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Auch eine Waldgeschichte

Am Fuße der südöstlichen Gehänge des Dreisesselberges, am rechten Ufer der warmen Moldau, liegt langgedehnt in zwei Häuserreihen das Dorf Guthausen, außer der benachbarten Glashütte »Leonorenhain« die neueste Kolonie des Böhmerwaldes.

Es gibt noch viele Leute, die sich des Tages erinnern, wo die Missionare der Industrie den ersten Axtschlag erschallen ließen durch die Nacht des Urwaldes, wo der ersten Säge scharfer Zahn sich einbiss durch den Moosbart der Rinde in den Riesenleib der Eichen, und immer weiter fressend, mit schrillem Knarren das Schwanenlied dem Waldtitanen sang, bis er niedersank ins grüne Moos, mit sich reißend alles, was an und um ihn sich emporgerankt. – Hoh! Wie erbebt der weite Waldesraum bei dem dröhnenden Falle seines mächtigen Sprossen! Wie erzittert alles vom Heidegras bis zur Eichenkrone! Wie flüstert's durch die schwankenden Zweige und lauscht's ängstlich des erneuten Sägegekreisches! Abermals folgt dessen Verstummen das unheimliche Knicken und Prasseln der gestreiften Äste – und der dumpfe, erderschütternde Fall!

Da schießen der Häher und der Birkhahn hervor aus dem gefährdeten Hort des dunklen Gehölzes in die blaue Höhe, das Wiesel und der Fuchs verlassen den sicheren Bau und schleichen durch das Gebüsch, und Hirsch und Hindin springen herbei – ach, da kommt schon der Meisen geschwätzige Schar, die Drossel, der Fink und die Nachtigall, die Waldlerche und er Spechte Brüderschaft – alle verzagt und traurig daher und erzählen die trübe, böse Mär!

Tag für Tag erscholl der tödliche Axthieb – Nacht für Nacht erglühten die Wachtfeuer der Eindringlinge auf der Scholle, die sie der rauen Waldnatur abgetrotzt. Da verließ endlich das geängstigte, bedrohte Wild seine Lager im schönen Moldautale und flüchtete über den Bach in die Schluchten des Dreisessel und Plöckensteins.

Aber als der alte Wald zur Tabula rasa geworden, erhoben seine gefällten Riesen sich wieder – gezimmert und gefügt zu Wänden und Sparren – als Guthausen.

Es war ein frisches, lustiges Völkchen, das sich niederließ an den neuen Herden Guthausens, gesund und keck, wie alles Waldvolk – nur das Siechtum und das Alter sitzt daheim auf dem Dreifuß, in der Werkbank und hinter dem Webstuhl. Was die Axt schwingen kann und den Flößhaken, das zieht frühmorgens singend hinaus ins grüne Holz, nichts mit sich führend als einen Keil Brot, die rüstige Faust und ein genügsames Herz, und kehrt abends johlend heim von der Waldseite, wenn drunten vom Moldautale her die hellen Glockenstimmen der Mädel und Weiber Guthausens den Feierabend von der Mahd einläuten mit kernigen Schnadahüpfln und prächtigen Jodlern.

Ein solcher Sommerabend war's, und zwar Anno neun und vierzig, da schritt ein einsamer Wandersmann quer über die Wiesen, den Gehsteig von Wallern langsam gen Guthausen zu. Er trug die Uniform des Wocher-Regiments, den blassgrünen Kragenaufschlag schmückten rechts und links zwei silberplatierte Sternlein, über die Brust – Hut ab! – die goldene Tapferkeitsmedaille.

Er geht so langsam! Das ist kein echtes Guthausener Kind – sonst flöge er über die Halden hin, schlüge »da Woldbua« vom Berge und »d'Rockaroasgstanzln« vom Wiesenplan wie jetzt an sein Ohr!

Er geht so langsam! Das ist kein Urlaubergang! Die gehen mit Siebenmeilenstiefeln und – Urlaub jetzt? Wo gäb's unter den Wochermusketieren ein so ehrlos Herz, das, während Italien und Ungarn auf sind gegen den Kaiser, anders der Heimat gedächte als mit einem »Bfüat Gott« vor der Schlacht?

Er geht so langsam! Der muss blessiert und invalide sein – und nicht von hinten muss er den Tusch bekommen haben, das zeugt der goldene Ehrenpfennig auf dem tapferen Herzen! So was ist rar, und in Guthausen – mein' Seel, er geht schnurgrad ins Dorf – in Guthausen schon gar, obwohl sie jährlich ein hübsches Neigel Burschen von da abführen, denn baumstark sind sie alle und gewachsen wie die Tannen im Walde daneben!

