Salomon Hermann Mosenthal
Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben
Salomon Hermann Mosenthal

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Raaf's Mine

Im Mai, wenn in der Orangerie in der »Au« die Orangen- und Citronenbäume auf der Terrasse im Freien stehen und Hunderte von Kindern die abgefallenen weißen Blütenblättchen und die verfrühten grünen Miniaturfrüchtchen, die der Wind abgeschüttelt hat, vom Boden und von dem Erdreich der grünen hölzernen Kübel auflesen und in ihren Schnupftüchern zu einem Knoten binden, sieht man wohl täglich eine Gruppe durch das Author über die »Mergelbahn« hinabwandern, so anmuthend, als wäre sie aus Richter's Bildern zu den »Kinderliedern« lebendig geworden. Eine schlanke, etwas gebückte Frauengestalt in grauem Kleid, einen altmodischen weißen Shawl mit kleinen Palmen über den Schultern, auf dem Kopf ein enges schwarzes Strohhütchen, wie man sie damals trug, das die lange Nase aus dem bleichen Gesicht noch mehr hervortreten ließ, und aus dem zwei dünne, graue Schmachtlocken hervorquollen, die an den eingefallenen Wangen herabflossen, führt an beiden Händen drei Kinder von vier bis acht Jahren, schwarze Lockenköpfchen mit dunklen Augen wie die Engelsköpfchen zu Füßen der Sixtinischen Madonna. Alle drei wollen geführt sein und streiten sich neckisch und liebreich um dieses Vorrecht. Dem kleinsten, dem Mädchen, gehört die Rechte in dem schwarzen Filethandschuh allein, in die Linke müssen sich die beiden anderen theilen. Aber wenn nun alle drei auf einen Augenblick ihr Plätzchen im Stiche lassen, weil ein verspätetes Veilchen am Rasensaum der Mergelbahn oder eine tief herabhängende Kastanienblüte sie abgelockt hat, dann gibt es von Neuem einen Wettkampf um die liebe Hand, ein Tummeln und Lachen, ein Haschen nach dem Kleid und dem Shawl der Führerin, bis diese mit Schelten und Lächeln, mit geheucheltem Zorn und verstohlenen Küssen den Frieden wiederherstellt. Der Älteste gibt dann nach im Bewußtsein seiner Würde, er weiß zu gut, daß er ja doch das Herzblättchen ist! So wandern sie hinab bis zur Orangerie, wo sie, losgelassen, auf die Blütenjagd ausstürmen. Wer ein besonders großes Blütenblättchen gefunden hat, der trägt es im Triumph zu der Begleiterin hin, die sich an der steinernen Balustrade neben den nasenlosen marmornen Amoretten auf eine Bank niedergelassen hat und die Blicke über den »Bullengrün« ( bowlinggreen), den großen, mit Marmorstatuen umsäumten Rasenplatz, schweifen läßt. Sie scheint zu träumen, die schmalen Lippen des zahnlosen Mundes bewegen sich still, die grauen Augen grüßen freundlich unsichtbare Gestalten. Da weckt ein Ruf der Kinder sie auf, sie wendet den Blick voll Mutterseligkeit der Wirklichkeit zu! Die Kinder kommen, satt des Suchens, und schütten ihr Blüten und Früchtlein in den Schooß, die sie sogleich in die Ecken des Schnupftuchs bindet. Sie huschen auf die Bank und drängen und drücken sich so dicht als möglich an sie heran und liebkosen sie und schlingen die Ärmchen um ihren Arm.

»Erzählen!« ruft das Eine, »ein Märchen, eine Geschichte!«

»Ein Gedicht!« ruft der Älteste, »vom ›braven Mann‹, vom ›Hannchen‹, die der Mutter Freude, die der Stolz des ganzen Dorfes war!«

»Nein, ein Lied!« ruft die Kleine. »Ein Lied! ›In Myrtill's zerfallner Hütte‹,« und wie ein Kanarienvögelein beginnt sie die Melodie, und die Führerin stimmt ein und die Anderen begleiten.

Wer vorübergeht, lächelt wohl. Der Gardelieutenant, dessen Pferd am Bullengrün wartet, lächelt ironisch über die »alte Jüdin«, der Lehrer, der mit seinen Zöglingen durch die Orangerie in die Collet'sche Schwimmschule geht, lächelt wohlgefällig der Gruppe zu. Wer ist die Frau mit den Kindern? Eine Gouvernante? Das sind nicht Blicke und Küsse, die man bezahlt. Eine Mutter? Sie ist zu alt. Ein Großmütterchen? Sie ist zu jüngferlich. Wer ist sie denn? Es ist eben – Raaf's Mine.

In der Gemeinde kennt man sie nur unter diesem Namen; ein vierzigjähriger Gebrauch hat ihn geheiligt. Eigentlich hieß sie Minkel, was auf Hochdeutsch in Mina, in der populären Sprache unserer Stadt in Mine übersetzt wird, und war die Tochter des alten Raaf's (Rabbiners). Als Raaf's Mine ist sie dreien Generationen bekannt. Soll ich euch ihre Geschichten erzählen? Es ist die alte, einfache Geschichte eines »einschichtigen Herzens«.

