Salomon Hermann Mosenthal
Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben
Salomon Hermann Mosenthal

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Raaf's Mine blieb fürderhin unangefochten und widmete ihre Zeit dem »Schwesternbund«, einem Verein zur Erziehung armer jüdischer Mädchen. Sie verbrachte nicht nur täglich mehrere Stunden im Vereinshause, sie nahm auch die Begabtesten mit zu sich, unterrichtete sie in Sprachen, im Gesang, in Kunststickerei und verfertigte mit ihnen allerlei Gegenstände, auf denen Blumen aus bunten Perlen und plastische Vögel und Früchte aus geschorener Wolle prangten, die zu »Purim« in einer Lotterie zum Besten des »Schwesternbundes« ausgespielt wurden. Die armen Kinder beteten sie an. Und so floß ihr Leben dahin wie ein milder, gleichförmiger grauer Tag, in den nur ein leuchtender Sonnenstrahl fiel, wenn der Briefbote mit den Worten eintrat: »Aus Würzburg!« Dann rötheten sich unwillkürlich ihre bleichen Wangen und mit zitternden Händen erbrach sie die Botschaft des geliebten Freundes.

Die letzte enthielt nach vorausgeschickten Erkundigungen und persönlichen Mittheilungen die folgenden Worte:

»Sie ermahnen mich, einzige Freundin, im Hinblick auf meine Zukunft und die Ziele, die ich mir vorgesteckt, dem Glauben unserer Väter mich im Irrgarten der modernen Philosophie nicht zu entfremden! O, glauben Sie mir, Theuerste, ich bin durch diese Studien erst gläubig geworden. Wir unterschätzen, was uns eigen ist, so lange wir das Fremde nicht kennen. In dem Verschlossenen wähnen wir den Schlüssel des großen Weltenräthsels versteckt, aber je tiefer wir eindringen, um so weiter entrückt sich uns das Ziel; die kühnsten Sturmschritte der modernen Philosophie, die geistreichsten Hyphothesen der Wissenschaft führen zuletzt zu einem Punkt, wo das Wissen endet und der Glaube beginnt. Der menschliche Geist, weil er menschlich begrenzt ist, faßt eben nur das Begrenzte. Er schält den goldenen Kern des Göttlichen immer wieder aus seiner verwitterten Schale hervor, aber so oft dieser auch der Menschheit als Gemeingut überliefert wird, immer setzt sich die Schale dichter und dichter wieder um denselben, und die Religionen werden zu Kirchen. Man braucht nur durch gründliche Studien diese verschiedenen Schalen zu durchdringen, um schließlich denselben goldenen Kern zu finden, der, wie in dem Allerheiligsten des zweiten Tempels, das Unsichtbare, das Unfaßbare ist, vor dem der Geist sich gläubig beugen muß, ob es nun die erste sich fortzeugende Zelle oder die Reiche der Erde und die Systeme des Weltalls erschuf und ihre ewigen Regeln festsetzte. Weßhalb sollte ich die Schale verleugnen, die durch ihren Rost selbst mir ehrwürdiger erscheint als alle anderen? Wer auf dem Wege des Wissens zum Glauben gelangt, wird nicht nur gläubiger als der Beschränkte, er wird auch duldsamer sein. Er wird die Form nicht zu zerstören, nur zu beseelen trachten, und ich habe die Zuversicht, daß mir dieß in jeder Gemeinde, auch in der unsrigen gelingen wird. Ich werde fortgeschrittene Geister finden, die mich verstehen, und Zeit und milde Rücksicht werden allmälig die Übrigen auch zu geläuterter Erkenntniß, zu edleren Formen hinüberführen!

Ich habe in Hanau meine erste Probepredigt gehalten; sie gefiel der Gemeinde, obwohl sie mir selbst noch unklar und schülerhaft erschien. Auf dem Weg vom Herzen zu den Lippen ging mir Vieles verloren, was ich zu sammeln und festzuhalten noch nicht verstand. Aber ich habe noch ein ganzes Jahr vor mir zu gründlichen Studien und Übungen, die mir so viel verschaffen, daß ich des Beistandes meines Wohlthäters nicht mehr bedarf. Erst will ich fertig sein mit mir selbst, dann sehen Sie mich hoffentlich als Kandidaten für Ihre Gemeinde wieder! Indessen freuen Sie sich des beglückenden Bewußtseins, einen Glücklichen geschaffen zu haben!«

Mit Freudenthränen hatte Mine diese Worte gelesen und wieder gelesen. Das ersehnte Wiedersehen war auf ein Jahr hinausgeschoben, aber sie drang mit keiner Zeile mehr in ihn, sie hielt es ja für einen Beschluß der Vorsehung, daß die Gemeinde auf den Erkorenen warten müsse.

Seit dem Tode des alten Raaf's war in der Gemeinde ein mächtiger Umschwung wahrnehmbar geworden. Die Pietät vor dem greisen Meister hatte die Jüngeren zurückgehalten; jetzt fühlten und äußerten sie in seltener Einstimmigkeit den Wunsch nach einer Vereinigung, nach einer Neugestaltung des zersplitterten Gottesdienstes. Jecheskel Flesch belegte zwar jeden, der von einem Tempelbau sprach, mit dem Bannfluch, aber den fanatischen Eiferer traf eine grausame Nemesis. Sein einziger Sohn ließ sich taufen, um die Tochter eines Pastors in Stadthagen zu heirathen. Als der Fromme, der jedes Kind verflucht hatte, das ohne Kopfbedeckung über die Straße gelaufen war, den Abfall seines Einzigen vernahm, fiel zum ersten Mal das Wachskügelchen aus seinen rastlosen Fingern. Er wollte um den Verlorenen Schiwe sitzen (die siebentägige Trauer), aber er sank neben der Holzpritsche heulend zu Boden. Wuth und Schmerz hatten ihm das Herz gebrochen; mit einem Fluch über seinen Sohn auf den bleichen Lippen starb er, den Tod des Gerechten!

