Alexander Moszkowski
Das Panorama meines Lebens
Alexander Moszkowski

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Höhenrausch

Für die ersten Seiten dieser Darstellung schwebt mir noch ein besonderer Titel vor: »Die redenden Steine« oder noch feierlicher, im Anklang an die schöne Legende: »Saxa loquntur«. Es wird hier im Anfang, wenn auch nicht legendenhaft, so doch ein bißchen visionär hergehen, und dem Schreiber ist zumute, als dürfte er zu manchen Einzelheiten seines Erinnerungsvortrags aus fernem Felsgeröll ein stilles, nur ihm selbst vernehmliches »Amen!« erwarten. Gegenständlich nahe sind mir von diesen Steinen nur wenige, und diese betragen sich, ohne Verstiegenheit angesehen, ganz real, wie es im Alltag braven Mineralen zukommt. Sie befinden sich seit Jahrzehnten auf und in meinem Schreibtisch, sie lassen sich nach Gutdünken umherschieben, und einer von ihnen versieht ganz brauchbar das Amt eines Briefbeschwerers. Er ist roh und ungeschliffen, zeigt grobkörniges, grauweißliches, kristallinisches Gefüge und könnte von überall her sein, wo Granit oder Gneis vorkommt. Er ist aber kein gleichgültiger Wald- und Wiesenstein, sondern war einmal mit einem vielgepriesenen Gegenstande der romantischen Natur innig verbunden; und ich selbst habe ihn einst aus den Eingeweiden des Eiger im Berner Alpengebiet herausgeholt, während der Tunnelbohrungen, die durch den Riesen Eiger als Querstrecken der Jungfraubahn geschlagen wurden. Als ich ihn in jenem Wunderschacht auflas, glitzerte er bei elektrischem Grubenlicht hell aus unberührten blanken Kristallfacetten. Längst hat er das Blinken aufgegeben, aber unter der angegrauten Oberschicht bewahrt er für mich eine stille Beredsamkeit. Ja, er hat mir heute, in der Ära der Reiseerschwerung, mehr zu erzählen, als etwa vor fünfzehn Jahren, da die herrliche Trias Eiger-Mönch-Jungfrau noch zu den leichterfüllbaren Programmen gehörte. War er vordem nur ein Mitbringsel, allenfalls Kuriosum, so ist er mir heut Zeuge vergangener, nie mehr zu wiederholender Alpenfahrten, ein Verbindungsglied im materiellen und transzendenten Sinne, und es vergeht kein Tag, ohne daß der kleine Granitklotz mir etwas zuflüstert von Erlebnissen und Erscheinungen im Finsteraarhornmassiv und darüber hinaus.

Kann ich eigentlich behaupten, daß ich ein Stück vom Eiger besitze? Daß jene Kolossalgruppe in zwei ungleiche Teile zerfällt, von denen sich der größere in der Schweiz, der kleinere auf meinem Schreibtisch aufhält? In der Beantwortung dieser Frage ist die spielerische Phantasie schwer auszuschalten. Der Engländer Coxwell besaß in seinem Park bei London eine Sammlung von Alpengipfeln, abgeschlagene Steilspitzen mehrerer Berge, deren vormalige Unersteiglichkeit er in eigener Aszension überwunden hatte. Und nun fand er seinen Privatsport darin, sich auf diese versprengten Spitzen zu postieren, mit dem stolzen Bewußtsein, daß kein Alpinist der Welt imstande wäre, ihm diese Hochtouristik nachzumachen, da er ja die Häupter der Berge, die nur ihm erreichbaren Felszacken unter strengem Gartenverschluß hielt. Das war geometrisch relativ richtig, topologisch falsch, wie es auch topologisch falsch ist, sich vor einem Goethe-Autogramm einzureden: hier hat Goethes Hand geruht. Aber ein idealer Konnex bleibt sicher vorhanden, und wie die Handschrift direkt von Goethes Leiblichkeit berichtet, so erzählt das Granitstück direkt von seinen Zusammenhängen mit einer Zauberwelt, die im Eiger- und Jungfraufirn ihre Bekrönung findet.

»Wer auf die höchsten Berge steigt, der lacht über alle Trauerspiele und Trauerernste«, so lehrt Zarathustra, und in diesem Wort klingt das Pathos der Distanz. Es wäre zu fragen, ob das Pathos bestehen bleibt, wenn man die höchsten Berge anstatt sie zu ersteigen, mit der Eisenbahn befährt. Nein! Es geht verloren! So raunt der Stein vor mir, und ich selbst, der Losgesprengte, trage in mir den mechanischen Beweis für die Vernichtung des Distanzgefühls. Unzählige Millionen solcher Trümmer mußten herausgebrochen werden, um die Tunnelbahn zu ermöglichen, und diese ungeheure Arbeit hat die ganze romantische Angelegenheit in eine Maschinenleistung verwandelt. Zarathustras Wort begreift nur den Menschen, der da steigt, nicht den, der sich in die gepolsterte Kupee-Ecke gelehnt hinaufschleppen läßt. Der wird keine Anwandlung des heiligen Lachens verspüren, höchstens die Befriedigung des spießbürgerlichen Touristen darüber, daß der Ingenieur ihm die Kletterei ersparte, und daß er seine Schuhsohlen nicht zu strapazieren brauchte, kraft einer Fahrkarte, die 50 Schweizer Franken kostet.

Und dennoch! Ein Rest der lachenden Romantik bleibt bestehen, aber er gründet sich nicht mehr auf die überwundene Schwierigkeit, auf das Gefühl eigenen Muskelsieges, sondern auf eine tief in uns eingelagerte Raumempfindung. Denn unsere eigene Körperlichkeit, das Dreidimensionale in uns, verlangt nach der Befreiung aus dem Kerker der zweidimensionalen Ebene, aus der bedrückenden Planimetrie des Daseins; wenn wir uns erheben, sei es auch nur durch das Gestänge einer Bergbahn, so spüren wir den Bruch mit dem peinlich zu tragenden Erdenrest als eine Wohltat.

Du Stein in meiner Linken! Ich war dabei, als sie dich in betäubenden Explosionen losbrachen, und wiederum war ich dabei, als man zuerst durch deine heimatliche Höhle hindurch bei einem vordem ganz unzugänglichen Punkte landete. »Station Eigerwand.« Ein strömender Regen hatte mich begleitet, von Berlin angefangen über Flachland, Urkantone und Gletscher hinweg, und hier, plötzlich, am Durchbruch der immensen Felswand, leuchtete helle Sonne in unfaßbare Weiten und Tiefen. War hier der optische Eindruck entscheidend, war mir die Aussicht das Wesentliche? Keineswegs; »Aussichtspunkt« ist ein Bädekerbegriff, der stärkeren Emotionen gegenüber nicht standhält. Jeder Ort auf der Landstraße, der den Blick auf den gestirnten Himmel freigibt, gilt mir als Aussichtspunkt, und kein Alpenpanorama beeinflußt mich nachdrücklicher als der Prospekt auf Orion und Kassiopeia. Nein, hier an der Eigerwand gab der Lichtstrahl seinen Segen zu einem rein raumhaften Glück, zu der gefühlten Höhe, und meine Distanz bezog sich nicht auf Trauerspiele und Trauerernste, sondern auf die Geometrie der Ebene, die mich nun endlich einmal losgelassen hatte. Infolgedessen war mir auch gar nicht nach zarathustrischem Lachen zumute, im Gegenteil, meine Spannung löste sich in einem tüchtigen Tränenerguß, zur großen Verwunderung der anderen Touristen, die sich befriedigt die Aussicht erklärten und frischgeschälte harte Eier dazu aßen.

Ich habe mich übrigens auch als Kletterfex ganz wacker in dem nämlichen Gebiet getummelt, zu entlegener Zeit, als mein Briefbeschwerer noch fest eingesperrt im Massiv lag. Und ich durfte dabei Besonderheiten erhaschen, die nicht auf der Ergebnisliste jedes Bergwanderers verzeichnet stehen. Einmal, bei Besteigung des Tschingelgrats, geriet ich am Seil hängend in eine so dichte Plantage von Edelweiß, daß ich für meinen Bedarf auf Lebenszeit hätte räubern können. Eine phänomenale Fülle, die noch das weitere Phänomen erzeugte, daß der sonst so lüsterne Edelweißhunger in mir plötzlich verschwand. Gerade die Überfülle der weißfilzigen Sternchen hatte meine Gier vollständig betäubt, ich verließ das abundante Gewirr, ohne mir auch nur ein einziges Blütenköpfchen anzueignen; das botanische Juwel war für mich in dieser Minute Unkraut geworden. Dagegen erlebte ich eine nachhaltige Sensation bei einem gelegentlichen Abstecher aufs Lauberhorn. Die Wolkenschicht reichte fast bis zur Spitze und verbreitete sich ringsum zu einem grenzenlosen grauen Nebelozean, aus dem nur die gewaltigen Eisgipfel gegenüber wie isolierte schneeweiße Inseln herausragten. Keinerlei Zusammenhänge durch Joche und Sättel blieben erkennbar: Jungfrau, Mönch, Eiger, Schreckhorn und die weiteren Trabanten zeigten sich als getrennte sonnenfunkelnde Einzelgebilde über einem unabsehbaren Meeresgewoge. Was ich da zu sehen bekam, war mir außerplanetarisch, überweltlich, und selten genug mag die Erscheinung wohl aufkommen, sonst hätten sich wohl die Landschafter von der Gilde Kalckreuth-Segantini diesen Spezialzauber kaum entgehen lassen; vorausgesetzt, daß eine bildliche Wiedergabe überhaupt glaubhaft erscheinen könnte, weil sie mehr an polares Treibeis als an eine alpine Gestaltung erinnern würde. Eine Erstaunlichkeit nicht geringeren Grades, optisch vielleicht mit jenem lose verwandt, erlebte ich auf dem Pilatus: hier wurden zwei unendliche Nebelschichten wirksam, durch die ein Sonnenstrahlbündel Löcher gebohrt hatte, mit dem Effekt, daß sich der Vierwaldstätter See in der Tiefe kartographisch ganz genau in der Figur des geknickten Kreuzes am Himmel abbildete; in richtigem Kartenblau auf Wolkenweiß und so exakt in der Umrandung, daß man die Lage aller Ortschaften von Luzern bis Flüelen darauf hätte bestimmen können. Ein Kursus in Erdgeographie am Firmament, eine umgekehrte Welt, in der die faustische Frage variiert erscheint: »und ob es auch in jenen Sphären ein Oben oder Unten gibt«.

Diese Umkehrung freilich ist meinem Granit fremd, er schweigt eine Weile, meldet sich aber bald, um der Erinnerung nachzuhelfen, da ihm als Bestandstück des Jungfraupalastes ein anderes Unten-Oben vertraut ist. Weißt du noch, redet er zu mir, wie du dort hinaufkamst in die Wildnis des Eismeeres, und daß die Bergkönigin selbst dich heraufgeholt hat zu ihrem flimmernden Wolkenthron? Ja, so war es: die Ewigverschleierte sendet ihre Gletscherstürze in Kaskaden zur Trümmletschlucht, zur Lütschine, die Sturzwasser verwandeln sich nahe Lauterbrunnen in elektrische Energie, und so gelangen die Gäste zur Jungfrau empor mit deren eigenen Kräften, die sie von sich abspaltet, um das Menschengewürm da unten auf ihre Schultern zu befördern. Die Jungfrau selbst ist die eigentliche Technikerin und Direktrice der Jungfraubahn!

Die Eloquenz meiner granitnen Reliquie reicht noch viel weiter; sie befindet sich zudem in Gesellschaft anderer Steinfragmente, die mich ebenfalls mit Reminiszenzen heimsuchen. Sie mögen ein andermal zu Worte kommen, als kleine Inventarstücke meines häuslichen, äußerlich höchst unscheinbaren Museums. Wenn man nur hinhört, beginnen diese Substanzen auf meinem Schreibtisch in ihrer Weise zu reden, ja, ich glaube, daß solche gesprächige Anorganismen sich überall in Studierstuben umhertreiben; nur daß die meisten, denen sie täglich in die Finger kommen, gar nicht wissen, welches Museum sie besitzen und welche Chroniken sich in ihnen verbergen.

*

Wenn wir uns in Bergbetrachtungen vertiefen und an Bergerlebnisse anknüpfen, so wird die geometrische Erklärung des Höhenrausches das Primäre bleiben, ohne jedoch den ganzen Komplex der Gefühlserscheinungen aufzudecken. Die Kulturgeschichte hat ihnen nur geringe Aufmerksamkeit zugewandt, sie nimmt sie, wenn sie sich überhaupt mit ihnen beschäftigt, als romantische, wesentlich vom Zufall abhängige Stimmungen. Es wäre aber zu erforschen, welchen Wandlungen die Bergempfindung in einzelnen Epochen unterlag, wie sie sich in einzelnen bedeutenden Menschennaturen äußerte, ja, ob man überhaupt berechtigt ist, ihr innerhalb der Geistesentwicklung einen besonderen Wert zuzusprechen.