Der »alte Raaf« hat immer so geheißen, als ob er nie jung gewesen wäre. Er trug einen langen weißen Bart und einen dreieckigen Hut. Er ging nie aus dem Hause, außer zu seinen Funktionen bei Begräbnissen; die Trauungen vollzog er in »Benary's Schul'«, die über dem Hof in seinem Hause gelegen war. Die alte Synagoge nämlich war wegen ihrer Baufälligkeit geschlossen worden, und man hatte Betstuben errichtet, in denen die verschiedenen Fraktionen der Gemeinde je nach ihren rituellen Schattirungen ihren Gottesdienst hielten. Die Orthodoxesten fanden sich in »Benary's Schul'«, einem in einem dunklen Hof gelegenen, von langjährigem Öllampendunst geschwärzten Saal, der von seinem Stifter den Namen trug. Hier wurden die Gebete in der Ursprache und in jenem fugirten Recitativ gemurmelt und geschrieen, das den gemeingültigen Namen einer »Judenschule« geschaffen hat. Hier wartete unbeirrt der Schammes der Gemeinde (Tempelordner) Jecheskel Flesch, der Schwager des alten Raaf, und verstand es, bei den Gebeten am lautesten zu stöhnen, wie ein Metronom mit dem Oberkörper zu schaukeln, um schriftgemäß mit allen Gebeinen den Herrn zu preisen, und bei dem Sündenbekenntniß mit den Fäusten so gewaltig auf die alte dürre Brust zu schlagen, daß sie wie eine Sturmglocke dröhnte. In diesem Konventikel hielt der alte Raaf jeden Sabbath eine kurze Drosche (Rede) in hebräischer Sprache, einen Bibelvers oder eine Talmudsatzung scharfsinnig auslegend. Zu Hause paskente (entschied) er zweifelgequälten Hausfrauen, ob ein Huhn rein oder unrein, ein Topf brauchbar oder verwerflich sei. Auf diese Funktionen beschränkte sich seine Amtsthätigkeit. Um die Glaubens- und Reformfragen, die langsam die Gemeinde zu zersplittern begannen, kümmerte sich der alte Gelehrte nicht. Er wollte den Frieden erhalten, indem er jeden thun und lassen ließ, was er wollte, und wenn sein Schwager, Jecheskel Flesch, der seine rastlosen Finger durch Drehen und Kneten eines Wachskügelchens und sein rastloses Gemüth durch Aufspürung aller Gesetzesübertreter beschäftigte, mit einer neuen Denunziation herbeigeschlichen kam, so rückte der alte Raaf das schwarze Sammetkäppchen auf seinem kahlen Scheitel mißmuthig zur Seite und rief:

»Red' nichts, Jecheskel, ich will nichts wissen!«

»Worum nit (Warum nicht)?« entgegnete der Wachsdreher mit seiner stereotypen Redensart, »Du wirst's noch so weit bringen, daß die ganze Gemeinde trefe (unrein) wird!«

Und brummend verließ der Verfolger den friedfertigen Greis.

Aber ein anderer Dämon verließ den Friedfertigen nicht; er rumorte unablässig im Innern seines eigenen Hauses. Die Rebzen (Frau des Raaf's) war eine ihres Sokrates würdige Gattin! Obwohl sie den lieblichen Namen »Süß« führte, war sie nicht minder bitter in ihrer äußern Erscheinung als in ihrer Gemüthsart. Habsüchtig und geizig, zanksüchtig und boshaft, mit den grauen Geieraugen jeden Fehltritt in der Gemeinde erspähend, mit den dürren Geierkrallen jedes Opfer zerreißend, so überfiel sie wie eine Harpye den armen Raaf, wenn er die Nahrung seines Geistes aus alten Folianten und Bibelkommentaren sog, in denen zu lernen und aus denen zu lehren seine einzige Erquickung war. Zöglinge des jüdischen Lehrerseminars versammelten sich allabendlich um den gelehrten Meister, der ihnen mit Geist und Witz die dunklen Stellen der Bibel auszulegen, die verwickelten Probleme des Talmud durch spitzfindige Dialektik in Kreuz- und Querfragen zu lösen verstand, und jedes kluge Verständniß seiner Jünger mit einem wohlgefälligen »Zwick« in die Backe belohnte. Aber wenn nun die junge Schaar mit offenem Mund und klugen Augen den Worten des gelehrten Meisters andächtig lauschte, dann polterte und klapperte Frau Süß herein und alle guten Geister des Talmuds flohen wie auf einer Himmelsleiter vor dem Dämon davon.

»Süßleb, was ist da mehr?« fragte der Rabbi. Dann schüttete sie ihr Herz aus wie einen Kübel, schob den Seminaristen keifend ihr Abendbrod zu, das sie vorsichtig mit ranzigem Gänseschmalz bestrichen hatte, schimpfte über die theure Zeit, über die knauserige Gemeinde, die vor lauter neumodischer Streichmacherei für die Rebzen nichts mehr übrig habe, tobte über beleidigende Reden, die man über sie geführt, und ward nicht müde bis zum Schluß, bis eine helle Stimme von draußen »Mutter! Mutter!« rief. Dann verzog sie sich wie ein Gewitter, das immer ferner und ferner grollt, und blauer Himmel lächelte allmälig wieder über dem alten Raaf und seinen Schülern, und die Engel des Talmuds stiegen vorsichtig wieder zu ihnen herab.

Die helle Stimme aber war die der Tochter Mine, die wie eine liebliche Blume neben der mütterlichen Distel stand. Sie mochte das fünfundzwanzigste Jahr wohl überschritten haben, aber sie glich einer kaum Zwanzigjährigen. Auf der schlanken, vornehmen Gestalt hob sich ein schmaler Kopf, von zwei langen schwarzen Locken auf beiden Seiten eingefaßt, welche die matte Gesichtsfarbe wie Perlmutter leuchten machten. Die grauen Augen hatten nicht den stechenden Blick der Mutter geerbt, sie waren von einer weichen Melancholie, von einer milden Resignation wie umschleiert. Die schmalen Lippen blieben gern geschlossen, weil die Zähne an häufigen Krankheiten litten. Deßhalb suchte Mine beim Sprechen sie möglichst zu verbergen, und wer sie nicht besser kannte, hätte sie für »affektirt« gehalten. Namentlich ihr Onkel Jecheskel Flesch konnte ihre Sprechweise nicht vertragen.