Nun traten ungestört die jüngeren Führer der Gemeinde zusammen. Ein würdiges Gotteshaus sollte erbaut, ein erleuchteter Seelsorger berufen werden. In Joel Reinach fanden sie ihren Stützpunkt; von dem grünverhängten Stübchen gingen alle Strahlen des schönen Gedankens aus. Der gebrochene Greis, dem jetzt von seinen Kindern nur noch das letzte, die schöne Bertha, zur Seite stand, betrieb mit jugendlichem Eifer, ein zweiter Esra, die Erbauung des neuen Tempels. Er zeichnete die größte Summe, die Andern schlossen sich opfermuthig an. Ein Kind der Gemeinde, der Architekt Rosengarten, entwarf den Plan. Bald hob, inmitten einer schönen Gartenanlage am Ende der Stadt, sich ein mächtiges Gebäude im romanischen Styl, und eh' ein Jahr vergangen, leuchteten die vergoldeten Gesetzestafeln vom Giebel des Tempels.

Auch in das dämmerdunkle Haus Joel Reinach's war ein Lichtstrahl gedrungen. Ein junger Arzt, der bereits im Ausland zur Celebrität geworden war, hatte sich in der Residenz niedergelassen und Reinach und dessen tragisches Geschick kennen gelernt. Er unterzog die schöne Bertha einer gründlichen Auskultation, er fand ihre Organe intakt. Das Treibhausleben schien ihm der Grund, weßhalb die anderen frühentfalteten Blüten so schnell verwelkten. Wenn Bertha erhalten werden solle, so brauche sie Licht, Luft, Bewegung im Freien. Sie müsse schwimmen, reiten, durch die Wälder streifen, die unsere Stadt so reizend umgürten. Der Erhaltung der geliebten Einzigen wurden sofort alle Rücksichten, alle alten Gewohnheiten geopfert, und erstaunt sah man das schlank emporgeschossene Mädchen in buntem Reitkleid mit wallendem kastanienbraunem Lockenhaar, das ein blauer Schleier wie ein Wölkchen umflog, gleich einer Märchenfee auf dem milchweißen Renner durch Felder und Wälder streifen.

Das Gotteshaus war vollendet. Über dem Eingangsthor, im Innern der Säulenhalle, ragte in schöner Wölbung der Chor für die Sänger; die Jünglinge und Knaben der Gemeinde studirten alte Choralweisen zu den Psalmen David's. Aus allen Bethäusern trug man die Gesetzesrollen und die silbernen und goldenen Kle-kodesch (Paramente) in das von bunten Säulchen umgebene Tabernakel. Kunstfertige Frauenhände stickten Vorhänge und Altardecken; Mine hatte das Brautkleid ihrer Mutter aus buntem Seidenbrokat zerschnitten und zwei »Mäntelchen« für die Thorarollen daraus gemacht. Aber noch immer fehlte der Prediger; von den mannigfachen Bewerbern hatte nicht Einer genügt.

Es war im Frühling, zwischen Ostern und Pfingsten, als sich die Nachricht verbreitete, Doktor Henoch werde am »großen Sabbat« seine Probepredigt halten. Mine hatte die Botschaft von ihm erhalten; sie hatte sie athemlos zu Joel Reinach getragen und war geblendet im Hausflur stehen geblieben, als ihr die schöne Amazone entgegentrat, deren Renner vor dem Hausthor stampfte. Jubelnd theilte Mine ihr die Nachricht mit, die Bertha fast zu überhören schien.

»Mein Vater wird erfreut sein, Sie zu sehen,« sagte sie mit bezauberndem Lächeln, das ihre Perlenzähne schimmern ließ, und den hohen Stülphandschuh zurückstreifend, drückte sie ihr mit der schwellenden Alabasterhand die magere Rechte. Mit einem Blick der Bewunderung, in die sich ein leiser Hauch von Wehmuth mischte, sah Mine der blendenden Erscheinung nach; dann stieg sie die Treppe hinauf zu Herrn Joel Reinach. Das Zimmer war unverändert, die Gestalt des Greises noch gebrochener als ehedem; aber aus seinen Augen leuchtete ein milder Freudenstrahl bei Mine's Botschaft.

»Ihr Schützling ist uns herzlich willkommen, liebes Fräulein,« sagte er; »gebe Gott, daß sich seine, Ihre edlen Wünsche erfüllen! Sie sind auch die meinen.«

Noch eine Woche und sie sollte ihn wiedersehen! Tag und Nacht erbebte ihr Herz bei dem Gedanken! Sie dachte nur an ihn, sie betete nur für ihn; was im tiefsten Herzkämmerlein sonst noch an Wünschen und Hoffnungen lag, blieb ungesprochen, ja ungedacht. Aber war es Zufall, daß sie täglich, selbst in der Woche, ihr schwarzseidenes Sabbatkleid anzog? Daß sie unter ihren Chemisetten keine brauchbare fand und sich bei Sprinzchen Sennet, der gewandtesten Modistin der Gemeinde, eine neue verfertigen und sich sogar überreden ließ, zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern eine farbige Sammtschleife daran zu heften? Vergebens hatte sie die ersten Wochentage das Haus keinen Augenblick verlassen, Stunden und Minuten zählend und mit Herzklopfen vom Stickrahmen aufspringend, wenn es an die Thür pochte. Der Mittwoch war Neumondstag. Sonst pflegte sie im Institut des »Schwesternbundes« mit den Mädchen laut »halb Hallel« zu sagen (Lobgesang). Diesesmal ließ sie sich zwei ihrer Lieblinge in's Haus kommen, um den Ersehnten ja nicht zu versäumen! Am Fenster, vor dem ein paar Hyazinthenstöckchen in die Frühlingssonne hinausdufteten, stand sie mit den beiden Kindern und betete. Die Andacht hatte ihre Seele erfüllt und für einige Augenblicke jeden andern Gedanken verscheucht. Laut sprach sie die Worte der Psalmen in der schönen Übersetzung Mendelssohn's, die Kinder bewegten lautlos die Lippen dazu.

