Salomon Hermann Mosenthal
Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben
Salomon Hermann Mosenthal

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Schlemilchen

Eigentlich hieß sie »Emilchen«, wie man bei uns die Namensschwestern der Galotti im Deminutiv zu nennen pflegt, und war die Tochter unserer Cousine Katz, die, früh verwittwet, nur dieß einzige Kind besaß. Da es von schwächlichem Körperbau und schon in früher Kindheit mit Krämpfen behaftet war, die sich bis zu seiner spätern Entwicklung öfter wiederholten und seinen Bewegungen etwas Unsicheres, Stoßhaftes gaben, so wurde es von der besorgten Mutter verhätschelt und gleichsam in Baumwolle gewickelt, und diese allein hatte keine Augen für das linkische, unbeholfene Wesen des armen Mädchens, das ihm jenen »Spitznamen« in der ganzen Gemeinde erworben hatte. Als nämlich der alte Lewy, der Witz- und Spaßmacher der Gemeinde, der in der Marktgasse ein Lädchen mit Nadeln und Zwirn führte, und dessen Zunge noch spitzer als seine Nadeln war, sie zum ersten Mal bei einer Musik in der »Au« herumzappeln und dem Einen oder Andern auf die Füße treten sah, fragte er: »Wie heißt die Menuwelte?« (Häßliche), und als man ihm antwortete: »Emilchen,« sagte er endlich: »Schlemilchen sollte sie heißen!« Der Name war ihr dann auch geblieben.

Wenn ich den Rest meiner hebräischen Studien aus der Erinnerung sammle, so heißt Schelau–mi–el ein Gottverlassener. Aber man versteht darunter den Widerpart eines »Glückskindes«, einen »Pechvogel«, um mich eines burschikosen Ausdrucks zu bedienen; und Chamisso hat das Wort in die deutsche Literatur eingebürgert, indem er den seelenguten Menschen schilderte, der unselig durch's Leben wandern muß, weil ihm – ein Schatten fehlt! Ja, dem »Schlemil« fehlt nichts als ein Schatten oder vielmehr ein Licht, ein Glanz, ein Duft, den die Grazien über den Sterblichen hauchen, wenn sie an seiner Wiege stehen. Aber dieser Hauch der Grazien ist der unfehlbare Empfehlungsbrief für die Welt, und wer ihn entbehrt, kann ihn durch alle vier Kardinaltugenden hienieden nicht ersetzen. Nur das göttliche Auge sieht nicht darauf, und sicher ist unser gutes »Schlemilchen« auch ohne den Kuß der Grazien in den Himmel gekommen.

So wie ich mich ihrer erinnere, war sie ein langes Mädchen mit dunklem Haar, großen dunklen Augen und einem sehr großen Mund mit unregelmäßigen, schadhaften Zähnen. Groß waren auch ihre Hände und noch größer ihre Füße, mit denen sie nach allen Seiten ausschlug und an denen ein Schuhband nachschleifte oder ein abgerissener Knopf wackelte, je nachdem ihre Fußbekleidung zum Binden oder zum Knöpfen war. Einige Haarzipfel guckten stets, wie neugieriges Frühlingsgras, aus ihren Zöpfen hervor oder flatterten über ihre Stirn, aus der sie sie mit der Hand oder dem Ellenbogen fruchtlos zu verbannen bemüht war. Sie verstand es, bei dem trockensten Wetter ihre Röcke bis hoch hinauf mit Koth zu verbrämen, indem sie mit kühnem Tritt in eine Straßengosse patschte; nicht minder geübt war sie, eine frisch mit Ölfarbe angestrichene Hausthür mit ihrem Shawl oder Mantel abzuwischen oder mit ihrem Hut unbegreiflicherweise an einer Gewölblaterne hängen zu bleiben, der, wenn sie ihn mit ihren breiten Händen in die Façon zurechtzubiegen bemüht war, an Grazie dadurch nicht viel gewann. Wollte sie eines der kleinen Kinder der Familie liebkosen, so fuhr sie ihm mit den streichelnden Händen sicher in die Augen, worüber sie dann freilich herbern Schmerz empfand als das weinende Kind. Auch durfte sie trotz ihrer stürmischen Bitten keines herumtragen, weil sie sicher mit ihm über einen Zwirnsfaden gestolpert wäre! Setzte sie sich nieder, so spielte ihr der Zufall den wankelmüthigsten Stuhl unter die Beine, mit dem sie grotesk zusammenbrach, und in der Tanzstunde zitterten alle Mädchen für die Volants ihrer Mullkleider, denn ihre erzbeschlagenen Tanzschritte bedrohten die Nachbarn ohne Unterschied des Geschlechts. Deßhalb saß sie auch bei jeder »Aufforderung« so lang einsam und an ihrem Schnupftuch zupfend, bis der kleine Tanzmeister Albrecht mit einem Blick stummer Resignation sie einlud, die Lücke im vis-à-vis zu ergänzen. Doch alles Dieß ertrug sie ohne Bitterkeit und der Name »Schlemilchen«, der ihr bei jedem Anlaß entgegenklang, hatte längst seinen Stachel für sie verloren. Ja, sie umarmte am Schluß des Tanzabends ihre Freundinnen so herzlich, daß es einigen Tüllkrausen oder Brustbouquets das Leben kostete.

Als die Blattern, wenn auch in milder Gestalt, in unserer Stadt grassirten, war es natürlich Schlemilchen, die sie zuerst bekam, ein Umstand, der ihrer Schönheit nicht förderlich war, und als sie am Geburtstag ihrer Mutter die neuen Vorhänge, die sie aus ihrer Sparbüchse gekauft und eigenhändig in kühnen Draperieen an's Fenster der »guten Stube« geheftet hatte, mit künstlerischem Selbstbewußtsein besah und beleuchtete, fuhr sie mit dem Licht in die Fransen, daß die Vorhänge und die halbe gute Stube verbrannten und sie die Hände, mit denen sie die Flammen zerdrücken wollte, monatelang verbunden in mächtigen Fäustlingen trug!

So war Schlemilchen, als sie sechzehn Jahre alt war.