Verständigen wir uns über den Grundbegriff. Wir wollen ihn ganz allgemein das Bergbewußtsein nennen und einstweilen daran festhalten, daß es etwas Triebhaftes ausdrückt, etwas Sehnsüchtiges, das imstande ist, bei Erfüllung des Dranges ein Glücksgefühl auszulösen, uns mit glückhaften Ahnungen zu erfüllen, die aus der Harmonie der Sphären auf uns überfließen. Wir nehmen an, daß dieses Bewußtsein im gebildeten, geistig hochentwickelten Menschen besonders stark ausgebildet ist, und zweifeln wohl kaum daran, daß hier etwas Elementares, Selbstverständliches zugrunde liegt, eine natürliche Gegebenheit mit kausalem Zwange. Allein wir übersehen dabei mancherlei. Bei unzähligen Kulturmenschen reicht das Bergbewußtsein nicht über ein primitives Behagen hinaus, die hohe Bergnatur wirkt auf sie nur als eine Annehmlichkeit, nicht als Transzendenz, und sie befinden sich ihr gegenüber in der Lage eines Genießers, der aus einer musikalischen Offenbarung nur den wohligen Klangreiz erfaßt, nicht aber den letzten Sinn der Komposition. Ihre tiefste Tiefe wird nicht getroffen und aufgeregt, sie empfinden die ländlich und ferienhaft betonte Lust als erfreulichen Gegensatz zum städtischen Werktag, um mit Berlioz zu reden: sie amüsieren sich, ohne das Fieber zu kriegen. Aber auf das Fieber kommt es an, auf die erschütternde Ekstase, die das eigentliche Wesen des Bergbewußtseins ausmacht. Und ich hege den Verdacht, daß diese Ekstase nur vereinzelt auftritt, als zuverlässiges Wertmaß für die Kulturhöhe des Menschen nicht gebraucht werden kann. Wenn ich zum Vergleich heranziehe, wie sich in den großen Vollbringern der Menschheit die Liebe, die Religion, der Erkenntnisdrang, das ästhetische Gefühl zu bekennender Gestaltung umgesetzt hat, so bleibt für Rechnung ihres Bergbewußtseins nur ein geringfügiger Rest. Von einem hochragenden Beispiel abgesehen könnte man aus der poetischen Literatur alle Bergekstasen herausstreichen, ohne daß sich der Bestand des Schrifttums sehr wesentlich verändern würde.

Es ist schon bezeichnend, daß der große Ausnahmefall unfehlbar auftaucht, wo nur das Thema erörtert wird, zur ewigen Verblüffung aller, die in Schillers Tell noch mehr erblicken als ein volkstümliches Drama. Der Einzige, der alle literarische Weihe über das Motiv ausgoß, hat völlig intuitiv gestaltet, ganz von innen heraus, mit geistigen Augen, da seine körperlichen Augen die alpine Hochwelt nie erblickten. Bei seinem Anreger Goethe, der ihm 1797 den Stoff der Tellsage mitbrachte, suchen wir vergebens diesen Höhenschwung, seine Schweizer Berichte bleiben notizenhaft und verraten nichts von den Erregungen eines eigentlichen Bergbewußtseins. Aber Goethe besaß doch wie kein zweiter die unmittelbare Einfühlung in die Natur, warum versagte sie gerade vor den Bildern, die sich in Zacken, Firnen und Eisstürzen vor uns aufbauen, warum haftete er an einem Vokabular, das in der Ebene bleibt gegenüber dem Wolkensturm, der uns bei Schiller aus der Surennen furchtbarem Gebirg entgegenbraust? Oder sollte gar Schillers Höhenpathos die niedere Stufe sein, Goethes Einfachheit die höhere, einer kosmischen Betrachtung angenäherte? Wer wollte sich getrauen, das bis in die Empfindungsatome hindurch zu analysieren! Ich am allerwenigsten, der ich, ehrlich gesagt, ganz in der Höhenromantik befangen bin, deren zeitliche Grenzen mir doch bekannt sind. Ich verspüre da eine seelische Antinomie: ich empfinde etwas als elementar, also als ewig, was sich am Gange der Geistesentwicklung gemessen wahrscheinlich als eine Episode herausstellen wird. Dem Altertum war unser Bergbewußtsein nahezu fremd. Es hätte sich in anderen dichterischen Spuren niedergeschlagen, wenn der antike Nerv auf Höhe und Bergszenerie reagiert hätte. Keine poetischen Schwingen regen sich, nur das Auge wird als grob farbempfindliches Instrument angerufen, demnächst noch der Temperatursinn, der dem Dichter Unwirtliches ansagt. Vides ut alta stat nive candidum Soracte, – so besingt Horaz den im Winterschnee starrenden Berg Soracte, der doch seinem Gemüt aus der Niederung einen gewissen Auftrieb erteilen könnte. Aber schon in der nächsten Zeile ist er beim Frost, bei der Holzheizung, bei einer flüsternden Lagergenossin, möglichst weit fort von der frostigen Bergerinnerung. Besaß Horaz gar keine Naturromantik? Ja, er hatte sie schon, aber wo sie auftritt, wendet sie sich mit Abscheu von der klimatischen Herbheit, die wir mit gutem Grund in die dritte Dimension hineinlegen. Seine vierte Ode beginnt mit einem gutlyrischen Auftakt, worin er Wagners »Winterstürme wichen dem Wonnemond« fast wörtlich vorwegnimmt. »Fröste des Winters vertaun vor des Lenzes und Zephyrs holdem Wechsel«, und wiederum löst er sich sofort vom Natureindruck, vom »Silberreif der Matten«, um erotisch zu tändeln; aus der sanfttemperierten Lyrik der Ebene findet er nicht hinaus. Es wäre eine Aufgabe für sich – der ich mich nicht gewachsen fühle – das altklassische Schrifttum darauf zu prüfen, ob sich überhaupt Spuren unseres Höhenbewußtseins darin befinden. In asiatischen Kulturkreisen finden sich legendäre Spuren, so bei chinesischen Chronisten, die den großen Kaiser Taitsund aus dem siebenten Jahrhundert als passionierten Bergsteiger nennen. Auf hellenischem Boden müßten die mythologischen Ansätze vorhanden sein in Prometheischen Schwüngen von Aeschylos Gnaden. Allein die Gesamtausbeute bliebe vermutlich sehr gering. Denn diesem Bewußtsein liegt ein Bewegungsphänomen zugrunde, und der Bewegungsantrieb zur Höhe ist neueren Datums. Der erste Mensch, der ihm aus innerem Drange folgte, ohne Nebenabsicht, war Petrarca, der vor sechshundert Jahren den hohen Alpenberg Mont Ventoux nahe bei Avignon erstieg. Und auch diese Aszension blieb vereinzelt bis zu den Zeiten des Albrecht von Haller und Rousseau, denen wir gewöhnlich die erste Anregung zum Höhentrieb zuschreiben. Den Bewohnern von Genf lag das Montblanc-Massiv vor Augen, ohne daß bis vor zweihundert Jahren irgendwer die magnetische Anziehung der weißen Herrlichkeit mit lebendiger Auswirkung verspürte. Dort wiederum, in den Talsenkungen des glitzernden Mysteriums, hausten bäuerische Ureinwohner, die es gar nicht verstanden, weshalb nun schließlich die Städter herankamen, um sich mit Kletterei zu strapazieren; wie es die Mehrzahl ihrer Nachkommen eigentlich noch heute nicht recht begreift, obschon Anpassung, Vererbung und Profitgier zusammengewirkt haben, um ihnen das Verständnis zu erleichtern. Hier zuerst überwand der Forscherwille die abergläubische Bergscheu, und als Saussure den Montblanc eroberte (1787), konnte er sich bereits auf den Beistand einer Karawane stützen. Aber noch um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurden in Zermatt die ersten Eindringlinge wie Irrsinnige betrachtet, und das Matterhorn-Projekt Whympers erschien den Ortsansässigen nicht nur unmöglich, sondern in sich als stupid.

Der Flachländer weiß, was ihn da oben erwartet; je näher der Szenerie einer aufwächst, desto ferner bleibt er ihrer Magie. Die Autochthonen von Ecuador und Mexiko vermuten noch jetzt in dem Fremdling, der etwa auf den Chimborasso oder den Popokatepetl hinaufwill, eine merkwürdige Art von Besessenheit. Am raschesten zugänglich mag sich die Landesstimmung im Berner Oberland der Bergidee gezeigt haben, und hier fand sie auch auffallend früh literarischen Wiederhall. Unfiltriert gelangte die Bergluft in den Manfred, den Lord Byron auf der Wengernalp empfing, und wenn Bewunderer in dieser Dichtung die allergewaltigste Darstellung der Hochalpenlandschaft erblicken, so will ich nicht widersprechen, nur hinzufügen, daß man hier zwischen Darstellung, Beschreibung und poetischer Ausdeutung einen Unterschied machen soll. In Schillers Tell erlebe ich die Landschaft unmittelbar, sie gehört zu allen Figuren und Szenerien, sie ist nicht nur der Hintergrund, sondern der schwingende Nerv der Begebnisse. Sie erstreckt sich zu mir und ruft mich an. Im Manfred wird sie angerufen, mit großer Rhetorik zitiert und heranbeschworen. Ich erlebe sie im Echo, in Evokationen eines Apokalyptikers, in abgeleiteten Bildern und mystischen Gleichnissen. Die Einzelheiten liefert Byron richtiger als Schiller, bei dem die Wirklichkeitsprobe gar nicht durchhält. Der wirkliche Rütli liegt beinahe im Niveau des Seespiegels, ihm gegenüber erhebt sich die Sonne nicht über sichtbarem Eisgebirge, und tief darunter leben keine Völker, die »schwer atmend wohnen in dem Qualm der Städte«. Aber die Ahnung der Rütligenossen ist wahrer als die spukhafte Wirklichkeit im Manfred, worin faustische Exklamationen die einfache Sprache der Natur übertönen.

Diese Sprache ist naiv und will nicht deklamieren, will nur hindurchklingen durch alle Schwebungen des Kunstwerks, mag dieses auch mit gestaltentreibenden Mitteln die Natur visionär bevölkern. So tönt das Riesengebirge in Gerhart Hauptmanns Versunkener Glocke, mit schlichtem Ausdruck und doch mit transzendenter Wirkung, weil der Gestaltenbildner selbst naiv arbeitete wie die Volkspoesie, die einen Rübezahl erfand und in Felsgruppen Gesichter, Figuren und Geschehnisse hineindichtete. Wenig kommt hierbei darauf an, ob ein Künstler dramatisiert, erzählt oder sich in Betrachtungen ergeht; ob er die dritte Dimension noch durch eine weitere mystisch erhöht, oder ob er sie streckenweis ganz vergessen läßt; wenn nur die Stimme der Natur vernehmlich wird. Die höre ich in Vischers »Auch Einer«, in Kellers »Grünem Heinrich«, im »Weißen Tod« von Stratz, in Ibsens »Brand« und »Peer Gynt«, und im »Zarathustra«, obschon bei Nietzsche nur das Bergbewußtsein zu Worte kommt, ohne Beziehung auf eine gegenständliche Szenerie. Das eigentlich Wertvolle ist die Höhenstimmung, die für das gedanklich Erhabene ein räumlich Erhabenes voraussetzt und hiermit von jeher aller modernen Romantik vorauseilte. Der Olymp, der Parnaß, der Helikon, der Sinai-Horeb und der namenlose Berg der Bergpredigt sind die vorbildlichen Wahrzeichen für die Höhe des Zarathustra.

Mit ganz besonderem Nachdruck nenne ich aber auch die einfachen Beschreiber, die Höhenerkämpfer, die soviele Steilwege erschlossen haben, ohne für sich selbst den Weg zur Literaturgeschichte zu finden. In den amtlichen Registern des schönen Schrifttums stehen sie nicht verzeichnet, und doch haben sie eine Literatur für sich begründet, der ich das Prädikat der Schönheit zuerkenne. Ich meine die Mitglieder der Gilde, die den Spuren von Tschudi und Studer, von Tyndall und Whymper folgend, ihre wagemutigen Fahrten in den Zeitschriften der Alpenvereine beschrieben haben. Was kann schon an solchen Berichten Großartiges sein? Nun denn, es steckt Großes darin, Stilhöhe, Leidenschaft und ein wirklicher Reflex der Hochnatur, wie er in solchem Farbreichtum nur in wenigen Kunstwerken angetroffen wird. Unter diesen Berichterstattern befindet sich neben Meister Güßfeld eine ganze Kohorte von Sprachkünstlern; sie wollen gar keine Dichter sein, aber sie sind es, und völlig frei von den Prätensionen der skandierten Rede werden sie Epiker und Dramatiker. Die Eroberung der Höhendimension ist ihr Thema, und während bei einem Grabbe das Zauberschloß auf dem Montblanc als eine geschwollene Übergeschnapptheit dasteht, bilden sich in ihren Schriften zahllose eisige Zauberschlösser, denen der Leser mit dem Erklimmer sehnsuchtsvoll entgegenfliegt.

Sie widerlegen zugleich das Dogma der Literaturgelehrsamkeit, wonach nur Religion, Kultus, Liebe und metaphysischer Drang imstande wären, in den Künsten das Bewußtsein höherer Gesetze reifen zu lassen. Ihr stilles Verdienst ist es, gezeigt zu haben, daß auch die beschreibende Darstellung, wenn sie der Hochnatur die Resonanzen abfängt, zu einem Hymnus werden kann.

Ehedem war das alles nur schreckhaft, und die beschreibenden Vorgänger konnten den Griffel gar nicht ansetzen, ohne die Natur als den Feind zu malen. Bis an die Entsetzlichkeiten der Schreckhörner und Wildstrubel, der Giganten im Montblanc-Bereich, im Wallis und im Dolomitengebiet getrauten sie sich kaum in Gedanken. Eine harmlose Gestaltung wie der Gemmipaß erpreßten ihnen schon Angstrufe: »grawsame Felsen, die bis zum Himmel steigen und seind erschrockenlich anzusehen«. Diese Probe aus Sebastian Münster von 1550 bleibt kennzeichnend für die Gesamtstimmung der Menschen, denen die Planimetrie des Daseins als einzig mögliche Existenzform galt. Wie neu ist dagegen der Höhenrausch, den wir aus kurzer romantischer Vergangenheit als eine Lustform geerbt haben. Eine junge Erscheinung des Bewußtseins, die uns die Frage nahelegt, ob sie wohl hoch zu Jahren kommen wird.

Mancherlei Anzeichen sprechen dagegen, ja ich glaube, daß schon heute von einer Abschwächung dieses Lustgefühls geredet werden muß. Weil nämlich fremde Elemente dahineingekommen sind, zumal die Sportbetätigung, welche die dritte Dimension aus einer seelischen Angelegenheit in eine mechanische verwandelt und sie für Zwecke dynamischer Leistung in Anspruch nimmt.

