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5. Kapitel.
Islands Maul.

Suche der Leser keine bissige Meinung hinter dieser Überschrift; sie ist ganz ernst gemeint. »Maul« ist ein sehr ehrwürdiges altgermanisches Wort, das früher keineswegs üblen Nebensinn oder unedle Bedeutung hatte. Es heißt nichts anderes als »Sprache«. Diese ursprüngliche Bedeutung findet sich noch heutigentags in der Ausdrucksweise, es habe einer »ein böses Maul«. Das sagt nichts anderes als: er führt eine böse Sprache. Reichlich sinnlos ist es daher, einen so alten, guten, urgermanischen Ausdruck salonfähig machen zu wollen durch »einen bösen Mund haben«. Dies könnte bestenfalls bedeuten: einen wunden, einen entzündeten Mund haben, der also des Arztes, nicht des Erziehers bedarf. Man begegnet diesem »Maul« auch sonst noch im Deutschen, z. B. im Mittelalter im Namen der Gräfin Margarete Maultasch. Wenn diese Dame im Geschichtsunterricht aufmarschiert, wird der schmunzelnden Schulklasse sogleich erklärt, sie habe ihren Namen nach dem Tiroler Schlosse Maultasch, nicht etwa von Hängebacken gleich Taschen so geräumig. Was heißt aber Maultasch? Ich weiß nicht, ob's schon einer erklärt hat; doch die Deutung dürfte leicht zu geben sein. »Tasche« ist offenbar in diesem Falle der deutsch gewordene Klang für das italienische tassa. Tassa, heute Steuer, Taxe bedeutend, hieß im Alt-Italienischen noch Grenzmarke, Grenze. Maultasch würde demnach so viel wie »Sprachgrenze« sein. Mag sein, daß der Verfasser sich irrt, denn er ist kein Sprachforscher; wahrscheinlich klingt diese Erklärung aber wohl, zumal zusammengenommen mit der örtlichen Lage des Schlosses. – Doch kehren wir von den Tiroler Firnen zu Islands Gletschern zurück. Island hat sein eigenes Maul. Seine hunderttausend Seelen sprechen noch heute ein Altnordisch, das beinahe unverändert die Sprache der Edda ist. Aus diesem Altnordischen, das auch unserer Vorväter Maul war, sind alle germanischen Sprachen hervorgegangen, Deutsch sowohl wie Dänisch, Norwegisch, Schwedisch und wohl auch holländisch. Das Isländische ist aus ihm nicht hervorgegangen; es ist diese Sprache noch heute! Mit so geringen Veränderungen, daß diese als solche kaum gelten können.

Es ist den Isländern hoch anzurechnen, daß sie dieses ehrwürdige Sprachgut durch mehr als tausend Jahre in die Gegenwart herübergerettet haben. Gerettet haben sie es, bewußt erhalten, und sie haben damit eine kulturelle Leistung vollbracht von unschätzbarem Werte, ein geistiges Opfer auch, so schwer, daß es nur zu erklären ist durch tiefen frommen Sinn für das Heiligtum völkischer Eigenart. Ja, eine nähere Betrachtung lehrt, daß man ihnen mit der Hut dieses Sprachschatzes eine gradezu unerhörte Selbstverleugnung nachrühmen muß. Gewiß, nicht tausend Jahre hindurch; Jahrhunderte lang erzwangen äußere Umstände ein Festhalten an der Vorvätersprache. Das Land lag fern dem Weltverkehr. Fremde wurden noch künstlich ferngehalten durch das Handelsmonopol, das dänische Aussauger ihrem Geldbeutel zuliebe mit Gewalt aufrecht erhielten. Arm war das Volk, weder wirtschaftlich noch kulturell vermochte es aufzublühen. Eine eigene Literatur konnte nicht wachsen. Da der isländische Bauer schon damals wie noch heute die langen Winternächte, die endlosen Monate erzwungener Untätigkeit mit Lesen ausfüllte – und mit Vorlesen vor dem Gesinde in der Spinnstube –, so stand ihm an Lesestoff nichts zu Gebote als jene alten Schriften, die in und nach der Besiedelung Islands entstanden, die Landnáma-Bücher und die Sagas. Und ihr ständiges Lesen und Vorlesen erhielt Wortwendung und Ausdrucksweise der Vorfahren lebendig – lebendig auch als Sprache des Alltages. Die Zeit des isländischen Hungers und des Elendes, gedüngt mit beispielloser Lebensnot eines zähen, gesunden, aber kleinen Volkes – sie hat köstliche Frucht getragen. – Auch diese Zeiten wichen. Ein neues Geschlecht in Dänemark besann sich auf Christen- und Menschenpflicht, richtete das gebeugte, ausgepowerte Land auf, suchte an seinem Volke gutzumachen, was die Väter gesündigt. Der Isländer wurde aus dem Sklaven, dem Heloten, zum Bürger. Doch er vergaß nicht, daß er Isländer, kein Däne war, und vergaß auch seine Muttersprache nicht. Was bisher die Not erzwungen, ward ihm jetzt ein frei geübter Gottesdienst an der reinsten Ausdrucksform seiner Volksart: an der Sprache. Als Heiligtum bewahrt er sie, mit Stolz, Bewußtsein, aus freiem Willen seit nunmehr gleichfalls Jahrhunderten. Geschlecht auf Geschlecht bekennt sich zu dem gleich frommen Sinn. Und nicht nur bewahrt wird die Sprache, auch gereinigt, wiederhergestellt, soweit sich Fremdkörper eingenistet hatten, was schließlich nicht zu vermeiden ist, da nicht alle über Sprachgelehrsamkeit und -verständnis verfügen; aus Unkenntnis sündigt noch heute so mancher gegen seine Muttersprache – nicht nur in Island –, aber man läßt derartiges hier nicht aufkommen. Modeworte, Vielschreiberstil, Fremdworte finden in Island keinen Boden. So miserabel die Zeitungen sind, wie schon dargelegt, das eine ist ihnen unumwunden nachzurühmen: ihre Sprache ist Isländisch, echtes, ohne blöden Sprachflitterkram; ohne sinnlose Modemätzchen, ohne geistreich tuende Sprachverrenkungen und Sprachvergewaltigungen. Sprachverderber, Sprachverbrecher wie etwa bei uns ein – sonst geistreicher – Maximilian Harden würden in Island gesteinigt werden – vielleicht buchstäblich.