Einige Jahre später erkrankte ihre Mutter an einem jener inneren schmerzhaften Leiden, die den Tod so lange fruchtlos ersehnen lassen. Emilchen pflegte sie mit unendlicher Geduld und zärtlicher Sorgfalt; wenn sie ihr auch die Arznei öfters statt in den Mund über die Backen goß oder mit der dienstfertig zugeschobenen Wärmflasche ihr die Füße verbrannte, darüber war doch nur eine Stimme, daß sie die liebevollste Tochter, die unermüdlichste Krankenwärterin sei. Das pries auch überall die Köchin Schönchen, die sich »Jeanette« nennen ließ, seitdem ihr Vetter aus Melsungen zum Viehmarkt in die Stadt gekommen war und sie »Jeanette« nannte, um zu zeigen, daß man in Melsungen auch »Hochdeutsch« verstehe. Jeanette sagte in der Fleischbank wie auf dem Markt, Emilchen sei die gute Stunde selbst, und der liebe Gott sehe auf's Herz, nicht auf die Frisur. An ihrer Mutter allein habe sie sich das Gan-Eden (Paradies) verdient!

Nach langem Leiden starb die Mutter, und zwar gerade am Abend des Purimfestes (jüdischer Fasching), wo kein Mensch Zeit und Stimmung fand, sie und Emilchen zu bedauern. Das Wenige, was sie besessen, war durch die Krankheit, bei welcher an Ärzten und Arzneien nichts gespart werden durfte, zusammengeschmolzen, und Emilchen wäre den herbsten Entbehrungen ausgesetzt gewesen, hätte sich nicht in dem alten »Onkel Markus« ein Vormund und ein Nothhelfer dargeboten.

Onkel Markus war ihr Großonkel und der unsere, ein wunderlicher alter Herr, ein Junggeselle von fast siebenzig Jahren, von langer, dürrer Gestalt, mit storchartigen Beinen; auf dem langen, stark vorgebeugten Hals saß ein schmaler Kopf mit dünnen weißen Haaren, aus dem gelben, bartlosen Gesicht ragte eine kolossale nationale Nase hervor, die über die schmalen Lippen hinaus dem langen spitzen Kinn fast begegnete. Ein langer brauner Rock, der mehrfach gewendet worden, war seit einem Menschenalter sein treuer Begleiter, und das weiße Batisttuch, das nach damaliger Mode zweifach um den langen Hals geschlungen war, schimmerte auch bei Tagesbeleuchtung in einem so warmen Ton, als ob es die Strahlen der Abendsonne vergoldeten. Als Cumberland seinen »Schewa« zeichnete, muß ihm »Onkel Markus« im Traum erschienen sein! Er besaß ein Haus an der Ecke des »Grabens«, in welchem er nur ein einziges Zimmer am Ende der tiefen Hausflur bewohnte. Die übrigen Zimmer standen leer, wenn man diesen Ausdruck auf Räume anwenden darf, die mit Tausenden heterogener Dinge, »Urväter Hausrath«, vollgestopft waren, welche zu den tausend Geschäftszweigen seines Hauses gehörten. Er handelte nämlich mit Allem. Möbel und Reiterstiefel, zinnerne Teller und brabanter Spitzen, Silberbarren und Vitriolöl, gestickte Staatsrathsuniformen aus dem vorigen Jahrhundert, Münzen, Juwelen »und dergleichen Sachen alle mehr«, wie er in jedem Satze zu sagen pflegte, lagen hier in einträchtlicher Unordnung aufgespeichert. In seinem Keller lagen Weinvorräthe, die er en gros & en detail verkaufte, Holz- und Kohlenmassen, deren Abgabe an den Stadtthoren er von der städtischen Accise gepachtet hatte, und überdieß führte er ein Comptoir für alle deutschen Staatslotterieen, das ihm den Ehrentitel eines Lotterieassessors eingebracht hatte. Wie reich er sei, wußte kein Mensch; bei den Einen galt er für einen Geizhals, bei den Anderen für einen Verschwender; und Beides mit Recht, denn für seine Person, für Alles, was nach Außen Aufsehen erregte, war er ein Knauser, während er mit vollen Händen verschämte Arme und Nothleidende der Familie, allerdings nach eigener Wahl, überschütten konnte. Zu den Festtagen wanderten Körbe voll Weinflaschen heimlich und ohne Angabe des Absenders in die Wohnungen anständiger armer Familien, und wenn die Flaschen entkorkt wurden, so fanden sich nicht selten goldene Dukaten unter den Siegeln. Dagegen war sein Name nie bei den Sammlungen zu lesen, die im Wochenblättchen mit dem öffentlichen Dank für die großmüthigen Spender abgedruckt wurden. Das ganze Geschäftspersonal des Hauses Markus bestand aus drei Personen: dem Herrn Assessor, der die Geschäfte und dergleichen Sachen alle mehr selbst besorgte, dem Commis Bärmann, der eigentlich als Meschores (Diener) eingetreten war, der aber als Leiter des Lotteriecomptoirs jenen vornehmen Titel von den Kundschaften des Hauses erhalten hatte, und dem Kutscher Mewes, der in dieser Eigenschaft nicht nur Holz und Kohlen, sondern auch seinen Herrn zu führen hatte. Zu diesem letztern Behuf sauste er mit einer kleinen Kutsche auf hohen gelben Rädern und mit einem magern braunen Klepper so geräuschvoll durch die Stadt, daß der alte Lewy dem Fahrzeug den Namen »Spinnrädchen« gegeben hatte, den es bis an sein seliges Ende führte.

Das lag nun recht im Charakter des Onkels Markus, daß er Schlemilchen, das reizlose und mutterlose Mädchen, zu seiner Mündel und zu seinem Liebling erkor. Unter dem Vorwand, ihr Erbtheil zu verwalten, brachte er ihr als »Zinsen« so viel, als sie zum bescheidenen Leben brauchte. Er holte sie Sonntags im »Spinnrädchen« ab zu Spazierfahrten in die Au und nach den benachbarten Dörfern, zog unterwegs mit dem Lächeln eines Taschenspielers aus den Wagentaschen Wein, Selterswasser, Zucker und Becher, Kuchen und Früchte hervor; schenkte ihr kleine Schmucksachen, Spitzen, seidene Tücher und dergleichen Sachen mehr, und hatte keine Augen dafür, wenn sie dieselben verlor oder zerbrach, oder beim Aussteigen aus dem »Spinnrädchen« am Tritt hängen blieb und schwer wie ein Sack Kartoffeln dem alten Mewes in die Arme fiel. Abends besuchte er sie stundenlang, erzählte ihr Erlebnisse, Anekdoten aus Meidinger's erster Auflage, und dergleichen Sachen alle mehr, die sie pflichtschuldigst belächelte, während sie mit Kreuz und Querstichen ein paar Pantoffeln für ihn stickte. Ja, als Jeanette, die geschworen hatte, nie ihre »Mamsell« zu verlassen, von dem Vetter, dem Viehhändler aus Melsungen, einen Heirathsantrag erhielt und in diesem Konflikt der Pflichten schließlich dem Zug des Herzens nach Melsungen folgte, da bot Onkel Markus seiner Mündel an, ihm das Haus zu führen; ein Zimmer vorn hinaus, eine Treppe hoch, wurde ausgeräumt und hergerichtet, und Schlemilchen residirte von nun an im Hause des Herrn Assessors am Graben. –

