Salomon Hermann Mosenthal
Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben
Salomon Hermann Mosenthal

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Jephtha's Tochter

Ungefähr drei Wegstunden von der Residenz gegen Süden liegen zwei Dörfer, deren Grenzen zusammenstoßen; der Düngerhaufen zwischen zwei niederen Lehmhütten ist das Ende des einen wie der Anfang des andern. Sie heißen Hof und Breitenbach und sind größtentheils von jüdischen Hausirern und Schnorrern bewohnt. In einer magern Ebene gelegen, sehen sie von Weitem wie ein Lehmhaufen aus, ein Bild der Armuth und Entsagung. Unter grauen Stroh- und Schindeldächern verkriechen sich die Häuschen, die gesprungenen Fensterscheiben sind mit Papier verklebt oder mit einem schmutzigen Lappen statt des Vorhangs verhängt; nur ein einziges Haus ragt um ein Stockwerk über das Erdgeschoß hinaus, es gehört Wolf Breitenbach, dem reichsten unter den Armen.

Wer unter der Woche die lange, ungepflasterte Straße durchschreitet, an deren beiden Seiten die vereinzelten Hütten durch ärmliche Höfe und Grasgärtchen verbunden sind, die ein vermoderndes Holzgitter abgrenzt, der glaubt wohl durch die Gräberstraße von Pompeji zu wandeln. Er sieht keinen Menschen, er hört nicht das Brüllen einer Kuh oder das Wiehern eines Pferdes; solche Vierfüßler besitzt man nicht in Hof und Breitenbach, die Männer sind auf der Wanderschaft, die Frauen schließen sich in den Hütten ein, höchstens ein paar schwarze, ungekämmte Kinder waten barfuß durch die Pfützen den watschelnden Gänsen nach. Aber am Freitag Abend, wenn es dunkelt, beleuchten sich plötzlich alle Fenster wie die Kajüten des fliegenden Holländers; aus Wolf Breitenbach's Erdgeschoß strahlt eine siebenzackige Lampe ihren Glanz über die Straße, und Männer, Weiber und Kinder, gewaschen und geputzt, wandern summend und schaukelnd nach der Betstube in Wolf Breitenbach's Haus und von da zurück in ihre gescheuerten und erleuchteten Hütten.

Den Samstag über sind die Dörfer gleich belebt; Nachmittags spazieren die Jungen über die Wiesen, die Alten plaudern und gestikuliren in der Straße, vor den Hütten sitzen Matronen, die Haare sorgfältig unter schwarzseidenen Unterhäubchen versteckt, Kinder balgen sich um eine Handvoll Haselnüsse, und Sonntag Vormittags sind die Dörfer wieder wie ausgestorben. Sobald nämlich die »Woch« beginnt, segeln unsere »Phönizier« aus Sidon und Tyrus auf ihren Handelsstraßen nach den gewohnten Stapelplätzen aus. Ein großer Theil von ihnen geht »schnorren«. Sie holen sich in den Häusern der Stadt den Tribut an »Wochengeld« und finden dort auch einen Bissen zu essen und eine Schlafstätte. Das Erbettelte reicht wohl hin, für sie und die Ihrigen zu Hause »Schabbes zu machen« und Letzteren »auf Brod« für die Woche zurückzulassen. Der bessere Theil geht »handeln«. Das Geschäft ist Export- und Importgeschäft. Der Import besteht aus alten Kleidern, aus Zwirn, Nadeln und Bändern, die in der Stadt eingekauft werden und die im Tauschhandel nach der Väter Weise in Dörfern und Meierhöfen der Umgegend als Zahlung für junge Gänse dienen. Der Export aber besteht in eben diesen Gänsen, welche von den Müttern und Kindern zu Hause gefüttert und gestopft werden, und wenn sie wider Willen fett geworden sind, vorschriftsmäßig geschlachtet und, mit dem Siegel der Rechtgläubigkeit am Halse versehen, in großen Zwerchsäcken in die Stadt getragen und dort den jüdischen Hausvätern und Frauen nach langem Kreuz- und Querhandeln verkauft werden.

Ein jeder dieser Gänsehändler hat seine »Häuser« und wehe Dem, der ihm hier Konkurrenz macht! Es regnet Flüche auf ihn, die jene am Berg Ebal zu Schanden machen! Deßhalb respektirt ein jeder das Emporium seines Nachbars und zittert vor dessen gerechtem Zorn. Der Gefürchtetste von Allen ist Tobiah Hof. Er hat die besten Häuser der Stadt, versteht es, die magerste Gans durch die Luftröhre so aufzublasen, daß sie sich mit schwellendem Busen präsentirt, und wenn man ihm die Hälfte seiner Forderung bietet, so schwört er bei seiner Seligkeit in Gan-Eden (Paradies), daß er keinen rothen Heller nachlassen könne; schließlich opfert er der irdischen Nothwendigkeit die Hälfte seiner jenseitigen Seligkeit.

Es war ein großer hagerer Mann, dieser Tobiah Hof, mit langer Adlernase und gekrausten, schwarzen, ein wenig graumelirten Haaren; er konnte zwölf schwere Gänse ohne Ermüdung im Zwerchsack tragen und sein langer Patriarchenstock stieß fest und sicher in den Boden wie der Alpstock eines Gemsjägers. Seine Frau verstand die Stopfkunst meisterhaft und war eine Virtuosin im Federnschleißen. Aber war es die Zellenhaft, die sie mit ihren Gänsen theilte, waren es die Geister der gewaltsam verfetteten Opfer, die sich an ihr rächten, genug, sie wurde von einer unheilbaren Leberkrankheit befallen und starb. Tobiah betrauerte in ihr nicht nur die Lebensgefährtin, sondern auch die Stütze seines Geschäftes, die Ernährerin seiner Gänse und seines einzigen Kindes. Konnte dieses, das »kleine Täubchen«, ein Mädchen von kaum zehn Jahren, bei seinen Gänsen Mutterstelle vertreten? Unmöglich! Er sah seine Nahrungsquelle versiegt, sah sich überflügelt von den Gänsen seiner Konkurrenten, die besten Häuser in der Stadt verloren! Diese Gedanken brachen seine Kraft und seinen Muth. Kein Mensch verstand die Ausbrüche seiner Verzweiflung, da er ja die Verstorbene nie durch Zärtlichkeit verwöhnt hatte; nur das schlaue Auge Wolf Breitenbach's drang in die Tiefe seines Herzens.