»Mach' keine Schnütchen, Minkel,« sagte er, »thu' mir den Gefallen und red' nit hochdeutsch!«

»Soll ich jüdisch reden?« fragte sie.

»Worum nit?« brummte jener und drehte heftiger sein Wachskügelchen zwischen den Fingern.

Aber Mine sprach nicht nur hochdeutsch, sie sang auch zur Guitarre, die sie an einem blauen Band um die Schulter schlang. Sie sang: »An Alexis send' ich Dich«, »In Myrtill's zerfallner Hütte«, und wenn sie besonders bei Koloratur war, sogar Tancred's: »Nach so vielen Leiden«. Das klang dann auch durch die Thür hinüber zu den Schülern des alten Raaf's, aber sie fürchteten diese Töne nicht, denn die Talmudengel flogen vor ihnen nicht davon; sie wurden höchstens ein bischen zerstreut vom Lauschen. Wenn Mine in's Zimmer trat, war es, als ob die Lichter heller brannten, sie hatte für jeden ein gutes Wort, steckte ihnen in die Taschen der Röcke, die im Hausflur hingen, heimlich Äpfel und Nüsse, an Purim sogar einen Boles (Krapfen), den sie vom Teig des mütterlichen Butterkuchens verstohlen abgezwackt hatte. Der alte Raaf hörte sie gerne singen; manchmal, wenn seine himmlische Geduld durch ein Konzert der Frau Süß bis auf den Grund erschöpft war, sagte er, mit dem Zeige- und Mittelfinger die Wange seiner Tochter zwickend: »Minkel, sing' mir: ›Nach so vielen Leiden!‹«

Unter den Seminaristen befand sich Einer, den sie den »schönen Henoch« nannten. Eine elternlose Waise, war er aus der Provinz in die Residenz gekommen, um zu »lernen«, und aß bei den wohlthätigen Familien der Gemeinde »tagweise« sein Mittagsbrod. Von schlanker, zarter Gestalt, war er auffallend durch den Glanz seiner dunklen Augen, seiner fast blauschwarzen Lockenfülle. Aus dem schöngeformten Mund leuchteten perlengleiche Zähne; ein keimender Bart hauchte über die Oberlippe und über die Wangen des siebenzehnjährigen Jünglings einen bläulichen Anflug wie der Thau einer frischen Pflaume. Wenn er, begeistert von einem Thema, das der alte Raaf seinen Schülern stellte, zu reden begann und mit gesteigerter Ekstase die Arme und die dunklen, schwärmerischen Augen erhob, so glich er dem Knaben Jesus, der im Tempel predigt, wie er auf dem Bilde des italienischen Meisters in der Galerie unserer Stadt zu sehen war.

Henoch war der Liebling des alten Raaf, selbst Frau Süß konnte ihm weniger als allen Anderen grollen. »Geh', Du Taschkasch!« sagte sie, indem sie ihm auf die Schultern klopfte, wenn er schmeichlerisch etwas bei der »verehrten Frau Rebzen« durchgesetzt hatte.

Aber am meisten begünstigte ihn »Fräulein Mina«. Er durfte ihr Noten und Guitarresaiten holen, Romane aus der Meßner'schen Leihbibliothek austauschen, die er über Nacht behielt und durchflog, er durfte sie sogar aus dem Theater abholen, wo sie ein Achtelabonnement in einer Loge des zweiten Ranges besaß. Begleitete er sie dann über den großen Platz nach Hause, so erzählte sie ihm »das Stück« und vergoß noch nachträglich Thränen der Rührung über Romeo's Mißgeschick und Jaromir's großen Monolog. Ja, wenn es gar zu schön war, so steckte Mine bei der nächsten Wiederholung dem schönen Henoch heimlich vier Groschen zu, damit er es vom Paradies aus selbst genießen könne! Aber darauf beschränkte sich ihr gutes Herz nicht. Sie sammelte Wäsche und Kleider, die die Söhne reicherer Familien abgelegt hatten, und vertheilte sie möglichst redlich unter die Seminarschüler. Zufällig paßten die schönsten stets dem »schönen Henoch«.

An einem milden Winterabend hatte er Mine wieder aus dem Theater abgeholt. Am dunkelblauen Nachthimmel strahlten die Gestirne mit seltenem Glanz, der große Platz war wie mit einem goldgestickten Zelt überspannt. Mine blieb mitten auf dem Platz an der Bildsäule des Landgrafen stehen, Henoch mußte ihr die Sternbilder nennen und erklären.

»Was Sie doch Alles wissen, lieber Henoch!« sagte sie.

Henoch seufzte.

»Ach, Fräulein Mine,« sagte er, »wüßten Sie, wie es mich betrübt, daß ich gar nichts weiß! Was nützt es, daß ich Nächte lang die Lehrbücher des Gymnasiums ohne System und Anleitung durchstudire! Mein Herz verschmachtet vor Wissensdurst und die Quelle der Labung wird dem Armen, Verwaisten ewig verschlossen bleiben! Die Söhne der Reichen nur können auf Hochschulen, von erleuchteten Männern geleitet, durch das Labyrinth der Zweifel den Weg zur Wahrheit finden! Eine Welt des Wissens, der Erkenntniß steht ihnen offen, die wir Armen nur von Weitem sehen wie Moses das gelobte Land.«

»Aber Sie wollen ja doch Rabbiner werden?« entgegnete Mine, betroffen von seiner schmerzlichen Heftigkeit, »und das lernen Sie ja bei uns!«

Henoch blieb von Neuem stehen.