Seit dieser glücklichen Wendung ihres Schicksals schien der Name »Schlemilchen« in Vergessenheit gekommen zu sein. Onkel Markus nannte sie gar nicht, die Köchin, die man aufnahm, statt wie bisher sich aus der Garküche »speisen« zu lassen, und der alte Mewes nannten sie »Mamsell« und Bärmann betitelte sie nie anders als »Fräulein Katz«. In diesem Letztern hatte sie von der ersten Stunde an einen ebenso stillen als intensiven Verehrer gefunden. Verwandtschaft der äußern Erscheinung schlang um diese beiden, von den Grazien verlassenen Wesen ein Band stiller Sympathie. Schön war er nicht, dieser Bärmann, sondern klein und mager; seine Beine, die einen gothischen Spitzbogen bildeten, schlotterten in den vor Alter glänzenden schwarzen Hosen, und aus den kurzen Ärmeln seines Comptoirrocks, die leinene Schreibärmel schützten oder verdeckten, hingen lange knöcherne Hände hervor. Seine bleichen Wangen waren von den Enden der rasirten Barthaare bläulich angehaucht und seine Augen, die durch Brillen geschützt waren, besaßen einen Purpursaum wie eine Toga praetexta. Aber er blickte damit über den stählernen Brillenrand hinaus zu »Fräulein Katz« auf wie zu einem höhern Wesen. Er konnte es ihr keinen Augenblick vergessen, daß sie seine Wäsche ausbesserte gleich der des Onkels, mit großem Fleiß und noch größeren Stichen, daß sie seine Socken wie Fischernetze stopfte, daß sie einen Mohnkuchen, den Jeanette aus Melsungen schickte, theilte und ihm die Hälfte für seine Mutter einwickelte, und als diese, die bucklige Jochebedchen, die mit Gänselebern und Grieben (Grammeln) hausiren ging, zum ersten Mal seit Emilchens Einzug in's Haus kam und Fräulein Katz sie »Madame Bärmann« nannte, in's Zimmer führte und ihr ein Glas »Franzwein« einschenkte, da floßen die Augen des gerührten Sohnes nicht minder über, als das von Schlemilchen kredenzte Glas!

Nach und nach griff diese auch in die Geschäfte des Hauses mit ein. Sie maß am Freitag Denen, die einen halben Schoppen »Kidesch-Wein« (zum Segensspruch) holten, mit gerechtem Maß und goß nicht selten einen ganzen Schoppen über den Trichter hinaus; sie ließ sich altes Zinn und Messing verkaufen und merkte nicht, daß ihr dieselben Gegenstände sechsmal gestohlen und sechsmal wieder verkauft wurden. Aber darüber hatte Onkel Markus nur ein gutmüthiges Lächeln, denn sie half ihm treu und verschwiegen bei seinen heimlichen Wohlthaten und machte stets neue Entdeckungen, wo in aller Stille etwas »Gutes« zu thun sei. So vertrugen sich diese beiden sonderlingischen Charaktere so vortrefflich, daß der Alte sich immer zärtlicher an sie schloß, und daß es in der ganzen Gemeinde ausgemacht war, Emilchen werde den reichen Onkel beerben oder wenigstens von ihm eine großartige Mitgift erhalten. Der alte Lewy behauptete zwar, es werde Keiner die »Katz« im Sack kaufen, aber es kamen immer häufiger Schatchonim (Heirathsvermittler), um sich bei Onkel Markus vertraulich nach Fräulein Katz und ihrer »Netinge« (Mitgift) zu erkundigen. Da benahm sich dann der alte Herr sehr reservirt. So viel er wisse, habe seine Mündel wenig oder gar kein »Mütterliches«. Er selbst habe einen Brudersohn, der allerdings seit Jahren in Amerika sei und von dem er lang nichts gehört habe. Doch sei dieser sein nächster und einziger Verwandter, für den er Pflichten habe und dergleichen Sachen alle mehr! Eine schöne Ausstattung würde er seiner Mündel geben, an Weißzeug, Silberzeug, Möbeln und dergleichen Sachen alle mehr, aber wegen alles Übrigen behalte er sich die Entschließung vor, je nachdem der Mann sei, der um sie anhalte; wer sie nur wegen der Netinge nähme, der gefalle ihm schon gar nicht; sie habe einen bescheidenen Charakter, ein gutes Herz und dergleichen Sachen alle mehr!

Auf diese Rede hin fragten die Schatchonim: Wie die Geschäfte gingen? Ob in Westphalen der Weizen gerathen sei? Wer in der letzten Frankfurter das große Loos gewonnen hätte? und dergleichen Sachen alle mehr. Aber nach Emilchen fragte Keiner mehr. Bärmann, der die bekannten Vermittler mit langen Gesichtern abziehen sah, athmete tief auf und wischte sich glückselig die Nase an seinem Schreibärmel ab.