»Er belebt das Haus der Kinderlosen, läßt sie eine frohe Mutter werden! Hallelujah!« Diese Worte hatte sie eben gesprochen, als eine leise Stimme hinter ihr wie ein Echo wiederholte:

»Hallelujah!«


»Raaf's Mine betet ›Hallel‹«
Holzstich nach einer Zeichnung von Moritz Daniel Oppenheim

Henoch hatte leise an die Thür gepocht, und als ihm von der im Gebet Versunkenen keine Antwort ward, ebenso leise die Thür geöffnet. Er sah sie, den Rücken ihm zuwendend, am Fenster stehen zwischen den betenden Kindern. Das war die hohe, vornehme Gestalt: bis auf die Schultern fielen die bekannten dunklen Locken herab, die Stimme klang mit dem nervös vibrirenden Herzenston; ein unendliches Gefühl der Verehrung, der traulich-heimischen Erinnerung überkam ihn, eine Thräne der innigsten Rührung trat in sein Auge. Stumm hatte er einige Augenblicke die Gruppe betrachtet, und als sie das »Hallelujah« sprach, hatte sich unwillkürlich ein Echo seiner bewegten Brust entrungen.

Sie wandte sich, betroffen von dem Ton; das Gebetbuch entfiel ihrer Hand.

»Henoch!« stammelte sie, kaum vernehmbar.

Er stand vor ihren Augen, der heiß ersehnte, geliebte Freund! Schöner als je, im ganzen Glanz gereifter Männlichkeit. Die blauschwarzen Locken, über das Haupt zurückgestrichen, ließen die hohe, edle Denkerstirn frei, ein gekrauster, dunkler Vollbart umsäumte des Kinn und die schwellenden Lippen.

Und er erblickte das Antlitz, das seine dankbare Phantasie ihm zu einem Ideale verjüngt hatte, eingefallen und bleich, die zitternden Lippen vor Überraschung geöffnet. Der Freudenschreck hatte die gealterten Züge nur noch mehr entstellt! –

Wie die Hand, die nach einer Blume greift und eine Raupe zerdrückt, unwillkürlich zurückfährt, so schauderte Henoch zurück und das Wort erstarrte auf seinen Lippen.

Mine empfand, was ihn erbeben machte. Ein greller Blitz zuckte durch ihr Herz, der erleuchtet – und zugleich vernichtet.

»Meine theure Freundin!« sprach Henoch mit bewegter Stimme und reichte ihr die Hand; eine Thräne der Wehmuth trat in sein Auge.

»Ich habe viel erlebt, seit wir uns nicht sahen,« entgegnete sie, mühsam gefaßt, »aber sprechen wir nicht von dem Vergangenen. Ich danke Gott, daß ich Sie wiedersehe und unter so glücklichen Auspizien!«

Ja, gute Seele! Das Wort war ehrlich gemeint. Ein Augenblick genügte dir für den Schmerz um deine zertrümmerten Hoffnungen und du dachtest nicht mehr an dich selbst, nur an ihn, den Geliebten!

»Geht, Kinder,« sagte sie, freundlich lächelnd, »geht artig nach Hause, den Rest von Hallel beten wir morgen zusammen.« Die Kinder küßten sie und reichten dem Fremden die Hand.

»Sie sind sich gleich geblieben an Güte und Frömmigkeit,« sprach Henoch, als die Kinder sich entfernt hatten. Im tiefsten Innern machte er sich Vorwürfe; er, der den goldenen Kern in jeder Schale zu schätzen strebte, er hatte einen Augenblick die schöne Seele seiner Freundin vergessen können! Strauchelt doch, wenn es gilt, der Beste selbst an seinen edlen Systemen! Henoch bemühte sich, den ersten Eindruck zu bemeistern. Er faßte ihre Hand, er fragte mit dringender Heftigkeit nach Allem, was sie betraf; aber sie wich ihm aus.

»Sprechen wir von wichtigeren Dingen,« sagte sie und zog ihn zum Fenster hin. War es, weil das Alleinsein mit ihm ihr zum ersten Mal beklemmend schien, war es, weil ihr gepreßtes Herz sich nach frischer Luft sehnte, sie öffnete das Fenster und bot ihm den Stuhl am Fenstertritt vor ihrem Arbeitstisch an. Der Duft der Hyazinthen strömte herein. Und nun berichtete sie ihm Alles, was seitdem in der Gemeinde vorgegangen, welch' neuer Geist sie beseele, wie seinen idealen Plänen vorgearbeitet sei, zumal durch den edlen Joel Reinach, wie das prächtige Gotteshaus auf ihn warte, der es zu beleben und zu beseelen bestimmt sei. Sie nannte ihm die Namen der jüngeren Gemeindevorstände, in denen er eine Stütze finden würde; so umsichtig war Alles vorausbedacht, so sorglich legte sie ihm Alles an's Herz, daß er gerührt ihre Hand ergriff – und sie hielt sie ruhig, wie eine Mutter die Hand ihres Sohnes. Aber je ruhiger sie ihm enthüllte, wie all' ihr Dichten und Trachten nur auf seinen Erfolg gerichtet war, um so inniger fühlte er sich dem edlen Mädchen verpflichtet. Der erste Eindruck war vergessen, der goldene Kern leuchtete so rein, daß ein Gefühl dankbarster Freundschaft sein ganzes Herz durchwärmte.

»Ist nicht Alles, was ich bin und werde, Ihr Werk, geliebte Freundin?« begann er eben mit erregter Stimme. Da schlug an sein Ohr der in der stillen Stadt so selten gehörte Klang von Rosseshufen, die an das Pflaster schlugen, er beugte das Haupt unwillkürlich zum Fenster hinaus, eine Märchenfee mit wallendem blauem Schleier flog auf weißem Renner vorbei und warf einen Blick, einen Gruß mit der Hand zu dem bekannten Fenster hinauf. »Wer ist – –« stammelte Henoch.