»Rebbe Tobiah,« sagte dieser eines Abends, als er allein bei dem Trauernden saß, »warum thut Ihr so, als wär' die Welt mit Brettern zugenagelt? Seid Ihr der Erste, den Gott, gelobt sei er! so heimgesucht hat? Ich hab' die Meine olewescholem (der Friede sei mit ihr) auch hergeben müssen, schon vor länger als sechzehn Jahr!«

»Ihr habt gut reden, Rebbe Wolf,« entgegnete der Kleinmüthige, den der unrasirte Stoppelbart in einer Woche zum Greisen gemacht hatte, »Ihr seid ein reicher Mann und handelt mit Kleidern und Waaren, die man überall fertig kriegt; aber wer stopft mir die Gänse, wenn sie, olewescholem, nicht mehr da ist?«

»Rebbe Tobiah,« erwiederte jener, »nehmt mir's nicht übel, Ihr red't Stuß (Unsinn). Erstens: Wo bin ich ein reicher Mann? Weil ich mich nicht lump', wenn's d'rauf ankommt? Dafür bin ich Wolf Breitenbach. Aber was Euch angeht, ich will Eurer Frau, olewescholem, gewiß nichts Unrechtes nachsagen, aber Gänse stopfen kann eine Andere auch. Da ist zum Beispiel die Bule Bettenhausen, die Wittwe, die mit alten Kleidern hausiren geht, die ihr Sohn, der lange Meyer, zusammenflickt, die kann Euch helfen und das Kind wird's bald von ihr gelernt haben. Das Gänsstopfen ist keine Hexerei und das ›kleine Täubchen‹ ist ein großer Chochem (klug) für sein Alter. Wenn Ihr der Bule ein paar Groschen gebt, so wird sie alle Tag ein paar Stunden bei Euch stopfen kommen!«

»Aber ein paar Groschen!« rief der Andere heftig aus, »wenn man selber nicht einen übrig hat!«

»Deßhalb red' ich doch mit Euch, Chammer (Dummkopf )!« erwiederte Wolf noch heftiger. »Ich geb' Euch ein paar Thaler und Ihr zahlt mir's einzelweis zurück. Keine Zinsen verlang' ich nicht, Wolf Breitenbach lumpt sich nicht!«

Da richtete sich der Gebeugte wieder auf und alle seine versunkenen Hoffnungen erstanden wieder.

»Rebbe Wolf,« sagte er, »das ist mehr, als was ich mir je gehofft hätt', und wenn ich einmal für Euch durch's Feuer laufen soll, so braucht Ihr nur zu sagen: Tobiah lauf'!«

Einige Tage darauf war der Vertrag mit Bule Bettenhausen abgeschlossen. Jeden Morgen und jeden Abend kam sie herüber als Nährmutter der Gänse und als Lehrmeisterin des »kleinen Täubchen«, das eine merkwürdige Auffassungsgabe für den Stopfunterricht an den Tag legte. Tobiah Hof ging wieder seinem Geschäft nach, doch war sein stolzes Selbstbewußtsein einigermaßen gebrochen. Das Abhängigkeitsgefühl, das er vor Wolf Breitenbach empfand, hatte seine Worte gedämpft, seine Bewegungen gemildert; er ging etwas vorgebeugt und sein Zwerchsack war etwas weniger beladen als ehedem.

Das »kleine Täubchen« ward noch allgemein so genannt, weil es für seine elf Jahre noch auffallend klein war. Aber sonst war es ein frisches, gesundes Kind, und wenn es am Freitag Abend sich gewaschen hatte, glänzten seine runden Backen wie zwei frischgepflückte Äpfel. Seine Stirn war niedrig, niedriger noch als die der mediceischen Venus; die schwarzen Haare wuchsen tief hinein und umflatterten den Nacken wie die Mähnen eines Füllens, wenn sie nicht Samstags in Zöpfe geflochten waren. Zwei Augenbrauen wie mit Kohle gezogen wölbten sich über zwei Augen, die wie glühende Kohlen leuchteten, und die kleinen Zähne schimmerten wie die eines Eichhörnchens, obwohl sie den Luxus einer Zahnbürste nicht einmal vom Hörensagen kannten. Ihr Anzug bestand aus einem braunwollenen, vielfach geflickten Kittelchen, das nie, und aus einem groben Zwilchhemdchen, das jeden Freitag Abend gewechselt wurde. Das Sprüchwort: »Salz und Brod macht die Backen roth«, hatte sich an Täubchen trefflich bewährt, denn sie kannte die ganze Woche über keine andere Kost, außer wenn ihr bei ihren Streifzügen eine Bäuerin einen Apfel schenkte. Täubchen betrieb nämlich auch schon das Import- und Exportgeschäft. Das Importgeschäft bestand bei ihr in der Einführung von Erbsen, Bohnen und getrockneten gelben Rüben in die Hälse der Gänse, eine Zwangsmaßregel, die sie von Frau Bule meisterhaft erlernt hatte und die sie mit der Grazie einer Leda an den geflügelten Freundinnen praktizirte. Das Exportgeschäft aber führte sie, indem sie von den benachbarten Dörfern und Höfen die »jüngeren Pilger«, die ihr Vater dort angeworben, nach Hause trieb. Eine Weidengerte war dabei ihr Kommandostab und sie sang dazu mit heller Stimme den Schir-hamalaus (Lobpsalm), den ihr Vater mit weniger musikalischem Wohllaut am Sabbathabend zu intoniren pflegte.

Es war an einem schönen Sommertag um die Mittagsstunde, als Täubchen sich aufmachte, nach Martinhagen zu wandern, um im Auftrag ihres Vaters eine Schaar junger Gänse von dort heimzutreiben. Sie hatte sich ein weißes Tuch um den Kopf gebunden, sich vor der Sonne zu schützen, und die schwarzen Augen blitzten recht schelmisch darunter hervor, als sie an dem niedern Häuschen vorbeikam, in dem Frau Bule wohnte und an dessen Fenster der lange Meyer saß und ein paar alte Hosen flickte. Es war ein hochaufgeschossener magerer Bursch von siebenzehn bis achtzehn Jahren. Er hielt den langen Hals vorgebeugt und hatte sehr lange Arme und Hände. Auch seine Nase war lang; kurz waren nur seine schwarzen Haare, die wie ein lockiger Astrachanpelz auf seinem Kopf saßen. Jetzt war er in seine Arbeit so vertieft, daß Täubchen hinaufrufen mußte:

»Guten Tag, Meyer!«

Nun streckte er den Hals zum Fenster hinaus:

»Wohin, Täubchenleb?«

»Nach Martinhagen hinüber, Gäns holen!«

»Was! Zwei Stund' über Feld! Und Du fürchtest Dich nicht?«

Täubchen lachte laut auf.