Aber noch bevor das erste Jahr der neuen Ära im Haus am Graben verstrichen war, trat ein Ereigniß ein, das nicht nur dieses, sondern die ganze Gemeinde in Spannung und Aufregung brachte. Die frankfurter Lotterie war gezogen worden, vage Gerüchte verbreiteten sich, es seien große Treffer in dem Hause Markus gemacht worden. Telegraphen gab es damals noch nicht, aber ein eigener Kurier des frankfurter Lotteriebureau war in der Person eines jungen Beamten angekommen und von dem Herrn Assessor im Spinnrädchen vom Posthof auf dem Königsplatz abgeholt werden. Dieser Glücksbote führte zwar den prosaischen Namen »Ochs«, aber er war ein Mann aus guter Familie, deren Stammhaus in der frankfurter Judengasse wahrscheinlich einen Ochsen im Schilde geführt und dessen Namen auf die Insassen vererbt hatte. Er war feingebildet und wußte außer von der frankfurter Lotterie auch von Goethe, Bettina und Ariadne auf Naxos zu sprechen, wobei er nach landesüblichem Brauch das n an der Endung der Zeitwörter beharrlich verleugnete. Nachdem der Herr Assessor ihn erst genöthigt, ein kleines Frühstück einzunehmen, bei welchem Emilchen mit geräucherter Gänsebrust und Senfgurken die Honneurs machte und Herr Ochs von Goethe und Bettina sprach, begab sich der junge Mann, dessen röthlicher Backenbart sich von der blauen Kravatte malerisch abhob, indem er sich vor dem »Fräulein« artigst verneigte, mit dem Herrn Assessor in das Zimmer am Ende des Hausflurs, um die Listen der gezogenen Loose mit ihm zu vergleichen. Die meisten waren »blank«, einige mit kleineren Gewinnsten, zwei mit einem Treffer von tausend Gulden, und die Nummer2077, die großgedruckt in der Ziehungsliste stand, mit dreißigtausend Gulden herausgekommen. Als Onkel Markus diese Nummer vernahm, streckte er den Hals und die Nase noch tiefer in die Liste hinein, dann legte er den Zeigefinger an die Stirn: »Erlauben Sie einen Augenblick, Herr Ochs,« sagte er, indem er aufstand und aus seinem Pult eine alte lederne Brieftasche nahm, in welcher mit hebräischen Buchstaben allerlei Notizen aufgezeichnet waren. »Richtig!« sagte er und ein freudiges Schmunzeln flog um seine schmalen Lippen, »richtig Nummer 2077!«

Herr Ochs sah ihn forschend an. »Darf ich fragen, Herr Assessor, ob es mit diesem Loos eine Bewandtniß hat, die Sie bedenklich macht?« Onkel Markus sah ihn mit den kleinen Augen von oben bis unten an, als wolle er messen, wie viel Gehalt der junge Mann habe, dessen feines, gesetztes Wesen rasch sein ganzes Wohlgefallen erweckt hatte, das längst der ihm wohlbekannten Familie Ochs en bloc zugewandt war; und während ein neues Lächeln die Falten um seinen Mund noch tiefer furchte, sagte er: »Bedenken hab' ich keins, sondern ich weiß es bestimmt und will es Ihnen sagen, lieber Herr Ochs, das Loos Nummer 2077 habe ich seiner Zeit meiner Mündel geschenkt, Mamsell Katz, derselben, die Sie heut beim Frühstück kennen gelernt haben.« Da öffneten sich Ochsens Augen weit, so weit, daß die dreißigtausend Gulden und alles Übrige den Weg durch sie bis in den Grund seines Herzens fanden, auf dem plötzlich, wie auf Goldgrund gemalt, das Bild Emilchens erschien. Er erhob sich und faßte mit dem Ausdruck ungeheuchelter Freude des Alten Hand. »Das freut mich von ganzem Herze,« rief er aus, »daß das Geld in Ihrer Familie bleibt, Herr Assessor, von der die meinige mir stets mit solcher Verehrung gesproche hat. Ja, ich gesteh' Ihne, daß ich nur, um sie persönlich kenne zu lerne, mir die Mission hieher hab' übertrage lasse, denn Sie wisse ja: ›Grau ist die Theorie und grün des Lebens goldener Baum‹.« Herr Markus verzog das Gesicht, er hatte das »Grau« auf sich und das »Grün« und »Gold« auf seine Mündel bezogen. Herr Ochs, der es bemerkte, erröthete ein wenig vor Verlegenheit, dann legte er die weiße Hand auf die blaue Kravatte in der Herzgegend und sprach: »Ich muß Ihne gestehe, Herr Assessor, daß Ihre Fräulein Mündel schon bei der erste Begegnung einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hat. Was man mir zu Hause von ihrem gediegenen Charakter erzählt hat, habe ich bestätigt gefunde und mich zu ihr hingezoge gefühlt wie der Fischer von Goethe.«

»Mein lieber Herr Ochs,« erwiderte Onkel Markus, indem er sich mit einem rothen Schnupftuch seine lange Nase schneuzte, » den Fischer kenn' ich nicht. Ich kenn' nur David Fischer, der in der Fahrgaß in Frankfurt eine Lotteriekollektur hat. Aber was meine Mündel betrifft, so kann ich Ihnen sagen: Schön ist nicht schön, schöne Tugenden sind schön. Das Mädchen hat mehr Verstand als man glaubt, einen bescheidenen Charakter, ein gutes Herz und dergleichen Sachen alle mehr. Was sie außerdem hat, wissen Sie selber, und es wird nicht bei dem allein sein Bewenden haben, und was Sie haben, frag' ich gar nicht, denn ich kenn' Sie als einen soliden jungen Mann aus guter Familie. Also hoff' ich, wird sich die Sach' machen. Aber thun Sie mir den einzigen Gefallen und reden Sie kein Wort von dem Loos und dem Treffer, das soll eine Überraschung geben, zu guter Letzt. Übrigens erweisen Sie uns die Ehr' und essen Sie morgen mit uns zu Mittag!«

Als nun am andern Tag die Köchin einen »Wälschen« (Truthahn) zum Schächter trug und beim Konditor Melli eine Pyramide von Makronen bestellte, weil der Herr Ochs eingeladen sei, da war in der ganzen Gemeinde nur eine Rede: »Der Schidech (Heirath) ist richtig!« – »Wer Die nimmt, muß ein Ochs sein!‹ sagte der alte Lewy, »wenigstens werden sie nicht leben wie Hund und Katz.«

Als die Köchin beim Ausnehmen des Wälschen einige unzweideutige Anspielungen fallen ließ, sagte Emilchen, indem sie ihr mit der breiten Hand auf die Schulter tappte: »Ach geh'!« Aber sie erröthete und ging hinauf, sich anzuziehen, denn der Onkel hatte ihr mit bedeutsamem Lächeln gesagt: »Zieh' Dein Schabbeskleid an.« Vor dem Spiegel strich sie sich die widerspenstigen Haare mit Quittenschleim glatt, heftete ein rothes Band und eine gelbe Rose hinein, zupfte ihr Kleid zurecht und betrachtete sich wie in Träume verloren. Es war ihr, als sähe sie im Spiegel einen hellrothen Backenbart und eine dunkelblaue Kravatte, und sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: »Ist es denn möglich?« Aber plötzlich fiel ihr Onkel Markus ein, der sich so sehr an sie gewöhnt hatte und der nun wieder allein bleiben und sich »Speisen lassen« sollte mit dem Bärmann – – und sie brach in krampfhaftes Schluchzen aus, in heiße Thränen, von denen wir nicht wissen, ob sie dem Onkel oder dem Bärmann galten.