Sprache ist nicht nur eine Sache der Kultur, sie ist auch Angelegenheit des Wirtschaftlichen, des nüchternen Alltagslebens. Unter diesem Gesichtspunkte muß hier klargelegt werden, daß Island mit der Bewahrung seiner Volkssprache letzten Endes ein Opfer bringt – ein Opfer, schwer und nicht zuletzt zu spüren am Geldbeutel. Sprachen sind chinesische Mauern. Große Völker merken davon wenig. Ein Volk wie etwa das deutsche ist so reich schon allein auf Grund seiner Millionenzahl, daß jedes seiner Glieder sich auf jedwedem geistigen, überhaupt kulturellen Gebiete in der Muttersprache nach Herzenslust tummeln kann. Seine Literatur ist unerschöpflich, nicht nur die schöne, auch die wissenschaftliche wie die rein praktische, jeder Deutsche kann in seiner Muttersprache lernen, wonach ihm Herz und Sinn steht. Jeder, der in deutscher Sprache etwas zu sagen hat, findet sein Publikum in genügendem Maße. Jeder Beruf kann in Deutschland und in deutscher Sprache ausgeübt werden – geht es nicht hier, so dort: Land und Volk sind groß genug! – Wie anders in Island! Hunderttausend Seelen – davon wenigstens zwanzigtausend Kinder bis zu fünfzehn Jahren, für die fast nur Schulbücher in Frage kommen; an zehntausend alte Leute, mit dem Leben sozusagen fertig. Der Rest von siebzigtausend zur Hälfte Frauen; sie lassen sich an einfacher Lesekost genügen, von den fünfunddreißigtausend Männern wenigstens zwanzigtausend durch Beruf, harte Arbeit dem Buche entfremdet. Zahlen reden! Wie kann da Literatur gedeihen! Und kann Sprache ohne Literatur leben?

Zum Glück für die Sprache ist der Isländer der Dichtung sehr ergeben. Die Werke der anerkannten Dichter finden ihre Liebhaber, sie »rentieren« sich. Aber Wissenschaftliches? Das kann auf genügenden Absatz in Island nicht rechnen; die Menschenzahl ist eben zu klein. Dagegen hilft alle glühende Liebe zur Muttersprache nicht. Werke, die einfach vorhanden sein müssen – z. B. Wörterbücher für Englisch, Dänisch –, können nur mit staatlicher Unterstützung erscheinen. Der Staatssäckel wird da nicht wenig in Anspruch genommen. Rechtskunde, Gottesgelehrtheit, sie müssen ihre isländische Literatur haben, sonst geht die völkische Eigenart und mit ihr die Sprache zugrunde, von kleineren Arbeiten wie politischen, wirtschaftlichen Berichten, amtlichen Vorschriftensammlungen, Postmitteilungen ganz zu schweigen. Zeitungen und Zeitschriften mögen sich – mehr oder weniger kümmerlich – selber tragen. Alles andere muß beiseite stehen, auf Drucklegung in isländischer Sprache verzichten. Wer studieren oder sich sonst eine höhere Bildung aneignen will, ist auf fremde Sprachen angewiesen. Um etliche Auslands-Semester kommt kein isländischer Student herum, trotz der eigenen Landesuniversität. Musiker, Maler, Bildhauer, sonstige Künstler sind überhaupt aufs Ausland angewiesen; es gibt diesen oder jenen tüchtigen Vertreter dieser Künste im Lande, aber der tüchtige Schaffer ist nicht immer auch der tüchtige Lehrer. Den Kaufleuten ergeht es nicht besser; fast ließe sich sagen: schlimmer. Ein späterer Abschnitt wird zeigen, daß Island nur von Ausfuhr lebt, andererseits fast alles einführen muß. Die Kaufleute hängen also noch mehr vom Auslande ab als die anderen. Nicht eine, mehrere fremde Sprachen müssen die meisten beherrschen, wenigstens für schriftlichen Verkehr. Kurzum, wer in Island anderes als Bauer, Fischer sein will, muß wenigstens eine fremde Sprache erlernen, muß sie sprechen, beherrschen lernen! Zu seinem Glück fällt dem Isländer solches Erlernen nicht schwer, und z. B. Dänisch haben die meisten von denen, die es sprechen können, im Umgang gelernt, wenigstens seinen Gebrauch für das Alltägliche. Doch für gesteigerte Ansprüche, für kaufmännischen Briefwechsel wie vor allem für geistige Berufe ist schulmäßiger Unterricht nicht zu entbehren; es muß Grammatik »gepaukt« werden. Und man lernt nicht nur Dänisch, sondern auch Englisch, Deutsch und – in mäßigsten Grenzen – auch Französisch. Mag das Lernen nun noch so leicht fallen, kostbare Zeit verschlingt es, und wo unsere jungen Leute schon mitten im Studium selber stehen können, da hat Islands Jugend erst die voraussetzenden Sprachgrundlagen zu erwerben.

Eine chinesische Mauer ist diese Sprache. Die Isländer selber übersteigen sie wohl ohne allzugroße Schwierigkeiten, doch dem Fremden ist sie eigentlich unüberwindlich. Sie verhindert geistige Befruchtung vom Auslande her. Island besitzt zwar selber hochgebildete Männer, aber ihre Zahl ist zu gering, als daß alles Wissen seine Vertreter hier haben könnte. Mit den Naturwissenschaften sieht es nicht gut aus. Von Musikästhetik versteht überhaupt kein Mensch hier etwas. Ästhetik der bildenden Künste hat gleichfalls keinen Vertreter, wenngleich einige Künstler durch gediegene Werke ein wenig erzieherisch wirken. Hier müßte ausländisches Wissen helfend eingreifen. Aber wer will sich hier verständlich machen? Gewiß, man kann vor einem gebildeten Publikum z. B. auf Deutsch Vorträge halten, doch nur mit größter Behutsamkeit, so leicht verständlich, wie nur irgend möglich, und selbst dann muß man erwarten, daß die Hälfte des Gesagten doch noch unverstanden bleibt. Die geeignetsten Leute dürften die Dänen sein; aber erstens sind sie nicht beliebt, und zweitens sind sie selber nur ein kleines Volk, das an demselben Übel wie Island krankt, obschon nicht im selben Maße. Ausländische Schauspieler, ausländische Bühnensänger? Undenkbar! Auch dies ist ein Grund für die Unmöglichkeit, Island ein stehendes, künstlerisch geleitetes Theater zu geben. Schwierigkeiten auf Schwierigkeiten, die verständlich machen, daß es in Island an manchem fehlen muß, was man anderwärts als der Kultur unentbehrlich ansieht. Schwierigkeiten, die gewürdigt werden müssen als bewußtes, stolz getragenes Opfer im Dienste der Erhaltung unschätzbaren germanischen Sprachgutes. Sehe niemand den Isländer über die Achsel an, daß er in manchem nicht »mitkann«! Ein Märtyrer ist er einer hohen, freiwillig übernommenen Sendung; einer Sendung, die nur er erfüllen kann, kein anderes Volk!

siehe Bildunterschrift

Gold- und farbenstrotzender Vordruck für Depeschen, durch die dem Empfänger Glückwünsche ausgesprochen werden.

