändigter Leidenschaften überall stärker war als das Gesetz, die Strafdrohung und die Predigten aller zeitgenössischen Savonarolas zusammengenommen.

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Wenn ich Abscheulichkeiten registriere, so darf ich dabei nicht vergessen, daß sie allesamt Äußerungen eines turgor vitalis waren, der die Schablone des Daseins durchbrechen wollte mit jedem Mittel, das sich überhaupt als Sturmbock gegen die herkömmliche Kultur gebrauchen ließ. Mit so vielen Greueln auch die Erscheinungen durchsetzt waren, sie zeigten doch hie und da Züge, die nicht ganz einseitig aus dem Prinzip des Kannibalismus erklärt werden konnten. An der Ursprungsstätte, im Montmartre, blieben hinter der monströsen Außenseite karikaturistische Eigenheiten kenntlich, bei deren Entstehung, wie schon erwähnt, doch auch eine aufspürbare künstlerische Erfindung mitgewirkt hatte. Ich gehörte wohl zu den ersten, die den Besonderheiten der grotesken Zerrbilder im Zusammenhange mit verwandten Erscheinungen auf heimatlichem Boden nachgingen, und noch heute erkenne ich in gewissen Giftblüten der dekadenten Kunst die längst verschwundene Vorzeit. Was sich damals mit huschenden Irrlichtern über Sumpfboden als Neukunst ankündigte, war im Grunde dieselbe trotzige Verneinung des Gültigen und Logischen, wie unsere burleske Lebenshaltung in den vier Pfählen; und obschon ich genau wußte, daß es sich nur um karnevalistische Exzesse handelte, wurde ich nicht müde, die Artistenspelunken zu durchstreifen, um alle Verdrehtheiten einer auf den Kopf gestellten Kunst kennen zu lernen. Was wogen mir daneben die Abende in der Großen Oper und in der Comédie? Neun Zehntel der ernsthaften Erlebnisse sind für mich in die Versenkung gefallen und durch keine Tagebuchnotiz wieder hervorzuholen; aber der okkulte Fratzenspuk blieb mir so lebendig wie damals, als ich meine ersten grusligen Ansagen als verräterische Signale aufsteckte.

Denn ursprünglich war das alles Geheimnis. Die Türen der obskuren Lokale standen zwar offen, aber man spürte unsichtbare Gitter, die ein orphisches Geheimnis abschlossen. Der weitaus größte Teil der Pariser Bevölkerung kannte nicht das Schibboleth, und die Menschen südlich der Trinitékirche hätten das Argot dieser Dichter, Deklamatoren, Coupletsänger gar nicht verstanden, geschweige denn die ätzenden Anspielungen, die sich hinter ihrem Rotwelsch verbargen. Wir aber, die in manche Lebensformen des Edelgesindels bereits hineingewachsen waren, wir begriffen den Montmartre als eine Welt kontrastierender Erscheinungen, in der ewiger Fasching und ewiges Elend, Tollheit, Scharfsinn und Dichterphantasie, olympischer Übermut und tiefste Melancholie ineinander flossen. Aus dem Chaos lösen sich im Rückblick Figuren und Gruppen: dekadente Jünglinge mit Knabenaugen und Prophetenbärten, deren altmodische, ghettoartigen Röcke und Hüte auf die Vergangenheit, deren Strebungen auf eine utopische Zukunft wiesen; beinschlenkernde Umstürzler mit den Gebärden bacchantischer Amokläufer; holdselig-wahnsinnig lächelnde Mädchen in präraphaelitischer Tracht, mit Botticelli-Frisuren, mit Lilienstengeln zwischen transparenten Fingern, wie aus den Quattrocento entsprungen; Poeten, die abwechselnd aus dem kastalischen Quell und aus der Pfütze schöpften; Volkssänger, die mit Fetzen urgenialischen Witzes und rüpelhaftester Gemeinheit sinnverwirrend jonglierten.