»Stehlen kann mir Keiner 'was,« sagte sie, »und todtschlagen wird mich auch Keiner. Aber wenn Du mit mir gehen willst?«

»Wenn ich könnt',« antwortete Meyer, die Augen weit öffnend, »aber ich darf nicht!«

»Du darfst nicht?«

»Nein, Täubchenleb,« sagte er, ängstlich zurückschauend, »ich fürcht' mich vor meiner Mutter.«

»Wenn ich so lang wär' wie Du,« lachte Täubchen, »ich thät mich vor Keinem auf der Welt fürchten! Adies!«

Sie lief mit ihren kleinen nackten Füßchen davon. Meyer streckte ihr den Hals so lange nach, bis sie um die Ecke verschwunden war.

Bald hatte Täubchen das Dorf im Rücken und wanderte zwischen endlosen Kartoffeläckern und mageren Getreidefeldern rüstig fort. Hie und da riß sie eine reife Kornähre ab, die sie zwischen ihren weißen Mäusezähnchen zerknupperte, oder raffte eine rothe Mohnblume vom schwanken Stengel, um sie zwischen das weiße Tuch und das schwarze Haar hinter's Ohr zu stecken. Jetzt mußte sie über den Bach; der Steg war zur Hand, aber sie watete lieber hindurch, um sich den Staub von den Füßen zu spülen, und schnitt sich mit einem alten zerbrochenen Taschenmesser eine Weidengerte zum Heimtreiben ab. Das Fußbad hatte sie sichtlich erfrischt, denn sie sang mit noch hellerer Stimme ihren Schir-hamalaus, bis sie das rothe Ziegeldach des martinhagener Gehöfts am Ende einer langen Pappelallee leuchten sah. Nun schritt sie mit gemesseneren Schritten darauf los.

Im Hof vor dem weiten, niedern Gebäude unter einem alten Birnbaum saßen die Leute beim Vesperbrod. Ein großer Napf mit gesottenen Kartoffeln und eine Schüssel mit Schweineschmalz stand auf dem Tisch, der riesige schwarze Brodlaib daneben trug auf seinem Rücken das Zeichen des Kreuzes.

Täubchen ging auf die Pächterin zu, sie sei geschickt, die Gänse ihres Vaters abzuholen, und während diese in den Geflügelhof ging, die verkauften Seelen auszuliefern, betrachteten die Knechte und Mägde das Judenkind, das, vom Schatten des Birnbaums geschützt, das Kopftuch abgenommen und seine schwarzen Mähnen entfesselt hatte.

»Willst mitessen?« rief eine junge Magd und hielt Täubchen ihr Schmalzbrod hin.

Täubchen verzog das Gesicht beim Anblick des Schweineschmalzes und machte eine heftig abwehrende Bewegung. Ein langer flachshaariger Knecht mit großen wasserblauen Augen schien ihre Gedanken zu errathen.

»Dem schwarzen Racker graust's vor unserer Kost,« brummte er, und ein Stück Brod dick mit Schmalz bestreichend, rief er: »Komm' her, Schiksel! Machst Du unsere Gäns koscher, so will ich Dich dafür koscher machen!«


»Komm' her, Schiksel!«
Holzstich nach einer Zeichnung von Moritz Daniel Oppenheim

Mit diesen Worten, die von Allen hellauf belacht wurden, war er auf Täubchen zugesprungen, hatte sie mit der derben Rechten um den Leib gepackt und mit der Linken versuchte er, das Schmalzbrod ihr in den Mund zu stecken. Aber das kleine Täubchen preßte die Zähne zusammen und fuhr mit den kleinen Händchen in das frische Gesicht ihres Peinigers, das sie so grausam mißhandelte, daß die Züge des christlichen Germanen gänzlich aus dem Kreuz kamen.

»Judenbestie!« schrie dieser.

»Laß das Kind in Ruh'!« rief die Pächterin, die dazu gekommen war, und stieß ihn mit kräftigem Arm in die Seite. »Schäm' Dich, Hans Ludwig! Da sind Deine Gäns,« fuhr sie ruhig fort, »fünf Stück, Dein Vater hat sie selbst gezeichnet und ihnen die Schwanzfedern ausgerissen. Willst' was essen? Kartoffeln oder Brod?«

»Ich danke, ich mag nichts!« antwortete Täubchen mit einem schiefen Blick auf die Schmalzschüssel und band sich das Kopftuch um. Die Pächterin machte ein unwilliges Gesicht, dann griff sie in die Tasche und holte einen großen rothen Sommerapfel heraus.

»Na, der wird doch koscher sein?« sagte sie lächelnd, und Täubchen lachte auch und biß mit den kleinen Zähnen hinein.

Aber dann besann sie sich rasch, steckte ihn in die Tasche des Kittelchens und trieb und lockte ihre Gänse zusammen.

»Sieh' zu, daß Du sie gut heimbringst,« sagte die Pächterin, »und sag' Deinem Vater, daß ich Flanell brauch' zu Windeln. Hörst Du?«

Täubchen nickte nur, denn sie brauchte alle ihre guten Worte, die Gänse aus dem Hof zu treiben, die in den gewöhnten Pfützen schnatternd nach Leckerbissen stöberten.

Die Pappelallee war glücklich durchwandert und auf dem freien Feld folgten die jungen Zöglinge williger ihrer Führerin, die mit Worten und Gesängen, begleitet von dem Taktstock der Weidengerte, das Quintett prächtig zusammenhielt. Bald war die Furt über den Bach erreicht. Hier aber zerstreuten sich die Gänse, schwimmend, flatternd und schnatternd im Wasser, und in dem Augenblick, als die kleine Führerin ihr ganzes Feldherrntalent aufbot, die entfesselte Truppe wieder zu rangiren, brach aus dem Weidengebüsch ein feindlicher Hinterhalt hervor. Der flachshaarige Knecht hatte sich mit zwei halbwüchsigen Blaukitteln auf Feldwegen an die Furt geschlichen, und während die zwei Anderen mit wildem Halloh! die Gänse verscheuchten, trat Hans Ludwig siegesbewußt auf das verschüchterte Mädchen zu.

»Meine Gäns, meine Gäns!« schrie diese und wollte den Entfliehenden nacheilen; aber der Knecht hielt sie fest.