Ja, eine chinesische Mauer ist dem Fremden dieses altehrwürdige Isländisch. Unmittelbar wie mittelbar erschwert es ihm die Verständigung mit diesen lieben Menschen außer, sie kämen ihm selber zu Hilfe, indem sie seine Sprache mit ihm reden. Doch der einfache Mann aus dem Volke, das Hausmädchen, die Waschfrau – sie kennen nur ihre Muttersprache. Nun kommt ein Deutscher so ziemlich überall durch die Welt, wo europäische Sprachen gesprochen werden. Besitzt die Menschheit doch bereits eine »Weltsprache«, wenigstens in den Anfängen: jene internationalen Fremdwörter für Dinge des alltäglichen Lebens, denen zufolge ein Fernsprecher überall Telefon heißt, ein Auto eben ein Auto, ein Bahnhof eine Station, Gepäck Bagage usw. Mit diesen meist den toten Sprachen entstammenden Brocken kann sich ein gewandter Reisender schon ein ganzes Stück durch die Welt helfen, nur nicht in Island! Der Isländer kennt keine Fremdwörter, auch nicht solche wie die angeführten internationalen; er kennt sie tatsächlich nicht. Alles, jeden Fortschritt auch der jüngsten Technik, tauft er auf Isländisch um und gebraucht nur diese Bezeichnung. Selbst vor geographischen Namen macht er nicht Halt. Städtenamen werden noch am ehesten geschont, aber Länder-, Völkernamen! Kaum wiederzuerkennen, viele nicht einmal zu erraten. Hat man hier also mit Menschen zu tun, die nichts als Isländisch sprechen, so ist eine Verständigung so gut wie unmöglich. Ungeheuer schwierig bleibt sie selbst dann, wenn man sich die notwendigsten Redewendungen eingetrichtert hat. »Wissen Sie … wollen Sie … haben Sie … kennen Sie …?« das kann man sagen, aber nun: Universität, Museum, Theater, Konzert, Monument, Elektrizität, Telegramm, Serviette – alles böhmische Dörfer, nie gehörte Klänge! Ein Glück, daß man allgemein wenigstens W. C. versteht, sonst geriete man auch da noch in Schwulitäten. Im spanischen Unterricht: salto = Wasserfall ist zu erklären. »Wissen Sie nicht, was ein Salto ist, hörten Sie nie von einem Salto mortale im Zirkus oder Varieté, sahen Sie keine Abbildungen davon in den illustrierten Blättern?« Vergebliches Bemühen! Salto ist ebenso wenig wie Zirkus, Varieté, illustriert je an dieses Ohr gedrungen! In sämtlichen Sprachen Europas mag einer beschlagen sein – in Island kommt er in die Brüche, steht hilflos da wie ein Aschanti, der unter die Eskimo geriet. – Die Isländer sind also »Puristen«? Rotten Fremdwörter mit Fanatismus aus? Ja, dies tun sie. Sie tun es, obgleich auch sie sich das Leben damit schwer machen; kommen sie unter andere Völker, so fehlt ihnen die Kenntnis aller dieser Allerweltswörter. Sie haben aber erkannt: halten sie ihre Sprache nicht völlig rein, nicht bis auf den letzten Rest rein, dann ist es um diese Sprache über kurz oder lang geschehen. Eine Sprache wie die deutsche mit unvergänglichen Sprachdenkmälern, mit ständig nachwachsender Literatur, eine Sprache im Gebrauch von vielen Millionen, die vermag hie und da ein Fremdwort zu ertragen, stirbt daran nicht gleich. Aber hunderttausend Menschen mit eigener Sprache müssen Puristen sein, sonst wuchert das fremde Unkraut hoch und erstickt die Pflanze – die ist zwar gesund, doch zart, braucht Pflege und kann ihren spärlichen Nährboden nicht mit fremden Gewächsen teilen.

siehe Bildunterschrift

Dr. Alexander Johannesson, Dozent an der Landesuniversität, früher deutscher Konsul, Übersetzer der »Jungfrau von Orleans«.

Die Frage der Sprachreinigung ist bei uns noch eine »Frage«. In Island ist sie keine mehr, ist gelöst. Dieser und jener mag hören wollen, ob sie glücklich gelöst wurde, oder ob Narrenkleider aus den neuen Wortgewändern wurden. Einige Beispiele seien daher angeführt. Die Universität ist eine Hochschule geworden; ein Museum ist eine Sammlung, mit Hinzufügung einer näheren Bezeichnung des Gebietes, das sie umfaßt. Ein Theater heißt Spielhaus, ein Konzert Tonspiel (prächtiges Gegenstück zu »Schauspiel«!). Für Monument gibt es ein eigenes Wort, das genau gebildet ist wie unser deutsches »Denkmal« und auch dasselbe besagt. Elektrizität ist aus dem Griechischen übersetzt und heißt nun auf Isländisch: Bernsteinkraft. Statt Telegramm: Drahtsendung! Der Telegraph heißt schlecht und recht Schreibedraht, das Telefon Sprechdraht. Für Bagage hat die Sprache seit alters her einen eigenen Ausdruck, und der ist derselbe wie der deutsche »Troß«. Klavier, Piano, Pianino, Pianoforte, Fortepiano gibt es in Island alles nicht! Das Instrument hat sich in eine harmlose Schlagharfe verwandelt. Zu Theater oder Konzert kauft hier niemand Billetts, sondern »Zugangsmittel«. Die Zigarre heißt hier Windel – weil sie ebenso gewickelt ist. Ein Neger wird nicht mit der Zwangsanleihe aus dem Spanischen benannt ( negro = schwarz), sondern ist – höchst einfach – eben ein »Schwarzer« – wie auch in Deutschland das Volk sagt. Das ehemalige Veloziped ist bei uns ja, Gottlob, längst ein einfaches Rad geworden und heißt scherzhaft wohl auch Stahlroß; der Isländer nennt es im Ernste Radpferd. Eine geradezu köstliche Bezeichnung hat Island für das Auto gefunden. Es heißt – – Zitterwagen, Bebewagen (mit dem Ton auf der ersten Silbe)! Weil es zittert, bebt! Ein Gegenstück also zum Zitter-Rochen. Etwas ähnlich Gescheites sollte in Deutschland einer vorschlagen: der Hohn und Spott!

