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Die Eiserne Marie

Ich weiß nicht, ob sie jemals einen richtigen Namen hatte, wie alle anderen Menschen, ich meine einen Familiennamen, den, vom Vater gar nicht zu reden, doch wenigstens ihre Mutter schon getragen hatte; ihr Beruf war ein heikler und verstieß gegen die Gesetze der Moral. Der Unternehmer, der sie nach Afrika gebracht, hatte, um ihre Einwilligung dazu zu erhalten, ihr vorgeschwindelt, daß die Reise kaum weiter wie die von Paris nach Versailles sei: auch die Seefahrt sei nicht nennenswert, man würde einen kleinen Meeresarm mit stillem Wasser durchkreuzen und in wenig Stunden ein Land erreichen, das ganz ähnlich wie Frankreich sei, nur daß die Männer dort viel großmütiger wären. Dann hatte sie viele Tage lang erwartungsvoll auf dem Deck der zweiten Kajüte gestanden und ihre Blicke waren spähend über das weite Meer geschweift, hatten die Häuser, die Cafés, die großen Boulevards ihres Bestimmungsortes gesucht. Mit ihr reisten zwei Gefährtinnen: Pasiphaé, ein großes blondes Mädchen und Carmen, die Wallachin.

Nach dreiwöchentlicher Fahrt hielt endlich das große Segelschiff vor der Mündung eines gelben Flusses, der seine Wogen schwerfällig zwischen zwei niedern Ufern dem Meere entgegenführte. Es war, als ob selbst das Licht der Sonne von einer fortwährenden Feuchtigkeit durchhaucht wäre und das erste, worauf Mariens Auge fiel, als sie das Land betrat, das waren die vielen in dem schlammigen Boden eingepflanzten Kreuze. Das also war die Stadt – – der Ausgangspunkt eines neu erworbenen Besitzes, der Mittelpunkt eines künftigen Reiches, wo die Sieger einstweilen noch in aus Holz und Stroh ausgeführten Hütten lebten, die beinahe auf dem feuchten morastischen Boden davonschwammen. Aber Marie, Pasiphaé und Carmen, die Wallachin, wurden von fünfhundert weiß oder khakifarben gekleideten Männern mit Jubel begrüßt; man freute sich der Ankunft des Segelschiffes, das Grüße aus Frankreich und den Frauenhändler brachte, der ihnen die Freuden der Liebe zuführte.

Carmen, die Wallachin und Pasiphaé weinten bitterlich.

»Wir werden sterben,« sagten sie, »wir müssen hier sterben, das ist ganz gewiß.«

Man wies ihnen die Wohnung an, in der sie leben und die Freuden der Wollust verkaufen sollten, es war eine aus Bambusrohr hergestellte Baracke, deren Wände wie zum Spott mit alten Reklamebildern aus Paris bedeckt waren. Es befanden sich keine Fenster in den Wänden und wie ein Leichentuch über der Bahre lagerte die Dunkelheit über den ärmlichen Betten, während die kecksten dieser Männer, die sie nicht zurückweisen durften, schon durch die geöffnete Tür zu ihnen drangen.

»Wir werden hier sterben, sterben …«

Marie blickte erstaunt auf ihre Gefährtinnen, ohne die Ursache ihrer Angst und ihrer Tränen zu verstehen. Es ist ein großes Unglück, sich des bevorstehenden Schicksals bewußt zu sein, wenn dieses Schicksal ein unvermeidliches ist. Aber Marie hatte eine so harmlose und sorglose Natur, daß sie kein Verständnis für die Angst ihrer Gefährtinnen hatte. Sie hatte ja auch in Paris ein schweres und gefahrvolles Leben geführt, war gezwungen gewesen, in den elendesten Spelunken zu schlafen, hatte Bekanntschaft mit der Roheit und sogar dem Messer der Männer gemacht. Marie schwor sich, nicht zu sterben.