»Wart', Schiksel,« sagte er, »ich bin Dir noch Antwort schuldig auf die Grausamkeit, die Du an mir begangen!«

»Laß mich!« schrie Täubchen und wehrte sich so gut sie konnte, aber der Knecht hielt sie fest und fester. »Schma Jisrol (Höre, Israel)!« rief das Kind verzweifelt. »Meine Gäns, meine Gäns!«

Es geschehen noch Zeichen und Wunder; das »Schma Jisrol!« hatte gewirkt, Israel hatte gehört. Ein baumlanger Mensch mit schwarzwolligem Haar, eine lange Stange schwingend, die er aus dem nächsten Bohnenfeld gerissen hatte, sprang plötzlich auf den Flachshaarigen zu und versetzte ihm einen wuchtigen Schlag auf die breite Schulter.

»Laß das Kind gehen oder ich schlag' Dich todt!« rief er mit schmetternder Stimme.

Erschrocken ließ Hans Ludwig seine Beute fahren; er pfiff durch die Finger nach seinen Kameraden; als er diese jedoch vergeblich erwartete, die, den Gänsen nachjagend, sich im Weidengebüsch verloren hatten, ballte er nur grimmig die Faust und schlich davon.

Täubchen hatte ihren Augen nicht getraut.

»Meyer!« rief sie aus. »Bist Du's wirklich? Wo kommst Du daher?«

»Ich bin Dir nachgegangen, Täubchenleb, und bin gerad' recht gekommen, wie der Knecht Dir hat 'was anthun wollen!«

Da lachte Täubchen unter Thränen.

»Was hätt' er mir anthun sollen?« sagte sie. »Todtgeschlagen hätt' er mich nicht. Aber meine Gäns!«

»Die werden wir schon zusammensuchen,« antwortete der lange Meyer, der völlig aufrecht ging und die Bohnenstange wie ein Gewehr präsentirte. Täubchen sah ihn verwundert an. Sie gingen längs des Baches hinauf.

»Wart', ich werd' singen,« sagte Täubchen und begann zu trällern. Da kam schon Eine geschwommen, dann eine Zweite, sie hatten sich vor den Verfolgern unter Schilf und Weiden verkrochen; jetzt wackelten alle Fünf durch das schmutzige Wasser des Baches heran. Täubchen wollte sie herauslocken; aber sie sang vergebens.

»Wart', ich werd' Dir helfen,« sagte Meyer und begann zu singen, denselben Schir-hamalaus, aber mit einer Stimme, die weithin durch die Luft schmetterte.

»Gott, was hast Du für ein Kol (Stimme)!« rief Täubchen bewundernd.

Wie in einer Theaterloge das Schnattern plötzlich verstummt, wenn der erste Tenor seine Arie beginnt, so reckten die Gänse erstaunt ihre Hälse nach dem Sänger und kamen eine nach der andern an's Ufer gewackelt, als wollten sie ihm ihre Huldigung aussprechen, und nun streichelte ihnen Täubchen die nassen Federn und gab ihnen Brodkrumen aus ihrem Sack zu fressen. Sie folgten willig ihrer Führung. Täubchen ging neben Meyer her; sie hatte bei dem Griff nach den Brodkrumen den Apfel gefunden und hielt ihn versteckt in der Hand.

»Meyer,« sagte sie, »thu' mir den Gefallen und nimm den Apfel da, den mir die Bäuerin geschenkt hat. Ich bitt' Dich drum!«

»Wenn Du mich bitt'st, Täubchen,« erwiederte der Ritter St. Georg.

Aber Täubchen betrachtete jetzt den Apfel verlegen.

»Du darfst Dich aber nicht ekeln,« sagte sie, »ich hab' auf der einen Seite hineingebissen; Du kannst ihn ja auf der andern anbeißen!«

Meyer betrachtete die kleinen Einschnitte, die halbrund und regelmäßig um die eine Seite des Apfels liefen, und biß gerade an derselben Seite hinein.

»Ich dank' Dir, Täubchenleb,« sagte er.

Sie gingen lange neben einander, Täubchen wollte ihn durch keine Konversation im Verzehren des Apfels stören. Als er endlich den Griebs hinwegwarf, nahm sie das Wort, mit der Gerte immer sachte ihre Heerde antreibend.

»Sag' mir nur, Meyer,« sagte sie, »wo hast Du auf einmal die Courage herbekommen? Du fürchtest Dich doch sonst immer!«

»Wie Du's weißt!« antwortete er, pfiffig lächelnd. »Ich fürcht' mich eigentlich gar nicht. Aber weißt Du, Täubchen, unter dem Siegel der Verschwiegenheit will ich Dir's sagen: meine Mutter will, daß ich so thu', denn wenn man weiß, sagt sie, daß ich ein Hasenfuß bin, so nimmt man mich nicht zum Militär.«

»Und warum willst Du nicht zum Militär?«

»Da könnt' ich ihr doch die alten Kleider nicht mehr flicken und müßt' in die Stadt!«

»Nun, wär' das so ein groß' Unglück? Ich ging' gleich in die Stadt. Gott, was erzählt mit mein Vater nicht Alles von der Stadt, wo lauter große Häuser stehn und lauter reiche Leut' wohnen!«

»Das ist Alles wie man's nimmt,« erwiederte er mit überlegener Weltweisheit. »Was ein Reicher in der Stadt ist, ist in einer noch größern Stadt vielleicht ein Armer. Sagt man nicht auch bei uns, daß Wolf Breitenbach ein reicher Mann ist?«

»Nun, ist er's etwa nicht?« antwortete Täubchen. »Hat er nicht ein eigen Haus mit zwei Stöck, und mein Vater hat einmal gesagt, Wolf Breitenbach hat Geld, viel Geld, wenigstens zweitausend Thaler!«

Meyer zuckte lächelnd die Achseln.

»Ich und Du und unsere Eltern sollen's reich sein, was er weniger hat! Aber was geht das uns an? Gott soll mir nur meine Mutter gesund lassen und Dich, dann bin ich zufrieden und verlang' mir nicht in die Stadt.«

Er blickte sie mit seinen kleinen schwarzen Augen gutmüthig dabei an. Täubchen blickte ihn wieder an und blieb stehen.

»Ich hab' Dir noch nicht einmal gedankt, Meyer,« sagte sie.

»Wofür?«

»Daß Du gekommen bist, wie mich der Knecht angefallen hat.«

Sie reichte ihm die Hand.

»Stuß (Narrheit),« antwortete Meyer erröthend, »der hätt' Dir auch ohne mich nichts gethan!«

So waren sie bis zum Dorf gekommen. Das Mädchen blieb stehen.

»So,« sagte sie, »Meyer, jetzt geh' Du voraus; es schickt sich nicht für Dich, daß Du hinter die Gäns hergehst.«

»Ich geh' nicht hinter die Gäns, ich geh' hinter Dir her,« antwortete der Ritter.