Erfrischend unbekümmert, geradezu, ohne Umschweife, ohne Bedenklichkeit ist dies alles beim Schopfe gepackt, hineingegriffen ins Volle der Sprache, aus ihrer Fülle geschöpft. Ohne Angst vor überstudierten »Geistesautoritäten«, die solchen Purismus banal, stupend, banausisch schimpfen könnten – wie es in Deutschland vorgekommen sein soll. So weit geht der Isländer aber nicht, daß er solche Lehnworte wie Kirche, Schule, Nase und ähnliche ausmerzen wollte, die längst Heimatrecht genießen, auch in seiner Sprache. Er hat sich auch nicht abgequält, die ganze Stufenleiter potentatlicher Prädikate zu übersetzen, alle die Erlaucht, Durchlaucht, Hoheit, Königliche Hoheit, Majestät. In Island ist jeder Fürst, ob groß, ob klein, ob Beherrscher Monacos oder britische oder dänische Majestät, nichts anderes als: Hans Hátinger, »Seine Hoheit«.

Ursprünglichkeit, Urwüchsigkeit sind die anziehende Wesensart dieser Sprache. Geht man durch Reykjaviks Straßen und beachtet die Hausschilder der Handwerker und Gewerbetreibenden, so findet man sehr bald heraus, daß sich hier noch jedes Gewerbe »Schmied« nennt. Es gibt nicht nur Hufschmied, Nagelschmied und Goldschmied, auch der Schuster ist ein Schuhschmied, der Uhrmacher ein Uhrschmied, der Tischler ein Holzschmied und sogar der Glaser ein Glasschmied! Druckschmied für Drucker ist eine jüngere entsprechende Hinzubildung. Wenn also in der germanischen Sage Held Wieland den Ehrennamen »der Schmied« führt, so dürfte noch nicht ohne Weiteres feststehen, daß er ein Waffenschmied gewesen sein muß, wie von den Herren Sachverständigen bisher wohl ohne Nachprüfung voraussetzungslos angenommen wurde. Jedes Handwerk war bei unseren Vorvätern »Schmiede«-Arbeit. Heißt Wieland einfach und schlechthin »der Schmied«, ohne nähere Bezeichnung, welchen Handwerkes Schmied, so könnte wohl auch der Schluß erlaubt sein, daß »Schmied« hier Kollektivbegriff sein soll und heißt dann »Alleskönner«. Verfasser erteilt strebsamen jungen Germanisten das Recht, aus der Untersuchung dieser seiner Meinung (und – natürlich! – Widerlegung) eine Doktorarbeit zu bauen. – Gradheraus, grundehrlich ist es, wenn der Isländer einen Sarg »Leichenkiste« nennt; rührend harmlos in dieser völligen Schmucklosigkeit, Unverblümtheit. Ebenso urwüchsig ist eine Bezeichnung für Eissporen, also für jene mit Eisensporen oder -dornen versehene Vorrichtung, die man sich unter die Stiefelabsätze schnallt, damit man sich bei Glatteis nicht elegant hinsetzt; die heißen, was sie sind: Menschen-Stachel! Bitte, wer kann's einfacher sagen! – In harmlosen Dingen, die dem Gebrauche dienen oder sonstwie zum Leben des Alltags gehören, finden wir viele glückliche, zum Teil äußerst anschauliche Ausdrücke. Wo wir »Eingekochtes« oder »Eingemachtes« sagen, spricht der Isländer von »Niedergesottenem«. Sieden ist hier viel richtiger, viel treffender, viel wahrer als unser Kochen oder gar das schwammige, alles bedeuten könnende Machen, und »nieder« ist, im Gegensatz zum deutschen reichlich geistlosen »ein«, gradezu gesehen. Dieses »Niedergesotten« ist mit einer Anschaulichkeit gewählt, wie sie in Deutschland nur die Sprache des Berliners kennt (des wirklichen). Unmittelbar aus Anschauung entstanden ist auch eine Ausdrucksweise, deren sich hier jede Zeitung bei Berichten über Feuersbrünste, Hauseinäscherungen bedient; es heißt von solchem Hause, es brannte til kaldra kola, zu kalter Kohle! Es brannte nicht nur zu Kohle schlechthin, nein, zu kalter Kohle, brannte so lange, bis das letzte Fünkchen mangels Nahrung erlosch. Und es brannte nicht zu Asche, sondern zu Kohle – sein Baustoff war eben Holz, und das brennt nur außen; innen kohlt es. – Etwas umständlich, aber dem tatsächlichen Vorgange abgelesen ist die Bezeichnung »herzukommendes Volk« für Fremder oder Fremde. Hier hat Volk noch den alten schlichten Sinn, der nicht mehr besagt als: irgendwer. – Es ist nicht zu verkennen, daß sich die Ausdrucksweise der Sprache manchmal auch vergriffen hat. Zum Beispiel dürfte logisch nicht zu begründen sein, daß die Hühner in Island nicht Eier legen, sondern werfen – und »auf den Eiern liegen« für »brüten« erscheint auch weniger treffend als unser deutsches »sitzen« für diese ehrsame Gluckentätigkeit. Etwas nachdenklich kann man werden, wenn man herausfinden muß, daß es, wie dem Alt-Isländischen auch, unseren Vorvätern an einem eigenen Worte für die Frau (im Gegensatz zum Manne) gefehlt hat. »Frau« ist noch »Herrin«, und »Weib« ist anwendbar nur auf Frauen, denen man irgendwelche höheren Gaben zuschrieb. Und bedenklich wird man bei der Entdeckung, daß »Mann« zugleich überhaupt »Mensch« hieß – als hätte man die Frau nicht zu den Menschen gerechnet! Diese wie Mißachtung des schöneren Geschlechtes anmutende Erscheinung zeigt sich nun freilich in den meisten anderen indogermanischen Sprachen auch, und dies vermag uns vielleicht zu trösten. Aber wie steht es denn nun mit der von Tacitus berichteten hohen Verehrung der Frau bei den Germanen? Ist hier ein Widerspruch aufzuklären? – Island hat ein jüngeres Wort für die Frau (als Gegensatz zum Manne) und kann nun wohl »Frau« in jedem Sinne ausdrücken. Es tut's aber nicht, sondern folgt noch jetzt dem alten Brauche: wird von Frau im Gegensatz zum Manne gesprochen, so heißt sie noch heute – wie in fast jeder Zeitung zu lesen – »Weibsmensch« oder eigentlich »Weibmann« – und ist das ganze Geschlecht gemeint, so spricht Island eben vom »Weibervolk«.

Es dürfte nunmehr an der Zeit sein, auch einmal eine Probe der isländischen Sprache zu geben, schon damit der geduldige Leser sich von etlichen absonderlichen Buchstaben überzeugt, die der Ausländer hier zu lernen hat (eine Schwierigkeit, die freilich das Geringste an dem ganzen Lernen ist). Da Bescheidenheit eine Zier ist, der Verfasser aber jeden Zierat verschmäht, so mögen hier einige Sätze folgen, die eine der hiesigen Zeitungen über ihn selber brachte Siehe S. 94.. Die nebenstehende Übersetzung folgt nach Möglichkeit dem isländischen Wortlaute, ohne Rücksicht darauf, daß sie klingt wie Kindergestammel.