Als meine Kollegen von der Journalistik um die Jahrhundertwende anfingen, die Spuren der interessanten Höllenbrut zu wittern, zeigte der Lenzrausch dieses Lebensfestes längst die Symptome vielfältiger Katzenjämmerlichkeit; ja, man kann behaupten, daß der unverfälscht orgiastische Zustand nur existierte, solange man – das heißt die Welt jenseits des Montmartre – keine Notiz von ihm nahm. Nur bis dahin verlohnte es sich, die Kessel der Batignolle- und Clichygegend, die Schlupfhöhlen der Rue Pigalle abzusuchen, um die Normalstimmung der inneren Boulevards für eine Weile loszuwerden und sich von dem Odem eines parnassischen Wahnsinns anfächeln zu lassen. In diesen primären Ur-Kabaretts und schofel improvisierten Theatern hörte und sah man wirklich, was man sonst in der ganzen Kulturwelt nirgends zu hören und zu sehen bekommen konnte: dunkle Vers-Schmiede ohne Namen und ohne Patent, die mit der Unflätigkeit eines Thersites paradierten und sich in einer unvermuteten Strophe als von apollinischen Weihen begnadet darstellten; erotische und politische Frechheiten, die förmlich nach dem Rotstift der Polizei schrien und deren witzstrotzende Unverschämtheit nicht mehr möglich war, als die Zensoren anfingen, die montmartrische Sprache zu verstehen, jenes Vokabular »ruisselant d'inouisme et de jemenfoutisme« triefend von Unerhörtheit und (milde übersetzt) von Wurstigkeit. Aber der meisten Darbietungen gemeinsames Kennzeichen war trotzdem die Naivität, die Selbstverständlichkeit im Exzentrischen, die Abwesenheit der Routine und des Raffinements selbst im Gewagtesten; denn das Publikum stand auf der Stimmungsebene der Darsteller, und diese hatten nicht nötig, zur Pose ihre Zuflucht zu nehmen. Ja, im Grunde genommen war alles, was vom Podium ertönte und quarrte, nur das Echo der umgebenden Gedanken, der Niederschlag des seelischen Lebens im Montmartre selbst.

So hatte es im Chat noir begonnen, wo Rudolf Salis, le Seigneur de Chatnoirville, seine Kunstrichtung: L'école vibrante ou iriso-subversive in Szene setzte, so in den Dielen von Bruant und Genossen, und durch Jahre bewahrte es seine Urwüchsigkeit im »tréteau de Tabarin«, im »Grand Guignol«, in der »Roulotte«, in denen auch die tragische Muse bei aller Verlumptheit erkennbar genial vorüberhuschte. In der Nähe öffneten sich zahlreiche, gänzlich auf Radau angelegte, kaschemmenartige Löcher, wo neben manchen unmöglich zu beschreibenden Schaustellungen das Kneipenleben selbst den abenteuerlichsten Anstrich gewann. In dem einen gab es Zechgelage in Särgen, bei denen Totengräber und Scharfrichter als Mundschenke auftraten, in einem anderen exzedierte man kirchenschänderisch mit Kanzelpredigten unter Mitwirkung imitierter Satansgestalten und blasphemisch angeputzter Trikot-Engel, während nebenan die französischen Könige, von den Kapetingern aufwärts, in historischen Trachten als Kellner servierten und sich von temperamentvollen Gästen anflegeln ließen.

Aber Paris begann eines Tages auf den Montmartre aufmerksam zu werden. Die Gardenias und weißen Nelken nebst ihren Damen brachten es allmählich heraus, daß da oben im Norden etwas los sei, und daß dieses Etwas weit amüsanter und viel aparter wäre, als die Mehrzahl der Theatervergnügungen zwischen Vaudeville und Renaissance. Es wurde Modesache, sich abends die Späße der Dekadenten vormachen zu lassen, und während sich in plötzlich gesteigerten Einnahmen eine scheinbare Blüte ankündigte, begann die Wurzel der Montmartrepoesie zu verfaulen; zum Leidwesen auch der echten Bohèmeleute, die aus dem Gleichgewicht kamen, als sie zu Begaffungsobjekten für die mondänen Außenseiter wurden. Denn nun galt es, in den Lokalen die feinen Herrschaften zu verblüffen und den billigen Blödsinn auf die Höhe des fünf Francs-Entrees zu schrauben. Die Natürlichkeit schlug in berechnete Absicht um, die Grimasse eroberte tagtäglich weiteres Terrain, und wenn auch einzelne vortragende Künstler wie Ferny und Furcy in ihren kleinen »boîtes« ihr großes Talent gegen den Ansturm des innerstädtischen Beifalls zu verteidigen wußten, so ging doch die Gesamtheit in der Berührung mit der parfümierten Welt zugrunde. Der Variétékörper des Stadtteils vertrug nicht die Röntgendurchleuchtung, er bedeckte sich mit Brandgeschwüren, und das naive Dekadententum erlebte an sich selbst eine Dekadenz, seitdem es erfahren, wie außerordentlich interessant es den Leuten da draußen vorkam.