Täubchen verschwieg ihr Abenteuer vor Allen. Auch mit Meyer sprach sie nicht davon. Sie stopfte und er flickte ruhig weiter. Wenn man von dem langen Meyer sprach, der sich vor jedem fürchte, verzog sie ihr Gesicht. Als sie aber im nächsten Jahr einen neuen Transport aus Martinhagen abzuholen hatte, musterte sie mit herausfordernden Blicken das Hofgesinde. Sie hätte zu gern den Flachsblonden durch die Erinnerung an ihren Helden gedemüthigt; aber sie fand ihn nicht mehr. Eine Magd erzählte ihr, Hans Ludwig sei zum Militär abgestellt worden.

Die alte Bule zitterte, als sie von der Rekrutirungskommission hörte.

»Großer Gott,« rief sie aus, »jetzt nehmen sie mir auch meinen Meyer!«

Tobiah verzog spöttisch den Mund.

»Pschide (freilich),« sagte er, »den Hasenfuß können sie nicht brauchen.«

Da lächelte Bule in sich hinein und Täubchen drehte sich um und lächelte heimlich.

Indessen waren die Pfleglinge unter Täubchen's Leitung herrlich gediehen. Sie hatte die Mutter völlig ersetzt, Frau Bule gab nur noch Gastrollen im Stopfen. Die großen Feiertage waren vorüber, ein herbstlicher Reif verbrannte das Laub der Kartoffeln, es war die große Saison für das Geschäft herangerückt, die jüdischen Hausfrauen begannen, in Massen gemästete Gänse zu schinden, um sich ihr Winterschmalz einzuheimsen. Ein ganzes Dutzend fettstrotzender Prachtexemplare lag in Tobiah Hof's Kammer auf dem Brettergestelle bereit. Er betrachtete sie mit gemischten Gefühlen, die reine Freude von ehedem empfand er längst nicht mehr; die Verpflichtung gegen Wolf Breitenbach, dem er nicht nur Geld, sondern auch leider einige Rücksicht schuldete, drückte wie ein Sklavenjoch auf seine Schultern und sie fühlten die alte Kraft nicht mehr, das volle Dutzend auf sich zu nehmen.

»Täubchenleb!« sagte er, mit dem Kopf wehmüthig wackelnd. »Tobiah Hof wird alt!«

»Was Du Dir nicht einbildest, Vaterleb,« erwiederte Täubchen, »es fehlt Dir doch nichts? Und Gott soll Dich nur so erhalten bis zu hundert Jahren! Aber du könntest mir einen großen Gefallen thun. Laß mich sechs von den Gänsen tragen und Du tragst die anderen sechs, und ich krieg' bei der Gelegenheit die Stadt einmal zu sehen! Ist es nicht eine Schand', daß ich bald zu Gutem dreizehn Jahr alt werd', und bin nicht weiter über den Ort hinauskommen als wie bis Martinhagen? Vaterleb, red' kein Wort! Du tragst die Sechs und die anderen Sechs trag' ich.«

»Oser (Verneinungsschwur)!« rief Tobiah, »Du tragst nicht mehr als Vier und die anderen Acht trag' ich!«

Da jubelte Täubchen über den Kompromiß und richtete die Zwerchsäcke her für sich und ihren Alten. Als sie in der Küche ihr einziges Paar Schuhe hervorsuchte, um sie für die Stadt frisch mit Öl zu schmieren, überraschte sie den Vater, der durch ein thönernes Pfeifenrohr aus vollen Lungen seinen Athem in die Luftröhren der Gänse blies.

»Was thust Du, Vaterleb?« rief das neugierige Kind.

»Nichts thu' ich,« brummte der Alte, unwillig über die Überraschung, »es ist nur für's Schönsein!«

Täubchen schwieg; als sie jedoch ihre vier Schutzbefohlenen in den Zwerchsack packte, drückte sie aus allen Leibeskräften so lange darauf, bis ein leises Pfeifen das Entweichen der betrügerischen Luft verkündete.

»So!« sagte der kleine schwarze Kobold triumphirend, »das ist auch für's Schönsein!« und nun lud sie erleichtert die Bürde auf ihre Schultern.

So wanderte nun Vater und Kind in den Herbstmorgen hinaus. Die Hütte ward zugeschlossen, Frau Bule bekam den Schlüssel. Am Fenster saß der lange Meyer. Täubchen nickte ihm zu.

»Ich geh' in die Stadt,« rief sie, »was soll ich Dir mitbringen?«

»Wieder so einen Apfel,« antwortete er und streckte ihnen lang den Hals nach.

»Was will der lange Lemach für einen Apfel?« fragte Tobiah.

»Stuß (Possen)!« erwiederte das Kind ausweichend.

So wanderten sie, ohne viel zu reden.

»Vaterleb,« fragte sie einmal, »wie reich ist wohl Wolf Breitenbach?«

»Reicher wie ich,« brummte der Alte verdrießlich, »ich wollt', er wär' mir Geld schuldig, statt ich ihm!«

Beim Wirthshäuschen zum »letzten Heller« ließ er sich ein Schnäpschen geben. Er wollte Täubchen nippen lassen, aber sie schüttelte den Kopf und biß in die Brodkruste, die sie aus der Tasche ihres Kittels zog.

Das Geschäft ließ sich gut an; das kleine schwarze Mädchen war ein glückbringender Begleiter für den mürrischen Alten. Die Hausfrauen fragten sie aus und lachten über ihre unbefangenen Antworten; ein Kind wollte ihr ein Bonbon schenken, aber Täubchen wußte nicht, was damit machen. Wenn Tobiah seine Preise beschwor und man sie fragte: »Ist's wahr?« antwortete sie achselzuckend: »Was weiß ich?« Der schwierigste Gang war zu dem alten Raaf.

»Täubchenleb,« sagte der Alte, als sie die Stiege hinaufklommen, »die Rebzen ist ein Soton (Teufel), Du mußt Dich nicht schrecken.«

»Ich fürcht' mich vor keinem Menschen,« antwortete lachend das Kind.

Während nun Tobiah in der Küche mit der Rebzen handelte und zankte, war die Tochter, Raaf's Mine, aus dem Zimmer getreten.

»Ist das Euer Kind, Tobiah?« fragte sie mit hochdeutschem Accent.

»Das ist meun Kind,« antwortete er parodirend.

Mine faßte Täubchen bei der Hand und zog sie in's Zimmer, dessen weißgewaschener Boden und die mit weißen Gardinen verhängten hellen Fenster das Kind völlig blendeten; fast wäre ihr Ausspruch zur Unwahrheit geworden, sie fürchtete sich einen Augenblick vor der vornehmen Frau, die lange schwarze Locken und lange weiße Finger hatte. Aber als diese sie liebevoll streichelte und küßte, gewann sie rasch wieder ihre alte Unbefangenheit. Bei dem Kuß auf die Stirn hatte Mine einen Blick auf die kleinen zierlichen Ohren des Mädchens geworfen.