»Bertha Reinach,« antwortete ruhig seine Freundin. Und nun erzählte sie ihm von der schönen Jungfrau, die glücklich das achtzehnte Jahr überschritten habe, seitdem sie in frischer Luft sich tummle und reite, von der zarten Weiblichkeit, mit der sie den Vater tröste und pflege, und pries den Allgütigen, der dem edlen Greis dieß letzte, seltene Kind in seiner Gnade erhalte! »Sie müssen vor Allem Herrn Reinach aufsuchen, und das heute noch, lieber Freund,« schloß sie und nöthigte ihn fast, Abschied zu nehmen. Träumerisch versprach er ihr, es zu thun, und sie begleitete ihn mit stillem Händedruck. Als sie in's Zimmer zurückkehrte, fiel unwillkürlich ihr Blick in den Spiegel, der zwischen beiden Fenstern hing. Sie nickte mehrmals mit dem Kopfe, als wollte sie das Bild begrüßen und beurtheilen, wie er es gethan; dann hob sie die Tfille (Gebetbuch) auf, die ihr entfallen war, drückte nach altem Ritus einen Kuß auf das beleidigte Buch und sagte still ihr »Hallel« weiter. Bei den Worten: »Seele, kehre nun zu Deiner Ruhe ein, denn der Herr hat Dich erlöst,« drückte sie das Buch an die Brust; dann betete sie ruhig bis zu Ende.

In dem dämmertrüben Stübchen Joel Reinach's waren trotz des Maitages die Fenster und die grünen Vorhänge geschlossen; aber es fiel doch ein Sonnenstrahl hinein, es zog doch wie ein Frühlingshauch durch dasselbe, als der junge Gottesgelehrte dem welken Greis begeistert seine schwungvollen Ideen mittheilte. Joel spiegelte sich in den geläuterten Gedanken des Jünglings mit väterlichem Wohlbehagen; eine leichte Röthe flog über seine bleichen Wangen, war es die Freude, die den ungewohnten Weg aus seinem Herzen zu seinem Antlitz wiederfand, oder nur der Abglanz des Feuers, das aus Henoch's jugendlichen Zügen strahlte?

»Das ist Alles schön und groß,« sagte Reinach und legte ihm die zitternde Mumienhand liebkosend auf die Schulter, »aber fürchten Sie nicht, lieber junger Freund, daß für Ihre Alexandergedanken das Reich dieser Gemeinde zu klein sei? Ist nicht das Kleinstädtische gerade der größte Feind jeder großen Idee?«

»Ich fürchte es nicht,« entgegnete jener mit freudigem Selbstvertrauen. »Ich bin ein Kind dieser Gemeinde, ein Adoptivkind nur, aber ich danke ihrem väterlichen Schutz meine Erziehung. Weil ich sie liebe, bin ich gewiß, mir ihre Liebe zu erwerben. Ich will kein stürmender Reformator sein; schonend und rücksichtsvoll will ich sie mir erst mit dem Herzen erobern; dann fügt sich die Bildung der Geister wohl von selbst. Glich doch bisher diese Gemeinde in ihrer Zersplitterung jenen zerstreuten Resten Judah's, die nach der Zerstörung des ersten Tempels je nach dem Ort, wohin sie sich geflüchtet, jeder auf seine Weise seinen Gott verehrte. Aber Sie haben ihnen wie Esra einen neuen gemeinsamen Tempel erbaut; glücklich preise ich Den, der als Nehemia an Ihrer Seite zu wirken und zu lehren berufen ist!«

Der Greis lächelte und hob den Zeigefinger wie drohend gegen den jungen Schwärmer.

»Wissen Sie auch,« sagte er, »daß eben diese Beiden das Judenthum in jene Formen goßen, die man heutzutage statt ihres Inhalts verehrt?«

»Gewiß,« erwiederte Henoch ruhig, »und ich verehre diese Formen selbst, weil sie uns den Inhalt durch Jahrtausende erhalten haben.«

»Und Sie werden sich ihnen fügen?«

»Das werde ich!«

»Gegen Ihre innere Überzeugung?«

»Es ist meine Überzeugung,« entgegnete der junge Prediger, »daß der Seelsorger einer Gemeinde ihr Mikrokosmos ist. Er darf die Verletzung der Formen bei Einzelnen dulden, aber er darf selbst sie nicht verletzen. Es ist kein Opfer der Überzeugung, nur ein Opfer der Bequemlichkeit, das ich mir freudig auferlegen würde. Nicht zertrümmern würde ich die Reliquien, die kindliche Beschränktheit für heilig hält, aber von dieser kindlichen Beschränktheit würde ich die meiner Seelsorge Befohlenen, zu erlösen trachten. Es wird die Zeit kommen, wo der goldene Kern des reinen Gottesglaubens wie eine Blüte aus der geschlossenen Knospenschale steigt; ich werde sie nicht mehr erleben, aber ich werde ihr entgegen gehen und die Meinen ihr zuführen!«

Durch Reinach's Gesicht zuckte es schmerzlich bei dieser Mahnung an die Vergänglichkeit. Der schwergetroffene welke Greis warf einen wehmüthigen Blick auf den blühenden Jüngling; wie eine Ahnung schauerte es durch seine Seele. Er lehnte sich erschöpft in den Sorgenstuhl zurück und streckte ihm die Hand entgegen wie zum Abschied. Henoch verstand ihn und erhob sich. Er hatte nie ein Wort des Dankes an seinen Wohlthäter richten dürfen, jetzt im Dämmerdunkel des Zimmers beugte er sich, wie nach seinem Hut greifend, auf die welke Hand hinab und drückte seine Lippen leise auf dieselbe. Reinach zog sie betroffen zurück, da öffnete sich die Thür, Bertha trat ein, einen silbernen Armleuchter tragend, dessen Flammen von grünen Schirmen nach einer Seite gedeckt waren. Das zurückgeworfene Licht fiel auf das blendende Antlitz und umwob es wie mit einem Heiligenschein. In dem schlichten weißen Kleid, das bis zum Hals geschlossen war und auf das die offenen braunen Locken in reicher Fülle herabwallten, schien die schöne Amazone in eine himmlische Erscheinung verwandelt zu sein. Henoch starrte sie an wie ein Traumbild, seine Sinne verwirrten sich, zum Gehen wie zum Bleiben fehlte ihm die Fassung.