Ich möchte nicht zugeben, daß die Agassiz, Saussure, Güßfeld, Purtscheller, Leslie Steffen, kurz die Höhenbezwinger aus der Frühblüte des Alpinismus, Sportmatadore in diesem Sinne gewesen sind. Sie trainierten sich, bewältigten Schwierigkeiten mit gymnastischen Mitteln, aber ihr Objekt blieb die Höhe an sich, nicht der konkurrierende Mitmensch, und sie gingen der Natur mit ihrer Körperlichkeit zu Leibe, nicht mit künstlichen Mechanismen, bei denen das Sausen talwärts eine größere Rolle spielt als der mystische Drang »Excelsior«. Die Zweimännerlinie am Seil war ihr anschauliches Symbol, die Eisaxt gehörte zu ihrer Muskulatur, bei allen Gefahrspannungen im Felskamin, auf schmalem Steilhang, im prasselnden Steinschlag blieb das Prinzip lebendig: dieses Problem wird vom Berg gestellt, nicht von einer Jury, und es läuft auf keinen Tempo-Rekord nach Sekunden, nicht auf einen Weitsprung nach Metern hinaus, am wenigsten auf eine Quote im Wettbureau.

Der ganzmoderne Bergsportler wird kaum noch vom Höhenbewußtsein getragen. Für ihn ist das Niveau im Großen längst überwunden durch die Gebirgsbahn und das Flugzeug. Der Begriff Matterhorn schrumpft für ihn zu einem Matterhörnchen zusammen, nachdem Spelterini und andere das Monterosamassiv überflogen haben. Die Luftdurchquerungen haben Vogelperspektiven geschaffen, Kondorperspektiven, die von den »grawsamen Felsen« nichts mehr übrig lassen und sie allesamt zu gleichgültigen Bagatellen niederdrücken. Die erste Aszension irgendwelchen Piks hat ihren Sinn verloren, denn die Bergspitzen sind unterschiedlos geworden wie die Einzelwellen auf bewegter Meeresflut, und keine gilt mehr als Individualität in dem großen Nivellement, mit dem die Technik über diese Welt dahinfuhr. Jetzt handelt es sich nur darum, den Menschen selbst herauszustellen mit aparten Bravourleistungen, denen ein Terrain wie das Engadin sich als große Variétébühne öffnet; und der Effekt dieser Leistungen braucht sich nicht mehr in bekenntnisfreudigen Schriften zu äußern, wenn er nur sensationelle Filmstreifen hergibt.

Aber nicht nur diese Sportbetätigung, sondern die Mannigfaltigkeit des Sports im Allgemeinen unterhöhlt das Höhenbewußtsein. Der gesamte Sportbetrieb beschlagnahmt so viele Spannkräfte, daß für diejenigen Energien, die sich im Hochland romantisch ausleben wollen, nur noch ein Bruchteil des vormaligen Bestandes übrig bleibt. Gewiß, die Menschen werden immer ins Gebirge reisen und sich dort hübsch in Sommer- und Winterfrischen einrichten; sie werden auch fortfahren, für Prospekte zu schwärmen und Gedichte darüber zu machen, dithyrambische oder dadaistische. Ja, ich halte es sogar für möglich, daß für dieses Leben eine neue Scheinblüte heraufkommt, wenn erst mit Veränderung der weltwirtschaftlichen Verhältnisse die Touristik sich von ihren ärgsten Fesseln befreit. Aber zugleich wird man erfahren, daß sich ein phantastisches Gefühl nicht unverdünnt durch die Jahrhunderte durchhalten läßt; und den meisten Teilnehmern wird zumute sein, als zwängten sie sich künstlich in eine Mode zurück, die ihre bemessene Zeit gehabt hat, wie die Biedermeierei, die Wertherstimmung, die Blaublümelein- und Gelbveigleinromantik.

Gern möchte ich diese Betrachtung zyklisch vollenden über Aeonen hinweg in eine Fernzeit, da sich der Höhenrausch wieder melden wird als ein elementares Bedürfnis. Könnten sich nicht die versprengten Energien wieder sammeln, die latenten Höhentriebe wieder wirksam werden? Ich greife da in eine weite Zukunft, in der das Aufwärtsreisen wieder ein symphonisches Erlebnis werden könnte, unter voller Mitwirkung des Ohres, in dem sich Raumvorstellung zu Klängen und kosmisches Rauschen zur Raumerfassung umbildet. Ein neues Zendavesta-Gefühl könnte heraufkommen mit der Befähigung, das himmlische Konzert zu erlauschen, das auf einem mit den drei Dimensionen bespannten Instrument gespielt wird. Alles was die Menschheit in früherem Erleben nur als Flächenbild wahrnahm, empfängt Relief, wird körperhaft, alles Schattenhafte gedeiht zu räumlicher Tiefe und Höhe.

Es fragt sich bloß, ob die Natur selbst den Menschen Zeit lassen wird, diesen Aufschwung zu erleben. Der Geologe hält eine trübe Auskunft in Bereitschaft. Phantast, ruft er mir zu, du rechnest mit Aeonen, mit Zeitstrecken, die das Gebirge gar nicht aushält. Zu viele Mächte sind verschworen, um der ganzen Höhenherrlichkeit ein Ende zu bereiten. Die Auswaschung durch Wildbäche, die Verwitterung und Frostsprengung in den Felsadern haben in der neuen Geologie Partner gewonnen, die noch weit radikaler wirtschaften. Langsam aber sicher vollzieht sich eine Wanderung der Kontinente in Polflucht nach dem Äquator, während gleichzeitig die Gebirge, die nichts anderes sind als aufgestaute Wellen, sich aus der Erstarrung loslösen und einsinken. Das Ziel ist die wirkliche Kugelgestalt der Erde in korrekter Geometrie, ohne Abplattung und ohne die Höcker und Runzeln, die uns die Motive zum alpinen Rausch liefern. Sollten dann noch Menschen existieren, so werden sie andere Sorgen haben, als die Überwindung der Ebene, denn alles wird eingeebnet sein, und für den Begriff des Hochlandes wird sich weder in ihrem Lexikon noch in ihrer Vorstellung ein Platz finden. Aber vielleicht wird dann ein später Schriftweiser aus alten Urkunden enträtseln, wie es ehedem herging auf dem Planeten, bevor er ganz kugelrund geschliffen und blankpoliert war. Und der mag dann eine gelehrte Abhandlung schreiben über eine verschollene Freude der Vorfahren, die sich Anno Olim an gewissen Beulen, Falten, Runzeln und Geschwüren der Erde begeisterten. Und diese Abhandlung wird genau so berechtigt sein wie tausend andere Traktate, die von der Rückständigkeit früherer und dem Fortschritt späterer Epochen zu berichten wissen.

*

Bei mir wird es schon in einem hingehen, wenn ich auch bei diesem Anlaß meine laudatio temporis acti nicht verstecke. Ich könnte die Gereiftheit meiner Jahre mit ihrer vermaledeiten Abgeklärtheit gar nicht ertragen, ohne die unablässige Versenkung in die Jugendzeit, da das Glück mich von allen Gipfeln grüßte, aus allen Felsschluchten anflüsterte, aus allen Wasserstürzen mir entgegenbrauste. Und, das war ein Glück in höchster Potenz, ein selbsterarbeitetes, wenigstens im Bereich der Alpen, wo ich mir jede Wegstrecke und jede Herberge pfennigweise bezahlte.

Aus Helmholtz's Mund hatte ich einmal die gelegentliche Mahnung vernommen: die erste Schweizer Tour, die erste Pariser Reise und die erste goldene Taschenuhr muß sich ein junger Mensch aus selbstverdientem Gelde beschaffen. Betreffs der Uhr ließ sich dies Programm bei mir nicht verwirklichen; sie flog mir von Vaters Seite am Tage meines Abiturs in die Westentasche. Aber in den zwei andern Punkten habe ich Helmholtz's Weisung pünktlich innegehalten, so zwar, daß ich einen Bruchteil der ersten eigenhändig erarbeiteten Moneten augenblicklich in Schweizer Genußscheinen anlegte, unbildlich gesagt, in Bahnkupons, die zusammen die Strecke Berlin–Luzern und zurück darstellten. Ganze tausend Mark hatte mir der Verleger Th. Barth für ein Buchmanuskript gezahlt, und der schriftstellernde Springinsfeld erging sich in der angenehmen Kopfrechnung, wie und wann dieser Krösusreichtum überhaupt erschöpft werden könnte. Jedenfalls nicht auf einer Schweizer-Reise, auch dann nicht, wenn sie wochenlang dauerte und wenn der vierundzwanzigjährige Großverdiener sich den Luxus leistete, den Vater einzuladen. Mir ist die Schlußbilanz noch gegenwärtig: pro Kopf verschlang die Expedition bis aufs Tipfelchen genau 59 Reichstaler, sämtliche Aufenthaltskosten im Gebirge einbegriffen, ein Betrag, der in Papier gedacht, in der Inflationszeit etwa ausreichte, um sich einen Fidibus davon zu drehen. Aber damals maß ich's anders: ich kam heim, von so vielen Naturwundern ganz überwältigt, und gestand mir: dritthalb Wochen gelebt im Paradies sind nicht zu teuer mit solcher Riesensumme bezahlt!

Ganz begriffsleer war ich nicht hingekommen. Aus noch früherer Zeit kannte ich das Riesengebirge, ein Stück von Oberbayern, und ich wußte sonach ungefähr, wie ein Berg auszusehen hatte. Allein da spukten noch Vorstellungen aus der Kindheit hinein, aus der Schulstunde mit ganz grotesken, lächerlichen Bildern, die ich vorerst nicht loswerden konnte. Ein Gymnasialpauker hatte es unternommen, uns Jungens die Konfiguration der Berner Alpen beizubringen mit dem Erfolg, daß wir uns die höchsten Kolosse Mönch, Eiger, Jungfrau als drei parallele Kegel vorstellten, die wie Zuckerhüte nebeneinander standen; und der Beschauer hätte sich den Hals auszurecken, wenn er davor stand und zu den Gipfeln aufschauen wollte. Wie kam es nur, daß die wirkliche Optik so ganz anders ausfiel, daß die erlebte Gewalt des Eindrucks sich gar nicht nach der Steilheit des Gesichtswinkels richtete? Auf der Wengernalp hat man die Jungfrauspitze in nächster Nähe vor sich, scheinbar auf Steinwurfweite nahegerückt, aber wenn man sich den Elevationswinkel ausrechnet, so findet man einen ganz bescheidenen Betrag, noch lange nicht den vierten Teil eines rechten Winkels. Wer von Visp herkommend nahe bei Randa zum ersten Male das Matterhorn erblickt, prallt zurück vor Entsetzen und gelangt gar nicht zu der Überlegung, daß er ganz gemütliche Kuppen im Mittelgebirge schon unter weit stärkerer Elevation gesehen hat. Das Auge als äußeres Sehorgan muß die Hochlandschaft erst sehen lernen und braucht lange Übung, bevor es sich von der Falschtaxierung in Abstand und Erhebung befreit; das innere Auge läßt sich nicht trigonometrisch beirren und empfängt die untrüglichste Offenbarung. So sind auch seine Farbeindrücke nicht durch physikalische Gegebenheiten bedingt: der ewige Schnee in der Ferne erscheint ihm nicht als ein weißer Überwurf, sondern als ein unmittelbar eindringliches Symbol der Erhabenheit. Und während das äußere Auge, durch Erfahrung geschärft, bestenfalls der Realität nahe kommt, schwingt sich das innere weit darüber hinaus in ein überweltliches Reich. Wollt ihr am sichersten merken, welche Menschen diesen Blick besitzen und welche nicht, dann beobachtet sie nur auf den Aussichtsplätzen: die Orientierungslüsternen scheiden zuerst aus, die Gäste, welche sich um die Fernrohre drängen, Kartenpläne zu Rate ziehen, Notizen machen und Alpenstöcke mit eingebrannten Erinnerungsmarken schwingen. Bemerkt ihr aber einen abseits, der sich ganz beziehungslos dem Eindruck hingibt, in dessen Auge ein Reflex beseligter Dankbarkeit kenntlich wird, so spricht hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß er die Landschaft mit dem inneren Blick aufnimmt. –

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Für mich konzentrierte sich der erste Eindruck im Anblick des Vierwaldstätter Sees von der Luzerner Reußbrücke und vom Schweizerhofquai gesehen, und ich war natürlich weit entfernt davon, in mir zwischen Sehens- und Fühlenswürdigkeit sonderliche Unterscheidungen zu treffen. Vielmehr überfiel mich das Panorama mit einer Wucht, die alles auslöschte, was meine jugendliche Einbildungskraft zuvor bildlich entworfen hatte; es warf mich in einen Tumult, aus dem ich so recht niemals hinausgefunden habe, auch noch nicht bei zwanzigfacher Wiederholung dieser Reise. Möglich, daß ich mir Mühe gab, aus dem ganzen Erlebnis Teileindrücke herauszufischen und sie mit allerhand poetischen Floskeln zu umbrämen: ein flüssiger Smaragd in der Tiefe, in der weiten Geschmeide-Umfassung der blauenden und silbernden Berge vom Rigi und Pilatus zum Tödi und Titlis; ein magistraler Akkord, erzeugt in einem Organon mundi für ein Chorwerk, wie es nur die Natur selbst zu komponieren vermochte. Man kann es auch drastischer ausdrücken, etwas blasphemischer, aber doch ganz einleuchtend: ein Knalleffekt der Natur, der noch knalliger dadurch wird, das hier auch das Menschenwerk mithilft, ziemlich stilgerecht und im Sinne der Natur. Will mir einer sagen, daß die glänzende Palastreihe am Quai da nicht hineinpaßt? Daß die abendlich blinkenden Fensterlichter von Rigikulm und Bürgenstock den feierlichen Eindruck stören? Der Verfolg solcher Ansicht würde in eine Troglodyten-Ästhetik hineinführen, in eine urweltliche Schönheitslehre, die im Bereich der Gletscher gelten mag, nicht aber an den Luzerner und Alpnachter Buchten, wo die Natur ganz und gar nicht dem schmückenden Menschenwerk widerspricht. Am Abend meiner Ankunft wurden ringsum auf allen Höhen aus irgendeinem eidgenössischen Anlaß Freudenfeuer entzündet; und bei anderer Gelegenheit sah ich den ganzen Pilatus in Flammen, in einem Riesenfeuerwerk aus brennenden Pechfässern, die vom Kulm in die Felsschluchten rollten und den Leuten im Tale den vesuvischen Anblick glühendflüssiger Lava vortäuschten. Mit der Wiederspiegelung im Wasser wirkte das grandios, und nur ein starrer Pedant hätte sich zu der Bemerkung verstiegen, daß durch solches Gaukelspiel die ruhige Natur profaniert würde. Mir selbst ist ein originaler Mondstrahl lieber als alle pyrotechnischen Effekte, und mir erscheint es nicht gerade als ein Erlebnisgewinn, wenn die Kaskaden des Gießbachs am Brienzer See bengalisch beleuchtet werden. Aber angesichts des flammenden Pilatus ging doch in der Phantasie des Beschauers etwas Magisches vor, wie eine Entzündung der hergebrachten Vorstellungen an den Feuerlinien, die sich vom Tomlishorn vulkanisch in die Tiefe ergossen. Und diese Erregung war so stark, daß man darüber sogar das Entstehungsmotiv der Veranstaltung vergaß; im Grunde war das Schauspiel doch wohl eine Reklame für das Bergwirtshaus dort oben.