Der Leser wird sogleich herausfinden, daß wir hier wieder auf einen ganz köstlichen Ersatz eines Fremdwortes gestoßen sind: »Innenkraftbewegung« für »Sport«! Mag vielleicht mancher gelehrte Silbenstecher in Deutschland diese »Innenkraftbewegung« sinnlos, albern, roh zusammengehauen nennen – die Mehrzahl der Leser wird sich sicherlich mit dem Verfasser über den gesunden Sinn und die erquickende Unbekümmertheit freuen, mit der Island seinem »Muttermaul« Ellbogenfreiheit gegenüber fremdsprachigen Schmarotzern verschafft.

Unsere kleine obige Sprachprobe läßt schon ein wenig die Mängel erkennen, die dem Isländischen gegenüber weitergebildeten Sprachen anhaften. Es ist etwas überaltert, krankt an fühlbarer Schwerfälligkeit, muß manchen Umweg machen, um diesen oder jenen Gedanken

Fyrirlestur

um hvernig syndaflóðið kom, ætlar dr. Adrian Mohr að halda í lðnó í kvöld, eins og augl. var í blaðinu í gær. Fyrirlesturinn verður fluttur á íslensku. Áður hefir þessi maður skrifað ýmsar greinar um Ísland og Íslendinga, t. d. í »Leipziger-dagblað«. Greinarnar heita »Hvar liggur Ísland?«, »Hið nyrsta konungsríki« og »Mál Íslendinga«. Ber hann Íslendingum vel söguna, og segir landið vera mjög fagurt. Um laugardagana segir hann, að þeir dragi nafn af þvi, að allir »baði sig« þann dag. Svo séu Íslendingar hreinlegir. Og væri óskandi að satt væri. Því óprifnaðarorð hefir lengi legið á Íslendingum. En með íþróttahreifingunni hafa nýjar og hollar stefnur náð hér fótfestu (t. d. böð og baðferðir) til ómetanlegs gagns. þá hefir þessi þjóðverji einnig skrifað i önnur pýsk blöð, t. d. »Münchener Neueste Nachrichten«, »Deutsche Allgemeine Zeitung«. og er þar meðal annars bent á það, að Íslendingar séu engir eskimóar, eins og sumir úlendingar virðast enn halda.

Eine Vorlesung

um »Wie die Sintflut kam« beabsichtigt Dr. A. M. zu halten im »Idno« im (heutigen) Abend, so wie angezeigt war im Blatte im gestrigen (Tag). Die Vorlesung wird geliefert auf Isländisch. Zuvor hat dieser Mann geschrieben allerlei Artikel um Isländisches und Island, z. B. im »Leipziger Tageblatt«. Er besorgt den Isländern gute Sage (Ruf) und sagt, daß Island wäre sehr schön. Um den Badetag (Sonnabend) sagt er, daß er trage den Namen von dem, daß alle »baden sich« diesen Tag. So seien die Isländer reinlich. Und wäre zu wünschen, daß (es) wahr wäre. Denn Unreinlichkeitsruf hat lange gelegen auf den Isländern. Doch mit der Innenkraft(sport)bewegung haben neue und heilsame Tendenzen gefaßt hier Fußfeste (festen Fuß), z. B. Bäder und Badefahrten, zu unmeßlichem Nutzen. Ferner hat dieser Deutsche eben so geschrieben in anderen deutschen Blättern, z. B. »Münchner Neueste Nachrichten«, »Deutsche Allgemeine Zeitung«, und ist dort zwischen anderen gewiesen auf das, daß die Isländer seien keine Eskimo, so wie manche Ausländer anscheinend noch halten (glauben).