»Gott verhüte,« sagte er, »daß ich verkenne, was ich Ihrem gütigen und gelehrten Vater verdanke! Er ist ein großer Schriftgelehrter, wie unsere Zeit kaum einen zweiten hat. Aber braucht unsere Zeit noch diesen Kultus des todten Buchstabens? Nein! Sie ist mit Riesenschritten über die Ameisenhaufen des talmudischen Pygmäenkrams hinweggeschritten, in denen unsere Gedanken zu wühlen verdammt sind. Ein neuer heiliger Geist flammt in jenen Gemeinden auf, die den erhabenen Gedanken des Judenthums aus seinen verwitterten Formen auferstehen lassen. Prediger des reinsten Gottesglaubens, ausgerüstet mit der Kenntniß der Völkergeschichte, vertraut mit allen Fortschritten menschlicher Denkkraft, predigen in deutscher, Allen verständlicher Sprache die geläuterten Lehren unseres Glaubens, des Urquells aller Gotteserkenntniß! In Hamburg, in Berlin, in Breslau –«

»Um Gottes willen!« unterbrach ihn Mine, seinen Arm erschreckt loslassend, »das sind die reformirten Tempel, die von den gläubigen Juden mit dem Bann belegt sind! Henoch, wo denken Sie hin!«

Henoch lächelte.

»Das sind die Kühnsten,« sagte er, »sie haben sich vielleicht zu weit gewagt! Aber blicken Sie nach Frankfurt,« fuhr er fort, ihren Arm fassend, »dort, in jener orthodoxen Gemeinde wirkt ein Seelsorger, der talmudische Bildung mit humanistischer vereint, und alle Fraktionen der Gemeinde verehren und bewundern ihn. – Sie wissen vielleicht nicht, liebes Fräulein Mine, daß die Universität Würzburg zugleich eine Jeschive (Talmudschule) besitzt, und daß Die, welche dort studiren, das Glück genießen, nach allen Richtungen hin ihren Geist zu bilden. O wie tausendmal fliegen meine Gedanken sehnsuchtsvoll dorthin! Und dann bauen sie Luftschlösser, einen neuen herrlichen Tempel in dieser geliebten Stadt, in dem sich die Zerstreuten dieser Gemeinde um den Prediger des reinen Gottesworts andächtig schaaren! – Doch, was ermüde ich Sie, liebes Fräulein, mit solchen Phantasieen! Nützt es dem Wurm im Staub, wenn er den Vogel im Äther beneidet!«

Er schwieg; Mine war tief bewegt. Sie hatte das »Stück« vergessen. Henoch's Phantasieen allein beschäftigten ihre Gedanken. Aber was konnte sie thun, dem Strebenden Flügel zu leihen? Am Hausthor drückte sie ihm innig die Hand.

»Nicht wahr, Sie sagen keinem Menschen etwas von den thörichten Wünschen, die ich Ihnen anvertraut?« sagte er.

»Sie sind nicht thöricht,« erwiederte sie, »und ich danke Ihnen, daß Sie mir sie anvertraut haben!«

Die ganze Nacht mußte Mine an diese thörichten Wünsche denken. Das Bild des schönen Jünglings, der so sehnsüchtig nach seinen Idealen die Arme ausstreckte, verfolgte sie bis in den Traum. Sie sah ihn als Landrabbiner der Gemeinde in einem neuen phantastischen Tempel predigen, und aus der ersten Loge der Frauenschul' herab grüßte ihn stolz und glücklich ein Frauenantlitz; sie erschrak vor demselben so, daß sie erwachte. Aber der Gedanke schlief nicht mehr in ihrem Herzen ein. Ist's denn auch möglich, dachte sie, daß ein Mann mit solchen Ideen in einer jüdischen Gemeinde, wie die unsrige – – Einige Tage später kam der Onkel, Jecheskel Flesch, aus dem Zimmer des Raaf's, dem er eine neue Denunziation hinterbracht hatte. Frau Süß polterte in der Küche herum und warf einen mißgünstigen Blick auf ihn, als Mine dem Onkel ein »Schnäpschen« anbot.

»Worum nit ?« antwortete dieser und trat in die Stube.

»Onkel,« sagte Mine nach einigen gleichgültigen Gesprächsphrasen, »ist's wahr, daß sie in Frankfurt so einen merkwürdigen Raaf haben?«

Der Alte stieß das Gläschen auf den Tisch und begann mit den Fingern heftig zu drehen.

»Merkwürdig?« rief er aus. »Merkwürdig genug, daß so eine alte Kille, wie Frankfurt, die neumodischen Schmus (Reden) mit anhört. So ein hergelaufen Jüngel, das hochdeutsch darschent (predigt)! Charbe und Busche (Schmach und Schande) für eine jüdische Kille! Sie sollen ihn nur behalten, worum nit? Aber das sag' ich Dir, Gott soll Dein' Vater noch hundert Jahr leben lassen, aber so lange ich Schammes bin, kommt mir kein Hochdeutscher da herein! Es sennen (sind) schon Solche, die so einen Neumodischen möchten. Unser größter Auscher (Reicher) Joel Reinach wär' Posche Jisroel (Sünder) genug dazu! Dafür hat ihn Gott, gelobt sei er! auch genug gestraft und von seinen sieben Kindern sind vier hinweg gestorben. Worum nit?« Er hatte bei diesen gottgefälligen Worten sein Wachskügelchen wüthend zu einem Faden gedreht und polterte ohne Abschiedsgruß zur Thür hinaus.

Mine hatte entsetzt die Worte gehört, die in dem Unglück des hochgeachteten Mannes, Joel Reinach, ein Gottesgericht für dessen geläuterte Überzeugung verkündeten. »Das sind die Frommen!« rief sie schaudernd aus, und nun begriff sie erst recht die schmerzliche Sehnsucht ihres jungen Freundes. Aber aus dem Gewitter des Fanatikers war ein Hoffnungsstrahl in ihre Seele gefallen. Joel Reinach, der angesehenste, reichste Mann der Gemeinde, er theilte, wie sie eben gehört, Henoch's Gesinnung, er könnte vielleicht – doch, thörichter Gedanke! Er war ja unnahbar für sie, wie für Alle!