Denn die Berge der Urkantone leben miteinander in hartem Daseinskampf, und besonders der Pilatus hat sich scharf zu wehren gegen das Stanser Horn und gegen den kleineren Bruder Rigi, der schon durch die dichte Bepflanzung mit Hotels seine wirtschaftliche Überlegenheit zu erkennen gibt. Es ist natürlich nicht angebracht, betreffs der Aussichten Reiz gegen Reiz zu wägen; erwiesen ist nur, daß der Rigi als anziehendes Objekt ein Kraftfeld mit stärkerem Potential aussendet als sonst ein Berg in Europa.

Zunächst wäre einmal festzustellen, daß sämtliche Berge der Vierwaldstätter Umrandung ihre eindrucksvollsten Fassaden nach der Luzerner Seite kehren. Ich bin wohl der erste gewesen, der auf die Besonderheit dieses nirgends wiederholten Naturschauspiels hingewiesen hat. Nicht nur beim Rigi selbst, sondern auch beim Pilatus, Bürgenstock, Buochser Horn, bei sämtlichen Hochfiguren geht ein Teil des Linienreizes verloren, sobald man den Standort der Betrachtung verschiebt und andere Profile aufnimmt. Am deutlichsten wird dies beim Pilatus, dessen berühmte Zackenpyramide sofort ins Nichtpyramidale verflaut, wenn der Point de vue die Luzerner Einstellung verläßt. Wäre es denkbar, den Linienreiz analytisch zu erfassen – und ich glaube, daß dies innerhalb der ästhetischen Möglichkeit liegt – so könnte man sozusagen mathematisch beweisen, daß ein Bergakkord von solcher Klangkraft und Reinheit nur einmal aufzutreten vermochte; denn der kosmogonische Zufall, der in einen Horizont ausschließlich gute Fassaden hineingebaut hat, ist so absonderlich, daß er sich mit dieser einen Leistung völlig erschöpft hat. Man vergleiche damit etwa den Interlakener Prospekt, der den Blick unabänderlich auf die Jungfrau kommandiert, auf die kolossale Primadonna, die den ganzen Chor ringsumher in Grund und Boden singt; oder den Schauplatz von Chamonix, wo der Montblanc als der gegebene Höhepunkt überhaupt seine Rolle verfehlt und mit seinem gleichgültigen Buckel eigentlich nur als ein Architekturfehler auffällt. –

Vergleicht man aber Berg mit Berg als Standort für Rundsicht, so zeigt der Rigi noch eine besondere Überlegenheit; durch eine Mannigfaltigkeit der Schauobjekte, in der alle Grade der Größe und der Stimmung vereinigt sind, vom eisigen Terror bis zum freundlichen Idyll. Er ist zudem so reich gegliedert in sich selbst, bietet schon in den Naheprospekten ein so wunderbares Spiel der Linien und Flächen, daß man getrost behaupten kann: der Rigi wäre auch dann ein Aussichtspunkt ersten Ranges, wenn man auf ihm nichts anderes zu sehen bekäme, als den Rigi. Man verliert auf ihm die Vorstellung der Zinne und gewinnt die einer Persönlichkeit, die den Kontakt mit der Seele sucht und um Liebe wirbt. Es gibt keinen zweiten Alpenberg, der sich der Menschheit so einladend anträgt, – allerdings auch keinen, der sich dabei so stark banalisiert hat, der in diesem Maße mons vulgatus geworden ist. War er doch der erste, an dem die Möglichkeit erprobt wurde, einen hohen Gipfel in eine Bahnstation zu verwandeln, mit garantiertem Anschluß an die internationalen Linien.

Kein Mensch findet seit Jahrzehnten etwas Besonderes bei dem Touristenplan, in Frankfurt am Main zu frühstücken und auf Rigikulm das Diner zu nehmen. Und längst hat man vergessen, daß die Konstruktion des Bergbahnsystems ursprünglich als ein Werk contra naturam auftrat; als eine Utopie, deren Urheber, Werkmeister Riggenbach aus Olten, als verrückt erklärt wurde, sowie vor ihm Salomon de Caus, Papin, Fulton, Stephenson und andere Pioniere der Mechanik. Ich selbst entsinne mich noch gewisser Abhandlungen, um 1870, in denen Riggenbachs Unterfangen als eine lächerliche Verleugnung des »gesunden Menschenverstandes« verhöhnt wurde. Und wie rasch hat sich dies vermeintlich Unmögliche zum selbstverständlichen Omnibus degradiert! Als ich wenige Jahre nach Eröffnung des Betriebes die Steilbahn kennen lernte, erschien sie kaum noch als ein Triumph der Technik. Sie war längst Allerweltssache geworden, und man blickte vom Wagen auf die vereinzelten Steiger, wie auf wandernde Handwerksburschen und Fechtbrüder. Mir war die Fahrt insofern willkommen, als ich, wie schon erwähnt, mit meinem Vater reiste, der sich sonst bei seiner schweren Statur den Kulm wohl hätte versagen müssen. Ich persönlich spürte nichtsdestoweniger schon damals ein Gegengefühl gegen die technische Errungenschaft, als den leisen Protest des Romantikers gegen die Abtragung und Einebnung der Höhenunterschiede.

Ich beschloß, mich wenigstens talabwärts von der Maschine zu befreien, und nebenbei wollte ich es in jugendlichem Ungestüm auf eine Konkurrenzprobe ankommen lassen. Mein Vater sollte auf den Schienen nach Vitznau gleiten, während ich selbst zur nämlichen Zeit, ohne dem Zuge einen Vorsprung zu lassen, am Seeufer als Bergläufer landen wollte. Ich mußte sonach das Tempo eines normalen Wanderers verdoppeln bis verdreifachen, um doch den ganzen Rigi unter die Sohlen zu bekommen; und dieses Vorhaben ist mir auch auf die Minute geglückt, – bis auf eine fatale Begleiterscheinung. Der forcierte Abstieg hinterließ mir ein Andenken in Form einer Knieschwellung, die man klinisch hätte als Elephantiasis bezeichnen dürfen. Nach solchem Befund verordnet ein sorgsamer Arzt wahrscheinlich mehrwöchige Bettruhe in Rückenlage mit Umschlägen. Das paßte nun gar nicht in mein Programm, das unabänderlich vor mir aufgerichtet stand. Ich habe mit meinem Schwellfuß – so heißt ja auch der tragische »Oedi-pus« auf Deutsch! – schwer gelitten in den folgenden Wochen, und ich mußte die Zähne fest aufeinanderbeißen, um mich im Gotthardgebiet, im Userntal, am Rhonegletscher entlang, über die Maienwand nach der Grimsel aufrecht zu halten. Wie stark müssen die Eindrücke gewesen sein, die solcher Qual nicht nur das Gegengewicht hielten, sondern sogar noch einen Überschuß aufwiesen, einen Überschuß reiner, tiefer Beglücktheit! Und wie schrumpft dagegen in der Erinnerung das Martyrium zusammen bis zu einem schwachen Echo des Wortes vom Meister Eckhart: die Wollust der Kreaturen ist gemenget mit Bitternis!

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Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte, wenn mir einmal vom Schicksal ein längerer zusammenhängender Aufenthalt auf den Höhen bestimmt worden wäre. Zähle ich für meine ungefähr dreißig Alpenfahrten die Zeiten zusammen, dann mögen wohl mindestens zwei Jahre herauskommen; allein im einzelnen blieb ich doch immer auf karge Wochen angewiesen, und das war mir zu wenig, als daß ich zum Augenblick hätte sagen dürfen: verweile doch, du bist so schön. Ich war durchweg mit landschaftlichem Heißhunger geladen, und wenn mich auch das innere Bekenntnis zur Weihe, zum kontemplativen Genuß anhielt, so unterlag ich doch allemal dem Impulse: nur vorwärts, nur möglichst viel erschreiten, erstürmen, erklettern. Ich war ein Paradigma dafür, daß die menschliche Perzeption sich kinematographisch abrollt, bis zu dem Grade, daß mir die Häufigkeit der Bildeindrücke am besten gewährleistet erschien, wenn ich mir die Natur in ein unendliches Wandelpanorama, in einen unabsehbaren Film verwandelte. Oft streifte ich rastlos allein, noch öfter mit irgendeinem Kumpan, und es ereignete sich nicht selten, daß mein Wandergenosse unterwegs das Rennen aufgab, weil er meiner Pace nicht gewachsen war. Ja, es kam sogar vor, daß der gemietete Führer, also der Berufsmann, der von Amtes und Patentes wegen dem Reisenden überlegen sein muß, als über Gebühr angestrengt mir Streikdrohung ansagte. Ich kannte einfach kein Müdewerden, und wenn ich auch auf schwierigen, Gymnastik beanspruchenden Gängen nur Stümperhaftes leistete, so bewährte ich mich doch auf leidlich gangbaren Strecken als ein Perpetuum mobile. Ich strapazierte mich um der Strapaze willen, erquickte mich an Unbequemlichkeiten und genoß dabei den Höhenrausch um so intensiver, als ich ihn wie ein Erkämpftes, meiner eigenen Natur Abgetrotztes empfand. Mir war das Bedürfnis gegenwärtig, der Wonne gegenüber einen fühlbaren Einsatz zu bieten, mich selbst auszuspielen im Wettbewerb des Willens gegen die flauen Gewohnheiten des Leibes. Ich ging darin so weit, daß ich sogar noch den klassischen Merkspruch des Philander von Sittewald übertrumpfte. Das »Steh' auf am frühen Morgen« genügte mir nicht; wer sich auf einen guten Nachtmarsch einrichtet, der spart das Aufstehen überhaupt, der Schlaf läßt sich im Flachland nachholen, und solch ein durchwandertes Nokturn im Hochgebirge liefert Emotionen, die nicht von dieser Welt sind.

Der einzige, der lange mit mir im Tempo durchhielt, war ein Jugendfreund, der mir aus anderem Berufskreise angeflogen kam. Er hieß Wilhelm Sachs, war Angestellter im Goldbergerschen Bankhaus, stand immer auf dem Punkte vermögend zu werden, kam aber nie über die Niederungen der Pfennigwirtschaft hinaus. In unseren Wesenheiten gab es Divergenzen, die später zum Bruch führten, aber sie erschienen damals nur als leise Dissonanzen, kaum wahrnehmbar in unserer gemeinsamen alpinen Leidenschaft, die sich zwischen Ortler und Montblanc austobte, so weit die mageren Börsen reichen wollten. Viel jungfräuliches Terrain bot sich unseren Dauerläufen in Gebieten, die sich später zu Boulevards für die Touristenherde entwickelten. Dinge wie Brünig-, Albula-, Simplon-, Visp-, Zermatt-, Wengernbahn spukten höchstens als Projekte in der Luft. Bemerkten wir irgendwo, etwa zwischen Altdorf und Göschenen Anfänge einer Schienenanlage, so gingen wir ihnen in weitem Bogen aus dem Wege, um uns über Geröll und Heidekraut Privatwege zu erschließen. Wir gerieten an die ersten Bohrmaschinen, die mit betäubendem Gekrach Sprenglöcher in die Felsen stießen, und ohne rechte Ahnung von der weltwirtschaftlichen Bedeutung dieser Arbeiten wunderten wir uns über die perverse Laune der Ingenieure, die darauf ausgingen, Berge entzweizumachen. Wenn die sich nur nicht verkalkulierten! Draußen die freie Aussicht, in den Löchern die Finsternis, – welcher Zukunftsreisende wird die Lust haben, den lichten Gotthardblick zu opfern, um dafür einen Maulwurfsgang einzutauschen? Warum dann nicht lieber gleich ein unterirdisches Loch von Basel bis Mailand? Nein, diese Gotthardgeschichte mit ihren Vandalismen war sicher eine ganz verfehlte Spekulation! Das war damals die Taxe jugendlicher Springinsfelde, denen die Wanderlust mehr galt als das Prinzip der kürzesten Linie.

Mit den gaulbespannten Alpenposten standen wir auf freundschaftlicherem Fuße. Wir benutzten sie zwar nur äußerst selten, aber sie schienen uns nicht ganz stilwidrig, und man konnte sogar seine Freude an ihnen haben, wenn man sie überholte. Das gelang zum Beispiel, wenn man von Andermatt zur Furka alle Serpentinen durchquerte und den langgedehnten Spaziergang in eine scharfe Kletterei verwandelte. Wo blieb da die eidgenössische Post mit gepferchten Frühgästen, die auf den Kehren noch lange zu rumpeln hatten, während wir schon auf hohem Joch unsere Seelen mit den Prospekten auf die Walliser Fiescherhörner und die Schreckhörner vollpumpten!