auszudrücken, der in den Sprachen großer Völker mühelos auszusprechen ist. In manchem ist es dem Deutschen an Kürze und Einfachheit überlegen. Gleich der Anfangssatz ist dafür ein Beispiel. Wir könnten uns da kaum anders ausdrücken als etwa: Einen Vortrag »über das Thema«, wo der Isländer einfach »um« sagt. Im Allgemeinen jedoch ist die Ausdrucksweise im Isländischen umständlicher. Es ist noch nicht das fein entwickelte Kunstwerk, das gutes, reines Deutsch in seiner heutigen Gestalt darstellt. In den Dingen des gewöhnlichen Lebens konnten wir ihm starke Anschaulichkeit nachrühmen, Treffsicherheit im Ausdrucke. Anders in Dingen, deren Erfassung eine gesteigerte geistige Tätigkeit voraussetzt. Wie meisterhaft unser Deutsch da arbeitet, sei an zwei kurzen Beispielen klargelegt; für die nicht wenigen, die die Sprache zwar richtig zu benutzen verstehen, aber nicht weiter darüber nachdenken, welches Kunstwerk sie ist. Hat schon einmal jemand darauf aufmerksam gemacht, welche Feinheit, welch treffsicherer Instinkt darin gelegen hat, die Zeit »ewig«, den Raum aber »unendlich« zu nennen? Jene also positiv zu bestimmen, diesen negativ? Daß Zeit ewig ist, wissen wir wirklich a priori; es ist wohl noch nie einer auf den Gedanken gekommen, sie müsse einen Anfang gehabt, könne ein Ende haben. Anders mit dem Raum (trotz Kant!). Hier sträubt sich der menschliche Geist zunächst, Unendlichkeit anzunehmen. Alle jungen Menschen, die über solche Fragen überhaupt nachdenken, kommen eines Tages auf den Punkt, zu sagen: der Raum kann doch nicht so ins Unendliche weitergehen, er muß doch einmal ein Ende haben! Und erst die Überlegung: was sollte dann aber hinter seiner Grenze sein? bringt sie zur Erkenntnis der Unendlichkeit – also erst der Umweg über den Verstand. Einen Begriff negativ bestimmen kann man nun auch erst auf diesem Umwege über den Verstand, während jeder wirklich aprioristischen Erkenntnis nur der positive Ausdruck angemessen ist. Raum somit negativ »unendlich«, Zeit positiv »ewig«. Wer hat die deutsche Sprache solche Treffsicherheit gelehrt? Ein ander Beispiel aus der Ästhetik. Ein Werk der bildenden Künste zu genießen, also mit dem Auge zu genießen, müssen wir tätige Mitarbeit leisten. Ein Bildhauerwerk muß man von allen Seiten betrachten, also umschreiten, und vor einem Bilde werden wir uns ähnlich verhalten: bald zurücktreten, bald näher herangehen. Wir lassen unsern Blick über den Gegenstand hingleiten, beschatten das Auge, kneifen es wohl auch zusammen, kurz, rein äußerlich genommen: wir haben körperlich dabei zu tun. Ganz anders bei der Musik. Da sitzen wir still, verhalten uns so unbeweglich wie möglich, verhalten uns völlig passiv. Nicht wir sind es, die mit dem Werk etwas machen (es etwa »abtasten«, wie bei der bildenden Kunst mit dem Auge), sondern das Werk macht mit uns etwas; es ist Subjekt, wir sind Objekt. Wer hat nun unsere Vorfahren gelehrt, daß man etwas »ins Auge fassen« kann? Wirklich fassen, zupacken! Nicht nur tätig, nein, gradezu aggressiv sein! – Aber »ins Gehör fassen« können wir nichts, und es fehlt jeder deutsche Ausdruck für eine Tätigkeit des Gehörorgans, der nur irgendwie nach der Vorstellung eines aktiven Verhaltens gebildet wäre. Haben die, welche Wort und Ausdruck im Deutschen erdachten oder sich wenigstens für Anwendung grade dieser Ausdrucksweisen entschieden – haben die sich und das Arbeiten der menschlichen Organe schon so fein beobachtet? Wer hat sie solche Treffsicherheit gelehrt? Von diesem Gesichtspunkte aus sollte einmal ein Gelehrter eine Untersuchung anstellen. – Als Laie in solchen Fragen hatte Verfasser früher angenommen, diese Ausdrucksweisen seien uralt. In Island überzeugt man sich, daß dem nicht so ist. Es fehlt in diesen feineren, geistigen Dingen nicht allein die Treffsicherheit, es fehlt überhaupt vielfach das passende Wort. So ist zum Beispiel eigentlich nicht möglich, auf Isländisch ein volkswirtschaftliches Lehrbuch zu schreiben. Die Sprache kann einen volkswirtschaftlich so grundlegenden Unterschied wie den zwischen Preis und Wert nicht machen, da es für beides nur ein Wort gibt. Fast rührend ist es, zu verfolgen, wie diese ehrwürdige Sprache sich in modernen Gesetzen drehen und wenden muß, um die feinen juristischen Begriffsbestimmungen auszudrücken; welche Umwege sie machen muß, um das juristisch einwandfrei, das heißt erschöpfend und völlig unmißverständlich zu sagen, was auf Deutsch auszudrücken eine Leichtigkeit ist (mag Juristendeutsch auch manchmal nicht vorbildlich schön sein). Am eigenen Leibe verspürte ich diese Schwierigkeiten, als ich daranging, Vorträge auf Isländisch zu halten oder, richtiger, zunächst einmal auszuarbeiten. Bei jenem Vortrage, von dem in der gegebenen kleinen Sprachprobe die Rede ist, handelte es sich um naturwissenschaftliche Dinge nach den Anschauungen Hans Hörbigers (Welteislehre); die Gedankengänge sind nicht einfach, und es ist schon ein Kunststück, sie auf Deutsch gemeinverständlich zu sagen. Für das Isländische boten sie Schwierigkeiten so groß, daß sie zum Teil überhaupt nicht zu überwinden waren. Ein vorzüglicher isländischer Sprachgelehrter, in vielen europäischen Sprachen zu Haus, besorgte die Arbeit der eigentlichen Übersetzung. Er mußte mit dem Verfasser über manchen Gedanken halbe Stunden lang beraten, um den Weg zu finden, ihn isländisch sagen zu können, und selbst da mußte noch manche »Pointe« unter den Tisch fallen!

In dieser Sprache, die so gar kein Rüstzeug für eine vorgeschrittene Gedankenwelt ist, wird gedichtet – in Poesie wie in Prosa! Werke der schönen Literatur entstehen in Island immer aufs neue. Ein Werturteil über sie zu fällen, ist für einen Land- und Volksfremden ein gewagtes Ding; aber es darf vielleicht gesagt werden: es besteht der Eindruck, daß die Poesie weit über der Prosadichtung steht. Dies mag eigentlich wundernehmen, denn die gebundene Form erfordert eine weit größere Schmiegsamkeit der Sprache als die freie. Dennoch ist selbst dem Fremden unschwer erkennbar, daß die poetische Kunstform wirklich Kunst ist, während die Prosa ein wenig ungelenk klingt. Kunst ist die isländische Poesie; aber sie ist auch » gekonnt«. Für unser Empfinden erscheint sie fast überladen: sie hat nicht nur den Endreim, sondern auch einen Innenreim und, neben beiden hergehend, noch den Stabreim, die Alliteration. Doch dieser Häufung der äußeren Kunstmittel kann sie nicht entbehren. Isländisch muß hart, rauh gesprochen werden (und kann auch nur schnell gesprochen werden); mit zarten Farben, mit Verzierungen in Filigran kann es sich nicht schmücken. Jedenfalls ist der isländische Poet in erster Linie Könner. In der Formgestaltung liegt seine eigentliche Kunst. Es sei jedoch hinzugefügt und hervorgehoben, daß die schöne Form nicht etwa leer ist. Der Gefühlsinhalt der isländischen Poesie ist gedankenschön, ist echt dichterisch.

Die höchsten Anforderungen treten an das Können des isländischen Dichters (und auch Schriftstellers) dann heran, wenn er fremdes Dichtungsgut in seine Sprache überträgt, wenn er sie übersetzt. Er wendet sich mit Vorliebe dem deutschen Schrifttum zu. Es sind mehrere, zum Teil umfangreiche Übersetzungen deutscher Literatur erschienen, Dr. Alexander Jóhannesson übertrug die »Jungfrau von Orleans«, Bjarni Jónsson frá Vogi (der begeistertste Freund, den Deutschland in Island besitzt) schuf Goethes »Faust« nach; der erste Teil ist nun Gemeingut des lesenden isländischen Volkes, am zweiten Teile arbeitet der verdienstvolle Mann seit Jahren. Doch auch kleinere Prosaschriften findet der Deutsche hier wieder – und schmunzelt; denn da liegen in den Schaufenstern »U 202« des Freiherrn v. Spiegel und der »Tsingtauflieger« Günther Plüschows! Das Frische des ersteren dieser Kriegsliteratur, das Derbe, Unbekümmerte des zweiten sind in der Übersetzung, die von Gudbrandur (Gottesflamme) Jónsson stammt, überraschend getreu wiedergegeben. Die Schriften sind seinerzeit »verschlungen« worden und werden noch heute gelesen. Ihre Drucklegung verdanken sie dem damaligen hiesigen deutschen Konsul, dem schon genannten Dr. Alexander Jóhannesson (jetzt Universitätsdozent). Ein größeres Verdienst erwarb sich Dr. Alexander durch Herausgabe einer Sammlung Heinescher Gedichte in isländischer Übersetzung. Heine ist unter den deutschen Dichtern der in Island volkstümlichste; die »Loreley« wird hier mehr gesungen als bei uns. Ihm widmeten die bedeutendsten der neueren Dichter Islands ihre Kunst und übertrugen seine Gedichte meist unter getreuer Wahrung der äußeren Form, also des Versbaues wie des Rhythmus – in Anbetracht der widerspenstigen Sprache wahre »Kunststücke«: Bjarni Jónsson frá vogi, Hannes Hafstein, Lárus H. Bjarnason wären als Übersetzer hauptsächlich zu nennen. Die Schwierigkeit dieser Kunststücke wird dem Leser vielleicht erkenntlich, wenn wir ihm wenigstens eine dieser Übersetzungen in wortgetreuer Rückübersetzung vor Augen führen – ohne Rücksicht darauf, daß es selbstverständlich eine Barbarei ist, die schöne Form zu zerstören und nur den brutal-nackten Inhalt zu geben. Doch zur Erreichung des besonderen Zweckes sei diese Pietätlosigkeit und Lieblosigkeit einmal gestattet. Am geeignetsten dürfte die »Loreley« für dieses Experiment sein; hat doch wohl jeder den deutschen Wortlaut im Gedächtnis und kann daher ohne umständliches Nachschlagen vergleichen.