Joel Reinach war der Chef des Hauses »Gebrüder Reinach«, die in ihrem großen steinernen Haus in der Entengasse ein Seidenwaarengeschäft besaßen. Das Geschäft besorgten seine Brüder und Neffen; er selbst, von Krankheit und Unglück gebeugt, verließ seit Jahren nicht mehr sein Gemach. Über das Geschäft auch war eine eigenthümliche melancholisch-feierliche Atmosphäre verbreitet. Die Seidenstoffe lagen in geschlossenen Mahagonischränken, selbst das Schaufenster zeigte nichts als die goldenen Buchstaben der Firma auf der riesigen Glastafel. Trat man ein, so wurde man von den Söhnen des Hauses und ihren Affiliirten ceremoniell wie in einer fürstlichen Anticamera empfangen. Kein lautes Wort wurde gewechselt, die Preise der Waaren waren so heilig wie religiöse Dogmen. Man verkehrte dort wie in einem Wohlthätigkeitsbazar, in welchem hohe Herrschaften als Verkäufer fungiren. Allein durch die Vortrefflichkeit der Waaren und die nie anzuzweifelnde Preiswürdigkeit derselben war das Reinach'sche Geschäft das erste und vornehmste der Residenz.

Joel Reinach hatte keine Söhne, aber sieben Töchter, die, früh mutterlos, in regelmäßiger Reihenfolge zu wunderschönen Jungfrauen heranblühten. Doch schien ein grausames Geschick diese seltenen Mädchenblüten der Erde zu mißgönnen. Sobald eine der Reinach'schen Töchter das achtzehnte Jahr erreicht hatte, bleichten ihre rosigen Wangen, die üppige Gestalt verwelkte, der Wurm im Kelche nagte still und beharrlich, bis die Blume entblättert zerfiel. Vier der Töchter waren bereits in's frühe Grab gesunken, betrauert von Allen, die sie kannten oder auch nur von fern ihre ideale Schönheit bewundert hatten! Von den drei letzten hatte noch Keine das verhängnisvolle achtzehnte Jahr erreicht.

Im Herzen des Vaters wühlte ein Schmerz, wie ihn Job, der Dulder, nicht grausamer empfinden konnte. Doch er trug ihn mit Heldenmuth! Ja mit jedem neuen Schlag dämpfte sich der Aufschrei seiner im Tiefsten getroffenen Seele und wurde nach und nach zum Verstummen in gottergebener Resignation. Angebunden an sein Marterkreuz erwartete er die neuen Pfeile des Todesengels, den thränenlosen Blick in's Unerforschliche versenkt, ohne Vorwurf, ohne Klage. Der kaum Sechzigjährige glich einem gebrochenen Greis; die hohe Gestalt gebückt, das wachsbleiche Gesicht von dünnen weißen Haaren eingerahmt, die halberloschenen Augen von einem grünen Schirm verdeckt, so saß er in seinem von grünen Vorhängen verhängten Zimmer, der Außenwelt fast unnahbar, und spann sich in die Fäden seiner Gedanken wie eine Puppe ein.

Doch in der verschlossenen Chrysalide pulste ein wunderbar schönes Leben fort. Allabendlich lasen die Mädchen abwechselnd dem Vater vor oder spielten im Nebenzimmer Klavier und Harmonium oder sangen ihm Lieder und mehrstimmige Gesänge mit ihren klaren Seraphsstimmen. Nichts blieb ihm fremd, was die Kunst geschaffen, was die Wissenschaft fortschreitend errang. Auch über die sozialen Verhältnisse im Großen und Kleinen ließ er sich fortwährend unterrichten; er kannte die ganze Gemeinde; allwissend und allgütig zugleich, ließ er aus seinem reichen Schooß unsichtbar über alle Dürftigen und Bedrängten seine Wohlthaten ausströmen.

Das war der Mann, über den Jecheskel Flesch das göttliche Strafgericht ergehen ließ, weil er ihn für den Ersten hielt, der der Gemeinde einen erleuchteten Seelsorger gönnen würde!

Mine blickte zu diesem einzigen Helfer für ihren Schützling empor wie zu dem Allerheiligsten, das man von ferne verehren, doch niemals betreten darf. Sie hatte ihn nie gesehen, sie malte sich sein Bild mit banger Scheu; aber es dauerte nicht lange, daß sie ihn sehen und kennen lernen sollte!

Frau Süß hatte nämlich wieder einmal mit dem Dienstmädchen gegeifert, daß die Treppe nicht gehörig gescheuert sei, und ihr gewaltsam den Besen aus der Hand gerissen. Mit diesem würdigen Attribut hatte sie selbst zu hantiren begonnen, war über den Besenstiel gestolpert und über die steinerne Wendeltreppe klappernd hinabgestürzt. Auf ihren Schrei eilten die Hausbewohner zusammen, der alte Raaf ließ seine Folianten im Stich.

»Süßleb!« rief er mit tragikomischem Doppelsinn, »fall' nur nicht in Zwei (entzwei)!« Aber sie blieb ihm zum ersten Mal die Antwort schuldig; das Schweigen des Todes hatte ihre Zunge gefesselt.

Mine war, mit der Guitarre um die Schulter, herbeigestürzt und ohnmächtig zusammengebrochen. Die Seminaristen trugen zwei erstarrte Körper in die Wohnung zurück.