»Was für herzige Ohren!« rief sie aus. »Aber,« fuhr sie freundlich verweisend fort, »hast Du Dir sie heut noch nicht gewaschen?«

»Ist denn heut Freitag?« antwortete das Kind, sie groß anschauend. »Man wascht sich doch nur am Freitag!«

Da nickte Mine, als sei sie eines Bessern belehrt und flüsterte: »Armes Kind! Du hast gewiß keine Mutter?«

»Ich bin seit drei Jahren ein Jausem (Waise),« antwortete Täubchen und ihr großes schwarzes Auge ward feucht.

»Hast Du etwas gelernt zu Hause?« fuhr Mine fort und streichelte ihr die widerspenstigen Haare aus der Stirn.

»O ja,« sagte Täubchen mit Selbstbewußtsein. »Ich kann Gänsstopfen und Federnschleißen, die Bule Bettenhausen sagt, ich kann's schon so gut wie sie.«

»Kannst Du lesen, schreiben, stricken, nähen?«

Täubchen schüttelte den Kopf.

»Und wie alt sagst Du, daß Du bist?«

»Dreizehn bis hundert Jahr!«

Mine lächelte und stand auf, sie öffnete eine Schublade und zog ein buntseidenes Tüchelchen hervor, das sie dem Kind um den Hals knüpfte. Täubchen stand mit offenem Mund, die kleinen weißen Zähne leuchteten. Mine küßte ihr den Mund zu.

»Möchtest Du hier in der Stadt bleiben und was lernen, Täubchen?« fragte sie kosend.

Da füllten sich die Augen des Kindes mit Thränen.

»Ich möcht' schon,« sagte sie, »aber mein Vater thut's nicht.«

Da ging Mine rasch hinaus in die Küche. Der Handel war beendet, Frau Süß, die Rebzen, hatte eben die erhandelten Gänse in die Speisekammer getragen; und nun entspann sich ein kurzes, eindringliches Gespräch, das heißt Mine sprach und Tobiah zuckte die Achseln oder warf ein paar Worte dazwischen wie: »leicht gesagt, schwere Sache,« und dergleichen.

»Überlegt's Euch, Tobiah,« schloß Mine, »und sagt mir Antwort, wenn Ihr wieder hereinkommt.«

Schweigend traten Vater und Kind den Rückweg an, Keines theilte dem Andern den Gedanken mit, den Raaf's Mine in ihren Herzen wachgerufen hatte. Tobiah kalkulirte, wie viel Geld er zum Einkauf, wie viel er für Hausmiethe, Kohlen und Brennöl brauche. Kaum fünf Thaler blieben übrig, die drückende Schuld an Wolf Breitenbach zu erleichtern.

Sie kamen nach Haus, sie fanden Frau Bule in großer Aufregung, Wolf Breitenbach war aus der Kreisstadt heimgekehrt und hatte ihr mitgetheilt, daß in der Liste der Milltärpflichtigen für das nächste Frühjahr der Name Meyer Bettenhausen abgedruckt stehe.

»Was macht Sie für ein Gethu'?« fuhr Tobiah sie tröstend an, »bis zum Frühjahr ist lang, bis dahin können wir Alle mit einander todt sein.«

Der nächste Tag war ein Freitag; noch nie hat sich Täubchen die Ohren so sorgfältig gewaschen wie an diesem!

Am Sabbath nach dem Mincha-(Nachmittags-)Gebet suchte Tobiah Wolf Breitenbach auf.

»Reb Wolf,« sagte er, »man soll am Schabbes nicht von Geschäften reden, aber wir sehen uns doch die ganze Woch' nicht! Ich hab' schlecht verkauft und kann Euch von meinem Chauf (Schuld) nicht mehr abzahlen wie fünf Thaler. Ich hätt' sie gleich mitbringen können, aber Ihr wißt, am Schabbes trag' ich nicht.«

»Hab' ich Euch schon gemahnt?« erwiederte jener unwirsch. »Was kommt Ihr mir am Schabbes mit so 'was? Wenn Ihr's noch braucht, warum behaltet Ihr's nicht? Ihr wißt doch, Wolf Breitenbach lumpt sich nicht. Apropos, Reb Tobiah, warum habt Ihr Täubchen mit in die Stadt genommen?«

Die Großmuth seines Gläubigers hatte Tobiah so gedemüthigt, daß er ihm nicht auch noch seine physische Schwäche eingestehen wollte.

»Das will ich Euch sagen, Reb Wolf,« sprach er, eine Prise nehmend, die Jener ihm bot; »ich hab' mir schon lang gedacht, daß mir das Kind da haußen verwildert und ob ich nicht besser thu', ich seh' zu, daß ich sie in der Stadt wo unterbring', wo sie 'was lernt.«

»Reb Tobiah,« antwortete Wolf, wohlgefällig nickend, »das macht Euch alle Ehre, daß Ihr daran gedacht habt. Täubchen ist ein brav Kind und hat einen offenen Kopf und versteht sich takif (beliebt) zu machen. Wenn Die was Rechts lernt, kann sie ihr Glück machen. Sie kann Kindermädchen werden oder gar eine Gouvernante, und ich sag' Euch, der gebildete Lindenfeld, der ein eigen Haus hat am Steinweg in der Stadt, hat voriges Jahr seine Mahd (Magd) geheirathet; folgt mir, Reb Tobiah, und seht zu, daß Ihr das Kind in die Stadt bringt. Was hat sie hier für ein Tachlis? (praktischen Zweck). Wird sie wirklich gut genug sein für der Bule Bettenhausen ihren langen Schlemiel!«

,›Gott soll mich bewahren!« rief Tobiah niesend. »Ich hab' schon dessentwegen mit Raaf's Mine gered't und hoff', sie wird mir dazu helfen. Aber mein Geschäft, Rebbe Wolf! Ich bin doch die ganze Woch' über Feld. Wer stopft mir meine Gäns? Soll ich wieder Wen zahlen? Womit? Ich bin Euch doch noch so viel Geld schuldig! Wie komm' ich da heraus? Gebt mir einen Rath.«

Wolf Breitenbach verzog das Gesicht bei dieser zarten Anspielung auf ein neues Anlehen, plötzlich aber stieß er einen Zischlaut hervor, als erleuchte ihn ein glänzender Gedanke.

