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Saras Abenteuer

Sambo Taraoré, der in Senegal als Tirailleur gedient und nun in Boké an der Pfefferküste die Stellung eines Polizeiwächters einnahm, hatte die Gewohnheit, jede Nacht auf dem weichen Ufersand unterhalb der Promenade des Gouverneurs zu schlafen. Er erwachte an dem Tage, an dem sich die Dinge ereigneten, von denen ich hier erzählen will, etwas früher als gewöhnlich, mit dem unbestimmten Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Seine rechte Hand, die Samba während des Schlafes stets über die Augen legte, um sie vor dem schädlichen Einflusse des Mondes zu schützen, fiel schwer auf den weichen Boden zurück. Sofort erhob sich ein eigentümlich unheimliches Geräusch, es war, als ob der blaßgrünliche Boden, auf dem der große Neger lag, plötzlich lebendig geworden sei und sich schnell nach allen Seiten zurückzöge. Durch die Bewegung des Erwachenden erschreckt, ergriffen Tausende von Krabben, mit denen die Westküste Afrikas übervölkert ist, eiligst die Flucht. Mit wütend zischendem Geräusch, eine über die andere weghastend, flohen diese häßlichen, schnellen und doch ungeschickten Tiere nach allen Richtungen auseinander. Es war aber nicht die Gegenwart der Krabben, die in Samba Taraoré das Gefühl erweckte, als ob etwas nicht stimme. Er kannte diese unreinen Tiere sehr genau und hatte keine Angst vor ihnen. Aber von der Seite des » Missieu Directeur la Douane« gehörigen Gartens drangen leise klagende Töne zu ihm hin. Man erkannte an der dünnen, schwachen Stimme, daß es ein kleines zartes Wesen sein müsse, das da bitterlich weinte und dem jedenfalls ein schweres Leid widerfahren sein mußte.

Samba erinnerte sich sofort seiner Pflichten als Hüter der Ordnung der Bewohner Bokés. Er erhob sich schnell, um zu sehen, was es gäbe.

Ganz nahe dem großen Hause der Douanen kauerte ein kleines schluchzendes Negermädchen am Fuße eines Mangobaumes. Sie war kaum zehn Jahre alt. Ihre nackten Brüstchen, die noch nicht ganz entwickelt waren und die wie kleine wilde Birnen aussahen, hoben und senkten sich stürmisch, sie schluchzte verzweiflungsvoll und hielt den Kopf so tief gesenkt, daß die Wirbelsäule ihres Rückens sich wie ein Kettchen auf ihrer schwarzen Haut abzeichnete.

»Nicht wohl sein?« fragte Taraoré.

Sie erhob den Kopf ein wenig und er erkannte sie. Es war Sara, die kleine »Mousso«, die das englische Waisenhaus in Freetown an Madame Auguet, die Frau des Zolleinnehmers, abgetreten hatte.

Ganz verstört blickte das arme Kind zu ihm auf und sagte endlich:

»Nicht gut, nicht gut, sterben wollen!«

Sich mühsam erhebend, deutete das schmerzerfüllte kleine Wesen, das wie eine lebende Puppe vor ihm stand, auf seine Hüften. Ein schmaler Streifen von blauem Baumwollenstoff, der um ihre dünne Taille geschlungen war, verhüllte sie nur halb, und über ihre mageren Glieder, auf die Knie und herab auf die Knöchel rieselten zwei Blutbäche, zwei schreckliche, schon halbgeronnene Blutbäche. Samba verstand. Aber er war Muselmann, und seine Religion, wie die Sitte seines Volkes legte ihm, Frauen gegenüber, die größte Zurückhaltung auf, solange sie nicht durch einen richtigen Kontrakt käuflich erworben oder als Kriegsbeute ihm zugefallen waren. Er sagte deshalb kein Wort. Aber er ging zu der verschlossenen Türe des Zollhauses und klopfte gegen die Läden. Herr Auguet, in weißer Hose und einer Jacke aus rosa Baumwollenstoff, erschien auf der Veranda der ersten Etage und Frau Auguet in leichtem Musselinüberwurf folgte ihm. Ihr Haar war schon ergraut, aber ihre guten naiven Augen und ihr rundes, frisch aussehendes Gesicht, dessen blühende Farben kaum von dem Klima gelitten hatten, verliehen ihr ein beinahe jugendliches Aussehen.

»Kleines Mousso-Sara halbkaputt!« meldete Samba kurz und mit ruhiger Stimme.

»Was?« rief Herr Auguet.

»Kleines Mousso Sara halbkaputtt« wiederholte Samba Taraoré.

»Was sagt er«, frug Frau Auguet, die das Argot der Tirailleure noch nicht gut verstand.

»Er sagt, daß Sara vergewaltigt worden sei«, erklärte Herr Auguet, der ganz bleich geworden war. Sich an Samba Taraoré wendend, fuhr er fort:

»Hole sofort Herrn Toubeau herbei.«

Toubeau, das war der Polizeikommissar. Samba grüßte militärisch und marschierte ab, ganz wie ein richtiger weißer Soldat.