Aus Rücksicht für den verehrten Greis hatte die ganze Gemeinde sich zum Leichenbegängniß der Rebzen eingefunden. Jecheskel Flesch bejammerte in zerrissenen Kleidern die Schwester, die er nie ausstehen konnte; der geduldige alte Raaf betrauerte still und aufrichtig die ihm zur Gewohnheit gewordene qualvolle Lebensgefährtin. Die endlosen Trauerbesuche ließ er Mine empfangen, obwohl sie nervöse Kopfschmerzen hatte und die Stirn mit einem Tuch umbunden trug; bis auf einen! Am Tage nach dem Begräbniß nämlich ließ sich Joel Reinach in einer Sänfte hinauftragen, um den würdigen Lehrer der Gemeinde menachem owel zu sein (zu kondoliren). Es war ein Ereigniß für die ganze Stadt. Mine zitterte, als Joel Reinach sie zu sehen begehrte, und nahm das Tuch von der Stirn, als er in's Zimmer trat, wo sie auf einer niedern Schwelle Schiwe saß (die siebentägige Trauer). Aber als er zu ihr trat und die bleiche, magere Hand auf ihre Stirn legte, da fühlte sie nicht nur wie von magnetischer Kraft ihren Kopfschmerz gebannt, sondern ein Gedanke zuckte in ihr wie ein Funke auf und ergoß sich mit milder Wärme bis in ihr tiefstes Herz. Keine Scheu empfand sie mehr vor dem sanften, menschenfreundlichen Antlitz; sein leiser väterlicher Ton hatte ein unendliches Vertrauen in ihr erweckt, und als er schied, als sie unwillkürlich seine Hand an die Lippen zog, da stand ein Entschluß in ihrer Seele fest, und sie lächelte fast freudig, als Henoch eintrat, der wie ein Kind des Hauses den Leidtragenden unablässig zur Seite stand.


»Der alte Reinach kondoliert dem trauernden Raaf
und seiner Tochter Mine«
Holzstich nach einer Zeichnung von Moritz Daniel Oppenheim

»Es gibt doch kein Unglück, lieber Henoch,« sagte sie, »das nicht den Keim eines Glückes in sich schlöße!«

Henoch verstand diese mysteriösen Worte nicht, aber er drückte der Freundin innigst die Hand.

Acht Tage später trat Mine in schwarzem Trauerkleid in das Haus in der Entengasse und ließ sich bei Herrn Reinach melden. Die Töchter empfingen sie liebreich. Wie stachen die drei rosigen Kinder gegen die alternde Jungfrau ab, deren Gesicht durch die Gemüthsbewegungen der letzten Tage noch abgehärmter und eingefallener erschien! Sie fragten sie theilnehmend, was sie wünsche. Sie habe mit Herrn Joel Reinach selbst zu sprechen, antwortete sie; dabei drehte sie ein Päckchen in Seidenpapier verlegen zwischen ihren Fingern. Die Töchter schwiegen. Aber Bertha, die Jüngste und Schönste, kaum Fünfzehnjährige, nickte der bange Harrenden freundlich zu, huschte in das anstoßende Gemach und kam mit freudestrahlenden Augen zurück: der Vater lasse bitten, einzutreten.

Wie klopfte Mine's Herz, als sie durch die wattirte Doppelthür in das Dämmerlicht des Gemaches trat und der gebeugte Greis, in eng anliegendem grauen Rock aus dem Lehnstuhl, vor dem auf einem Lesepult ein Buch aufgeschlagen lag, sich erhob und sie mit freundlicher Handbewegung zum Sitzen einlud!

»Was bringen Sie mir Gutes, liebes Fräulein?« fragte er mit flüsternder Stimme. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Verzeihen Sie,« antwortete sie beklommen, ›wenn ich zu Ihnen meine Zuflucht nehme; ich habe im Nachlaß meiner seligen Mutter Spitzen gefunden, alte brabanter Spitzen, und möchte Sie fragen, ob Sie mir dieselben nicht – verwerthen könnten?« Dabei wollte sie das Seidenpapier entrollen; aber die magere Hand des Greises legte sich einhaltend auf die ihrige.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden,« sagte er, ihre Hand streichelnd, »und obwohl dieser Artikel nicht zu unserem Geschäft gehört, so möchte ich,« fuhr er rascher fort, als er ein schmerzliches Zucken um Mine's Mund bei den letzten Worten gewahrte, »so möchte ich mir die Frage erlauben, ob Sie oder Ihr verehrter Herr Vater in Verlegenheit – –«

Mine erröthete vor Verschämung.

»Das nicht,« stotterte sie, »Gott sei Dank, es ist nicht für uns, – ich wollte damit – –«

»Ein gutes Werk thun!« half ihr Reinach nach, von Neuem ihre Hand ergreifend.

Mine athmete auf.

»So ist's!« rief sie, »ich wollte – –«

»Haben Sie kein Vertrauen zu mir?« fragte Reinach lächelnd, als sie von Neuem stockte.

»Doch, doch!« rief sie aus und eine Thräne trat in ihr Auge, das groß und offen in die matten Sterne der seinigen blickte. »Unter unseren Seminaristen ist Einer, der schö.... der junge Henoch, ein besonders begabter, trefflicher Schüler meines Vaters. Sein ganzes Herz hängt daran, in Würzburg zu studiren, wo man, wie er sagt, sehr gelehrt werden soll. Er hat mir seine Ideen anvertraut, schöne herrliche Pläne, unsere Gemeinde dereinst in einem neuen, geläuterten, erhebenden Gottesdienst zu vereinen.« – Reinach's Hand zuckte in der ihrigen. – »Aber er ist arm,« fuhr sie fort, »er muß hier ›Tage‹ essen, und da glaubte ich vielleicht durch den Erlös dieser Spitzen –«

Sie schwieg und blickte verlegen auf das kleine Paket. Aber Reinach hatte den grünen Schirm von den Augen zurückgeschoben und betrachtete sie lange mit liebreichem Blick.