Und selbst als man, nachdem kaum drei Monate vergangen, die blonde Pasiphaé und Carmen, die Wallachin, auf dem traurigen Friedhöfe begraben und ein Kreuz auf den sie bedeckenden morastigen Hügel gesetzt hatte, selbst da blieb sie völlig furchtlos für ihre Person, ja es kam sogar ein Gefühl stolzer Sieghaftigkeit über sie. Ihr schien, als ob ihre kühle Haut, ihr festes, gesundes Fleisch vor jeder Gefahr gefeit seien. Und dann: hier war sie Königin! Sie war eine Königin, die sich jedem hingab, weil dies ihre Pflicht war – wenigstens hatte sie die feste Überzeugung, daß es ihre Pflicht sei – findet man es doch öfter, daß bei Frauen ihres traurigen Berufes die Begriffe der Moral sich so völlig verschoben haben, daß sie die Ausübung ihres Gewerbes nicht für entehrend, sondern wie eine Erfüllung ihrer Pflichten ansehen. Gut, sanft, friedliebend herrschte sie als einzige weiße Frau, ohne sich ihrer Schmach bewußt zu sein, einer Schmach, die übrigens von allen vergessen war. Und als Barnavaux, der zum zweitenmal bei der Kolonial-Infanterie eingetreten war und der als Erfinder von Spitznamen und von Lokalberühmtheiten galt, sie die »Eiserne Marie« taufte, nahm sie diesen Namen wie eine Huldigung hin und trug ihn ebenso stolz wie der Sultan Mahmud einst den des »Siegers«. Ich sage euch, daß sie herrschte, und daß sie niemals eine Rivalin hatte. Ein Bataillon folgte dem andern, neue Vorgesetzte ersetzten die alten, sie sah, wie der Ort sich vergrößerte, wie ein Kai gebaut wurde, wie die ersten aus Ziegelsteinen errichteten Häuser emporwuchsen, deren gewellte Blechdächer wie ein Zeichen des Luxus und der Befestigung der Herrschaft in Afrika leuchteten. Sie war endlich beinahe die einzige, die sich noch jener Zeiten erinnerte, jener düsteren Tage, wo das Fieber so viele Leute dahinstreckte, um sich nicht wieder zu erheben.

Dann geschah es, daß einmal der Sommer noch viel feuchter war als gewöhnlich. Anstatt jener plötzlichen Wirbelstürme, die in einem Augenblick den Boden mit Wasserströmen überschütteten, die die glühende Sonne ebenso rasch auftrocknet, fiel nun ein grauer, schwerer Regen wie in Europa, ein Regen, der unablässig wochenlang herabrieselte, der in die strohgedeckten Hütten drang, die seit langem ausgetrockneten Sümpfe anfüllte, den Strom wie einen See anschwellen machte.

Das Gras und das Unkraut wuchsen mit einer wahren Wut, manchmal vernahm man aus dem Innern des großen Waldes das dumpfe Gepolter eines zusammenbrechenden Baumes, das die Erde erzittern machte. Es gab viele solche alten Stämme, die von der Zeit zerstört nur noch durch die Rinde lebten und die nun die Last der von Regen triefenden Blätter, des sie bekleidenden Mooses, das wie ein Schwamm mit Wasser gefüllt war, nicht mehr zu tragen vermochten und zusammenbrachen. Das größte Abel aber waren Milliarden von Stechfliegen, die von der Feuchtigkeit erzeugt zu einer wahren Landplage wurden. Die Eiserne Marie ging zum Regimentsarzt, um mit ihm zu sprechen.

»Ich habe das schon einmal erlebt. Es ist ein sehr übles Zeichen … Unsre armen Kinder!«

Sie hatte die Gewohnheit angenommen, wenn sie von den Soldaten sprach, diese »unsere Kinder« zu nennen. Der Arzt zog die Stirn kraus. Er wußte nur zu gut, was nun kommen würde. Als dann der erste seiner Patienten zu ihm kam, um sich über heftige Kopfschmerzen zu beklagen, untersuchte er, ohne etwas zu sagen, seine Pupillen und hieß ihn, sich auf der Stelle zu Bett zu legen.