Und hier die erste Annäherung an die wirkliche Eisregion, an die blaue Zauberwelt des riesigen Rhonegletschers. War das möglich? Die Schrecken eisiger, arktischer Zerklüftung mit den sanften Hängen eines Blumenparadieses in einem Blick? So weit hatte unsere Einbildungskraft doch noch nicht vorgearbeitet, und nun erlebten wir an den letzten Abstürzen des Gletschers den märchenhaften Kontrast, den man mit den Sinnen wahrnimmt, ohne ihn zu begreifen. Eine Paradoxie der Natur, die sich vorgesetzt hat, hier die Dekoration einer Zauberoper zu schaffen. Was die Alpenflora nur hergibt, hier ist es verwoben in eine blütenreiche Lehne, die eine glitzernde Eiskaskade umfängt.

Für mich haftet an dieser Szenerie ein Tropfen Blut. Hundert Begleiterscheinungen sind mir entschwunden, aber eine peinliche Bagatelle hat sich erhalten und stört mir den Rückblick. Im Gehöft des Gasthauses »Gletsch« sah ich, als wir eben eintraten, die Hinrichtung einiger Gänse, sah ich entsetzt die Vögel noch nach ihrer Enthauptung kurze Zeit flügelschlagend umhertaumeln. Lohnt es, sich bei einer solchen sentimentalen Lächerlichkeit aufzuhalten, und verweise ich mich nicht in eine Tiefschicht empfindsamer Kleingeister, wenn ich sie auch nur erwähne? Aber ich nenne sie auch nur als einen Beleg für etwas Größeres; nämlich dafür, daß unsere gesamte Landschaftsentzückung sich über Greueln aufbaut, die wir gewaltsam ignorieren. Jener Blumenteppich am Eise, durch den ich lustgeschwellt watete, dieser Wald im Haslital, der mir bevorstand, jede Bergzinne, die sich majestätisch, und jeder Herdrauch aus einer Ortschaft, der sich lieblich dem Bilde einfügt, sie sind unablässig erfüllt von der Not der Kreaturen, vom unerbittlichen Daseinskampf, der immer nur die Form ändert, aber nie und nirgends das Wesen; denn die Bäume im Gehölz, die Pflänzchen auf der Wiese mit ihrem Gewürm und alle Anorganismen der gewaltigen Felsketten kämpfen unter sich um den Platz im Raume, um den Sonnenstrahl, um den Bestand der Zellen und Moleküle. Diese plätschernde junge Rhone, die aus der letzten Eiszunge hervorbricht, schwemmt den Lebenssaft der Dammagruppe dahin, ihre sogenannte Gletschermilch ist nichts anderes als das mineralische Blut Berner Alpen, deren Triften, Weiden und sammetartige Matten in Wirklichkeit nur Vorhöfe für Schlachtbänke darstellen. Aber wir besitzen die Kunst, unser Mitleidsauge zu verschließen, das, wenn es offen bliebe, in der Einheitlichkeit des Landschaftsbildes eine Unendlichkeit von Brutalitäten erblicken würde. Auch diese so sorgsam gepflegte Kunst der Abstraktion gehört zum Daseinskampf, dient uns als Abwehrwaffe gegen die Unleidlichkeit der Existenz, da sie die Not in einen unsichtbaren Hintergrund schiebt, um den Vordergrund für die Phantasmagorie des schönen Eindrucks frei zu halten. Bis dann ein zufälliger Einblick in die wahre Verfassung der Natur die Vorstellung korrigiert und uns daran erinnert, daß wir die Landschaftsmelodie zu einem Text hinzudichten, der in der Hauptsache vom Fressen und Gefressenwerden handelt. Wir hatten übrigens im »Gletsch« zur Abendtafel sehr guten Gänsebraten, und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß ich mich von der Mahlzeit nicht ausschloß. Aber noch heute ist es mir unmöglich, an den Rhonegletscher zu denken, ohne das schauderhafte Komplementärbild jenes Totentanzes mitzuerblicken.

Ich fühle, daß ich mich in eine Antinomie begebe, und daß sich das Werkzeug meines Bergpsalmes merklich verstimmt. Aber ich will ja nicht bloß über Tatsachen berichten, sondern auch von huschenden Stimmungen erzählen, die ja für sich auch Tatsachen sind. Der malende Landschafter ist auf die Einheit des Objekts festgelegt, der schreibende darf die Luken zwischen den Stimmungen öffnen, und er wird schon wieder in den Höhenrausch zurückfinden, auch wenn er die fatalen Zwischenzustände des Katzenjammers nicht verschweigt. Auf den Bergen ist Freiheit – für wen? Die Lösung der Frage hängt doch an der Vorbedingung, daß der Mensch dort nicht hinkommt mit seiner Qual. Das ergibt schon einen fehlerhaften Zirkel, denn er kann seine Qual nicht zurücklassen, wenn er aufsteigt, er nimmt sich selbst als ethische Persönlichkeit mit, und das Gewissen leidet noch stärker an der Bergkrankheit als die Beingelenke. Zuerst ermahnt ihn das Gewissen: was berechtigt dich zu dieser Ausnahmestellung frei von aller Quälerei, während anderthalb Milliarden deiner Brüder in der Tiefe mit Qual behaftet bleiben? Bist du würdiger als sie, weil du im Niveau ein klein wenig anders stehst? Wirst du befreit von der Welttragödie, weil du sie auf deinem bevorzugten Punkte nicht merkst? Aber nein, du siehst ja hier weiter als die anderen, warum wirst du also engsichtig, warum hängst du deine Betrachtung nur an deinen eigenen Vorteil? Nehmen wir einmal an, ein bestimmter Mensch findet diese Freiheit auf dem Gipfel des Montblanc, der ihm eine Rundsicht über 200 000 Quadratkilometer öffnet. Er überblickt da ein Areal, in dem tausendmal mehr Elend nistet, als im optischen Umkreise eines Hügels. Er wird einwenden: aber auch tausendmal mehr Freude! Leider stimmt die Rechnung nicht, denn der Optimist übersieht, oder er weiß nichts davon, daß jede Hemmung mechanisch und psychisch jede ihr numerisch gleiche Förderung im Ergebnis übertrifft, daß jedes Motiv seine Wirkung verstärkt, sobald es aus dem freundlichen zum feindseligen Sinn umschlägt. Wäre es möglich, Freude und Leid nach Stärkegraden zu messen, so müßte man feststellen: ein Pfund Unlust wiegt viel schwerer als ein Zentner Lust. Tröste sich einer mit dem Wohlgefühl seines ganzen Körpers, wenn ihm auch nur ein einziger Nerv weh tut! Kein Akkord befriedigt, wo auch nur eine Stimme störend dissoniert, und hundert Akte der Treue entschädigen nicht für eine Sekunde der Untreue. Wäre es also möglich, im erweiterten Blick nicht nur die Landschaft, sondern auch die Vorgänge zu umfassen, so würde er um so niederdrückender werden, je mehr man sich erhöbe; weil in der Wirkungssumme des Erblickten das Leid immer stärker hervorträte. Die Freiheit auf den Bergen ist das Bewußtsein des Menschen, der sich egozentrisch auslebt; besäße er ein wirkliches Organ für das Mitleid, so würde er den Hauch der Grüfte schon wahrnehmen.

Weltenfern lagen so abwegige Betrachtungen den beiden Wanderern, die im Sturm von Lust zu Lust gar nicht dazu gelangten, Empfindungen zu analysieren. Allenfalls durchhuschte uns manchmal das Bedauern darüber, daß wir nicht auf die allerhöchsten Spitzen hinaufkonnten, auf die Renommierpunkte, denn das waren Angelegenheiten mit besonderen Führern zu unerschwinglichen Taxen.

Wir hegten eine grenzenlose Verehrung für diese Typen, Genies in ihrer Art, die einen animalischen Instinkt zur Wegefindung besitzen, wechselnde Eigentümlichkeiten in verschiebbarem Eisrevier auf Stunden im voraus erraten und gelegentlich das Unmögliche möglich machen. Man sprach damals von einer Tour auf die Jungfrau, die sich ein behäbiger Börsianer aus Berlin infolge einer hohen Wette vorgesetzt hatte. Dieser schwerfällige Erdenbürger wäre normalerweise noch nicht einmal bis auf den Kynast bei Warmbrunn hinaufgelangt. Aber Herr L. fuhr nach Grindelwald, stellte dort zwölf Führer per cassa vor das Problem und siegte nach dem Prinzip »wenn ich sechs Hengste zahlen kann, sind ihre Kräfte nicht die meinen?« Hier stimmte es sogar mit der Zahl der vierundzwanzig Beine, die Goethe ausdrücklich für den Bewegungsvorgang ansetzt. Man transportierte also den Herrn wie einen Koffer, lange bevor Guy-Zeller das Projekt der Jungfraubahn gefaßt hatte, aber ungefähr mit dem nämlichen Aszensionseffekt der späteren Maschinerie. Aber auch abgesehen von solch groteskem Ausnahmefall bleibt im Führerwesen eine seltsame Anomalie bestehen: Man bezahlt einen Mietling und wird dessen untergebenes Objekt. Der Führer von Ruf, als der Chef der Expedition, hat das alleinige Kommando, er verfügt mit stummen Winken, und der Tourist gehorcht um so williger, je stärker ihm der Mietling imponiert. Ich habe diese Beziehung später kennen gelernt, als ich einmal mit zwei Wallisern über böses Eis ging. Von früh bis abends wurde kaum ein Wort gesprochen, ich fand mich bald darein, mir Anrede und Frage zu verbeißen und wurde willenlos in der Hand der Berufsmänner. Zu Dutzendmalen stand ich vor breiten, bläulichen Schrunden. Jetzt setzte der Vordermann (der Meister hieß Inderbienen), mit einem unbegreiflichen Salto über den Spalt, und ich, an den Hüften angeseilt, flog nach in einer riesigen Schwunglinie, zu der man nur gelangen kann, wenn man vollständig zur Sache wird, zum Ball für jonglierende Überwesen. Nichtsdestoweniger empfand ich den vollen Reiz der Hochtour und ich fing an, die noch sublimeren Reize in den Gefahrzonen zu wittern, in die man sich nur mit den Matadoren der Zunft begeben durfte. Da mußte ich freilich Zaungast bleiben, und ich war schon froh, als sich mir einmal, ganz zufällig, auf harmlosem Wege, der berühmteste der ganzen Gilde zu kurzer Fühlung anschloß. Das war der Meiringer Melchior Anderegg, der als Knecht auf der Furka begann, und dessen Name sich später der Landschaft selbst eingeprägt hat in dem steinernen Wahrzeichen des nach ihm benannten »Anderegg-Jochs«. Er stand im Brennpunkt der Umwerbung, in der Regel war er schon von Januar her bis in den Herbst festgelegt, und es galt als Ziel Londoner Ehrgeizes, sich seines Oberbefehls zu versichern. Es kam aber auch vor, daß die Rollen sich umkehrten und daß die Gefährten eine Heldenpartie übernahmen. Im Oberwallis lernte ich zwei junge Offiziere aus Aachen kennen, die in kurzer Zeit für ihre Unternehmungen bereits an zehntausend Mark für Führerlöhne verausgabt hatten, ohne sich in Hörigkeit zu begeben. Ihre letzte Tour verlief abenteuerlich. Aus irgendeinem Grunde trennten sie sich beim Matterhorn-Abstieg vom Führer, sie befanden sich bereits in Talnähe, als sie plötzlich aus weitentlegener Höhe Hilferufe vernahmen. Nicht einen Augenblick besannen sich die jungen Leute. Eben hatten sie den schlimmen Berg bewältigt, und nun klommen sie abermals bis in die Gefahrzone, aus der die Schreie über die Wildnis hinweg herabgedrungen waren. Dort fanden sie den Führer hilflos und arg beschädigt, da er sich bei vehementer Gymnastik einen Arm ausgerissen hatte. Und ganz auf eigene Kräfte angewiesen, schafften sie den Verunglückten in vielstündigem, mühseligem Transport hinab. Kurz darauf erschienen sie an der Abendtafel des Hotels ohne die geringste Erkennungsspur der ungeheuerlichen Strapaze, wie nach einer Gartenpromenade, in militärischer Eleganz, mit durchgezogenem Scheitel; und ich verglich mit ihrer Gepflegtheit den verwilderten Zustand, in den ich regelmäßig geriet, wenn ich mich auch nur stundenweise den Einflüssen des Gletscherbrandes aussetzte.