»Reb Tobiah,« sagte er lächelnd, »da werd' ich Euch eine Geschicht' erzählen. Da ist einmal gewesen ein Blinder und ein Lahmer, wo keiner nebich (leider) nicht allein hat fortkommen können. Hat sich der Lahme auf den Blinden seinen Buckel gesetzt und hat ihm gesagt, wohin und wo hinaus! Und sie sind alle Zwei fort gekommen.«

»Nun, was thu' ich da damit?« fragte Tobiah ungeduldig.

»Das will ich Euch sagen,« fuhr jener docirend fort; »Ihr wollt' Euer Täubchen was lernen lassen, könnt Ihr allein nicht fort; der Bule Bettenhausen nimmt man ihren langen Meyer zum Militär, denn das Maß hat er; kann sie allein auch nicht fort. Nehmt Euch die Bule in's Haus; alt genug und mieß (häßlich) genug seid ihr alle Zwei, daß man euch nichts nachsagen kann. So kommt ihr alle Beide fort. Sie spart den Zins und stopft Euch Eure Gäns und Ihr verkauft ihr ihre alten Kleider. Und wenn Euch einmal ein paar Thaler abgehn, Ihr wißt doch, Wolf Breitenbach lumpt sich nicht!«

Noch am selben Abend erzählte Tobiah der alten Bule die »Geschicht'«, und sie beschloß, wenn, was Gott verhüte, ihr Meyer genommen würde, den Antrag Tobiah's zu acceptiren. Doch bis zum Frühling ist ja noch lange Zeit!

Indessen kam Täubchen noch einmal und zwar sauber gewaschen, obwohl es kein Freitag war, mit dem Vater in die Stadt und es wurde Alles mit Raaf's Mine besprochen. Das Kind sollte vom »Schwesternbund« aufgenommen und in Allem unterrichtet werden, was ein Kinder- und Stubenmädchen braucht, dann würde die Vorsteherin einen guten Platz für sie besorgen. Gleich nach Ostern sollte sie eintreten, für die nöthige Ausstattung verbürgte sich Raaf's Mine. Tobiah fügte sich in Alles; im Vorbeigehen musterte er das Haus des »gebildeten Lindenfeld« und zählte mit Befriedigung drei Stockwerke. Und so verging der Winter und die Schneeglöckchen kamen und die ersten Kastanienblätter und die Rekrutirungskommission.

»Mach' Dich klein,« hatte Frau Bule ihrem Meyer zugerufen; aber die mütterliche Ermahnung prallte an dem Gedanken ab, daß Täubchen in die Stadt kommen sollte. Er reckte sich unter dem Maß nur um so strammer empor und nahm eine so martialische Haltung an, daß er sofort zu den Füsilieren mit der Anwartschaft auf das erste Glied genommen wurde. Armer Paladin! Du ahntest nicht, daß dein Füsilierregiment nicht in der Residenz, sondern in der zweiten Reichsstadt, weit entfernt von der Dame deines Herzens, kasernirt war!

So marschirte denn Meyer nach Süden, während Täubchen, ihr Bündelchen auf dem Rücken, mit dem Vater nach Norden zog. Wolf Breitenbach hatte ihr mit seltener Großmuth sechs leinene Schnupftücher und Druckkattun zur Schürze mitgegeben und sie zum Abschied geküßt und gebenscht (gesegnet). Bei Raaf's Mine fand sie bereits Wäsche und Kleider, die das treffliche Mädchen, das seit dem Tode der Rebzen mit verdoppeltem Eifer sich dem »Schwesternbund« widmete, für sie angeschafft hatte. Tobiah verabschiedete sich.

»Mach' mir Ehre,« sagte er, »ich werd' jede Woch' nach Dir sehn.«

Der »Schwesternbund« war in den zwanziger Jahren von den jüdischen Mädchen der Residenz gegründet worden, um als Ergänzung des »Frauenvereins«, der seine Wohlthaten den Familien zuwandte, für verwaiste Mädchen Sorge zu tragen und sie zu tüchtigen Dienstboten, bei besonderer Begabung auch zu Lehrerinnen und Gouvernanten zu bilden. Zwölf mutterlose Kinder fanden in dem zu diesem Zweck gemietheten Lokale einfache Unterkunft, wurden von einer angestellten Inspektorin beaufsichtigt und die Töchter der angesehensten Familien ertheilten ihnen abwechselnd Unterricht im Lesen, Schreiben, Rechnen und Handarbeiten. Die Verpflegung und Kleidung der Zöglinge wurde durch Jahresbeiträge und temporäre Gaben gedeckt. Natürlich fanden die hier Erzogenen die besten Plätze, und auf die Austretenden ließen sich die Hausfrauen oft Jahre früher vormerken und bemühten sich um die Protektion der Inspektorin.

In kurzer Zeit war das kleine Täubchen der Liebling des ganzen Instituts geworden. Wolf Breitenbach hatte Recht, sie hatte einen offenen Kopf und verstand sich takif zu machen. Nach Jahresfrist las und schrieb sie deutsch mit Geläufigkeit, das Rechnen ging im Kopfe schneller als auf dem Papier, das Stricken und Nähen flog ihr von der Hand, und dabei lachte und sang sie beständig, daß das ganze Haus erheitert wurde. Aber sie sang nicht mehr allein den Schir-hamalaus, sie hatte bei Raaf's Mine die Lieder gehört, die diese zur Guitarre sang und wußte sie bald auswendig, und es war drollig genug, wenn das kleine schwarze Mädchen, sein Kämmerchen auskehrend, mit schmetternder Stimme sang: »Vater, ich rufe dich!« Aber der Vater kam auch ungerufen. Dann klagte und jammerte er jedesmal, wie er sich rackern und plagen müsse, die alte Bule sei eine Menschenfeindin, und Wolf Breitenbach sei nur freundlich mit ihm, um ihn desto härter fühlen zu lassen, daß er sein Schuldner sei! Täubchen tröstete ihn. Nur noch ein Jahr Geduld, dann sei sie fertig, und es hätten sich ein paar gute Häuser bei ihr eingeschmeichelt; dann wollte sie schon für den Vater sorgen, und er könne das Geschäft aufgeben und Wolf Breitenbach abzahlen. Mit der alten Bule möge er Geduld haben, sie jammere um ihren Sohn, und ob er denn gar nicht wüßte, wie es dem guten Meyer gehe? Dann brummte Tobiah und ging davon.