»Er hatte sehr leuchtende Augen, nicht wahr?« fragte die Eiserne Marie. »Und jetzt blutet seine Nase. Es ist das gelbe Fieber, ist es nicht so?«

»Ja«, sagte der Arzt traurig.

Und die Eiserne Marie wiederholte:

»Unsre armen, armen Kinder! Was können wir für sie tun?«

»Es läßt sich da nicht viel tun«, antwortete der Arzt. Man muß sie mit Zitronen abreiben, ihnen Chinininjektionen machen und sie durch Opium einzuschläfern suchen, damit sie Kraft finden, den Fieberanfällen zu widerstehen. Das ist alles, was man tun kann und das ist nicht viel. Aber das wichtigste ist, diejenigen, die noch nicht infiziert sind, vor den Moskitos zu schützen. Diese schmutzigen Tiere, die der Regen aus der Erde zu locken scheint, sind es, die den Keim der Krankheit verbreiten und von einem zum andern tragen. Jeder von den Moskitos gestochene Mensch ist verloren. Seit vollen zehn Jahren schon fordern wir vergebens metallische Moskitonetze für die Kasernen. Wenn wir sie endlich bekommen, dann ist es zu spät. Soll ich Ihnen einen Rat geben, Marie? Nun, so machen Sie sich ein Moskitonetz und verhängen Sie Ihre Fenster mit Ihren Musselinkleidern, wenn Sie nichts Besseres haben.«

»Oh! ich …« meinte die Eiserne Marie.

Sie sagte kein weiteres Wort, aber schon am nächsten Morgen brachte sie dem Arzt fünf Moskitonetze. Sie hatte die ganze Nacht über genäht. Das war der Anfang des großen Kampfes gegen die gefährlichen Insekten. Man kaufte den ganzen Musselinvorrat der Händler auf. Dann wirkte Marie als Direktrice eines großen Ateliers; sie war es auch, die mit eigener Hand die zarten Netze über die Betten »ihrer Kinder« spannte, die sie vor der Wut der beinahe unsichtbaren gefährlichen Insekten schützen sollten.

Wenn dann die Nacht hereinbrach und die geflügelte Schar die Luft mit ihrem unerträglichen fortwährenden Summen erfüllte, dann kam die Eiserne Marie wieder, um nachzusehen, ob die Netze auch gut schlössen und dem Feind nirgends Einlaß gewährten. Ach, es würde unwahr und einfältig sein, es nicht zugeben zu wollen, daß Marie dabei fortfuhr, Besucher zu empfangen, die um einer andern Sache willen kamen. Glauben Sie, daß es viele Männer gibt, die angesichts einer häßlichen, tödlichen Krankheit, gegen die der mutigste und energischste Mann mit der ganzen Kraft seines Willens vergebens ankämpft, den Mut haben sollten, sich allein mit ihrer Angst abzufinden, ohne sich wie ein kleines Kind an den Hals einer Frau zu klammern? Aber die Eiserne Marie geleitete viele ihrer mutlosen Liebhaber auf ihr letztes einsames Bett in den Baracken, das schon wie ein Sarg aussah und in dem der Arzt durch sein trügerisches Opium und durch seine Chinindosen, die keinen Zweck hatten, ihnen das Sterben zu erleichtern suchte. Von den wenigen, die durch irgendeinen Zufall gerettet wurden und die Krankheit überwanden, ist nicht einer, der nicht über seinem Kopfkissen die tapfere Gestalt Mariens sich neigen gesehen hätte.