»Mir ist Alles recht!« sagte sie, sich fassend und mit der Tüllmanschette die Thränen abwischend; »was Onkel Markus für mich bestimmt, ist gewiß zu meinem Guten. Und am Ende ist Alles nur ein dummes Geschwätz und der Ochs denkt gar nicht an mich.«

Aber er mußte doch an sie gedacht haben, denn er erschien in einem schwarzen Frack und einer tadellosen weißen Weste und brachte einen Strauß von Syringen (Flieder) mit, den er ihr artig darbot, und den sie, so groß er auch war, an die Brust steckte, um den jungen Mann nicht zu beleidigen. Der Tisch war gedeckt und die Pyramide stand mitten darauf, aber Onkel Markus war noch nicht da, er wollte die jungen Leute allein lassen, damit sie sich aussprechen könnten. Das thaten sie denn auch. Herr Ochs deklamirte ihr den »Zauberlehrling« vor und sie hörte zu, und als die Besen gar nicht mehr zu bändigen waren, schrie er so gewaltig, daß die Köchin in der Küche entsetzt ausrief: »Großer Gott! mir scheint, der Chosen (Bräutigam) schlagt die Kalle (Braut) todt!« Zur rechten Zeit erschien Onkel Markus und Bärmann, der seinen Konfirmationsrock angezogen hatte.

»Habt ihr euch ausgesprochen, Kinder?« fragte der Onkel schmunzelnd. – »Wir verstehen uns!« antwortete Herr Ochs und ergriff Emilchens Hand, die heftig zappelte. Man setzte sich zu Tisch. Emilchen aß wenig, noch weniger Bärmann, obwohl sie ihm dringend zuredete. Desto muthiger griff Herr Ochs zu, um möglichst schnell zum Dessert, der versprochenen Überraschung, zu gelangen. Man war glücklich bei der Pyramide angekommen, die von der Hand des Hausherrn in Trümmer fiel. Als nun der alte Mewes, der große weiße baumwollene Handschuhe angezogen, eine Flasche Liebfrauenmilch heraufgebracht und entkorkt hatte, da erhob Herr Ochs sein Glas, machte eine Pause, bis Mewes entschwunden war, und sprach, nachdem er sich geräuspert:

»Goethe sagt: ›O wohl dem vielbeglückten Haus, wo das ist kleine Gabe!‹ Dieser Wein ist nach ›Liebe Frauen‹ getauft, verzeihe Sie, Herr Assessor, ich will damit nicht sage, daß in Ihrem Haus etwas getauft ist, Gott bewahre! Ich will nur sage, daß ich dieses Glas ausbringe auf das Wohl der lieben Frauen, und ganz besonders auf das Wohl Ihrer lieben Nichte, Fräulein Emilie!« Dabei neigte er das Glas gegen Emilchen, die heftig zitterte, und fuhr mit gesteigertem Pathos fort: »Ja, Fräulein Emilie, Ihr ganzes Wese hat schon bei der ersten Begegnung einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Goethe, nein, Schiller sagt: ›Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme!‹ Und so frage ich denn den Zug ihres Herzens, Fräulein Emilie, ob Sie Ihr Schicksal mit dem meinige zu einige mit Ihrem Jawort bescheinige?«

Er wischte sich mit einem makellosen Batisttuch die Stirn ab und blickte erwartungsvoll auf Emilchen, bei der sich der Zug des Herzens durch ein sichtbares Wackeln des Oberkörpers verrieth.

»Red', mein Kind!« sagte Onkel Markus mit liebevoller Stimme. Emilchen, die weder rechts auf Herrn Ochs, noch links auf Bärmann zu blicken wagte, sah auf in das treuherzige Gesicht des Alten und sprach mit bewegter Stimme: »Sie sind mein Vormund und mein Wohlthäter, und was Sie für mich bestimmen, muß gut für mich sein.« – »Ich hab' nichts dagegen,« fuhr Onkel Markus fort, »Herr Ochs ist ein braver Mann, der Dich nimmt, obwohl er weiß, daß Du kein Vermögen hast, was in unserer Zeit der Zehnte nicht thut!« Dabei zwinkerte er mit den Augen dem Bräutigam zu, der ihn verstand und mit den Worten einfiel: »Nicht der schnöde Mammon, Ihr edles Herz, Fräulein Emilchen!« – Da traten Emilchen die Thränen in die Augen und sie reichte die Hand über den Tisch hinüber dem uneigennützigen hübschen Freier und warf dabei ein Weinglas um, daß es von dem Tisch kollerte und in Scherben brach. »Knaß gelegt!« rief Onkel Markus laut lachend, »Massel (Glück) und Broche (Segen)!« (Das Knaßlegen ist eine Zeremonie bei Verlobungen, bei welcher ein Glas oder eine Schale zerbrochen wird.)

Auch Bärmann wollte sich erheben, aber seine gothischen Beine versagten ihm den Dienst und er blieb wie gefesselt auf seinem Stuhl sitzen. Herr Ochs aber schlang den Arm um die Braut und küßte sie auf die Stirn, wobei sein rother Backenbart an dem Quittenschleim ihrer schwarzen Scheitel kleben blieb, ein gutes Omen für die Anhänglichkeit ihrer Seelen!

Dem Sturm folgt gewöhnlich die Windstille. Der leidenschaftlichen Erklärung war eine Pause gefolgt, in welcher Herr Ochs die Trümmer der Pyramide zerknupperte, als Onkel Markus scheinbar gleichgültig anhob: »Sag' einmal, Emilchen, erinnerst Du Dich noch? Hab' ich Dir nicht einmal ein Loos von der frankfurter Lotterie gegeben?«

»Sie haben mir so Manches geschenkt, lieber Onkel, daß ich nicht gleich weiß –«

»Denk' nach, Kind, von der frankfurter Lotterie, Numero 2077!«

»Sie haben mir zweimal ein Loos geschenkt, Onkel Markus; wenn mir recht ist, eins zum Geburtstag und eins zu Ostern, und dabei gesagt, ich solle damit einen großen Treffer machen!«

»Ganz recht,« bemerkte der Alte lächelnd, »das eine war von der braunschweiger Lotterie und das andere ein Frankfurter, Numero 2077.«

»Sie können schon recht haben, lieber Onkel.«

»Geh', Kind, ich bitt' Dich, hol' sie einmal alle beide her.«

Emilchen ward verlegen. »Alle beide?« stotterte sie. Herr Ochs spitzte die Ohren.