»Herrjes! Da Lorenz! Mei' Seel' da Lorenz!« so schallt es rings aus den Gruppen der Heimkehrenden dem Kriegsmanne entgegen, der den Rain des Gemeindeangers erreicht hat, wo er bleich und tief ergriffen stehen bleibt, dem Weinen, freudigen Weinen nahe, Herz und Sinne süß angeheimelt von dem naiven Patois seiner Jugendgespielen, von dem Anblick der kleinen sauberen Häuschen und dem würzigen Dufte von Kienholz und Tannenzapfen, der das Dorf in die urechte Waldatmosphäre hüllt. – Er möchte in die Knie sinken, der junge Invalide und weinend dem danken, der seine mächtige Hand schirmend über ihn gehalten, als in den Straßen Mailands der edle Sohn Italias den Tedesco barbaro meuchlings niederschoss und feige mit Vitriol begoss und als die Seuche und der Mord die verlassenen Lazarette Hand in Hand verheerend durchzog. Aber schon ist er umringt, schon umrankt ihn die Heimat mit liebenden Armen – man drängt sich an ihn, herzt und küsst ihn, bewundert seinen Schmuck und die tiefen, braunen Narben der Brandwunden an Hals und Brust. Da – da stürzt durch den summenden Haufen ein Mütterchen auf ihn los und sinkt an sein Herz und schließt in süßem Weinen die treuen Augen, die tagtäglich seit Jahren nach dem fernen Süden geschaut, mit Gruß und Gebet für den Sohn. Es ist seine alte Mutter, der freundliche Nachbarn zu telegraphiert: »Der Lorenz ist da!«

»Schlecht mager ist er geworden und braun und alt – aber er sieht schon was gleich! Und Korporal ist er auch! Und der große Dukaten mit dem jungen Kaiser sein' Bild! Der ist ein halbes Häusel wert!« so erscholl es ringsum durcheinander, und immer wieder reckten ihm neu zugekommene Bekannte die schwieligen Hände entgegen zu treuherzigem, derbem Drucke, bis ihn sein altes Mütterchen endlich heim führte, nicht ohne dass er das heilige Versprechen hinterlassen musste, noch abends zum Richter zu kommen auf eine Stunde Erzählens vom Kriege und Siege und auf ein Glas echt bayerisches »Märzen«.

Als er in die Stube trat im kleinen Häusel seiner Mutter und die Wand vollgehängt sah mit seinen Episteln, oben auf mit den Vignetten Veronas, Brescias, Mailands etc., wie's Soldatenbrauch ist, wenn man heim schreibt, als er den alten, hohen Backofen sah, auf dem er seine Knabenträume geträumt, und das alte Spinnrad mit dem unverwüstlichen Rocken, als der Zeisig, den er als Bub gefangen, ihm seinen Gruß zuschmetterte und der alte Negro ihn freundlich, zutäppisch umsprang und beleckte, da ging das Herz ihm wieder über in wonnigem Wehe, er fiel seiner Mutter um den Hals und schluchzte: »Jetzt bleib ich bei Euch, Mutterl, und pfleg' Euch all' mein Lebtag!«

O, es hatte die Mutter noch nicht das Tausendstel gefragt und beantwortet bekommen von dem, was ihr am Herzen lag, als schon die Kameraden kamen, um ihn zu holen zu Plausch und Bier. Sie konnte nicht einschlafen vor Stolz und Glück und legte ein Stück fetten Kien um das andere auf die Herdglut, bis Lorenz endlich heimkehrte. Aber da hatte er seinen Schwips von lauter Zubringen und Anstoßen, denn die Toaste bei den Waldleuten, die haben ihre Nuss. Da heißt es das Glas leeren auf die Nagelprobe, gar bei eine Toaste auf den jungen Kaiser und den alten Radetzky, und derer wurden nicht wenige ausgebracht von wegen der Medaille, von wegen der Korporalssterndeln, von wegen Custozza, Mortara, Novara und so weiter.

Der Lorenz konnte der Alten nichts mehr erzählen, aber er legte den glühenden Kopf an ihr treues Herz und schlief ein, wieder einmal umfangen von Mutterarmen, am Mutterherzen.

*

»Auf, auf, du Siebenschläfer! Der ganze Tusset liegt voll Morgensonnengold und Wies- und Heideland voll farbiger Diamanten! Hörst du die Dirndeln drunten jodeln bei der Mahd? Sie schöbern schon zum dritten Mal! Weckt dich des Kuckucks Rufen nicht, der vom Ackerl dort herüberschreit? Auf, auf! Es ist zum Untern Frühstück Zeit! Die fetteste Preatschen Sauere, eingebrannte Milchsuppe steht auf dem Tisch und Weizenbrot wie Krapfen! Auf Lorenz!«

Ach er träumte so süß! Er träumte von jener Dirn', deren wunderliebes Bild ihm schon im Herzen saß, als er einrücken musste, ein scheuer, täppischer Rekrut, der die letzten Nächte in der Heimat vor ihrem Fensterl zugebracht in stummer, bangender Liebe, ohne »Pst« und »Gstanzel«. Er traute sich nicht! Und als er gegen die Garnisonsstadt marschierte, an ihrem Fenster vorbei, da meinte er ihr alles gesagt zu haben, was ihm am Herzen lag, als er mit blitzenden Augen und glühenden Wangen vor ihr das Kappel mit dem Buschen schwenkte so lange, bis er von ihrem Häusel nichts mehr sah als den verschwimmenden Rauch!