Endlich, endlich hörte der Regen auf. Mit der trockenen Jahreszeit setzten die frischen, vom Meere kommenden Brisen ein. Der über dem Friedhof lastende Schlamm trocknete aus und von Frankreich herüber kam ein General, um den Leuten Mut zu machen und geeignete Schutzmaßregeln zu treffen, was bekanntlich stets dann geschieht, wenn es zu spät und die Gefahr vorbei ist. Da man natürlich für die Toten nichts mehr tun konnte, hielt man es für Pflicht, den Überlebenden Mut einzuflößen, ihnen ein Zeichen der Anerkennung dafür zu geben, daß sie allen Gefahren trotzend auf ihrem Posten ausgehalten hatten. Und so zogen diese Überlebenden im Zuge an dem General vorüber – es war eine traurige Schar, mit schlecht geputzten Waffen, die ihre knirschenden Eisenwagen mit den Armen vor sich her schob, weil die Pferde aus Mangel an Pflege alle gestorben waren. Und hinter dieser dezimierten, niedergebeugten, schlecht marschierenden, von dem Arzte geführten Truppe schritt widerstrebenden Fußes und in sichtbarer Verlegenheit die Eiserne Marie. »Ich weiß nicht, was man von mir will«, sagte sie.

»Das ist unsere barmherzige Schwester«, stellte der Arzt sie dem General vor.

Der General verstand. Er grüßte die Eiserne Marie ernst und achtungsvoll – er grüßte sie vor den Truppen, vor den Offizieren und vor der Fahne.

»Man kann Sie nicht dekorieren, Madame,« sagte er, »aber … wollen Sie mir erlauben, Ihnen einen Kuß zu geben?«

Es war der Eisernen Marie in ihrem ganzen Leben noch nicht passiert, daß man sie darum um Erlaubnis gebeten hatte – daher geschah es, daß sie bitterlich weinte.

Gegen Abend saß sie vor ihrem Hause. Durch die halbgeöffnete Türe sah man ein niedriges, mit rotem Stoff garniertes Bett, ein Bett, wie man sie heute noch in Marseille oder Toulon in den verrufensten Vierteln und Häusern findet. Aber Mariens Herz war mit einer unbeschreiblichen Freude erfüllt, während sie gleichzeitig Sehnsucht nach dem Tode empfand, da sie sich sehr wohl bewußt war, daß sie niemals wieder in ihrem Leben etwas so Großes und Herrliches erleben könne wie heute. In diesem Augenblick war es, daß sie das Knarren der herannahenden Wagen vernahm. Das Geräusch ihrer großen, dünnen Räder auf der harten Straße war ihr nur zu wohl bekannt. Wer aber beschreibt Mariens Staunen, als die Wagen näher kamen und in große Blumenkörbe verwandelt schienen. Der eine war mit köstlich roten Hibiskusblüten gefüllt, ein andrer mit den malvefarbenen Blumen der großen Dornbäume, wieder andere mit goldleuchtenden Mimosen. Es war die ganze Garnison, die diese Blumenwagen zog oder vor sich her schob und ihr fröhlich zurief:

»Hier sind Blumen, Blumen, Blumen, Eiserne Marie! Und all diese Blumen sind für dich.«

Barnavaux aber, der Marineinfanterist, dessen schöne, klare Augen lustig unter seinem Helme hervorlachten, trat auf sie zu und warf ein großes Silberstück in ihren Schoß.

»Hier ein Piaster, Eiserne Marie, hier ist ein Piaster für dich!«

Wie aus einem Traume erwachend, starrte Marie auf das Geldstück.

»Ach so,« sagte sie, »das ist ja wahr, ja, das ist wahr. Nun denn, tritt ein, Barnavaux.«

Aber Barnavaux antwortete ihr:

»Nein, heute nicht. Heute ist Ruhetag, ein Festtag für alle Welt. Auf höheren Befehl! Und von jetzt an gehörst du mit zu dem Korps.«

Verständnislos schlug sie die Augen zu ihm auf, während die andern Soldaten, die dreihundert Übriggebliebenen langsam an ihr vorüberschritten, salutierten und ihr jeder eine glänzende Silbermünze in den Schoß legten. Dann gingen sie fort.