Und auch das Jahr ging unvermerkt davon. Der alte Raaf war auch zur Ruhe gegangen, Mine zog das kleine Täubchen noch inniger an sich und übernahm es, das Haus zu wählen, in das ihr Schützling eintreten solle. Ihre Wahl fiel auf Frau Dinchen Hornstein, die Gattin des jüngern Chassens (Kantors). Dieser, der früher Chorist bei der Oper gewesen war, benützte seine Stimme und seine musikalischen Kenntnisse, um im Auftrag der jüngeren Gemeindevorstände die Gesänge und Chöre vorzubereiten, die in dem neuen Tempel, der freilich erst auf dem Papier stand, gesungen werden sollten. Frau Dinchen war eine einfache gute Seele aus einem Landstädtchen nicht weit von Täubchen's Heimat, und die zutrauliche Theilnahme, die sie stets für das Kind gezeigt hatte, fiel entscheidend in die Wage. Ihr Mann lebte nur seiner »großen Aufgabe«, ihr Söhnchen zählte erst drei Jahre, das Haus auf dem Gouvernementsplatz war einfach und bürgerlich bescheiden. Das Alles behagte Mine sehr, und Täubchen trat, als der Frühling begann und ihr Lehrkurs beendet war, in den Dienst bei Frau Dinchen Hornstein und ward dort wirklich wie das Kind vom Hause gehalten. Selbstverständlich ward Frau Dinchen die beste Kundschaft des alten Tobiah, dem sie nie einen Groschen abhandelte, sondern jedesmal noch ein »Schnäpschen« zugab.

Es war wirklich eine Freude, Täubchen zu sehen, wenn sie mit dem Kind spazieren ging. Sie war gewachsen, entfaltet, die schwarzen Haare trug sie zurückgestrichen und ein schneeweißes Häubchen saß auf dem Scheitel, die kleinen, schelmisch schwarzen Augen sagten, auch wenn sie schwieg, jedem einen »guten Morgen«. Ein Kindermäntelchen von buntem Kattun trug sie wie einen Longshawl um die Schultern, um den dicken jungen Hornstein darin einzuwickeln und zu tragen, wenn er vom vielen Herumspringen müde geworden war. So lang er jedoch lief, strickte sie mit fleißigen Händen, selbst im Gehen, blaue baumwollene Strümpfe, die ihre Finger so gleichmäßig färbten, daß sie keiner Handschuhe bedurfte.

Als Täubchen eines Tages in dieser Fassung vom Vormittagsspaziergang mit dem Kinde nach Hause kam, wurde gerade die Wache am Gouvernementsplatz abgelöst mit Trommeln und Pfeifen.

»Musik, Musik!« schrie der kleine Chassen und zerrte sie am Rock auf die Hauptwache zu. Die Musik ist ein Erbtheil der Kinder Israels. Wie sie Jubal unter den ersten Erfindern priesen, wie Miriam die Pauke und David die Harfe schlug, so ist heute noch die Musik im Judenthum tiefer eingewurzelt, als das Judenthum in der Musik. Auch Täubchen spitzte die Ohren bei den Klängen der Querpfeifen, die der große Kurfürst von Brandenburg auf uns vererbt hat, und wollte eben die Lippen spitzen, den Marsch nachzupfeifen, als ihr plötzlich vor Überraschung der Mund offen stehen blieb. Der Gefreite, der, die Wache kommandirend, ablöste, der lange Soldat mit dem schwarzen Krauskopf und dem Schnurrbart über den breiten Lippen, war es nicht – sie starrte ihn an, er starrte sie an, er wollte kommandiren, aber: »Schma Jisrol!« rief er aus, ein Kommando, das seine Kompagnie nicht verstand. Ja, es war der lange Meyer, der so oft an sie, an den sie so oft gedacht hatte! Sprechen konnte sie nicht mit ihm, er nicht mit ihr; aber sie verstand sich auf den optischen Telegraphen. Sie nahm das Kind auf den Arm, deutete auf das Haus gegenüber, hob zwei Finger in die Höhe, das Stockwerk zu bezeichnen und drehte sich im Abgehen so oft um, bis sie sicher war, daß ihre Depesche entziffert und verstanden sei!

Sie war verstanden. Am nächsten Abend schon kam der lange Meyer, seinen Besuch zu machen, und Frau Dinchen war höchlich überrascht, als ein sechs Schuh langer Soldat ihrem Täubchen ohne Weiteres um den Hals fiel. Aber Täubchen stellte ihn unbefangen als ihren Jugendfreund und gemeinsamen Landsmann vor, und nun erzählte der lange Meyer, daß er in seiner Garnison durch einen mißlichen Zufall in einer Kompagnie mit dem flachsblonden Hans Ludwig gestanden sei, der ihn gehaßt und verfolgt und ihm den Dienst verbittert habe. Aber er sei nur um so ruhiger und gewissenhafter seinem Dienst nachgegangen, und sein Hauptmann habe dieß bemerkt und den Krakehler scharf auf's Korn genommen, er aber sei bei dem Hauptmann immer mehr beliebt geworden, weil er ihm auch in Mußestunden seine Uniform geflickt habe. Und jetzt sei der Hauptmann zu einem Regiment in die Residenz versetzt worden und hab' gemacht, daß er auch übersetzt worden sei und so sei's gekommen. Und er lachte vor Freude und Täubchen lachte auch, und der kleine Hornstein jubelte und spielte mit der Patrontasche und der Säbelscheide des »Tataten«. Von diesem Tag an kam der Gefreite Meyer jeden Abend in's Haus und saß bis zum Zapfenstreich bei Täubchen in der Küche. Sie ließ sich in ihrer Arbeit nicht stören und er machte dem Kind aus einer alten Zeitung einen Generalshut mit langem Federbusch und gab ihm seine Säbelscheide als Reitpferd. Kam Frau Dinchen in die Küche und hörte die Beiden von »zu Hause« reden, so setzte sie sich wohl auf den blank gescheuerten Herd und plauderte mit von »zu Hause«. Sie kannte bereits durch die Erzählung alle Bewohner der beiden Dörfer; den berühmten Wolf Breitenbach aber kannte sie persönlich, denn er hatte Täubchen besucht und diese hatte ihn mit stolzer Genugthuung ihrer Madame vorgestellt. Herr Hornstein vermißte seine Gattin nicht, denn seine Gedanken waren vertieft in »die Kunst«. Chöre und Melodieen für den neuen Tempel sollten systematisch auf Noten gesetzt werden und Herr Hornstein arbeitete unausgesetzt in Fugen und Contrapunkt. So war er eines Abends in die Komposition eines neuen lecho daudi (Empfangshymne des Sabbaths) vertieft, zu welcher er aus seinem Gedächtniß Opernmelodieen und altjüdische Psalmmotive zusammenlas und kühn zusammenschweißte. In theatralischer Attitude saß er am Klavier und probirte die erste Solostrophe mit seinem starkrostigen Tenor.


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