»Meine Tochter Bertha!« sagte Reinach, auf sie hindeutend.

»Wir haben uns heute schon gesehen,« sagte das Mädchen lächelnd.

Henoch fand kein Wort der Begrüßung. Sie hatte den Armleuchter niedergestellt, bei einer zufälligen Wendung desselben fiel das Licht auf die bleichen Züge des Greises. Sie erschrak; unbekümmert um den Fremden flog sie zu dem Sessel, mit süßem Schmeichelton fragte sie, ob er sich unwohl fühle, und als er verneinte, kniete sie vor ihm nieder und umschlang mit beiden Armen seine Kniee, und er faltete die welken Hände über ihrer Lockenfülle. So blüht eine duftige Waldlilie am Fuß eines vom Blitz zersplitterten und entblätterten Stammes.

Der junge Geistliche betrachtete sie stumm; dann verneigte er sich und verschwand. Als er in das erleuchtete Nebenzimmer trat, hielt er die Hand vor die Augen; er wollte nicht, daß das traumhafte Bild in seiner Seele vor dem Lichte zerrinne. Aber schon hatte sich die Thür hinter ihm geöffnet, Bertha war ihm gefolgt.

»Mein Vater sendet Ihnen noch die besten Wünsche zu Ihrer Probepredigt, und auch ich schließe mich diesen herzlichst an!« So sprach sie mit der jugendlich melodischen Stimme und reichte ihm erröthend die Hand. Henoch wußte nicht, was er that, als er sie unwillkürlich an die Lippen zog.

Er hatte seiner Freundin versprochen, ihr über die Unterredung mit Reinach zu berichten; aber er stürmte in die Frühlingsnacht hinaus, hinab in die »Au«, wo der Flieder und der Hollunder dufteten, und weiter durch die einsamen Kastanienalleen, bis wo die Fulda ihre Wellen rollt. Hier endlich glätteten sich die Wogen seines Gemüthes, seine große Aufgabe trat vor seine Seele, er sann über den Spruch, über den er predigen wollte. »Und hätte ich tausend Engelszungen und hätte die Liebe nicht,« flüsterte er, – aber er besann sich, daß der Spruch des Apostels nicht passend sei, und wählte einen andern.

Und der entscheidende »große Sabbath« kam, der Tempel war in allen Räumen gefüllt. Als die Thorarollen in den Brokatmäntelchen der seligen Rebzen wieder »eingehoben« waren und vom Chor herab ein vielstimmiges Hallelujah erklungen war, trat der junge Prediger auf die links vom Tabernakel erhöhte Kanzel hinan. Eine lange schwarze Toga umhüllte die schlanke Gestalt, ein schwarzes Baret, wie das der griechischen Popen, krönte das noch schwärzere Lockenhaar, die innere Erregung hatte alles Blut aus seinem Gesichte gebannt, und als er die großen dunklen Augen innig und seelenvoll zum Himmel erhob, da glich er nicht mehr, wie einst, dem predigenden Jesusknaben, sondern dem verklärten Propheten, der seinen Jüngern die Bergpredigt verkündet.

Nach einem kurzen Gebet, das, mit leise vibrirender Stimme begonnen, immer inbrünstiger, wie auf Flügeln sich zum Himmel hob, sammelte sich der Prediger einen Augenblick, um auf seinen Text überzugehen. Er hatte die Worte Maleachi's gewählt:

»Haben wir nicht Alle einen Vater? Hat nicht ein Gott uns Alle geschaffen? Warum sollen wir Einer den Andern verfolgen und den Bund unserer Väter entweihen?« Von diesem Mittelpunkt ausgehend, beschrieb sein klarer Geist immer größere Kreise, die Familie, die sich einträchtlich um den gemeinsamen Vater, die Gemeinde, die sich um das gemeinsame Heiligthum, die Nationen, die sich um den gemeinsamen Herrscher, die Völker der Erde, die sich um den gemeinsamen Weltenlenker, die Erde selbst und die unendlichen Weltsysteme, die sich um den gemeinsamen Schöpfer harmonisch schaaren, getrennt und zusammengehalten durch die unergründliche Kraft seiner Liebe! Mit der Menschheit sei der Gottesbund geschlossen und seine heiligen, urewigen Rechte habe der Schöpfer all' seinen Erschaffenen verbürgt; wer lieblos den Andern verfolge, entweihe den Bund, auf den die Welt gegründet sei. Die Tage des Messias, die die Propheten verkünden, trügen als Wahrzeichen die Verheißung; dann werden alle Völker erkennen: Es gibt nur einen Gott und sein Name ist: der Einzige!

Und diesen Gedanken führte er aus, ohne Predigerton, ohne Komödiantenpathos, in Tönen des Herzens, die jedes Herz erschütterten und rührten, und wie er nun als Mittel zur Erreichung dieses höchsten Ziels die Milde, die Duldung, die Liebe pries, die Liebe im Menschenherzen als Fortpflanzung des göttlichen Schöpfungsgedankens, wie seine Worte zu Thränen, seine Thränen zu Flammen des heiligen Geistes wurden, da wob durch den ganzen Raum ein Hauch der Begeisterung, ein unnennbarer Liebesdrang schloß alle Herzen auf, ein jeder hätte den Andern gern, am liebsten den Redner, an das schwellende Herz gedrückt. Die Bänke des Saales glichen von dem stillen Beifallssummen und Nicken der Männer einem bewegten Erlengebüsch, die Logen der Frauenschule von dem Wehen der Schnupftücher einem bewimpelten Schiff. Ein bleiches, von Thränen genetztes Antlitz bog sich, von Freude verklärt, über die Galerie hinab und ein blühendes verbarg sein Erröthen in die Blätter des Gebetbuches.