Marie blieb allein zurück. Ganz überwältigt blickte sie auf den ihr unermeßlich groß dünkenden Schatz. Das viele Geld machte ihr beinahe Angst. Es schien ihr, als ob es unmöglich ihr Eigentum sein könne, da es aus einer reinen Quelle kam, und sie es nicht durch ihr unsauberes Gewerbe verdient hatte. Endlich faßte sie sich, stand auf und sammelte das Geld in einem Beutel. Die Hände der Starken zitterten wie Espenlaub.

Es war schon völlig dunkel geworden, als sie beim General Einlaß begehrte. Er empfing sie sofort und sein Auge ruhte prüfend auf der schüchtern vor ihm stehenden Frau.

»Ich kann das doch nicht behalten,« begann sie, »ich kann es nicht. Ich kann doch dieses Geld nicht mit … mit dem andern, dem, das ich verdiene, zusammentun. Aber es soll ja ein Krankenhaus hier gebaut werden, – würde dieses Geld dazu hinreichen, darin ein Freibett zu stiften?«

Daher kommt es, daß noch heute im Krankenhause ein Bett auf einer weißen Plakette folgende Inschrift trägt: »Nr. 1. Stiftung von Marie F...«

Und diese Geschichte ist eine wahre Geschichte.

*

Ich werde jetzt erzählen, wie die Eiserne Marie liebte und endlich, wie sie gestorben ist. Ich will durchaus nicht behaupten, daß sie aus Liebe gestorben sei. Es ist ja Tatsache, daß es zuweilen Menschen gibt, die an ihrer Liebe sterben, – ich meine nicht nur in den Büchern, sondern im wirklichen Leben. Die große Leidenschaft für den Doktor Roger, die die Eiserne Marie still in ihrem Herzen hegte, hat ganz sicher ihren Tod beschleunigt. Sie hat diese ihre Liebe aber niemand anvertraut, das ist ein Geheimnis, das sie mit sich ins Grab genommen hat. Eine wahre Frau wird unter allen Umständen stets eine gewisse Keuschheit bewahren. Marie konnte die Keuschheit ihres Körpers nicht behüten, ihr trauriges Gewerbe gebot ihr, diese preiszugeben. Aber sie hatte sich die Keuschheit der Seele zu retten gewußt und war einer reinen selbstlosen Neigung fähig.

Es kam wohl zuerst daher, daß Doktor Roger es gewesen, der die Tugenden des armen Freudenmädchens anerkannt und zu Ehren gebracht hatte. Sie konnte den Tag nicht vergessen, an dem der General sie vor der Fahne begrüßt und wie eine Dame umarmt hatte, den Tag, an dem die Soldaten ihr Blumen gebracht, und vor allem nicht jene langen und doch ihr so köstlich erscheinenden Wochen der Epidemie, wo sie etwas anderes zu tun hatte als ihrem monotonen und trostlosen Berufe nachzugehen. Es war der Doktor gewesen, der ihre Hand erfaßt und sie vor aller Welt dem General mit den Worten vorgestellt hatte: »Dies ist unsere barmherzige Schwester!« Mit ihm hatte sie unermüdlich Tag und Nacht gearbeitet und ihr Leben gewagt, wenn die Leute starben. Ihm hatte sie ihr Herz geweiht und sie verehrte ihn mit einer glühenden, aber durchaus schüchternen und keuschen Liebe.

Das einzige, um das sie ihn jemals zu bitten gewagt hatte, war seine Photographie und die seiner kleinen Tochter, die in Frankreich lebte, denn er war verheiratet. Er hatte sich herabgelassen, ihren Wunsch zu erfüllen, jedoch nicht, ohne sie vorher versprechen zu lassen, die Porträts niemals jemand zu zeigen. Marie hatte treulich Wort gehalten und diese Bilder erschienen ihr als ihr köstlichster, heiligster Besitz. Nur wenn sie ganz allein und sicher war, nicht gestört zu werden, vertiefte sie sich in ihren Anblick. Der Gedanke, daß der Doktor ein Kind habe, beglückte und betrübte sie gleichzeitig. Es geschah ihr, daß sie die ganze Nacht daran dachte und in unmöglichen, unerfüllbaren Träumen schwelgte.