Frau Auguet schloß Sara in ihre Arme und führte sie in ihr Zimmer.

»Mein Kind, mein armes kleines Mädchen,« sagte sie, »hast du große Schmerzen?«

Nun gab Sara sich rückhaltlos ihrem Kummer hin; heiße Tränen überfluteten das Gesichtchen, und ihre Augen, ihre großen braunen Augen, diese schönen, nicht ganz menschlichen Augen der Schwarzen, die zuweilen den unschuldigen klagenden Ausdruck eines gequälten Tieres annehmen, blickten zärtlich und vertrauensvoll zu ihrer Schützerin auf. »Mama,« schluchzte sie, »o Mama, Mama.« Dieses Wort ist dasselbe in fast allen Sprachen der Erde. Es entsteht in ganz natürlicher Weise um die Zeit, wo die kleinen Kinder die ersten durch das Wachsen der Zähne entstehenden Schmerzen in ihrem brennenden Zahnfleisch empfinden; es ist ein Schmerzensschrei: er ruft die Mutter herbei. Und sie fahren fort, Mama zu sagen; es ist das Wort, womit sie durchs ganze Leben die Mutter rufen. Das ist die Entstehungsgeschichte des ersten und heiligsten Wortes, das die Kinder der Menschen je gestammelt haben. Erst nachdem die Kleine aufgehört hatte zu weinen und anfing, sich etwas zu beruhigen, stiegen die Tränen in die Augen der guten Frau Auguet. Sara schlief ein, – das arme Kind hatte ja keine Ruhe gefunden seit – – seit das Schreckliche passiert war.

Als sie erwachte, stand ein großer, dickbäuchiger Mann mit schwarzem Schnurrbart vor ihr, der einen weißen Dolman mit goldnen Knöpfen trug. Sie stieß einen lauten Schrei aus.

»Habe keine Angst,« sagte Frau Auguet, »es ist der Polizeikommissar. Es ist deines Wohles wegen, daß er hier ist.«

Und Herr Toubeau rief:

»Ach die Kanaille! Wo ist das Schwein, das so etwas verüben konnte? Vorwärts, Kleine, rede! Hast du ihn gesehen?«

Aber Sara umklammerte Frau Augusts Hals mit ihren Armen und schluchzte wieder herzbrechend, ohne zu antworten.

»Nun, wer war es,« fuhr der Polizeikommissar fort, »ein Schwarzer, nicht wahr? Einer dieser schmutzigen Schwarzen, was …?«

Er hatte ihre beiden Hände ergriffen und in eine der seinen gelegt, mit der andern hob er Saras Kinn empor und zwang sie, ihn anzusehen. Das schmale, schwarze Gesichtchen erbleichte vor Angst.

»Du hast ihn nicht erkannt? Du hast ihn wirklich nicht erkannt?«

Sie blickte ihn ganz entsetzt an und machte ein verneinendes Zeichen.

»Sie machen ihr Angst«, sagte Frau Auguet.

»Sie wird nichts sagen«, antwortete der Kommissar. »Ich kenne sie, sie sind alle so. Aber ich werde es erfahren, ich werde es schon herauskriegen! Ich werde meine Untersuchungen anstellen.«

Die Pflicht der Höflichkeit forderte, daß Frau Auguet Herrn Toubeau ein Frühstück anbot. Er trank zuerst einen Absinth, dann einen Cock-tail. Zur Rechten der Hausfrau sitzend, tat er ihren guten Gerichten alle Ehre an und erzählte dabei, wie er von morgens bis abends im Dienste tätig sei. Und daß man ihm allein für die Sicherheit der Stadt zu danken habe.

Auf seiner breiten Brust schimmerte ein kolonialer Orden, auf den er von Zeit zu Zeit wohlgefällig herabblickte. Er sprach ganz entrüstet über die Lasterhaftigkeit der Schwarzen.

»Und die der Weißen?« fragte Frau Auguet traurig.

»Die Weißen«, antwortete Herr Toubeau. »Glauben Sie, daß es vielleicht ein Weißer gewesen ist, der – aber ob es nun ein Weißer oder ein Schwarzer gewesen ist, das ist mir vollständig gleichgültig. Ich weiß, was meine Pflicht ist, und ich werde sie erfüllen. Solch ein Schwein! Ich werde die Sache auf das strengste untersuchen. Um fünf Uhr, gnädige Frau, werden Sie von mir hören.«

Er ging endlich fort; die gute Mahlzeit schien seinen gerechten Zorn nur erhöht und noch wortreicher gemacht zu haben. Aber man hatte Mühe, Sara wiederzufinden. Sie hatte sich versteckt und wie ein gehetztes Tier in ein Winkelchen zwischen einem Ruhebett und der Wand verkrochen. Dort lag sie zusammengekauert wie ein Häufchen Unglück; ihre Angst schien sich noch vergrößert zu haben.

Frau Auguet sagte zu ihrem Mann:

»Laß mich mit ihr allein, willst du? Die Männer machen ihr Angst – jetzt«, setzte sie mit leiser Stimme hinzu.