Bei mir half keine Prophylaxe, und keine nachträgliche Kosmetik, weder Schneebrille, noch bunter Schleier, noch Einreibung mit fettigen Salben. Die Höhensonne mit ihren unheimlichen Reflexen von Milliarden glitzernder Kristalle ließ meine Augen aufschwellen und verwandelte meine Hautfläche in einen Blätterteig. Ich konnte in meinem Gesicht blättern wie in einem Buche, und es mag nicht immer zur Erquickung meiner Tischnachbarn ausgefallen sein, wenn sich mir von Nase und Stirn und Backen die Streifen ablösten. In solcher Verfassung setzte ich mich gewöhnlich lieber in die »Schwemme«, zum Landvolk, zu Führern und Trägern, wo mich zudem der besondere Geruch der primitiven Stuben erdwüchsig anmutete. Soziale Trennung machte sich hier bemerkbar, insofern sich diese niederen Leute eigentlich doch als naturgewollte Oberschicht vorkamen – im Gegensatz zu den hereingewehten fremden Städtern, die das Land als Gesellschaftssalon, Sanatorium oder Turnhalle betrachteten. Aber das waren die Geldimporteure, die schon damals Jahr für Jahr dreihundert Millionen Franken hereinschaufelten, wonach sich nach bäuerischer Arithmetik das Exempel ergab, wann wohl aller Weltreichtum zwischen den Bergen abgeladen sein würde. Um dieser Aussicht willen durfte man sich schon der Touristenlaune fügen, wiewohl man daneben die Kritik bereit hielt: im Wallis und in Graubünden klettern die Ziegen bis zu zweitausend Metern, die Ochsen bis dreitausend, höher hinauf nur die Fremden. Wenn die Eingeborenen mitkletterten, so geschah es zuerst aus Geschäftsinstinkt, dann aber auch, weil sie merkten, daß dem Führerstande eine Gefühlsverkleidung gut anstehen würde. Es entwickelte sich ein Honneur du drapeau nicht nur in Ansehung der selbstverständlichen absoluten Zuverlässigkeit und Pflichttreue, sondern auch gewisser Empfindungen, die auf die Ausländer des Eindrucks sicher waren. Man zeigte mir den steinalten Grindelwalder Führer Balmer, der mit seiner Frau oben auf dem Wetterhorn goldene Hochzeit gefeiert hatte. Daraus hätte man doch eine Romanze machen können. Und jener dort, das war Roth, denkwürdig durch eine Episode am Rottalsattel, wo ein höchst schwieriger scharfkantiger Eisgrat sich nur rittlings überwinden läßt. Ihm war es so, als brauchte der zuzweit reitende Herr seine Handhilfe, und so schlug er in der Sekunde mit übereinandergeschleuderten Beinen die »Grätsche«, um den gefährdeten Hintermann sofort auffangen zu können. Ein Turnerstück auf Tod und Leben mit apokalyptischem Einschlag. Legendenhaftes ging um über die Leute aus der Führersippe der Croz und Taugwalder, die an der verhängnisvollen Whymper-Expedition beteiligt waren; manches erschien wie eine Ergänzung zur stummen Chronik des Zermatter Kirchhofs, dessen Grabsteine soviel Wagemut bedecken, Berichte wurden vernehmlich, die an Volksepik anklangen. Und was in den Schwemmen auch nicht zu verachten war: ich paßte in meiner Verstrolchtheit besser zum Milieu, brauchte mich nicht von geschniegelten Kellnern begönnern zu lassen, und eine rechtschaffene Portion Käse reichte hier weiter, als ein ganzes Menu vorgeschnittener Gerichte in den Salons der großen Hotels. –

Wir, Freund Sachs und ich, gerieten gelegentlich an Auswirkungen von Elementargewalten, zu denen man selbst in unmittelbarer Nähe des Ereignisses niemals die rechte Distanz gewinnt. Zwischen Ursache und Wirkung klafft Unbegreifliches. So wenigstens stellte sich uns der Effekt einer Lawine dar, die kurz vor unserem Eintreffen im Grimselgrund einen Anbau des Hospizes glatt abrasiert und fortgefegt hatte. Nun ließe sich ja eine stürzende Masse vorstellen, die Mauern oder sogar ganze Häuserkomplexe verschluckt, ein Geschiebe von solcher Massigkeit, daß ein Haus in ihm verschwindet, wie eine Nadel im Fuder Heu. Aber diese Vorstellung stößt auf eine Unstimmigkeit, sobald man der Lawinen wirklich ansichtig wird. Wir sahen solche in reicher Anzahl wenige Tage später von der kleinen Scheidegg aus, und konnten uns in keiner Weise begreiflich machen, daß dieses winzige weiße Gerinnsel irgendwelche Gewalt auszuüben vermöchte. Wegen der allzugroßen Entfernung? aber das waren doch nur wenige Kilometer, und der dröhnende Donner dieser Schneekaskaden rückte die Erscheinung der Wahrnehmung sehr nahe. Die beiden Eindrücke, der akustische und der optische, widersprachen einander vollständig. Diese Lawinen, die das Jungfraumassiv wie Schaustücke für die Fremden präsentiert, sind geradezu Schulbeispiele dafür, daß das Auge als Urteilsorgan sich unter gewissen Bedingungen vom Ohr weitaus übertreffen läßt, daß das Ein-Sehen versagt, wo das Ein-Hören noch zuverlässig bleibt. In anderen Fällen freilich tritt das Auge als Korrektor auf gegenüber uralten Vorstellungen. In einer Schlucht des Pflerschtals sah ich einen Wald, den die Lawine entzweigebrochen hatte, an der einen Tallehne von oben nach unten, an der anderen von unten nach oben, wie die Lage der geknickten Stämme ganz unzweideutig erwies. Hier war also die Lawine an der Talsohle rikoschetiert wie ein Strahl am Spiegel oder ein Billardball an der Bande, und hatte rückprallend eine Verwüstung angerichtet, deren Befund unwahrscheinlich erschien bis hart an die Grenze der Unmöglichkeit. Zählt doch zum eisernen Bestand alter Witze jener Ausspruch eines Jobbers: an der Börse geht es mit den Kursen wie mit einer Lawine: einmal herunter, einmal herauf; die Pointe gründet sich darauf, daß die Vorstellung einer heraufgehenden Lawine schlechterdings unsinnig sein soll. Und dennoch, hier ward es erlebt, die Natur verwirklicht Phänomene, die der gesunde Menschenverstand als contra naturam erachtet.

Mir schaffte sie auf meinen Fahrten rechte Seltsamkeiten, sie hatte immer etwas in Bereitschaft, das nicht in der Linie der gewohnten Vorgänge lag. Auf dem Albulapaß zeigte sie mir, wie sie Schnee macht, in einem Bilde, wie es dem geschulten Meteorologen schwerlich vorschwebt. Es erinnerte eher an die primitiven Illustrationen eines Märchenbuches, das den Kindern die Frau Holle mit ihren Federbetten vorführt. Die Wolken nämlich wälzten sich über die Wegscheide tatsächlich wie Säcke, sie kugelten aus der Schluchtentiefe zur Rechten emporquellend links über den Abhang, und dicht vor mir zerrissen sie im Frostwinde und schütteten im Zerplatzen Schnee aus; als ob der schon vorher darin gesteckt hätte, wie die Federn im Bett. Die Erscheinung verlief örtlich so scharf abgegrenzt, daß die Realität des Vorgangs gar keinen Zweifel zuließ. Man konnte sich vorstellen, die Natur veranstalte einen Experimentierkursus und wähle deutlich umschriebene Nebelhaufen, um die Entstehung der Flocken bis zur Handgreiflichkeit zu veranschaulichen.

Ein andermal wiederum stand ich im Tauferer-Gebiet auf blauüberwölbter Spitze und tief darunter wütete ein Gewitter mit aufwärts zuckenden Blitzen. Ein unterweltliches Schauspiel, dessen Reize die Nerven geradezu folternd angreift. Mein damaliger Begleiter, der Schriftsteller Norton, lag bei den fulminantesten Schlägen halbtot am Boden, überwältigt von der evidenten Tatsache, daß die Welt ihren Untergang ankündigte: Jupiter tonans in der Tiefe, der den Himmel bestürmte! Als das verkehrt gelagerte Gewitter sich verzog, erhob sich eine neue Erscheinung. Im Osten hatte sich eine Nebelwand geballt, und die absteigende Sonne malte auf ihr große farbige Ringe als Rahmen für menschliche Figuren, in denen wir unsere gigantischen Doppelgänger erkannten. Es war das Brockengespenst in Tiroler Ausgabe, der ungeheure Schattenwurf, der auf Abbildungen in naturkundlichen Büchern fast durchweg falsch dargestellt wird; denn wenn es auch richtig ist, daß sich innerhalb der bunten Kreise mehrere Schattenfiguren vereinigen können, so sieht doch in freier Natur jeder einzelne Betrachter immer nur sich allein mit Ausschluß jeder Begleitung. Das ist ein riesiges Symbol unserer egozentrischen Verfassung, die den Nebenmenschen verschwinden läßt, wenn wir uns als kosmisch erhöht wahrnehmen. Wir projizieren uns in den Weltraum, erweitern uns ins Kolossale und finden uns von einer Aureole umstrahlt, die nur der eigenen Person zu gelten hat. Dort auf weiter Wolke malt sich in gespenstischem Schatten die Illustration zum Stirnerschen Text von der Mittelpunktstellung des Einzelnen, des Einzigen.

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Aus der Menge der Wanderungen treten weitere Besonderheiten hervor, die den Zurückschauenden beseligen. Wir hatten uns nicht ohne Mühsal in dreiwöchiger Tour bis nach Savoyen durchgerackert und genossen in kurzer Nachtruhe schon die Vorfreuden des kommenden Tages. Als wir aufbrachen, um vier Uhr früh, standen die Wetterauspizien schlecht, die Welt hatte sich in grauen Dunst gehüllt, und der Barometer verhieß Trübseligkeiten von Dauer. Mit meinem Kumpan Wilhelm stellte ich mich auf Verzicht. Schluß der Reise, Abbruch des Programms, wehmütiger Abschied von Herrlichkeiten, die sich restlos im Nebel verkrochen. Kaum daß wir auf der Landstraße zurück fanden, zwei Stunden weit von Chamonix, nach Argentière in einem Medium zwischen Wässerigkeit und Watte, das nicht den geringsten Durchblick freigab und die Existenz einer Montblanc-Gruppe nicht einmal ahnen ließ. Und wenn wir die Ortschaft auch erreichten, was dann? In einem Wagen bis zur Eisenbahn im Rhonetal? Man hatte uns gesagt, unter hundert Franken wäre ein Vehikel nicht zu haben, und es blieb fraglich, ob unsere entkräfteten Börsen solcher Extravaganz noch gewachsen waren. In wortloser Verdrossenheit schlichen wir dahin, ein scharfer Gewittersturz mit Platzregen wäre uns lieber gewesen, als dieses matt versickernde Finale. Hier fehlte jedes Pathos, die ganze Wandererphantasie mit ihrem Reichtum Schubertscher Stimmungen verklang am Ende in langweiliger Verlegenheit.

Da gab es wenige Schritte vor Argentière einen völligen Szenenwechsel, mit einer Rapidität, als ob die Dunstschleier nur Gardinen und Requisiten gewesen wären, die auf ein Bühnensignal harrten. Sie flogen hinauf in die atmosphärischen Soffitten, um sich in einem Blau aufzulösen, das an Glanz mit dem Schneeweiß der plötzlich enthüllten Gipfellinie wetteiferte. Wiederum liegt ein musikalischer Vergleich nahe: es war wie der fulminante C-dur-Akkord, auf den sich das Orchester in Beethovens Fünfter stürzt nach den alpdrückenden Beklemmungen, die vorangehen, um den fabelhaften Kontrast vorzubereiten. Ja, das war das erwartete Finale, und es wurde für uns ein Triumphmarsch, in dem wir binnen vierundzwanzig Stunden das ausgewachsene Pensum dreier Tage bewältigten. Zurück nach Les Praz, zum Aufmarsch nach Mauvais Pas, Chapeau, über das Eismeer und seine Moränen, und wieder zu Tal, das Herz zum Zerspringen voll von den Einblicken in das Naturtheater auf dem Gletscher mit seinen eisigen Kulissen von den Vordergründen bis zu den Grandes Jorasses, die den Prospekt gewaltig abschließen. Was Touristen unseres Schlages unterwegs so nachdrücklich beschäftigt, das Verweilen bei den Mahlzeiten, wurde für uns an diesem Tage eine Unvermeidlichkeit, die wir auf ein Minimum hinabdrückten. Noch am selben Nachmittag empor zur Flégère, wo sich neue Bildwerke vor uns aufbauten, über die Talsenkung hinweg zu den Aiguillen, die in verwirrendem Geflimmer mit den Strahlen der sinkenden Sonne spielten und sich aus ihnen farbige Geschmeide woben. Und hieran erst schloß sich der eigentliche Triumph der Leistung, der aus gewaltsam gespanntem Willen herausbrach, um der Natur alles abzugewinnen, was sie irgend für uns aufgespeichert haben mochte. Zum drittenmal in eines Tages Rundlauf wollten wir von unten auf die Hochregion erstreben mit einem forcierten Nachtmarsch über den Col de Balme und die Tête noire. Das war ein phantastisches Unternehmen, und als wir uns in Argentière wegen eines Führers umtaten, gerieten wir an Schwierigkeiten. Zuerst holten wir uns Körbe: bei Tage auf irgendeine verschriene Spitze – gewiß, dazu wäre man in Beruf und Dienst, aber in dunkler Nacht über hohe Pässe, das hieße die bösen Geister geradezu herausfordern. Schließlich fanden wir einen wegekundigen Burschen, der das Geleit wagen wollte. In der Hauptsache könne man sich auf den Vollmondschein verlassen, und wo der nicht hinleuchtete, müßte man sich eben mit einer mitgenommenen Handlaterne durchfinden. Tatsächlich bezwangen wir die Strecke nach Martigny bis zum Vormittag, und diese Nachtwanderung gehört zu den stärksten Offenbarungen meines Lebens. Es gab keine Abenteuer in gewöhnlichem Sinne, keine akute Fährlichkeit mit Einsatz von Kopf und Kragen; aber das Ganze wurde eine lückenlose Kette gespenstischer Abenteuer für den inneren alpinen Sinn, der seine eigene Resonanz besitzt für das große Schweigen der Nacht. Ganz gewiß, im Tageslicht hätten wir diese letzte Anstrengung nicht mehr ausgehalten; allein hier kam ein somnambules Erlebnis über uns mit Schwüngen, die uns wie entmaterialisierte Wesen dahintrugen durch eine Geisterwelt.

In einem Folgejahr verlockte mich das Walliser Breithorn, und hier hatte ich besonders auf dem Gornergletscher Gelegenheit, die Architektur eines in sich abgeschlossenen Kristallsystems kennenzulernen. Man verliert ganz den Blick ins Weite und sieht sich von zahllosen eisigen Wänden, Wällen und Türmen umringt, an denen sich die Axt der Hilfsmannschaft mit rastlosem Stufenschlagen zu erproben hat. An einer Stelle geschah es mir beim Einblick in einen märchenhaften blauen Schrund, daß ich meine Ergriffenheit nicht zu beherrschen vermochte und mich in Tränen erleichterte. Ich bat um ein kurzes Verweilen an diesem Punkte, wurde indes von den Führern, die nur der Zeittaxe gehorchten, am Seil weitergezogen. Denn wir waren bereits im Stundenverlust durch die Schuld der Leute, die sich zum Anfang der Wanderung am Riffelhaus verspätet bei mir eingefunden hatten; angeblich festgehalten durch die Frühmesse im Tale, während sich meine eigene Andacht über den ganzen Tag erstreckte und vermutlich tiefer ging als ihr von der Dorfglocke metromisiertes Seelenbedürfnis.