Aber ihr klarer, logischer Verstand kam ihr zu Hilfe; sie suchte solche Träume zu verscheuchen und machte sich selbst Vorwürfe, sich Ideen hingegeben zu haben, die in keiner Weise mit ihrer niederen Stellung zu vereinen waren.

Die kleinen Negerkinder merkten dann aber bald, daß sie von Marie alles bekommen konnten, was sie nur wollten. Die kleinen Mädchen schleppten ihre Puppen herbei, von denen einige Ketten von Glasperlen trugen, wirklichen Glasperlen, von unermeßlichem Wert und deren Frisur genau so wie die der schwarzen Damen des Landes geordnet, das heißt in einen dicken Wollenzopf geflochten war, der auf den Rücken fiel und dann wie ein Erpelschwänzchen in die Höhe gebogen wurde. Sie lagen ganze Tage in und vor ihrer Hütte und spielten mit ihren Képé-soukous: zwei Koloquintehülsen, die sie mit kleinen Steinchen gefüllt hatten und als Rasseln benutzten. Dann beschmierten sie sich gegenseitig mit dem hellen Staub, um den Weißen ähnlich zu werden. Marie wusch sie nachher wieder rein, nachdem sie ihnen Zucker gegeben hatte. Ihre Eltern aber betrachteten Marie wie eine gute und sehr mächtige Zauberin. Die Ehrbezeigungen, die man der Eisernen Marie erwiesen, nachdem die Epidemie erloschen, hatten großen Eindruck auf die Eingeborenen gemacht. Sie schlossen daraus, daß sie es gewesen, die der unheilvollen Krankheit durch ihre wunderbare Zauberkraft ein Ende gemacht habe.

Manchmal suchte sie die Negerinnen auf, die in Kindesnöten waren. Sie lieh ihnen keinen Beistand und saß nur still und nachdenklich dabei, während sie auf ihren Strohlagern kauernd vor Schmerzen jammerten. Aber allmählich verbreitete sich der Glaube, daß ihre Gegenwart die bösen Geister verscheuche und den jungen Weibern Hilfe und Segen bringe.

Die Zeit verfloß. Die Eiserne Marie bemerkte mit einer Art naiven Erstaunens, wie die schöne Kraft der gesunden Frau, auf die sie stets so stolz gewesen, sie allmählich verließ. Ihre Haut nahm in Umgebung der Schläfen, Ohren und Augen wachsfarbene Töne an. Dazu kamen andere geheime Leiden, die sie tief demütigten, und es verging kaum ein Tag, an dem ihre Wangen nicht abends im Fieber brannten.

Die Ärzte nennen einen solchen Zustand Tropenanämie. Es ist dies ein gelehrter Ausdruck, der nicht viel andres bedeutet, als wie die Lust zu sterben; und das Ende dieses Zustandes ist dann auch der Tod. Aber es ist ein sanfter, friedlicher Tod, man stirbt eben nur, weil man zu ermattet zum Leben ist und schlafen möchte; man empfindet nicht die geringste Angst vor dem Tode. Man stirbt, weil dies leichter und bequemer ist, als noch länger gegen die alle Nerven lähmende Mattigkeit zu kämpfen. Und selbst junge, kräftige Menschen, von denen man Widerstand erwarten könnte, verlieren, wenn sie von diesem Zustand ergriffen werden, alle Energie; und schwinden rasch dahin. Das ist es, was man »Anämie der Tropen« nennt. Marie schwand dahin.