Mit einem kurzen Segensspruch hatte er geendet. Ein hundertstimmiges Amen scholl vom Chor herab. Als der Gottesdienst geendet, umdrängte die ganze Gemeinde glückwünschend den Glücklichen. Auf der Stiege der Frauenschul' begegneten sich Bertha und Mine. Wie damals Mine, überwältigt von ihrem Glück, die schöne Bertha umarmt und geküßt hatte, so umschlang jetzt Bertha die Freundin und drückte einen glühenden Kuß auf Mine's bleiche Wangen.

Die eine Stunde hatte über Henoch's Zukunft entschieden. Einstimmig beantragte die Gemeinde seine Ernennung zum »Landrabbiner« in der Stadt, in welcher er vor Jahren »Tage« gegessen hatte.

Sein erster Gang war zu seiner Freundin. Sie empfing ihn, glücklicher noch als der Glückliche. Was er erstrebt hatte, er hatte es erreicht, nicht für sie, aber durch sie. Das genügte der edlen Seele!

Und nun begann ein rastloses, fröhliches Wirken. Der Organisation des Gottesdienstes wie des Schulunterrichts wurde gleiche Sorgfalt gewidmet. Die ganze Gemeinde stand begeistert und werkthätig dem neuen Seelsorger zur Seite; die Jüngeren entflammten seine erleuchteten Ideen. Den Älteren imponirten seine Talmudkenntnisse und die Rücksichten, die er selbst den rituellen Satzungen trug. Mit Joel Reinach konferirte er täglich, der Greis verjüngte sich förmlich im Verkehr mit dem Jugendlichen. Bertha nahm an Allem Theil; andächtig und entzückt hingen ihre schönen Augen an den Lippen des begeisterten Redners. Sie brauchte des Ritts im Freien nicht mehr; sie blühte frischer und glücklicher auf, wenn sie neben dem Vater und dem Freunde saß, der stillschweigend ein Glied der Familie, ja, das belebende Prinzip derselben geworden war. Und er selbst, wie ersehnte er diese Stunden des Wiedersehens! Lächelnd blickte der Greis auf diesen stillen Seelenbund, es erschien ihm wie ein Walten der Vorsehung, daß die ihm von Gott Geschenkte dem gottgeweihten Manne sich zuneige, dem Manne, den auch sein Herz mit väterlicher Liebe umschloß. Aber er zagte, mit vorschneller Hand die zarte Knospe dieser Neigung zu berühren, bevor sie sich allmälig entfaltet. Und doch bangte ihm vor dieser Entfaltung. Nicht als ob er sein einziges Kind zu gut für den Armen, Heimatlosen hielt; nein, wenn dieser nicht aus bescheidener Zurückhaltung schwieg, sondern aus Furcht vor der zarten, verwelklichen Blüte? Wenn dieser anderweitig gebunden wäre? Und hier tauchte vor dem geistigen Auge des Greises das Bild des Mädchens auf, die einst so rührend für ihren Schützling bei ihm gebeten hatte. Durfte er die Neigung des ahnungslosen Kindes bis zur Leidenschaft gedeihen lassen? Sollte er Henoch's stumme Lippen gewaltsam entsiegeln? Mit diesen Zweifeln quälte sich der edle Greis.

Und auch Bertha's klarer Seelenspiegel ward allmälig von zitternden Wellen getrübt. Ihr Herz pochte laut der Stunde entgegen, in der Henoch zu kommen pflegte; säumte er, so durchschwirrten ängstliche Gedanken ihren Sinn, ihre Wangen erbleichten, unruhig irrte sie hin und her; und erschien er, so strömte all' ihr Blut vom Herzen in die Schläfe, und sie eilte, ihr glühendes Gesicht im Dämmerlicht des väterlichen Zimmers zu verbergen. Dort lauschte sie seinen Worten, ruhig, befriedigt, die Erde hatte keinen Wunsch mehr für sie. Aber wenn er schied, welches Bangen! Ihre Seele, die sonst nur um ihren Vater gekreist, hatte ihren Rhythmus, ihr Gleichgewicht verloren! Sie fand nur den Namen noch nicht für diese »schwebende Pein«.

Aber noch stürmischer wogten die Empfindungen in Henoch's Herzen. Der erste Eindruck, den die blendende Amazone auf ihn gemacht hatte, war ein verblüffender gewesen; wie ein Blitz hatte ihn ihre Schönheit getroffen, fast verwundet. Als er sie in ihrem stillen häuslichen Wirken am Sorgenstuhl ihres Vaters wiederfand, da verklärte sich ihm ihre Erscheinung, wie ein Marmorbild im Mondlicht sich harmonisch beseelt! Und wie die zarte, durch ein Wunder erhaltene Blüte sich ihm zuneigte, wie ihr Duft ihn berauschte, ihm zur süßen Gewohnheit, zum Bedürfniß des Lebens ward, da erschrak er plötzlich vor dem traumhaften, ihm unerreichbar dünkenden Glück! Durfte er den Blick erheben, die Hand ausstrecken, es zu fassen? War es nicht Pflicht, seinem berückenden Glanz aus dem Wege zu gehen? Er versuchte es – vergebens! An der Schwelle des Hauses umkehrend, irrte er durch die Straßen, um schließlich doch wieder in ihren Lichtkreis einzuziehen; mühsam die Blicke von ihr abwendend und die ganze Seele in ernste Gespräche mit dem Vater versenkend, fühlte er doch, wie Blick und Seele an magischen Banden zu ihr zurückflogen. Oft drängte es ihn, sein ganzes Herz der einzigen Freundin Mine anzuvertrauen, aber gerade ihr gegenüber schloß er sein Geheimniß nur noch fester in sich.