»Warum nicht?« fragte Herr Markus.

»Weil – weil ich nur eins davon noch habe, das andere hab' ich der Jeanette zum Einwurf gegeben, wie sie geheirathet hat.« Herr Ochs erblaßte.

»Seh' nach!« rief der Onkel so heftig, wie Emilchen ihn selten gehört hatte. Bärmann erhob sich, er hatte seine Beine wiedergefunden und mit lang vorgestrecktem Halse verfolgte er Emilchen, die zitternd zur Kommode eilte, zu der sie kaum das Schlüsselloch fand. Endlich öffnete sie die Schublade und zog ein ledernes Brieftäschchen hervor, das sie, von der räthselhaften Spannung der Anderen verwirrt, mit bebenden Händen auseinanderschlug.


»Das Los«
Holzstich nach einer Zeichnung von Moritz Daniel Oppenheim

Wenn bei einem amerikanischen Duell das Loos über Leben und Tod entscheiden soll, so kann die Spannung der Betheiligten nicht größer als jene sein, mit welcher Herr Ochs die hervorquellenden Augen auf das Zettelchen heftete, welches Emilchen, ahnungslos, daß es das Loos ihres eigenen Schicksals sei, entfaltete. Mit dem Scharfblick des Adlers hatte er das Kaumgeöffnete entziffert. Gleich dem Mene tekel upharsin starrten ihm wie Flammenschrift die Worte entgegen: »Herzogl. Braunschweigische Staatslotterie!« Das andere Loos, das große, das Dreißigtausend-Gulden-Loos, war nach Melsungen geflogen; sie hatte es richtig der Köchin geschenkt, Schlemilchen war sich treu geblieben!

Herr Ochs war bis hinter die Ohren erbleicht und völlig kleiner geworden. Dagegen hatte sich Bärmann, der Mensch wächst ja mit seinen höheren Zwecken, mit einem Male aus dem verwachsenen Frack gestreckt und warf einen triumphirenden Blick über die Brille hinaus auf den zerschmetterten Freier. Emilchen hatte dem Onkel das unselige Braunschweiger hingereicht und sah ihn mit fragendem Blick an.

»Es ist schon recht,« antwortete dieser ruhig, »ich hab's nur wissen wollen. Es ist ein Glück für Jeanette,« fuhr er fort, die Augen auf Herrn Ochs heftend, »wenn überhaupt der ›schnöde Mammon‹ glücklich macht. Was meinen Sie, Herr Ochs?«

Dieser hustete, als ob ihm ein Stück der Pyramide im Hals stecken geblieben wäre, hielt sich das Batisttuch vor den Mund und blickte darüber hinaus auf Emilchen, die ihm statt des Bildes auf Goldgrund plötzlich wie eine dunkle Silhouette erschien. Sie aber, die wie der fromme Fridolin »nichts davon verstand«, eilte zum Tisch, schenkte ein Glas Wein ein und bot es ihm mitleidig mit den Worten:

»Wollen Sie nicht einen Schluck trinken? Sie haben sich verkutzt!«

»Ich danke,« stammelte Herr Ochs, »der Wein hat mir das Blut in den Kopf getrieben ich bin an starke Getränke nicht gewöhnt und muß gestehe, daß ich, wenn ich Wein trinke, allerlei Dinge rede, die – ich – die –«

»Die Sie nüchtern bereuen,« ergänzte Onkel Markus. »Das ist eine bekannte Sach'! Wem das Blut in den Kopf steigt, der red't dergleichen Sachen alle mehr, und Gott bewahre, daß man so Einen beim Wort hält!«

Herr Ochs athmete auf. »Herr Assessor!« sagte er, »ich weiß, daß ein Mann von Ihrem Charakter und Ihrer Stellung seine Pläne und Absichten nicht auf ein einziges Loos –«

Onkel Markus unterbrach ihn. »Sie sprechen von Geschäften? Richtig! Wir haben ja vor Ihrer Abreise noch die Geschäftsrechnungen abzuschließen; wenn's gefällig ist, mit mir in's Comptoir zu gehen?« Er erhob sich.

Herr Ochs desgleichen. Er griff nach seinem Hut und verbeugte sich artig gegen Emilchen, die regungslos am Tische stand und den Scheidenden nachblickte, als wie aus einem Traum erwachend.

Da trat Bärmann auf sie zu und faßte ihre Hand. »Danken Sie Gott, Fräulein Katz!« rief er mit bewegter Stimme.

»Ich verstehe nicht,« stammelte diese.

»Sie verstehen nicht? Nun denn, dieser Herr hat nur um Ihr frankfurter Loos angehalten, von dem er wußte, daß es dreißigtausend Gulden gewonnen hat!« –

Emilchens Augen leuchteten auf vor Freude. »Dreißigtausend Gulden!« rief sie aus, »welch' ein Glück für meine arme Jeanette!«

Bärmann betrachtete sie und wischte sich mit dem Frackärmel die Augen. »Fräulein Katz,« sagte er, »Sie sind ein Juwel, Gott hat Ihnen das große Loos in ihr Herz gelegt. Denken Sie nicht mehr an den Ochs und kränken Sie sich nicht! Ich weiß nicht, was Goethe sagt, aber das sag' ich Ihnen: das Sechus (Fürbitte) Ihrer seligen Mutter ist Ihnen heute beigestanden! – Und indem er nochmals mit dem Ärmel über die Augen fuhr, verschwand er, ohne sich umzusehen.

Emilchen stand da wie von einem Blitzstrahl erleuchtet, nicht getroffen. »Das hätte ich mir gleich denken können!« sagte sie leise vor sich hin, indem ihr Blick in dem gegenüberhängenden Spiegel ihr Bild betrachtete. Dann hob sie die Glasscherben auf, die noch am Boden lagen, öffnete die Kommode, das Brieftäschchen einzuschließen, zuvor aber nahm sie ein Zweiglein des Syringenstraußes und legte es in das Notizbuch zur Erinnerung, zur Warnung! Dann setzte sie sich nieder und schrieb an Jeanette einen herzlichen Glückwunsch zum »großen Loos«!

Als es am andern Tag in der Stadt kund ward, daß Herr Ochs abgereist und die Partie »zurückgegangen« sei, sagte der alte Lewy: »Gott, was ein Chosid (Frommer) ist der Ochs. Es ist ihm übel geworden und er hat doch nicht angebissen!« (Ausdruck für das Fastenbrechen am Versöhnungstag.)