»Da haben Sie ganz Recht gehabt, liebes Kind,« sagte er, mit der Hand sanft über die ihre streichelnd, »die alten brabanter Spitzen sind viel Geld werth! Bemühen Sie sich nicht, ich brauche sie gar nicht zu sehen, um sie schätzen zu können, und ich zahle sie gewiß nicht zu theuer, wenn ich Ihnen jährlich dreihundert Reichsthaler vorläufig auf drei Jahre für Ihren Schützling zur Verfügung stelle!«

»Gott segne Sie!« rief Mine aus und wollte seine Hand an die Lippen ziehen; aber die stürmische Bewegung, der jubelnde Aufschrei schienen dem Greis physisch wehe zu thun.

»Sie haben mir nicht zu danken,« sagte er abwehrend. »Über den Preis für Ihre Kostbarkeiten verfügen Sie allein, und wenn Ihr Schützling dereinst sein Ziel erreicht und ein frommer, erleuchteten Lehrer in Israel sein wird – –«

»Dann wird er und die Gemeinde Sie dafür segnen!« rief Mine mit hervorquellenden Thränen.

Joel Reinach hatte sich wie erschöpft in den Sessel zurückgelehnt, mit einer freundlichen Handbewegung verabschiedete er die Ergriffene. Im Nebenzimmer wartete Bertha. Mine, von ihren Gefühlen überwältigt, umarmte sie und küßte sie auf die weiße Marmorstirn.

»Ihr Vater ist ein Engel!« rief sie aus, »Gott erhalte Sie ihm!«

Wer sie über die Straße fliegen sah, der hätte ein Unglück vermuthet; von dem Glück, das ihre Schritte beflügelte, hatte Niemand eine Ahnung, selbst der schöne Henoch nicht. Und als sie es ihm nun verkündete, als er die großen glühenden Augen thränenfeucht erst zum Himmel hob und dann auf das freudetrunkene Mädchen richtete, da war jede Rücksicht ehrerbietiger Zurückhaltung vergessen; er bedeckte ihre Hand mit heißen Küssen und als sie sie zurückzog, lehnte er das Lockenhaupt an ihre Brust und stammelte Worte des Dankes ohne Zusammenhang und nannte sie seinen guten Engel, seine geliebte Wohlthäterin, die er ewig – ewig –

Es war der seligste Augenblick, den Mine je erlebt hatte; nur noch ein seligerer war ihr vorbehalten.

Mit klopfendem Herzen theilte Henoch seinen Plan dem alten Meister mit. Dieser schüttelte erst den Kopf, dann nickte er mit wehmüthigem Lächeln. Das Schütteln galt der Vergangenheit, das Nicken der Zukunft, und als Jecheskel Flesch über den Abtrünnigen zu fluchen begann, antwortete der alte Raaf:

»Laß gut sein, er hat Recht. Hakol b'itau«, das verdeutscht man in: ›Alles hat seine Zeit‹, aber es heißt auch: ›Jeder hat seine Zeit‹.

Henoch wollte bei Herrn Reinach persönlich seinen Dank abstatten; der alte Herr empfing ihn nicht, er entschuldigte sich mit Unwohlsein. Das Geld war an der Kasse angewiesen worden. Bis zum Herbst arbeitete der Jüngling Tag und Nacht, seine Kenntnisse in klassischen Sprachen zu ergänzen. Die Maturitätsprüfung bestand der junge Autodidakt mit glänzendem Erfolg. Dann kam die Abschiedsstunde. Mine hatte auf Befehl des Vaters ein Arbocanfes (Brustlatz mit Gebetfäden) genäht; in die vier Ecktäschchen verbarg der alte Raaf vier goldene Dukaten. Aber die Brieftasche, in welche mit Goldperlen »Souvenir« gestickt war, zeigte sie ihrem Vater nicht. Der Alte und sein Kind begleiteten Henoch bis zum Postwagen, und als dieser mit dem blasenden Postillon über den »Königsplatz« fuhr und Henoch mit dem Schnupftuch noch zum Fenster hinauswinkte, sagte der alte Raaf dem geliebten Jünger mit lauter Stimme Jeworechecho (Gott segne dich!) nach. Mine sagte mit, aber nur im Herzen.

Aus dem Hause des Raaf's war mit Henoch aller Glanz geschwunden. Die Seminaristen kamen und gingen nach wie vor. Mine bestrich ihr Brod statt mit ranzigem Schmalz mit frischer Butter; sie stopfte ihnen auch die Rocktaschen mit Nüssen voll und sammelte Kleider und Wäsche für sie, aber es war nicht mehr wie vordem; sie ließ sich von der Köchin aus dem Theater abholen, betrachtete den großen Bären mit einem Seufzer und den Orion mit einer Thräne im Auge, und wenn sie einsam im Dämmerstündchen zur Guitarre sang: »An Alexis send' ich dich«, so dachte sie statt des Alexis einen andern Namen und sandte im Geist die Rosenbotin nach Würzburg.

Über ein Jahr war so vergangen. Der Todesengel hatte auf's Neue an Joel Reinach's Pforte geklopft. Aber nachdem er das blühende Opfer heimgeführt hatte, klopfte er auch an das stille Stübchen des alten Raaf's. Eines Morgens, als Mine den Kaffee zum Bett ihres Vaters trug, lag der Greis wie schlafend da, freundlich lächelnd, die Hände über sein altes Sidurl (Gebetbuch) gefaltet. Der Schlaf hatte ihn unvermerkt in die Arme seines Bruders gleiten lassen. Man trug ihn hinaus und begrub ihn neben Frau Süß; dort ruhen sie zum ersten Mal ungestört und friedlich beisammen.

Henoch wollte auf die erste Nachricht hin zu der Freundin eilen, dem theuren Meister die letzte Ehre zu erweisen; aber Mine hatte ihn beschworen, seine Studien nicht zu unterbrechen. »Ich weiß,« schrieb sie ihm, »auch ohne Ihre Gegenwart, daß Sie in dieser schmerzlichen Stunde bei uns sind. Wir wollen uns nicht in Thränen wiedersehen!« War es Zartgefühl, war es Eitelkeit, was ihr diese Worte diktirte? Arme, gute Mine! Du gabst dir selbst keine Rechenschaft darüber!