Touristisch genommen verlief bis zum Matterjoch alles nach dem vorgezeichneten Programm. Ich hatte gute Vorräte mitgenommen und auf einer wilden Felsenschicht mit dem wenig anheimelnden Namen »die Leichenbretter« hielten wir eine ausgiebige Mahlzeit. Beim weiteren Anstieg fühlte ich mit Behagen, daß mir an diesem Tage die Bergkrankheit weniger anhatte, als sonst in den Höhen über 3000 Metern. Aber am Breithorn rächte sich die Zeitversäumnis, und wir mußten vor Erreichung des Gipfels umkehren, um nicht auf den weiteren Eisfeldern, die uns noch bevorstanden, bei heraufziehender Dunkelheit in Unmöglichkeiten zu geraten. Ich habe sonach dieses Ziel des Ehrgeizes, mich einmal über Höhe von Jungfrauspitz zu erheben, nicht erzwungen, und so gleichgültig mir das auch in der Folge wurde, so scharf nagte der Verdruß an mir in der kritischen Stunde des Verzichtes. Auch die Körperlust beim Hinabsausen über hängende Schneefelder, mit bremsend eingestellter Picke, unter der es in weißen Wolken umherstob, half mir darüber nicht hinweg. Aber ganz ins Transzendente glitt ich wiederum auf der seltsamen Einöde des schrägen Theodul-Gletschers, über den der Wind, mit feinsten Kristallen wirbelnd, vor mir herfegte. Mich umfing ein kosmisches Getön mit außerweltlichen Flageoletten und Arpeggien, und deren Vereinigung rührte an einen der vielen unbekannten Nerven, die nur bei außerordentlichen Anrufen der Natur zu vibrieren beginnen. Wird solcher Nerv im Künstler erregt, so mag er dem Drang gehorchen, das Empfundene aus dem Reservat der Elementargeister abzulösen und in lyrische instrumentale Gestaltung hinüberzunehmen. Victor Hugo hat es genannt »Ce qu' on entend sur la montagne«, und in der ersten symphonischen Dichtung von Franz Liszt bleibt es als Klangvision. Aber es strömt nicht aus originaler Quelle, nicht aus dem reinen Atem der Natur; die Reflexion gewinnt darin Herrschaft, die Stimmen der Menschheit machen sich in fragenden Dissonanzen vernehmlich, und es bedarf eines religiös betonten Aufschwunges, um die Widersprüche zu beruhigen. Vielleicht war Richard Strauß mit seiner Alpensymphonie der einzige, der dem Problem nahe kam, die kosmischen Vorgänge der Höhe orchestral zu malen. Sicherlich holte Strauß seine Motive aus anderen Berggebieten, aber den fegenden Wind über weitem schrägen Eisfeld muß er erlebt haben; als ich viele, viele Jahre später das noch junge Werk hörte, stieg aus längst verschüttet geglaubter Erinnerung dieser mystische Klang wieder empor, und aus menschlich bearbeiteten Instrumenten flog es mir entgegen: das ist der Theodul-Gletscher! –

Vom Morgen bis zur sinkenden Nacht war das grausige Matterhorn meinem Auge als Wahrzeichen geblieben, der trotzige Zacken, der sich mit einer Katastrophe bezahlt gemacht hat, als er sich zuerst den Menschenfüßen beugte. Unter den tragischen Seitenbildern dieses Ereignisses befindet sich eines, dessen Hauptfigur mir vertraut und befreundet war: meines Wandergefährten Wilhelm jüngerer Bruder, Doktor Carl Sachs, ein genial veranlagter Naturforscher, der kurz zuvor unter Dubois-Reymond summa cum laude promoviert hatte und dessen Arbeiten in der Gelehrtenwelt Aufsehen erregten. Sein Spezialfeld war die tierische Elektrizität, zumal die Kunde von den Organen der Torpedo-Schlammfische, zu deren experimenteller Beobachtung er von der Akademie an den Orinoko entsandt worden war. Ich erfreute mich des Umgangs des bescheidenen jungen Gelehrten, in dem vielleicht ein zweiter Faraday steckte, und es traf mich wie ein Donnerschlag, als mich die Kunde seines jähen Todes ereilte. Ich befand mich zur Zeit des Geschehnisses gar nicht sehr weit von dem Verhängnispunkte, und es geschah wohl am nämlichen Tage, daß ich wohlgemut über das Hochjoch schritt, während der jugendliche Forscher Carl Sachs mit einer ganzen Karawane im Ortlergebiet am Monte Cevedale abstürzte. Mangelhafte Ausrüstung, unzureichende Trainierung und ein Akt unbegreiflichen Leichtsinnes wirkten ineinander, um an dem keineswegs für gefährlich taxierten Cevedale jene Matterhorn-Katastrophe zu wiederholen. Zwei Expeditionen waren gleichzeitig unterwegs, die eine mit dem Bestande robuster, erfahrener Steiger, deren tüchtigster, ein Berliner Dr. H., mir später den anschaulichen Bericht überbrachte. Naturgemäß hätte die robuste Gruppe steilan den Vortritt haben müssen, weil dann die nachfolgende sich die Schwierigkeit des Stufenschlagens ersparen konnte. Allein auf Drängen des Dr. Carl Sachs wurde ihm und seinem Troß der Voranstieg überlassen, mit der Folge, daß seine an den Firnterrassen mit der Wegbereitung beschäftigten Führer die Aufsicht über ihn verloren und nicht einmal für gehörige Spannung des Seiles sorgen konnten. Carl Sachs glitt ab, riß die mit ihm Verknoteten über mehrere hundert Meter in die Tiefe und versank rettungslos in einen Schrund, während etliche Teilnehmer durch glückliche Fügung vor dem äußersten bewahrt blieben. Jener Dr. H., der Zeuge des Schreckens, leistete unter dem Ansturm seiner Familie den Eid, nie wieder im Leben einen Eisberg zu besteigen. Meines Wissens hat er diesen Schwur auch getreu innegehalten, wenn auch mit feindialektischer Unterscheidung, insofern er seitdem nicht mehr auf die eigentlichen Eisgipfel, sondern nur noch auf die schwierigsten Dolomiten kletterte.

Die neueste Generation hat für die vorzeitlichen Expeditionen nicht mehr viel übrig. Aus Darstellungen meiner jugendlichen Bekannten entnehme ich, daß all das, was mir aus eigener Anschauung wie aus alpinen Berichten als verwegenes Abenteuer vorschwebt, allenfalls nur noch als bescheidene Vorübung zur wirklichen Alpenkunst gelten darf. Diese Ganzmodernen lehnen zunächst das Geführtwerden bedingungslos ab, mit der Begründung: eine richtige Hochtour muß so beschaffen sein, daß kein Führer sich an sie herangetraut; sie muß Probleme stellen, die hoch über aller Sachkunde und Technik jedes Führers liegen. Sie, die vormaligen Meister, sind als erledigt und störend erkannt, sie haben in der Alpinistik so wenig zu suchen, wie die Wetterpropheten vom Dorf in der Meteorologie. Die selbständigen Jungmeister von heute konstruieren Probleme, die außerhalb der erprobten Möglichkeit liegen; sie verpflanzen kombinatorisch Schwierigkeiten in die Alpen, die unsereiner kaum im Himalaja, in den Kordilleren oder auf den Kratern der Mondgebirge vermutet. Und sie lachen hell auf, wenn man das Gespräch auf die Männer bringen will, die vor dreißig, vierzig Jahren als Pfadfinder, Eroberer und Bergmatadore galten. Um das Wunder zu vollenden: diese nämlichen Jungmannen betreiben das Fach durchaus nicht mit der Einseitigkeit des Sports, der notwendig den Gefühlskern abdrängen müßte. Nein, sie besitzen das Höhenbewußtsein, den Tiefenblick in die Landschaft, das elementare Einfühlen in die Natur, nur daß sich bei ihnen diese Qualitäten in leidenschaftliche Taten umsetzen, für deren Sinn der Durchschnittsempfinder nicht das Organ besitzt. Sie haben für sich eine heroische Schwärmerei erfunden, um deren Besitz ich sie wahrscheinlich beneiden würde, wenn ich selbst mich um dreißig, vierzig Jahre zurückschrauben könnte.

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Ich habe nichts dagegen, wenn das folgende Erlebnis gänzlich auf Rechnung eines seltsamen Zufalls gesetzt wird; ebensowenig gegen die Annahme eines telepathischen Einschlags. Daß eine geradlinig angelegte Deutung nicht ausreicht, um die Zusammenhänge aufzuhellen, das wird sich ergeben.

Ich befand mich in meinen frühen Mannesjahren auf einer Streife im Berner Oberland mit lose angeflogener Gesellschaft: ein früherer Kamerad aus meiner Militärzeit in Wittenberg, dazu ein Schwede und ein Ostpreuße, die sich für etliche Tage zu flüchtiger Weggemeinschaft angeschlossen hatten. Leidlich nette Dutzendmenschen, von denen nur der Preuße eine kleine Besonderheit aufwies; er reiste nach des Bias Rezept »omnia mea mecum porto« gänzlich ohne Gepäck, verließ sich auf sein gutgespicktes Portemonnaie und hatte von Königsberg aus für eine mehrwöchentliche Alpentour noch nicht einmal so viel Ballast mitgenommen, wie irgendein Handwerksbursche. Vielleicht barg er in einem Taschenversteck seiner Joppe die Elemente der Toilettenkultur, ein paar Lodenkragen oder die Ansätze von Nachtzeug und kosmetische Werkzeuge – wahrzunehmen war nicht das Mindeste, er spazierte frei und unbeschwert von den Sorgen der Eleganz. In alpinem Betracht war er ein blutiger Neuling, von der Topographie des Geländes hatte er nicht die leiseste Ahnung, was ihn nicht verhinderte, sich auf die gewagtesten Seitensprünge einzulassen. Im Grimselhospiz beim Kaffeefrühstück hatte ich seine Neugier rege gemacht durch die Beschreibung der »Strahlegg«, des glitzernd-schaurigen Gletscherpasses in der Finsteraarhorn-Gruppe, zu dessen Bewältigung das Training eines Eislöwen und ein umständlicher Ausrüstungs-Apparat gehört. Der Ostpreuße stürzte nur noch die letzte Kaffeetasse in den Schlund, sprang auf, engagierte im Umsehen einen Führer, der sich zufällig in der Gaststube aufhielt, und verschwand nach fünf Minuten zu der Exkursion, die ich ihm als ein Abenteuer ganz jenseits unserer touristischen Möglichkeiten angedeutet hatte. Und tatsächlich, er hat die mit Eis- und Felsschwierigkeiten gepanzerte Strahlegg glänzend absolviert, sogar mit dem Rekord von zwölf Stunden, während Baedeker dafür vierzehn Stunden verordnet. Als wir uns in Grindelwald wieder vereinigten, war er frischer als wir anderen, die den Weg dahin auf den üblichen Bummelpfaden zurückgelegt hatten. Wir strolchten vergnügt zu Tale, und es fügte sich weiterhin, daß unser Wandergespräch auf berühmte Männer geriet. Man überließ mir dabei die führende Stimme, da ich wirklich aus eigener Wahrnehmung von einem Hochberühmten zu erzählen wusste: von Adolf von Menzel, den ich wiederholt im Hause des mir befreundeten Kunstmäzens Thiem gesehen hatte, vor seinen eigenen Meisterwerken in der Thiemschen Galerie. Dieser beneidenswert begüterte Kunstfreund besaß an der Oberspree einen Landsitz, zu dem man wie zu einem Wallfahrtsort pilgerte, hauptsächlich um Menzels »Ballsouper« zu sehen und vor diesem Gemälde in gnadenreiche Verzückung zu fallen. Natürlich hatte die körperlich zwergenhafte, geistig so überragende Exzellenz von mir niemals die leiseste Notiz genommen. Der gefeierte Maler war ja überhaupt als ein knurriges, bissiges Original verschrien, als unzugänglich bis zum Exzess, und gerade hieraus ergaben sich anekdotische Reminiszenzen, die ich hier nicht zu wiederholen brauche. Jedenfalls blieben wir längere Zeit an dem Thema haften; ich versuchte dabei, den Gefährten die künstlerische Persönlichkeit des Mannes zu erläutern, und so sehr uns auch die touristischen Einzelheiten der Wanderung beschäftigten, – das Gesprächsmotiv kehrte immer wieder und behauptete sich mehrere Tage im Vordergrunde. Wir waren, mir selbst auffällig, auf die eine Persönlichkeit polarisiert, die uns doch im Grunde recht fern lag, und wie es sonst in Literaturkreisen hieß »Goethe und kein Ende«, – »Shakespeare und kein Ende«, so blieb es für uns ohne zwingenden Anlaß bestehen »Menzel und kein Ende«.

An einem der nächsten Abende löste sich unsere Müdigkeit frohlaunig beim Bierkrug in einer Gartenwirtschaft in Interlaken. Das Lokal, mit einem bescheidenen Gasthof verbunden, liegt nach der Brienzer Seite der Ortschaft und mag vielleicht noch heute den Namen »Inder-Mühle« führen. Der dichte Baumbestand verschlang beinah das spärliche Licht der Gartenlaternen, desto greller erschien es, als am obersten Stockwerk der Herberge ein Fenster hell wurde mit einem markanten Kopf in der Lichtöffnung. Die Kontur dieses wie kubisch behauenen Schädels mit der schütter umrandenden Bartfräse kannte man in ganz Europa. Ein Zweifel konnte gar nicht aufkommen: Das war Adolf Menzel!

Sollte man's für möglich halten? Da trat wie aufs Stichwort das lebendige Original vor uns, in unmittelbarem Anschluß an die Unterhaltung, die so lange den Namen umkreist hatte, bis sie dessen leibhaftigen Träger im Mittelpunkt auffing. Immerhin schon der Anfang eines Mirakels, das zu vervollständigen nur dem Übermut gelingen konnte.