So quälten und folterten sich drei edle Seelen, die dasselbe fühlten, dasselbe wollten, und suchten vergeblich nach dem erlösenden Wort! Wird es kein guter Genius auf ihre Lippen legen? O doch!

Es war ein Spätsommertag, Sommerfäden flogen durch die Luft, die Tage wurden merklich kürzer. Mine hatte ihr Theaterbillet, es war die einzige Zerstreuung, die sie sich gönnte. Sie wollte eben den Weg zum Schauspielhaus einschlagen, als ihr Henoch begegnete. Sie las die Aufregung seines Gemüths aus seinen Blicken.

»Ich wollte zu Ihnen, theure Freundin.«

»Kehren wir um,« sagte sie, »die Zeiten sind vorbei, wo mich das Theater fesselte; ich besuche es nur aus Gewohnheit. Kehren wir um und plaudern wir lieber!«

»Nein!« erwiederte Henoch, heftig mit sich kämpfend, »träumen wir uns lieber in jene Zeiten zurück! Erlauben Sie mir, daß ich Sie begleite wie ehedem!«

Sie gingen schweigend über den großen Platz, auf dem er ihr einst die Sternbilder erklärte, aber unvermerkt lenkte sie vom Schauspielhaus ab und bog in die schon einsame Straße ein, deren Häuser auf einer Seite der »Au« zugewandt sind, während auf der andern Seite schattige Gebüsche mit traulichen Wegen die Vermittlung zu jenem herrlichen Garten bilden. Es war einsam und still, nur die Vögel zwitscherten drunten im Gehölz ihr Abendlied. Mine ergriff seine Hand.

»Sie sprachen von ehedem,« sagte sie. »Damals vertrauten Sie mir all' Ihre Gedanken; warum sind Sie jetzt verschlossener gegen Ihre Freundin? Hat Ihr Glück Sie so geizig gemacht?«

»Mein Glück,« rief er aus, »das ich nur Ihnen verdanke!«

»Nein, ein anderes, höheres hat Ihnen die Vorsehung gewährt,« erwiederte sie, »und es fehlt Ihnen nur der Muth, es ganz zu erfassen. Sprechen Sie nicht,« fuhr sie lächelnd fort, »ich weiß es ja. Sie lieben Bertha und Bertha liebt Sie auch. Sie selbst hat es mir gesagt in jenem Kuß, den sie auf meine Wangen drückte, als Sie im Tempel alle Herzen gerührt und erhoben; ich ahnte damals schon dieß unverhoffte Glück und pries Gott, der es Ihnen vorbehalten. Und warum beängstigt es Sie?« fuhr sie fort, als Henoch, keines Wortes mächtig, ihre Hand an sein laut klopfendes Herz preßte, »zweifeln Sie an der Gesinnung des edelsten Vaters oder zweifeln Sie an Ihrem eigenen Werth? Oder zittern Sie vielleicht vor dem grausamen Schicksal, das Bertha's Schwestern getroffen? Nein, sie ist gekräftigt, gefeit durch die wunderbare Kraft der Liebe, und wäre sie Ihnen auch nur für eine Spanne Zeit geliehen, diese Spanne wäre eines ganzen Lebens werth!«

»Und das sagen Sie mir!« rief Henoch überwältigt aus und eine Thräne der Bewunderung trat in sein Auge.

»Muß ich nicht,« entgegnete sie lächelnd, »da Sie keine Mutter haben, die Ihnen sagen kann: sei muthig und getrost! Gott hat euch für einander geschaffen und wird zur rechten Zeit seinen Boten senden, der euch zusammenführt! Und nun leben Sie wohl!« schloß sie, sich rasch losreißend, um ihre eigene Bewegung zu verbergen, und eilte hinweg, dem Theater zu; doch an der Ecke der Straße blieb sie stehen. Sie spähte, ob Henoch ihr folge. Als sie bemerkte, wie er noch immer tiefbewegt in den Abendhimmel blickte, als erflehte er den von ihr verheißenen Boten, da leuchtete ein rascher Entschluß aus ihren feuchten grauen Augen und mit fliegenden Schritten eilte sie über den Platz zum Hause Joel Reinach's.

Nicht scheu und zitternd wie das erste Mal, als sie dort eingetreten, nein, freudig entschlossen begehrte sie Herrn Reinach zu sehen. Bertha begrüßte sie, unruhig und besorgt um den säumigen Freund. Mine beruhigte sie lächelnd:

»Sie werden ihn heute noch sehen,« sagte sie, und während das schöne Kind des Ersehnten harrte, trat sie in das Zimmer des Greises, der sie freundlich willkommen hieß.

»Was bringen Sie mir Gutes?« fragte er wieder und lud sie zum Sitzen ein. Aber sie stand vor dem Greis, aufgerichtet wie eine Gottgesandte.

»Das Beste auf Erden,« rief sie aus, »das Glück Ihres Kindes! Bertha liebt und ist geliebt!« Reinach erschrak vor dem heftigen Eingriff in das Heiligthum seiner Familie und trat einen Schritt zurück, aber sie faßte seine Hand und hielt sie in ihren gefalteten Händen. »O zürnen Sie mir nicht,« rief sie aus, »ich weiß, was ich wage, aber es gilt das Glück Derer, die uns am theuersten sind! Sehen Sie doch selbst, wie diese beiden liebenden Seelen sich in der Qual der Ungewißheit verzehren! Sehen Sie doch, wie Ihre Tochter in diesem neuen Lebenselement sich blühend entfaltet! Wo könnten Sie sie geborgener wissen, als an dem Herzen dieses edelsten Mannes! An dieser Stelle gewährten Sie mir einst, was er nie zu hoffen wagte; o gewähren Sie mir heute das, was er selbst zu begehren nicht wagen darf! Sprechen Sie selbst das erlösende Wort! Kann der großmüthigste der Menschen mit einer Stunde geizen, die unsere Geliebten und uns selbst beglückt?!«

Thränen glänzten in ihren Augen. Thränen rollten über die Wangen des Greises. Er legte seine Hand wie zum Segen auf ihr Haupt:

»Nennen Sie mich nicht großmüthig!« flüsterte er, »Sie haben mich beschämt und gedemüthigt,« und er zog ihr Haupt an seine Brust und drückte einen Kuß auf ihre Stirn. Wie von einem himmlischen Weihekuß berührt, erzitterte Mine, die Schönheit ihrer Seele verklärte ihr bleiches Gesicht.