Man muß es zur Ehre der Gemeinde sagen, daß sie sich bei diesem Anlaß dankbar gegen ihren alten Seelsorger bewies. Nicht nur, daß Groß und Klein trauernd seiner Bahre folgte, und daß ein siebentägiges Trauergebet in allen Betstuben für ihn angeordnet war; auch der Tochter dachte die Gemeinde und setzte ihr eine Pension von vierhundert Reichsthalern aus, »damit sie versorgt sei bis zu ihrer Verheirathung, oder, wenn sie ledig bleibe, bis an ihr Lebensende.« – Schonungsvoll und zart, wie immer, theilte ihr ihr Oheim, Jecheskel Flesch, diesen Gemeindebeschluß mit.

»Ich hoff', Minkelleb,« sagte er, »Du wirst der Kille nicht lang zur Last fallen. Denn meine Stimm' kriegt Keiner, der bei uns nach Deinem Vater, olewescholem (der Friede sei mit ihm), Raaf werden will, wenn er Dich nicht mit in den Kauf nimmt. Worum nit?«

Bei diesen liebevollen Worten ihres einzigen Verwandten fühlte Mine einen Stich durch's Herz. Sie schwieg, diesem Manne gegenüber konnte sie sich doch nicht verständlich machen. Der Gemeinde dankte sie schriftlich für den Jahrgehalt und sorgte im Stillen, wie sie damit haushalten könnte. Da wurde ihr am andern Tag ein sorgfältig versiegeltes Päckchen überbracht. Sie öffnete es und fand in einem seltsam bedruckten Bogen, wie sie nie einen gesehen, ihre Spitzen. Ein Blättchen enthielt in feinen Schriftzügen folgende Worte:

»Erlauben Sie mir, liebes, verehrtes Fräulein, Ihnen Ihr Depot dankend wieder zurückzustellen. Ich wünsche, daß Sie mit diesen Spitzen dereinst Ihr Hochzeitskleid garniren.

Joel Reinach.«

Der seltsam bedruckte Bogen war eine österreichische Metallique-Obligation von fünftausend Gulden.

Ihr Hochzeitskleid! Bei diesem Worte vergaß sie das doppelt reiche Geschenk; sie wiederholte das Wort und Thränen rollten über die mageren Wangen der alten Jungfrau. War es die Sehnsucht, die jedes Mädchenherz, zumal in reiferen Jahren, empfindet, die Sehnsucht zu lieben und geliebt zu sein, die Sehnsucht, ein einsames verwaistes Herz an ein anderes vertrautes zu schließen, die Sehnsucht, in der großen Kette der endlosen Menschheit nicht wie ein abgefallener Ring zu Boden zu fallen, die Sehnsucht nach der Freude und dem Leid der »Familie«, nach der Seligkeit, ein Kind mit Mutterglück und Muttersorge an die Brust zu drücken! War es ein Gedanke an den praktischen Plan ihres Onkels, war es ein idealer Blick auf den nicht durch den Ort allein, nein auch durch Jugend und Schönheit ihr fernentrückten Freund? Was war es, was ihr bei diesem Worte heiße Thränen entlockte? Und diese Thränen, waren es Perlen der Hoffnung oder Thränen der Resignation?

Sie hatte das dreißigste Jahr überschritten, aber die schmerzlichen Erlebnisse, die ihre empfindlichen Nerven erschütterten, hatten ihr Äußeres vor der Zeit altern gemacht. Noch bewahrte sie die schlanke Gestalt, die vornehme Haltung, noch ringelten sich die dunklen Haare in langen Locken an den mageren Wangen hinab, aber an Stirn und Schläfen hatte sich bereits darauf ein leichter, kaum wahrnehmbarer Herbstreif gelegt.

Dennoch schien Jecheskel Flesch's Prophezeiung in Erfüllung gehen zu wollen. War es ruchbar geworden, daß die Hand von Raaf's Mine als Servitut an der zu besetzenden »Landrabbinerstelle« hafte? War es ihre Verwandtschaft mit dem eifernden Schammes oder die stille, aber altbekannte Protektion Joel Reinach's? War es die Berechnung, daß die Gemeinde, um den Jahrgehalt der Waise zu ersparen, den Bewerber um ihre Hand bevorzugen müsse? Was immer hier in die Wagschale fallen mochte, genug, alle die ledigen Rabbonim (Rabbiner), die sich für die erledigte Stelle meldeten, verheirathete wies Jecheskel Flesch ohne Weiteres ab, versäumten es nicht, sofort bei Raaf's Mine einen Besuch zu machen, um ihre Protektion zu bitten und mit mehr oder weniger verblümten Andeutungen sich ihr zur Verfügung zu stellen. Aber wer von ihnen nach dem ersten Besuch nicht von selbst ausblieb, der erfuhr sicher bei dem zweiten eine verständliche Zurückweisung. Vergebens bemühten sich ihre Freundinnen, »ihr zuzurathen«, vergebens warf ihr Oheim sein zürnendes »Worum nit« ein, Mine verbat sich jeden weitern Besuch und erklärte ihrem Onkel weinend, sie wolle lieber auf ihren Jahrgehalt verzichten. Ebenso beharrlich hatten Joel Reinach und die jüngeren Vertreter der Gemeinde gegen die Umtriebe des fanatischen Schammes protestirt und man beschloß, die Stelle vorläufig unbesetzt zu lassen, und verschrieb für die nöthigen Funktionen von Fall zu Fall einen Rabbiner aus dem benachbarten Landstädtchen.


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