Sie schwand dahin, und nach dem großen Tage, der ihr so viel Ehre und Glück gebracht, war es, als ob der Frieden ganz und für immer aus ihrer Seele gewichen sei. Alles um sie hatte sich so rasch, so plötzlich geändert, sie kannte sich nicht mehr aus. Die Stadt wuchs schnell heran. Man baute prächtige Häuser mit Terrassen und Veranden. Was sie vor allem nicht zu begreifen vermochte, war, daß sich so viele Zivilisten niederließen, durch die das Militär beinahe verdrängt wurde. Aus Frankreich waren viele Familien eingewandert, aber wenn die Eiserne Marie zufällig den Weg der französischen Damen kreuzte, wandten diese sich verächtlich von ihr ab. Man hatte ein Regierungsgebäude, ein Krankenhaus und eine Kirche aus Ziegelsteinen erbaut, zum Pfarrer dieser Kirche war der Vater Felix angestellt, der früher Unteroffizier bei den Zuaven gewesen war. Als das Krankenhaus eingeweiht wurde, hatte man ihr eine Einladung zu der Feier geschickt, man hatte ihr das Freibett gezeigt, das sie begründet, in der Festrede war sogar ihr Name erwähnt worden. Aber nur ganz flüchtig, ohne näher darauf einzugehen, weil die Stadt sich doch geändert und jetzt ein ganz anderes Ansehen hatte und weil es jetzt ehrbare Frauen darin gab. Diese sogenannten ehrbaren Frauen nun waren der Eisernen Marie höchst gleichgültig; was ihr aber einen Stich ins Herz versetzte, das war, als sie zu Füßen des Bettes, das ihren Namen trug, wirkliche barmherzige Schwestern sah. Daran hatte sie nicht gedacht! Das war das Ende ihrer Heldenrolle: sie würde in aller Zukunft nichts anderes mehr sein, als wie die Eiserne Marie, eine Dirne! Es ist möglich, daß sie selbst sich nicht so ganz klar über ihre Lage war, aber ihre Seele wurde von einem unaussprechlich quälenden Gefühl beunruhigt, einem Gefühl, das ihr vollständig die Sicherheit und das moralische Gleichgewicht raubte. Ihr kraftloser körperlicher Zustand endlich erhöhte den tiefen Lebensüberdruß, den sie nicht mehr zu überwinden vermochte.

Dennoch wurde ihr die Gnade zuteil, ohne allzuviel leiden zu müssen, sanft hinüberzuschlummern, und zwar am letzten Tage des Fastenmonats der Mohamedaner, als der Abend anbrach, dieser Abend, den so viele zum Islam übergetretene Eingeborene mit Ungeduld erwarteten. Die Sonne war endlich untergegangen, aber der ganze westliche Himmel erschien noch in goldige Glut getaucht, und ehe diese verblaßt, tauchte im Osten schon die Mondsichel auf. Sie zeichnete sich kaum sichtbar, fast wie ein Nichts oder wie ein Wölkchen von durchsichtiger zarter Weiße von dem mattblau gefärbten Himmel ab. Und dann ertönte plötzlich von allen Straßen, von der ganzen Umgebung der Stadt ein lauter, langanhaltender Freudenschrei, ein Jubelruf, der die Rückkehr des Mondes, den Anfang des nächtlichen Festes begrüßte. Aus den grauen Wohnungen der Vorstädte kamen die zum Tanze geschmückten Priesterinnen der Wollust, bereit, die geheimnisvollen Riten dieser Nacht zu vollziehen, eingeborene Frauen, arme, ehrlose Töchter der Freude, Schwestern der Schande der Eisernen Marie. Sie versammelten sich in Gruppen, man vernahm das Klirren der ihre zarten Fußknöchel umspannenden kupfernen Ringe. Ein letztes Lächeln verklärte Mariens Züge, als sie daran dachte, daß jetzt wenigstens sie ausruhen dürfe, ruhen für immer. Und wenige Stunden später starb sie sanft und friedlich. Sie hatte den Pfarrer nicht empfangen wollen, die Ankunft der barmherzigen Schwestern hatte sie antiklerikal gemacht. Sie hatte die brennende Eifersucht auf die Schwestern, ihre triumphierenden Rivalinnen, und auf die Mutter Gottes, die mit ihnen einzog, nicht zu überwinden vermocht. Wenn der Zorn sie übermannte, dann erging sie sich in Ausdrücken, die man besser nicht wiederholt. Indessen war sie ja keine Salondame, sie war nicht einmal eine anständige Frau, und es war daher erklärlich, wenn sie ihrem gequälten Herzen Luft zu machen, ihre Worte nicht auf die Goldwage legte.