Ich habe diesen Auflösungsprozeß im Zeitraum zwischen zwei Weltausstellungen verfolgt und ich erblicke in ihren Daten die Wendepunkte für das Völkchen in der Vorstadt. 1889 begann die Invasion der Neugierigen, und im Sommer 1900 lag der Ruin vor aller Augen. Denn bei der letzten Weltausstellung prostituierte der Montmartre seine Reize freiwillig, er stieg hinunter zum Seinequai und verschacherte sich dem internationalen Amüsierpöbel, der seine poetischen Intimitäten genau so betrachtete und bezahlte, wie irgendwelche exotischen Bauchtänze. Die Sache war einfach Geschäft im Umherziehen geworden, anreißerisch feilgeboten mit Animierzetteln, eine transportable Irrenhaus-G. m. b. H.

Die Originalität war dahin, die weltstädtische Tünche verschlang die Grundfarbe, und nur noch auf ganz verlorenen Seitenpfaden im Hügelgelände konnte man Reste der verblichenen Freigeistigkeit auffinden. In einigen obskuren Lokalen hielten ein paar Aufrechte zusammen und sie fuhren fort Lieder zu singen, in denen der Montmartre nicht nur im Gegensatz zu London, Rom und Berlin, sondern ganz ausdrücklich im Gegensatz zu Paris als die Hauptstadt der Welt gepriesen wurde.