Die Loreley.

Ich weiß nicht, von welcher Art Walten,
So weichwerdend traurig ich bin,
Eine Sage aus verlorenen Zeiten
Fährt nicht aus dem Sinne mir.

Es dunkelt und schweigend rennet
In stillem Stromlauf der Rhein,
Die lichtgoldne Felszinne brennet,
Dort blitzender Abendsonne Schein.

Dort zu oberst sitzt eine Jungfrau am Gipfel
Mit Antlitz bezaubernd frisch (schön)
Und kämmt in glitzernd-kleidendem Schleier
Ihr Goldhaar zum Wundern lang.

Mit Goldkamm sie kämmt sich lange
Und grüßt mit Wunderton
So machtvoll, daß widersteht keiner
Des Weibes Zauberlied.

Und der Fährmann, von Harm ergriffen,
vom Sang verzaubert, fährt,
Er sieht nicht das schäumende Riff,
Sondern beglückt zur Höhe hinauf.

Um ihn und das Schiff ist's geschehen,
Zur Tiefe die Welle sie zieht,
Doch das hat die Loreley gewaltet
Mit sinneraubendem Zaubersang.

 

Wer sich erinnert, was wir über die Schwierigkeiten der rechten Wahl des treffenden Ausdruckes sagten, muß erstaunt zugeben, daß hier dem heineschen Wortlaut mit verblüffender Treue gefolgt ist. Und dazu ist die Form so vollständig gewahrt, daß diese isländische Loreley unter der bekannten Melodie genau so harmonisch einhergeht wie die deutsche. Der Beweis wird uns nicht erlassen bleiben, und so sei der Versuch gemacht, die isländische Loreley hier lautgetreu wiederzugeben. Der Leser kann sich dann auch eine Vorstellung davon machen, wie Isländisch überhaupt klingt. Weich wäre, wie bereits erwähnt, von dem nachstehenden lautgetreuen Text eigentlich nichts zu sprechen, sondern alles hart, rauh, aus der Gurgel heraus.

Jäck weht äck aw kwehrskonar wölldüm
ßoh wehknandi dahpür jäck ehr,
Ehn ßaga frau ümlisnüm ölldüm
Fähr eh uhr hühga mjehr.

Tzaß huhmarr ohg chljohslega rennür
Ih heigdsüm ströhmlihgn Rihn,
Hinn ljohs güttlni bjargtinndürr brennür
Tzarr blihkandi kwölldßohl skihn.

Tzarr ehwst ßehtürr ungmeh au gnuhpi
Mes andlihtis töwrandi fritt
Ohg grehdsir ih glettkleihdsa hjuhpi
Szitt güttlhauhr fürdsüh ßitt.

Mes güttlkamb huhn kemmbihr sjehr lengi
Ohg kwedsühr weß ündrab rak,
Szoh wolldückt, as weß stenndst enngi
Ehr wihwsins töwralak.

Ohg fahrmadsür harmblidsü chrehwinn
Aw chljohmnüm töwrast fehr,
Hann lihtürr eh löhsranndi rehwinn,
Enn ljuhft till heihdsa ßjehr.

Umm hann ohg flehis ehr halldis,
As kwolwdi bülgjann tzehm ströng,
Enn tzwih hehwirr Lohlereh waldis
Mes lehdslünnar wra söng.

(Die Hebungen sind kursiv.)

 

Der Leser, der sich erinnert, daß dies nur Laute, Klänge sind und nicht die geltende Schreibweise, und diese Klänge mit unserer wortgetreuen Wiedergabe vergleicht, wird Ähnlichkeiten in nicht geringer Zahl herausfinden. Um nur das Deutlichste herauszugreifen: da ist weht gleich weiß, wehknandi gleich weich (in Sachsen: weech) werdend, fähr fast dasselbe wie fährt; daß blihkandi blitzernd heißt, ist fast ohne weiteres zu erraten, und skihn lautet Schein wohl auch im Plattdeutschen. Diese Ähnlichkeiten könnten zu dem Schlusse verleiten, es könnte Isländisch für einen Deutschen wohl sehr leicht erlernbar sein. Dieser Glaube würde trügen. Das umgekehrte Verhältnis ist zuzugeben: Isländer verstehen sehr bald Deutsch und können es auch bald gebrauchen. Nicht, daß sie gescheiter wären als wir oder leichter auffaßten; so schnell wie der Deutsche lernt überhaupt kein anderes Volk fremde Sprachen (daher gibt er im Auslande sein Deutschtum auch so schnell auf). Aber es ist ein anderes, aus einer alten, veralteten Sprache in eine aus dieser herausgewachsene moderne überzugehen, und ein anderes ist es, aus einer hochentwickelten Sprache in deren atavistische Form zurückkehren zu sollen. Das letztere ist viel schwieriger. So erklärt es sich, daß sich vor dem Deutschen, der Isländisch lernen will, fast unüberwindliche Schwierigkeiten auftürmen. Das Notdürftige, sich in den Bedürfnissen des Tages verständlich zu machen und sich auch an dem beliebten Gesprächsstoffe des Wetters bis zu einem bescheidenen Grade beteiligen zu können, dies lernt man in den ersten sechs Monaten. Wessen Ansprüche jedoch weiter gehen, der sieht sich verdammt, eine Grammatik pauken zu müssen, wie sie ohne Beispiel unter europäischen Sprachen dastehen dürfte. Beugungsarten des Hauptwortes gibt es mehr als ein Dutzend. Der Artikel, der hier übrigens, wie auch im Dänischen, hinten angehängt wird, beugt auch wieder für sich und ebenso das Eigenschaftswort. Abwandelungen des Zeitwortes hat man mehrere Dutzend sich einzuprägen, und auch auf solche Kenntnis ist dann noch kein Verlaß, denn eigentlich ist jedes Zeitwort unregelmäßig. Eine Menge sonderbarer Redewendungen ist zu lernen, zum Beispiel »das liegt nicht auf« (soll bedeuten: das eilt nicht) oder »ich werde zu zahlen« (ich muß bezahlen) und Hunderte, Tausende anderer. Da kann der Anfänger wohl den Mut verlieren. Ein Trost jedoch kommt ihm eines Tages: nämlich die beruhigende Erkenntnis, daß es den guten Isländern selber nicht viel besser ergeht. Ist etwas zu sagen, was aus dem Alltäglichen herausfällt, so muß auch der Gebildete, selbst der Sprachlehrer, zu einem Lehrbuche oder Wörterbuche greifen, zum wenigsten zur Nachprüfung, ob das, was er für richtig hält, auch wirklich richtig ist. Die Sprache hat eben so viele Besonderheiten, daß keines Menschen Gedächtnis ausreicht, dies alles im Kopfe zu behalten. Dabei läßt sich nicht einmal mit Recht sagen, daß Regellosigkeit in ihr herrsche. So buntscheckig sie ist, ein vernünftiger Grund findet sich eigentlich für jede Abweichung vom erwarteten Regelrechten. Verfasser möchte nach einiger – erzwungener – Beschäftigung mit dieser Sprache unserer Ahnen als ganz allgemeinen Eindruck von ihr sagen: man könnte glauben, unsere Vorväter hätten ihren Spieltrieb an dieser Sprache befriedigt.