Aber der frühere Unteroffizier der Zuaven, der seiner militärischen Würde entsagt hatte, um ein Diener der Kirche zu werden, kannte zu viel von ihrem vergangenen Leben, um ihr deshalb zu zürnen. Er bestand auch darauf, daß der durch den Tod gereinigte Körper der Eisernen Marie ein richtiges kirchliches Begräbnis erhalte, und alle, die sie gekannt – und ihr wißt ja, in welcher Weise man sie kannte –, begleiteten sie zu der letzten, stillen Ruhestätte. »Unsere kleine Mutter! Unsere kleine Mutter!« sagte Barnavaux – er hatte es indessen nicht vergessen, daß sie ihm auch noch etwas anders gewesen war. Im Grunde vergessen die Männer so etwas auch nicht, aber es ist klug, niemals Erinnerungen in ihnen zu erwecken, die ihnen fatal sind. Ja, ja, fast alle Überlebenden ihrer Kundschaft begleiteten Marie zum Grabe und der Vater Felix hielt ihr sogar eine Leichenrede. Er sagte, daß sie alle Tugenden besessen hätte, bis auf die eine, die der Egoismus und die Sinnlichkeit der Männer in ihr unterdrückt hätten. Und da Vater Felix der einzige von der ganzen Trauerversammlung war, der heute zum ersten Male etwas mit der Eisernen Marie zu tun hatte, so war er gewiß von allen andern Anwesenden am besten dazu berufen, ihre arme Seele der göttlichen Barmherzigkeit anzubefehlen.

Vater Felix ist es übrigens, der mir dies alles erzählt hat, er war vielleicht nicht sehr redegewandt, aber ich wiederhole seine Worte, ohne etwas daran zu ändern oder hinzuzusetzen. Ich gebe diese einfache Geschichte genau so wieder, wie sie mir mitgeteilt wurde, und ich würde mich schämen, sie verschönern zu wollen oder auch nur ein Wort hinzuzufügen, das nicht wahr wäre.

Es bleibt mir nur übrig, noch eine merkwürdige Tatsache zu erwähnen, obwohl ich kaum weiß, wie ich dies in dezenter Weise ausdrücken soll. Die Schwarzen, die in ihrem beschränkten Geiste überall Wunder und Zauberdinge sehen, waren nicht geneigt, dem Kultus, den sie der lebenden, guten Zauberin geweiht, nun, nachdem sie gestorben, zu entsagen. Sie errichteten auf dem Grabe der Eisernen Marie eine Art von Monument, das sie nach ihrer Weise aus getrocknetem Schlamm herstellten und mit kleinen bemalten Glockentürmchen verzierten. Und damit keiner darüber im Zweifel sein könne, daß wirklich die Eiserne Marie, die gute Zauberin, die zweifellos auch nach ihrem Tode fortfahren würde Wunder zu tun, unter diesem Hügel ruhte, stellten sie zwischen die Glockentürmchen ihre Statue auf, die aus unvergänglichem harten Holze geschnitten war. Die Eingeborenen sind keine großen Künstler; sie schmeichelten sich auch nicht mit dem Glauben, daß das hölzerne Bild irgendwelche Ähnlichkeit mit der Toten habe. Dennoch wußten sie es so herzustellen, daß man deutlich darin die Gestalt einer Frau, und zwar einer nackten Frau zu erkennen vermochte. Darüber konnte kein Zweifel sein.

So ist es geschehen, daß das Andenken der armen Eisernen Marie, die ihren Körper jedem feil bot und dabei doch ein so großes, schönes Herz bewahrt hatte, durch sehr fromme und dabei unwissentlich obszöne Hände verewigt worden ist.


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