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Weit früher als diese Hymnen wenigstens noch einen parodistischen Sinn hatten, also vor länger als einem Menschenalter, beschäftigte mich zeitweilig die Parallelfrage, ob nicht auch bei uns in Berlin, abseits der großen Lebensflut, ungekannt von den Vertretern der etikettierten Kunstformen, eine Art von Montmartre existiere oder existieren könnte. Was ich an Prognosen aufbrachte, reichte offen gesagt nicht bis in die modernen Dielen und sonstigen Betäubungsstätten, wie sie später am Kurfürstendamm und in der Motzstraße emporwucherten. Ich hielt mich vielmehr an die Gegebenheiten und versuchte, aus ihnen Analogien herauszulesen. Wir besitzen ja von je ein lateinisches Viertel, unsere Modernen von damals bemühten sich andauernd, in dem »kleinen Berliner Mädchen« im »Puppchen« das Gegenstück der Musset'schen und Murgers'chen Grisette darzustellen, und jener Wildling, der unter den Kunstbegriff des Montmartre fällt, der hätte fehlen sollen? Ich nahm die beiden Stadtpläne zur Hand, suchte für Place Pigalle und Place Blanche äquivalente nördliche Werte und gelangte durch Zirkelmessung auf die Elsasser Straße als den wahrscheinlichen Breitengrad des Montmartre an der Spree. Eine vorläufige Streife durch das fragliche Gebiet verschaffte jener Vermutung neue Beweisstücke. Da gab es in der Tat eine ganze Reihe grell illuminierter Bumse mit den herausfordernden Titeln »Eldorado«, »Variétés du Nord«, »Variétés du Boulevard«, »Kristallpalast«, »Junggesellenheim«, und allerhand launige Aufschriften an den Schauseiten öffneten meinem Entdeckertrieb fröhliche Aussichten. Nach dem Vorbild anderer Nordlandfahrer suchte ich natürlich wackere Gefährten für meine Expedition. Aber damit fand ich in meinem Freundeskreis keine Gegenliebe. »Dahin geht man nicht!« hieß es allgemein, und besonders vorsorgliche Gemüter streiften sogar die Frage nach der persönlichen Sicherheit in jenen unerschlossenen Gegenden. So blieb mir nichts übrig, als die Rundtouren auf eigene Faust und Gefahr zu unternehmen. Die ersten Eindrücke waren leidlich ermunternd im Sinne meiner Parallele. Entree wurde nicht gezahlt, ganz wie in der Blüte des echten Montmartre; man nahm einfach eine spottbillige Consommation, wie in Paris, und was das Bier betrifft, so entsann ich mich, genau ebensolches im »Café des quatre-z-arts« zwar nicht getrunken, aber doch schaudernd versucht zu haben. Nirgends wurden die Schrauben zum Weinzwang, und nur vereinzelt zum Lachzwang angesetzt. In einigen Lokalen gab es auch phantastische Wandverkleidungen in Pappkonstruktion, improvisierte Grotten und Felsgänge, die das Walten geheimnisvoller Elementargeister verkünden und die Nähe der bürgerlichen Spießigkeit vergessen machen sollten. So weit stimmte also die Analogie. Aber leider versagte sie gerade im entscheidenden Punkte, nämlich in den Vorträgen, bei denen der vergnüglichste Wille nichts ausrichtet, wenn es mit einer Kleinigkeit hapert: mit dem Talent. Ich hatte irgendein Revoluzeln gegen das Herkömmliche erwartet, die Betonung eines Sonderbewußtseins, und wäre es auch nur ein schwaches Echo der wilden Montmartre-Symphonie. Aber nichts von alledem: eine Rotte singender Mädchen, die sich »Chansonetten« nannten – der Titel ist geblieben mit dem nämlichen Sprachrecht, mit dem eine Klavierspielerin »Fräulein Etüde« heißen würde –, brachte Couplets von kristallklarer Gemeinplätzigkeit, Strophenlieder, deren Kehrreime in den unantastbaren Wahrheiten gipfelten, daß »So ein Kuß ein Hochgenuß« ist, und daß »das zweite Garderegiment so stramm marschiert«. Das Talent der dichtenden Lumpazis, der deklassierten und schiffbrüchigen Poeten, der von Bühne und Presse Zurückgewiesenen, hatte offenbar den schmalen Ausweg zur Öffentlichkeit noch nicht gefunden. Daß dieses Talent in Berlin vorhanden war und mit starker Spannung im Verborgenen arbeitete, galt mir trotzdem als erwiesen; die Geheimfächer in den Archiven der Possentheater, die Papierkörbe der humoristischen Zeitschriften, die Bierzeitungen zahlloser Vereine verkündeten sein Dasein zur Genüge. Aber während es sich in Paris längst ein Ventil aufgesperrt hatte, durch das es mit Prasseln und Zischen zur Oberfläche drängte, verdunstete es bei uns farb- und geruchlos. Die Köpfe, die in Berlin den vierten Stand der Literatur ausmachen, hatten sich noch nicht erkannt, nicht gezählt und kein Leitmotiv ihres Standes aufgestellt. Und als etliche Jahre später die Überbrettl aufkamen, die bunten Bühnen vom Schallundrauch-Typus, da trat wohl sehr viel neuer Witz an die Rampe, allein das Experiment war verspätet. Auf der Szene wurde mit genialen Anflügen montmartert, aber im Parkett saßen überwiegend die Blasierten aus den Kreisen der »Intellektuelle«, die im Grunde einen guten Börsenwitz doch noch höher einschätzten als den Humor des Kabaretts. Meine eigenen verjährten Sünden fallen mir bei; ich selbst habe dazumal manche Überbrettelei verübt in flegelhaften Szenen und Strophen für öffentliche und private Aufführung; aber niemals mehr in der echten Grundstimmung, und stets mit dem Gefühl, daß ich mich auf Abwege verlor und konstruktiv Späße erkünstelte für eine kitschige Kirmes ohne Volkstümlichkeit. Das jokose Geschmetter, das ich und meine Berufskollegen losließen, zeigte fatale Ähnlichkeit mit den Juhus und Holdrios schuhplattelnder Snobs auf den Alpenbällen der Großstadt.