Ich entwarf mit raschen Bleistiftstrichen eine Botschaft an den hohen Gast. Der Text lautete ungefähr: »Vier fidele Wanderer senden dem Meister Menzel ehrfurchtsvolle Grüße; wir wären beglückt, wenn Sie uns gestatteten, Ihnen unsern Respekt auch mündlich auszusprechen.« Wirklich, wir jämmerlichen Dachse unterschrieben dies an den Löwen gerichtete Billett und schickten es ihm durch die Schenkmamsell in seine erleuchtete Höhle.

Das war eine Frechheit ersten Ranges, und nach normalem Verlauf der Dinge hätte der Mann, um nur im Geringsten er selbst zu bleiben, den Zettel zerknüllen und ostentativ aus dem Fenster schmeißen müssen. Aber die Sache verlief ganz abnorm. Menzel kehrte eine Seite seines Wesens hervor, die er wohl noch nie und nirgends offenbart hatte. Er fiel ganz aus der Charakterrolle, schickte uns kein Zitat aus Berlichingen, sondern erwiderte unsern Gruß mit einem Zuge, der noch von keinem Zeitgenossen an ihm erlebt war: mit Liebenswürdigkeit.

Mit dem Zettel in der Hand kam er über den Kies gewackelt, ließ sich von der Bierjungfer den verwegenen Hümpel bezeichnen, spendierte jedem einen derben Händedruck und gab sofort seine Absicht zu erkennen, sich unserer Kneiptafel für den Abend anzugliedern. Im Nu verschwand das vulgäre Gesöff von der Fläche, und schäumender Heidsieck besetzte das Feld. Menzel selbst, weit entfernt, sich nötigen zu lassen, ging mit pokulierendem Beispiel voran, und wir Jungmannen fühlten uns durch den Knalleffekt des Schicksals so beschwingt, daß sich die erste Sektflasche bald zu einer Batterie auswuchs.

Noch nicht genug an dem: der Meister hielt uns einen Kunstvortrag. Er hatte es bald heraus, daß in uns neben höchst laienhaften Vorstellungen doch der Drang nach Erkenntnis waltete, der umso stärker nach Befriedigung verlangte, als die Besonderheit des Erlebnisses uns an das mächtigste Orakel der Welt gebracht hatte. Dieses Kolloquium, wussten wir, war unwiederholbar. Wir durften fragen, und er antwortete, mit erhobenem Zeigefinger unablässig Figuren in die Luft zeichnend; mit dieser Anschauungshilfe, die zwar nicht viel bewies, aber doch den Vortrag magisch stützte, erläuterte er die inneren Vorgänge eines Künstlers im Angesicht der Hochnatur; gar nicht akademisch, in keiner Weise eloquent, aber eindringlich, so wie es immer eindringlich wird, wenn man merkt, der Sprecher analysiert sein eigenes Empfinden im Hinblick auf die Möglichkeit, für die erlebten Eindrücke eine sinnfällige Gestaltung zu gewinnen. Es wurde ein Seitenstück zu der vorerwähnten Dichtung, eine Bergpredigt über den Text: Was man auf den Bergen sieht.

Im Lebenswerke Menzels spielt diese Gestaltung nach alpinen Vorbildern keine Rolle, von seinen berühmten Bildern ist kein einziges aus solchem Motiv gewonnen. Ich glaube auch, daß er die Gipfel wesentlich von unten herauf angesehen hat, ohne sich in die Mühseligkeit der Betrachtung von oben nach unten zu bringen. Aber das, was er hier vor uns ausführte, ließ doch darauf schließen, daß in seiner Kunst unter der Schwelle der Erscheinung das Berghafte in Linien- und Farbeffekt mitgewirkt haben muß. Mit dem Finger malte er spitze und wellige Gebilde in die Luft, er schraffierte sie quer, schlug Kreisbögen herum, tippte auf bestimmte Stellen, als ob er von dorther eigentümliche Reflexe herausstechen wollte, und aus dem Zusammenhang mit den Worten wurde kenntlich, daß er vor uns eine Abart der Landschafterei betrieb; eine Art, die sich der Verwirklichung auf der Staffelei entzieht, die nur Anschauung bleiben will, um schließlich ihre Lichter für ein Kunstwerk ganz anderer Gattung herzugeben. So wie – vergleichsweise – Beethoven aus einem Singvogelschlag die Naturlaute herausnahm, die der Hörer gar nicht mehr ahnt, da er nur das symphonische Pochen des Menschenschicksals zu vernehmen glaubt. Als sicher bewahrt mir das Gedächtnis erstlich, daß Menzel einer gewissen Ergriffenheit fähig war, daß er Augenerlebnisse in sich trug, von denen zu reden ihm eine andächtige Freude bereitete. Vielleicht war sein sonstiges lebenslängliches Geknurr nur etwas Angedrilltes, eine Gewohnheitsmaske, die er fallen ließ vor den Unzünftigen, die ihm der Zufall in den Weg warf. Außerdem möchte ich hervorheben, daß in dem Vokabular des Meisters nicht ein einziger ». . . ismus« vorkam. Weil die Kunst sich damals noch schlicht und einfältig von Können herleitete und noch nichts von den Herrlichkeiten ahnte, die sich den Späteren durch die Zauberkraft der ». . . ismen« erschließen sollte.

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Gegen den Maler, den Dichter, den Tonkünstler, ja sogar gegen den einfachen Beschreiber hat der Philosoph in unserem Betracht einen schweren Stand. Auch der Künstler vermag nur anzudeuten, aber in seinen Andeutungen weht erkennbare Höhenluft. Der Philosoph gewahrt zuerst, daß das Vokabular der Verstandessprache hier nicht ausreicht. Alles, was mit dem Höhenrausch zusammenhängt, gründet sich auf einen außersinnlichen Sinn, der im Menschen sicher vorhanden ist, sich aber der physiologischen Bestimmung entzieht, und hieran scheitert die Bemühung, hinter den Erscheinungen das Ding an sich zu entdecken. Ich habe versucht, dem Geheimnis dadurch näher zu kommen, daß ich eine geometrische Not annahm, den planimetrischen Zwang, aus dem die Erhebung zur Höhe die Befreiung bringt. Wer mir das nachdenkt und nachfühlt, der bemerkt wohl eine neue Verstandeskomponente, die sich vielleicht mit anderen noch unbekannten dereinst zu einer brauchbaren, in die Gefühlsgründe hinabreichenden Resultante verbinden wird. Meine Annahme steht im schärfsten Widerspruch zur überkommenen Schulästhetik, und das eine wenigstens möchte ich mit Sicherheit ansagen: diese muß überwunden werden, bevor der Philosoph den Anspruch erheben darf, als Naturkünder aufzutreten. Bis dahin bleibt ihm jeder Wandervogel überlegen, der schlicht die Eindrücke aufnimmt, und wenn er auch für seine Erlebnisse zwischen Aussicht, Quellengemurmel, Wasserfall und Echoruf keinen andern Ausdruck findet, als ein gedankenloses Juhu oder Holdrio, so steht er mit seiner Empfindung dem Weltgeist näher als der analysierende Ästhetiker.

Denn dieser steckt im Bann der von Kant geprägten Grundformeln, die zur Analyse des Schönen in Natur und Kunst dienen sollen. An deren Spitze steht der verhängnisvolle Satz: »Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne alles Interesse.« Während umgekehrt eine Analyse erst möglich wird, wenn man ein ganz vitales Interesse voraussetzt, ein Lebensinteresse höchster Ordnung, nämlich eben jene geometrische Not, die Quelle des Erlösungswunsches, die ungeheure Triebfeder, deren Spannung geradezu identisch ist mit dem Drang zur Bergeshöhe. Alle anderen Symptome des Höhenrausches sind Teilerscheinungen, deren Vereinigung besagt, daß hier kein Abstraktum von Schönheit vorliegt, kein beziehungsloses Wohlgefallen, sondern eine Notwendigkeit, die sich zugunsten einer Beglückung durchsetzen will. Diese Schönheiten sind allesamt Nützlichkeiten in Ansehung eines Triebes, der unter der Schwelle des Bewußtseins nicht minder stark arbeitet, wie über ihr die sinnlich definierbaren des Hungers, der Liebe, des Willens überhaupt. Nur derjenige wird hier das Walten des Interesses leugnen, der noch nichts von der Existenz außersinnlicher Triebe ahnt.

Ich nehme es in der Bewunderung Kants mit jedem auf, zumal mit denen, die ihn nur verehren, ohne ihn in ganzem Umfang studiert und begriffen zu haben. Aber gerade weil ich ihn begreife, erkenne ich seine Grenzen und in ihnen die Unhaltbarkeit jener oberen These, die ihm und seinen Nachfahren die Ergründung des Naturgefühls vereiteln. Daß Kant selbst, der fast niemals aus Königsberg herausfand, allzu wenig Landschaftsszenerie in seine Erfahrung aufnahm, das konnte er wohl durch intuitives Erfassen des Nieerlebten verdecken. Entscheidend ist hier vielmehr die doktrinäre Aufstellung des Generalgrundsatzes von der Interesselosigkeit, der wie ein Dogma auftritt, wie ein apriorischer Befehl an die Ästhetik. Aber nachdem das Dogma einmal erlassen war, konnte die unerbittliche Konsequenz des großen Systematikers gar nichts anderes ergeben, als falsche Schlüsse aus falschem Postulat. Wanderer, kommst du zur Hochnatur, so prüfen an deinen Erregungen folgende Sätze Kant Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt«, – »Wer wollte auch ungestalte Gebirgsmassen, in wilder Unordnung übereinander getürmt, mit ihren Eispyramiden, oder die düstere tobende See usw. erhaben nennen?« Und diese eindeutige Frage stellt der Philosoph, nachdem er wenige Zeilen zuvor festgestellt hat, die wahre Erhabenheit müsse im Gemüt des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte . . . gesucht werden. Wie wird dieses Gemüt vergewaltigt! Erst wird es genötigt, alles Interesse abzustreifen, um schönheitsempfänglich zu werden, dann soll es wiederum das Interesse heranbringen, um es durch die Erhabenheit niederschlagen zu lassen. Wie eine Ironie klingt es, wenn sich Kant auf Herrn von Saussure beruft in Verbindung mit einem »guten, übrigens verständigen savoyischen Bauern«, der alle Liebhaber der Eisgebirge Narren nannte. Dieser verständige Bauer vertrat in seinem schlichten Savoyisch gar nichts anderes als die Ästhetik des Kant; lässt doch der Philosoph sogar ganz treuherzig die Möglichkeit offen, der Savoyarde könnte nicht ganz Unrecht gehabt haben, wenn Saussure seine Aszension aus anderen denn aus wissenschaftlichen Gründen gewagt hätte. Also nur das Motiv, den Menschen eine Belehrung zu verschaffen, hebt Saussure über das Narrenniveau. Nicht etwa auch die »Liebhaberei«, die Kant so nebenher mit verächtlicher Betonung einfließen lässt, um von Saussure solchen Verdacht abzuwehren? Ach, Wanderer, du spürst es ohne Analyse, daß in dieser »Liebhaberei« die eigentlichen Motive liegen, daß sie nur das profane Wort ist für den primären kosmischen Drang, der sich zur Höhe beschwingt.

Schiller lässt sich in seinen Betrachtungen des Erhabenen ersichtlich von Kant beeinflussen, folgt seinen Spuren, trennt sich indes auch von ihnen und erreicht dann erweiterte Horizonte. Und wo er vom kalten Scheine der professoral definierten Schönheit abkommt, da erkennen wir den Sänger des Tell. Eine mythologische Vorstellung – der Berg Atlas, der das Firmament trägt – wird ihm zum allgemeinen Symbol, der hohe Berg zur Sprosse, die aus dem Flachgetriebe zum Himmel führt; es ist nicht der Himmel, der durch seine Höhe die Berge niedrig macht, sondern »die Berge sind es, die durch ihre Größe die Höhe des Himmels zeigen.« Hieraus lässt sich weiter entwickeln: der Drang zur Bergeshöhe ist Himmelssehnsucht, die Momente des Erhabenen sind Wegezeichen für die Seele und bildhafte Ansprachen, die uns die Möglichkeit einer Annäherung an das Überirdische als illusionäre Botschaft übermitteln.

Der beste Gebirgsästhetiker ist der Traum. Er besucht mich noch jetzt in kurzen Abständen und erneuert mir frei von Mühsal die herrlichsten Eindrücke meiner eigenen Vorzeit. Das Register seiner Panoramen ist nicht sehr reichhaltig, er spezialisiert nicht und verwirklicht keine Einzelheiten, die genau der Erfahrung entsprächen. Er entwirft vielmehr fast immer ein Idealbild in Vereinigung vieler weit zurückliegender Motive. Grüne, wellige Matten herrschen vor, die sich in ein dämmerndes Weiß verlieren, mit Übergängen, die mich wie Nachbilder einer verlorenen Heimat höchst vertraut ansprechen, obschon sie in solcher Flächengestaltung gewiß nirgends vorkommen. Niemals gibt mir der Traum einen Begleiter, niemals erinnert er mich an materielle Zutat, an irgendwelche Ausrüstung mit Ranzen, Nagelschuh, Schneebrille, Eisaxt, ich sehe keinen Menschen, kein Haus, keine Hütte, kein Weidevieh, aber beständig bin ich im Steigen mit jener lustbetonten Sensation, die sich aus Anstrengung und Belohnung zusammensetzt. Es ist, als überschritte die Seele ihre eigene Elastizitätsgrenze, als könnte sie gar nicht standhalten vor der unmittelbar erfüllten und noch weiter erwarteten Höhenfreude. Solcher Traum braucht keine Deutung, er erklärt sich von selbst als die Wiederholung der innersten außersinnlichen Erlebnisse, die schon damals Mysterium waren, als sie sich noch im Rahmen der Wirklichkeit ereigneten.


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