siehe Bildunterschrift

Bjarni Jónsson frá Vogí, der bedeutendste unter den lebenden Dichtern Islands, Übersetzer des »Faust«, ein treuer Freund Deutschlands.

Starke Ähnlichkeit des Isländischen mit unserem Deutsch läßt sich in vielen Worten und Stämmen nachweisen, und Beispiele lassen sich in Menge geben, zum Teil schlagend und überraschend, alte Wurzeln zu heute kaum noch gebräuchlichen, fast nicht mehr verstandenen Wörtern. Ein einziges will ich anführen; es ist eine Rechtfertigung für einen Wachtmeister, den ich im Felde zwei Jahre genoß – bis ich selber Wachtmeister war. Der Gute war von altem Schrot und Korn; eigentlich eine Seele von Mensch, doch im Wahne, auch »draußen« und Erwachsenen, Familienvätern gegenüber den Ton des »Aktiven« anschlagen zu müssen. So sprach er nach gutem alten Brauche von den Mannschaften immer nur als von den »Kerlen«. »Holz fehlt, Herr Leutnant? Nun, da lassen wir zwei »Kerle« welches holen.« Dieses »Kerl« und »Kerle« hat sehr böses Blut gemacht und hätte sich im Taumel der ausbrechenden Revolution für den Braven beinahe zu einer Katastrophe ausgewachsen. Und doch hatte er sich nicht mehr dabei gedacht als unsere Vorväter und noch heute die Isländer. »Karl« (gesprochen kaddl) bedeutet nämlich zunächst nichts anderes als »Mann«. »Karl-Kleider« werden in den hiesigen Zeitungen angepriesen als Gegensatz zu »Kven-Kleidern« (Frauen-, Damenkleidung). »Karlkyn« ist in der Grammatik das männliche Geschlecht gegenüber dem »Kvenkyn« (und kynlos = sächlich). Der Sinn des Wortes hat eine Nebenentwickelung durchgemacht und bedeutet demzufolge auch: dienstbarer Geist (nämlich Diener so gut wie Dienerin). Einer hiesigen Hausfrau kann also das Dienstmädchen erkranken – und im Bett liegt dann der »Karl«! Hoffentlich kommen diese Zeilen recht vielen von denen vor die Augen, die – vermutlich – noch heute voller Empörung an jenen Wachtmeister mit seinen »Kerlen« denken. Die waren beim Militär eben nichts anderes als harmloses, aus alter Zeit erhaltenes Sprachgut.

Freilich muß man bei den Ähnlichkeiten zwischen den beiden Sprachen auf der Hut sein. Sie foppen manchmal. Eine »badstofa« ist nicht, was sie scheint, sondern das Wohnzimmer, in dem auch in Island nicht gebadet wird. Und wird man als Mann gefragt, ob man »ßwangür« sei, so kann man sich wohl mit Recht veralbert fühlen; und doch ist's nur die freundliche Erkundigung, ob man Hunger habe!

Beneiden möchte man, wem es – als wirklich denkendem Menschen freilich – vergönnt ist, diese alte Sprache eingehend zu studieren. Erschließt sie doch schon bei oberflächlicher Bekanntschaft überraschende Erkenntnisse. Mit einer besonders schönen mag dieser Abschnitt schließen. Der geduldige Leser weiß, daß die mit der Silbe Ge – beginnenden deutschen Hauptwörter den Sinn einer Zusammenfassung haben. Es liegt ihnen ein Tätigkeitswort zu Grunde oder ein anderes Hauptwort, das die Einzahl dazu bedeutet. Gesang ist die Zusammenfassung einzelner Singtöne, Gedicht ist Zusammenfassung, Ergebnis des Dichtens, Gebirge ist Sammelbegriff für mehrere Berge (das aus demselben Stamme hervorgegangene Tätigkeitswort bergen kommt hier nicht in Frage; es heißt »in die Berge schaffen« und stammt aus jener Zeit, als man Hab und Gut vorm Feinde in die Berge flüchtete). Wie steht es aber mit dem Worte Gewinn? Woher stammt dieses? Wir haben weder ein Haupt- noch ein Zeitwort »winn«. Die Zusammenfassung wessen ist es? Wer nur Deutsch kennt, wird die Erklärung nicht finden. Isländisch gibt sie sofort. Eines seiner gebräuchlichsten Zeitworte heißt vinna und bedeutet: arbeiten! Gewinn ist also das Zusammengearbeitete. Sinnlos ist es demnach, von arbeitslosem, mühelosem Gewinn zu sprechen. Den sollte es für Deutsche nicht geben, weder in ihrer Ausdrucksweise noch im Leben! Unsere Vorväter kannten ihn nicht; die Sprache beweist es. Gewinn heißt vinningür, also schlecht und recht: Arbeitsertrag! Der mühelose, arbeitslose ist eine Erfindung späterer Zeit, ebenso sinnlos wie unmoralisch. Weg mit ihm!


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