Nach meiner Erinnerung hat dem Berliner Guignol und seiner Vetternschaft von Anfang an die richtige Fühlung mit der sozialen Tiefschicht gefehlt; wir kopierten und überboten die Ausläufer, aber aus dem ursprünglichen Nährboden dieser Kunst wuchs nichts hinzu. Man vergaß, daß auch jene eigenartige und differenzierte Abart, wie sie uns beispielsweise in den Sprechgesängen der Yvette Guilbert bekannt wurde, nur auf einem Untergrund sich entwickeln konnte, den die wenig appetitlichen Dungstoffe der Bohème gesättigt hatten. Für diese Vorbedingung waren bei uns im Beginn der Brettlära wenig schriftstellerische Keime vorhanden, vielleicht etwas mehr musikalische. Hin und wieder schlug in den erwähnten Lokalitäten von Nordberlin eine melodische Wendung, eine harmonische Überraschung ans Ohr, die das gassenhauerische Einerlei auffallend unterbrach. Auch heute mögen noch, selten genug, derartige tingeltangelnde Rhythmen entstehen, die den sumpfigen Ursprung verraten und sich trotzdem mit geistreichen Wendungen über den Leierkasten erheben. In Betracht kommen hierfür vereinzelte entgleiste Konservatoristen, die nicht den Punkt erreichen, wo man anfängt, schlechte Fugen zu schreiben, denen aber gelegentlich eine ganz witzige Coupletmusik einfällt. Spuren solcher Talente sind mir, wie gesagt, in den Heimstätten der Euterpe vulgivaga begegnet. Wenn sie es nicht über aphoristische Ansätze hinausbrachten, so lag das an den textschmierenden Mitbrüdern, die ihnen keine Anregung zuführten. Sie vermochten nicht einen Stil zu finden, der die Prägung, den Eigenwert und den Stolz der deklassierten Musik aufgezeigt hätte.

Desto eifriger verbissen sich ihre Polkaschwestern am verstimmten Pianino in den Stolz, mit üblem Verständnis, da sie häufig aus der Ruppigkeit heraus und in die »höhere Richtung« hineinwollten. Da waren überall piepsende Mamsells, die der Sembrich ins Handwerk pfuschten, um den Befähigungsnachweis für die akademische Koloratur zu erbringen. Unter ihnen grassierten der »Parla«-Walzer und etliche ebenso schwierige Opernarien als Kehlkopfkrämpfe, bei denen der Hörer den Vorsatz, Arditi und Bellini vorzutragen, allenfalls erraten konnte. Dieselben Gesangsspenden, in derb-parodistischer Absicht gegeben und mit bewußt komischen Akzenten gewürzt, hätte vielleicht an gewisse Montmartre-Leistungen vom Genre der Bloch und Paquerette erinnert. »Es liegt manchmal an einer Kleinigkeit«, sang man ebenda in einem vielbeklatschten Refrain; die meckernden und krähenden Stimmen waren reichlich vorhanden, fehlte nur die Begabung, sie zweckentsprechend zu verwerten.

Die Analogie blieb also, von allen Seiten gesehen, recht unvollkommen, und als ich in den Folgejahren die Pariser Ursprungsstätte wieder aufsuchte, entging mir die Vergleichsmöglichkeit schon aus einem anderen subjektiven Grunde. Auch das Original gefiel mir nicht mehr und konnte mir nicht gefallen, da ich inzwischen alle Distanz zu dieser Umwelt verloren hatte. Ja, es wirbelte und brodelte immer noch in dem Quartier, und man trillerte in den alten Tonarten des Bataclan. Aber die Absicht und Profitgier lag dick aufgetragen obenauf, man spielte Montmartre für die Presse und für die Fremden. Und das schlimmste: ich selbst war ein gesetzter Herr geworden, der da nicht mehr hineinpaßte und kommendes Unheil bereits vorauswitterte. Das trügerische Jugendgefühl, die Phantasmagorie des internationalen gastfreundlichen Bodens in Paris waren mir längst entschwunden, und durch die fröhlichen Cris de Paris hörte ich die Untertöne kassandrischer Rufe. Heute vollends hätte ich mich zu fragen: gehören diese Erinnerungen, um mit Jean Paul zu sprechen, zu dem Paradiese, dem einzigen, aus dem wir nicht vertrieben werden können? Gewährt es mir ein Vergnügen, mich in diese Bohèmezeit zurückzuträumen? Die Antwort steht bei Dante: kein größeres Leid als in Betrübnis sich der Glückszeit zu erinnern. Zwischen beiden Meinungen findet die Lehre von der ewigen Wiederkunft Platz: dereinst in unabsehbarer Ferne muß und wird das alles neu erstehen, auch die mythische Insel der Bohème mit ihrer flegelhaften, zauberischen, weisheitstollen Jugendeselei. Und wenn die Ewigkeit bis dahin ein bißchen länglich geraten sollte, so hätte ich doch immerhin schon vierzig Jahre der Wartezeit glücklich überwunden.


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