Einige Tage darauf rief Onkel Markus Emilchen in sein Zimmer und las ihr ein Schriftstück vor, das er dann in ihrer Gegenwart versiegelte und ein Wort darauf schrieb, das sie nicht verstand. Aber sie trug das Papier mit verweinten Augen hinauf, und als sie es in die Kommode schließen wollte und das dürre Zweiglein der Syringe erblickte, legte sie es dazu, und wie von einem Vorsatz, von einem Gelübde beseelt, versteckte sie die Brieftasche und begrub sie förmlich unter ihren Tüchern und Bändern. Auf dem Schriftstück stand mit großen, unbeholfenen Buchstaben das Wort: »Codicill«.

Der Herbst verfloß ohne weitere Ereignisse. Zum Viehmarkt kam Jeanette angefahren und brachte ihr Kind mit, das sie nach ihrer Wohlthäterin Emilchen genannt hatte, damit diese es sehe und segne. Emilchen drückte die kleine Namensschwester so selig an's Herz, daß diese bald erstickt wäre.

Der Winter kam und Purim mit ihm. Sie hätte die »Jahrzeit« ihrer Mutter am liebsten allein zugebracht, aber sie wollte Onkel Markus die Freude nicht verderben, der nicht daran gedacht und die Verwandten eingeladen hatte, um sie mit Punsch zu traktiren, zu dem er ein besonders gutes Rezept besaß. Als er mit selbstgefälligem Künstlerstolz das erste Glas aus der Terrine schöpfen wollte, fiel ihm plötzlich der Löffel aus der Hand und er sank bewußtlos zu Boden. Ein Herzschlag hatte den siebenzigjährigen Greis getroffen. Eine Stunde später stand das Herz still, das im Stillen so viel des Guten und Edlen gehegt und gepflegt hatte. Das Freudenfest war zum zweiten Mal ein Trauertag für Schlemilchen geworden.

In der allgemeinen Bestürzung war sie die Erste, die ihre Fassung wieder gewann. Nachdem Alles versucht worden war, das entflohene Leben zurückzurufen und die herbeigeholten Ärzte jeden Versuch für fruchtlos erklärt hatten, ordnete sie in dem verstörten Hause alles Nöthige an. Die reichen Reste des Festmahls ließ sie in's Armenhaus tragen, das Zimmer wurde für die theure Leiche und die Wächter geräumt, die Tag und Nacht bei derselben »lernen« (beten) mußten. Der entscheidende Augenblick schien dem zappelnden Wesen Emilchens Ruhe und Haltung wiedergegeben zu haben. Sie folgte der Leiche zu Fuß bis an das Thor des »guten Orts«, da der Eintritt in denselben den Frauen nicht gestattet ist, und vertheilte ihre eigenen Ersparnisse an die schreienden Bettler. Als sie zurückkehrte, blieb sie an der Thür des verwaisten Hauses einen Augenblick stehen, als wolle sie fragen: »Darf ich hier noch zu Hause sein?«

Aber Bärmann trat ihr mit verweinten Augen entgegen und führte sie schweigend bis an ihre Zimmerthür. »Fräulein Katz,« sagte er dann, mit thränenerstickter Stimme, »greifen Sie sich nicht zu viel an, Sie haben das Bewußtsein, für den Seligen, der Friede sei mit ihm! gesorgt zu haben wie ein eigen Kind, und er wird es Ihnen dort gedenken und hier gedacht haben! Das Gericht hat das Comptoir und das Zimmer des Seligen versiegelt, aber es ist ein Testament da; ich weiß, wo es liegt, und es soll heut Nachmittag eröffnet werden. Was zögern Sie, in's Haus zu treten, Fräulein Katz? Bin ich doch da, und wer weiß, wer von uns Beiden das Recht haben wird, den Andern einzuladen, daß er da bleibt!«

Emilchen drückte ihm die Hand und verschloß sich in ihr Zimmer und die Besuche, die zahlreich kamen, »Menachum owel« zu sein (die Trauernden zu trösten), ließ sie abweisen. Stumm und thränenlos, den Kopf auf die Hände gestützt, saß sie lang und rief aus ihrer Seele das Bild ihres Wohlthäters mit all' seinen seltsamen Zügen hervor. Dabei nickte sie freundlich mit dem Kopf, als erzähle er ihr wieder seine Erlebnisse, seine Anekdoten und dergleichen Sachen alle mehr!

Nachmittags kam ein Rath vom Stadtgericht und der Prokurator Alsberg als Sachwalter der Gemeinde. Man löste die Siegel vom Zimmer des Verstorbenen und Bärmann übergab den Pultschlüssel, den er in dessen Kleidern gefunden. Das Testament lag obenauf in der ersten Schublade: »In Gegenwart meiner Mündel Emilie Katz zu eröffnen«, stand auf dem Umschlag. Man ließ Emilchen herabrufen. Beim Eintritt in das leere Zimmer, aus dem sie sonst die vertraute Gestalt des Onkels gegrüßt hatte, zuckte sie heftig zusammen und einer ihrer Krampfanfälle schien sie zu bedrohen. Aber Bärmann ergriff ihre beiden Hände und hielt sie so lange, bis sie sich beruhigt hatte. Sie setzte sich nieder, doch während der Gerichtsrath das Testament entsiegelte und verlas, schweiften ihre Blicke über all' die bekannten Gegenstände, als suchte sie unablässig die entschwundene groteske und doch so theure Gestalt.

Das Testament ordnete an, daß Bärmann das Geschäft fortführen und neben einem Legat von zehntausend Thalern seinen bisherigen Gehalt bis auf Weiteres fortbeziehen solle. Er habe ein genaues Inventar aufzunehmen, um den Stand des Vermögens festzusetzen, was bei den vielfachen Ausständen und den angehäuften, schwer zu schätzenden Vorräthen dem Erblasser zu bestimmen unmöglich sei. Bärmann solle in's Haus ziehen und Alles in gewohnter Treue verwalten für den rechtmäßigen Erben. Als solchen bezeichnet er vorläufig seinen Neffen Jakob Markus, unbekannten Aufenthalts, wahrscheinlich in Amerika, wenn dieser noch lebe und ein »ordentlicher Mensch« sei. Ein Aufruf an denselben sei in deutschen und amerikanischen Blättern zu erlassen. Wenn nach einer Frist von drei Jahren sich der Erbe nicht selbst oder durch legale Bevollmächtigte gemeldet habe, so solle Bärmann in alle seine Rechte treten. Indessen solle er im Geschäft wie im Haus vollkommen freie Verfügung haben über Alles, was er »im Sinne des Erblassers« zu thun für angemessen halte. Für die jüdischen und christlichen Armenanstalten waren keine bestimmten Legate vermacht, auch in diesem Punkt solle Bärmann »im Sinne des Erblassers« verfügen. Von Emilie Katz war mit keinem Wort die Rede. Allerdings war das Testament aus früherer Zeit datirt; desto befremdender war die Aufschrift: »In Gegenwart meiner Mündel zu eröffnen«.