Leise hatte sich die Thür geöffnet, Bertha und Henoch betrachteten staunend die Gruppe. Reinach blickte auf.

»Meine Kinder!« rief er und streckte Beiden die Arme entgegen. Bertha flog auf ihn zu und verbarg das erglühende Gesicht am Herzen des Vaters. Henoch stand wie erstarrt vor seinem Glück. Der Greis winkte ihm und ergriff seine Hand und Bertha's, aber er besann sich plötzlich und indem er Mine heranzog, sprach er liebevoll lächelnd:

»Nur aus dieser Hand dürfen Sie sie empfangen!«

Und als nun Henoch glückestrunken den Greis und die Freundin und dann erst die Geliebte umschlang, da klang kein Wort von Menschenlippen durch die heilige Stille des Dämmerstübchens, aber der Geist der ewigen Liebe wob durch den irdischen Raum seine himmlischen Harmonieen.

Im Herbste ward die Hochzeit gefeiert. In Joel Reinach's Zimmer traute ein geistesverwandter Freund Henoch's das glückselige Paar. Mine war die einzige Zeugin. Herr Reinach hatte ihr einen kostbaren Seidenstoff zum Festkleid gesandt. Als die Feier beendet war und das junge Paar sich in das neue Haus begab, das die Gemeinde ihm neben dem Tempel erbaut hatte, begleitete Mine sie bis zur Schwelle und umarmte sie mit mütterlichem Segen. Dann kehrte sie in ihr Stübchen ein, zertrennte das neue Seidenkleid, heftete die Blätter zu einer Decke über die Predigerkanzel zusammen und umsäumte sie mit den brabanter Spitzen, die ihr Joel Reinach zurückgesandt hatte – für ihr Brautkleid!

Die schöne Bertha verbarg auf Wunsch ihres Gatten ihre reichen Locken vorschriftsmäßig unter ein weißes Häubchen, das wie ein Heiligenschein ihr Gesicht umrahmte. Das Glück hatte sie verklärt, aber verklärter noch sah Mine auf das geliebte Paar, zu dem sie fortan unzertrennlich gehörte. Drei liebliche Kinder legten sie auf die Kniee des Großvaters; Hiob sah neues Leben aus den Ruinen blühen. Ruhig schloß er die müden Augen, er wußte seine Bertha im Schutz eines edlen Gatten, einer liebevollen Mutter!

So wäre Alles schön und glücklich gewesen, hätte nicht die Feindin des Schönen und Glücklichen, die giftige Cholera, zu jener Zeit ihren Verwüstungszug durch Deutschland gelenkt. Grimmig wüthete sie in der Gemeinde, rastlos stand der edle Seelsorger den Kranken und den Sterbenden zur Seite. Aber das »Loos« des Schönen auf der Erde fiel auch ihm, das tödliche Gift war in seine Adern geschlichen. Ein kurzes, schmerzliches Ringen und die leuchtenden Sterne seiner Augen versanken am Horizont unserer Erde, seine geflügelte Seele flog dem Urquell der Liebe zu. Mine stand an seinem Lager in stummer Verzweiflung neben Bertha, die ihr Haupt an dem erstarrten Herzen des Gatten barg. Sie hatte nur ein Gebet: sie flehte den Todesengel an, auch sie zu küssen; aber dieser zog der verwelkten Blume die blühende vor und küßte Bertha's jugendschwellende Lippen. An einem Tag wurden Henoch und Bertha bestattet.

Als Mine davontragen sah, was sie auf Erden geliebt hatte, da fragte ihr gebrochener Blick die ewige Vorsehung: »Was soll ich noch hier?« Da tönten die Stimmen der Kinder an ihr Ohr, die harmlos im Nebenzimmer spielten und kicherten. Sie hat die Antwort der Vorsehung verstanden. Sie ward die Mutter der Waisen, die unter ihrer Sorgfalt blühend heranwuchsen; der Älteste hatte seines Vaters dunkle Locken und dessen großes tiefes Auge, das Jüngste, kaum zweijährige, glich an Engelsschönheit seiner Mutter. In der Sorge für die geliebten Kleinen fand Mine ihre Jugend wieder. Sie spielte mit ihnen, sie erzählte ihnen Märchen, sie sang ihnen »An Alexis« und »In Myrtill's zerfall'ner Hütte«! Und wenn die Kinder in der Orangerie Blüten sammelten und Mine's Augen über die weite Grasfläche des »Bullengrün« dahinschweiften, dann grüßte sie im Geist die geliebten Verklärten, die dankbar segnend auf die Hüterin ihrer Kinder herablächelten!

Als diese heranwuchsen, erzog sie Mine im Geiste des Vaters, im Kultus der heiligen Erinnerung an die Verklärten. Sie sah, eine Greisin, die geliebten Drei versorgt und als sie die Augen schloß, umgaben sie drei weinende Kinder.

Man wollte sie neben ihren Eltern, dem alten Raaf und Frau Süß, begraben; aber es war kein Raum für sie da; die Todten drängen sich wie die Lebenden. Da fand sich zufällig ein Plätzchen just neben Henoch und Bertha. Dort ruht Raaf's Mine!


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