Nachdem Herr Auguet sich entfernt hatte, tat sie das, was das einzig Richtige war, weil sie eine Frau, eine gute und mütterliche Frau war. Sie nahm das Kind liebevoll auf ihren Schoß. Und Sara, die wieder ganz eine kleine Wilde geworden, umklammerte ihren Hals mit beiden Händen, legte das Gesichtchen auf die Schulter, klammerte sich mit den Beinen fest um die Hüften der Frau, in deren Schutz sie sich völlig geborgen glaubte und nahm die Lage ein, in der die Mütter an den Ufern des Fatalla, wo sie geboren war, ihre Kinder zu tragen pflegen. Nachdem sich Sara völlig beruhigt hatte, ließ sie sich mit einem schönen Stoff umhüllen, einem Stoff, auf dessen grünem Grund viele rote und gelbe Blumen prangten und der wie eine blühende Wiese zur Regenzeit aussah. Als dann Sarah endlich dankbar die ihr gebotenen Zuckerstückchen annahm und zu knabbern begann, sah Frau Auguet, daß sie keine Angst mehr hatte. Dann erst fragte sie ganz leise:

»Der Mann, der Mann von dieser Nacht, – kennst du ihn?«

»Ich Mann kennen,« antwortete Sara, »und du auch Mann kennen …«

»Ich kenne ihn?« frug Frau Auguet tief erschrocken.

»Ja,« nickte Sara, »ist Kommandant und essen hier!«

In den Augen dieser Schwarzen sind alle Weißen, die irgendein Amt bekleiden, Kommandanten. Ein entsetzlicher Verdacht stieg in Frau Auguets Seele auf: ihr Mann also – ihr Mann? Ach, was kann man nicht alles erleben!

»Sage mir, wer es ist, sage mir, wer es ist?«

In ihrer Erregung hatte sie die Stimme erhoben, und Sara, die wieder an allen Gliedern zitterte, gab keine Antwort. Frau Auguet beherrschte sich und sprach der Kleinen mit sanfter Stimme zu:

»Sei doch ruhig, ich bin doch jetzt bei dir! Wer könnte dir ein Leid zufügen, solange ich bei dir bin? Komm, sei gut, sage mir, wer es ist?«

Sara deutete auf einen Platz des jetzt abgetragenen Speisetisches und sagte:

»Da gegessen, mit dir gegessen, ganz nahe bei dir …«

»Der Polizeikommissar?« rief Frau Auguet ganz vernichtet.

»Ja«, sagte Sara.

Da nach diesem Geständnisse sich nichts weiter ereignete und auch der Grund ihrer Furcht, der Herr Polizeikommissar nicht sofort erschien, um sie tot zu machen und aufzuessen, so beruhigte sich die Kleine und verknabberte den Rest ihres Zuckers.

Pünktlich um fünf Uhr – wie er versprochen – stellte Herr Toubeau, der Polizeikommissar der Stadt Boké, sich wieder ein. Seine Stirn war mit Schweiß bedeckt, wie dies nur natürlich, wenn man den ganzen Tag ehrlich gearbeitet hat. Samba Taraoré begleitete ihn barfüßig wie immer, aber da er doch im Dienste war, hatte er seinen blauen Dolman über der schwarzen Haut fest zugeknüpft.

»Ich habe ihn noch nicht gefunden,« erklärte Herr Toubeau, »aber ich werde ihn finden. Ach, ein so brutaler Kerl! Ein Kind zu vergewaltigen – ein armes, hilfloses Kindl Aber ich werde ihn schon finden, ich werde ihn zur Stelle bringen, und wenn es der Gouverneur selber sein sollte. Ich werde ihn an Händen und Füßen gefesselt hierhin führen, eine solche Kanaille.«

»Die Kleine sagt, daß Sie es selbst gewesen«, hauchte Frau Auguet mit leiser, zitternder Stimme.

Das Gesicht des Polizeikommissars verwandelte sich plötzlich, er erbleichte jäh und stammelte ein paar unverständliche Silben, es war, als ob sein keck heraufgewirbelter Schnurrbart herabsänke.

»Das, das hat sie gesagt … sie hat das gesagt?« … Aber es war ein ganzer Mann. Diese Anwandlung von Schwäche dauerte nur einen Augenblick. Er fand bald seine Geistesgegenwart wieder und sagte mit vollkommner Ruhe:

»Nun denn, ja, ich bin es gewesen! Was bedeutet das? Eine Negerin! Das hat nichts zu sagen.«

Und in würdiger Haltung mit festem Schritt verließ dieser Hüter der Moral und der Ordnung das Haus. Samba Taraoré machte mit ihm kehrt, nachdem er ehrerbietig wiederholt:

»Kleine Mousso-Sara halbkaputt –: das hat nichts zu sagen.«

Herr Auguet dachte einen Augenblick nach, dann sagte er zu seiner Frau:

»Wenn du klug bist, so erzähle diese Geschichte keinem Menschen.«

Aber sie hat mir sie doch erzählt.


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