Bärmann hörte die Vorlesung mit fieberhafter Spannung an. Die Versorgung, die ihm zugedacht, die glänzende Aussicht, die ihm eröffnet war, schien er fast überhört zu haben, ungeduldig wartete er, was noch kommen würde, und als nichts mehr kam und der Gerichtsrath das Papier zusammenfaltete, schlotterten Bärmann's Beine so heftig, daß er sich niedersetzen mußte. Seine Augen stierten über die Brille hinaus auf Emilchen, die wie in sich verloren da saß. Eine lange, peinliche Pause folgte der Vorlesung.

»Bin ich hier noch nöthig?« fragte Emilchen mit bewegter Stimme.

Der Gerichtsrath schüttelte den Kopf.

Bärmann war so erstarrt, daß er sie nicht zurückhielt, als sie mit einem wehmüthigen Blick auf das verödete Zimmer davonging. Aber plötzlich sprang er auf. »Es ist nicht möglich!« rief er aus, »es muß noch ein anderes Schriftstück da sein, das Testament ist aus früherer Zeit.« Er öffnete den Schreibtisch, er warf alle Papiere heraus, jede Lade zog er zehnmal auf. »Es ist nicht möglich,« wiederholte er fortwährend. »Kein Legat für seine Mündel, kein Wort über Fräulein Katz! Und sie selbst erwähnt nichts und weiß von nichts, es ist nicht denkbar! Sagen Sie selbst, meine Herren, ist das möglich!«

»Darüber steht dem Gericht kein Urtheil zu!« erwiederte der Rath, indem er aufstand und sich den Rock zuknöpfte.

»Doch, doch,« warf der Prokurator Alsberg ein, ein schöner Mann mit freundlichen dunklen Augen, »ich verstehe Ihr Befremden, lieber Herr Bärmann, denn ich habe den vortrefflichen Mann persönlich gekannt. Aber eben deßhalb mache ich Sie auf einen Passus des Testaments aufmerksam, den Sie nicht hinlänglich zu würdigen scheinen. Der Erblasser hat es Ihnen anheimgestellt, im Geschäft wie im Hause sofort jede Verfügung zu treffen, die Ihnen in seinem Sinn angemessen erscheint. Es dünkt mich einer jener sonderlichen, aber charakteristischen Züge des seligen alten Herrn zu sein, daß er die Zukunft seiner Mündel aus seiner Hand in die Ihrige legt. Ich will nicht so indiskret sein,« fügte er lächelnd hinzu, »mich deutlicher auszudrücken, aber Sie werden mich verstehen, lieber Bärmann.«

»Nicht ganz,« stotterte Bärmann, dem plötzlich alles Blut in die bleichen Wangen schoß. »Aber ich danke Ihnen tausendmal, lieber Herr Prokurator, für diese – Beruhigung.« Er drückte ihm heftig die fleischige Hand; die Herren verabschiedeten sich.

Eine Stunde später flog das Gerücht des seltsamen Testamentsergebnisses durch die Stadt. »Schlemilchen bleibt Schlemilchen!« hieß es allgemein. »Warum?« sagte der alte Lewy, »Bärmann wird sie heirathen; wenigstens lauft der nicht gerad in sein Unglück!«

Als Bärmann einige Tage darauf Emilchen noch einmal befragen wollte, ob ihr keine spätere Verfügung des Onkels bekannt sei und von dem Testament zu sprechen begann. wies sie dieß Gespräch mit Entschiedenheit zurück.

»Es thut mir weh,« sagte sie, »von solchen Dingen in der Schiwe (siebentägigen Trauer) zu sprechen, die doch dazu eingesetzt ist, an den geliebten Todten zu denken. So viel ich gehört habe, denn meine Gedanken waren, Gott weiß es, wo anders! ist es Ihre erste Pflicht, den rechtmäßigen Erben zu erforschen und indessen Sorge zu tragen, daß sein Erbtheil gewissenhaft verwaltet werde, dessen bin ich von Ihnen überzeugt, lieber Bärmann, sowie auch« – und sie ergriff seine Hand – »daß Sie ein armes Mädchen nicht verlassen werden!«

Thränen traten in Bärmann's Augen. »Sie irren sich, Fräulein Katz,« erwiederte er, »ich habe im Sinne des Seligen vorläufig jede Verfügung zu treffen; im Sinne des Seligen sind und bleiben Sie bis auf Weiteres die Herrin des Hauses!« Er verneigte sich und ging.

Emilchen blickte ihm nach, dann eilte sie zur Kommode hin, aber sie blieb davor stehen; »es ist besser so!« sagte sie, indem sie einen feuchten Blick auf den Spiegel warf.

Mit verdoppeltem Eifer ging Bärmann an das Werk, das ihm der verehrte Todte und die verehrte Lebende an's Herz gelegt hatten. Das Inventar wurde mit Hülfe eines Tagschreibers aufgenommen, die chaotischen Vorräthe wurden geordnet und in öffentlicher Auktion verkauft, ein frischer Lebenspuls verjüngte das alte Geschäft, Bärmann schien zehn Hände und eben so viele Füße bekommen zu haben, seine frühere Zaghaftigkeit war einer fieberhaften Thätigkeit und Entschlossenheit gewichen. Das Resultat seiner Anstrengungen überstieg seine eigenen Erwartungen; das Vermögen stellte sich als ein höchst beträchtliches heraus. Bärmann dachte nicht daran, sein Legat aus dem Geschäft zu ziehen, er betrachtete sich als stillen Theilhaber des zukünftigen Erben, der noch immer in ein mystisches Dunkel gehüllt war. Die Aufrufe, die längst in allen Zeitungen erschienen waren, hatten bisher auf keine Spur des Verschollenen geführt. –


 << zurück weiter >>