Er träumte von ihr, und wie damals, als der Brigadier im Namen des Kaisers ihm den goldenen Ehrenschmuck geheftet an die tapfere Brust im Spitale zu Verona, sein Herz zu brechen drohte vor überströmender Glückseligkeit, so wollte es ihm heute stille stehen vor Wonne, denn sie stand vor ihm, vergehend in glühender Liebe und fragte, ob die Neigung, die der Jüngling gehegt, in verschlossener Brust nicht gewichen sei dem Stolze des Mannes, den der Kaiser ausgezeichnet!

Lorenz sprang auf und kleidete sich rasch an. Du armes Mütterchen! Was seufzest du so kummervoll, dass dein Sohn so unempfindlich gegen alle Fettaugen der Milchsuppen! Ach, er denkt anderer Augen, glänzender als alle Morgensonnen, die selbst du je über der Krone des Tusset erglühen sahst!

Lorenz nimmt die Mütze und geht mit einem kurzen: »Bhüt Gott, Mutterl! Ich muss ins Freie, mir brennt der Kopf wie Feuer!«

Er geht langsam durch das Dorf der böhmischen Seite zu, die Mutter schaut ihm bekümmert nach, sie denkt, er hätte wohl mehr reden können zu ihr. –

Und draußen beim allerletzten Haus da macht er seufzend und bangend Halt. Es sieht viel trüber und ernster aus als damals, wo er sein Lebewohl hinein gewinkt.

Damals standen die Fensterln voll blühender Rosen und Balsaminen, voll duftender Veilchen und Reseden. Aber über alles blühte und duftete das rosige Antlitz Vronis, das hinter den Blumenstöcken hervor lugte mit den schönen, braunen Äugelein!

Die Fensterln sind zu, die Blümlein alle verblüht und eingegangen, bloß ein kleines Rosmarinstänglein steht einsam und ernst da, der Trauer Bild!

Ist Vroni nicht daheim? – Ach, vielleicht gar … Er hatte sich nicht zu fragen getraut nach ihr, er wollte das Heiligste seines Herzens, das er unentweiht getragen durch Sturm und Schlacht nicht anders entschleiern als vor ihr, die es erfüllte.

Vor seiner Assentierung hatte er es nie gewagt, sich ihr zu nähern, denn Vronis Vater war der einzige Halblehner im Dorfe, Richter noch dazu, und Vroni umschwärmt von den reichsten Bauernsöhnen und den kecken Galshüttenleuten, die bei einer Musik mehr Zwanziger springen ließen als der arme Lorenz, der Holzknecht, mit allem Schweiße eines Jahres zusammenrackern konnte. Jetzt stand die Sache anders. Er war Invaliden-Korporal und bezog nebst seinem Patente die volle Medaillen-Gebühr, das ist ein Kapital! Und er braucht nur einzukommen bei dem hohen Acrar, so erhält er die erste vakante Trafik, das hat ihm der Obrist selbst gesagt, und so was trägt Prozente! Also frisch darauf und dran!

Das Zimmer ist so öd, so traurig! Nichts von Leben darin, als eine alte, graue Katze und ein altes graues Weib. Beide spinnen – still und finster.

Die Alte ist Vronis Mutter. Sie erhebt das spitze Kinn, die spitze Nase, das ganze spitze, magere Gesicht verwundert zu dem Eintretenden und richtet den verkratzten und erblindeten Nasenquetscher Brille ohne Stangen fester im Sattel auf. »Mei, was sucht ihr?« fragt sie schnarrend.

Ein eiskalter Schauer überläuft das Herz des Invaliden. Alles kommt so ganz anders, als er sich gedacht, alles ist so finster, so nächtig hier, weil sie fehlt, seines Lebens Sonne. Er stottert zaghaft: »Ich wollt – ich möchte – ich bin der Lorenz – wisst Ihr, der Weberlenzl.«

»Ei, der Lenzl!« sagt die Alte grinsend und strengt die blöden grauen Augen an, um ihn besser auszunehmen. »Schau, wie du groß worden bist bei der Militär, geh' weiter, Kind, und setz dich nieder.«

Der Lorenz setzt sich seufzend zu der Alten auf die Ofenbank, unter der sich knurrend die Katze verkriecht.

»Und was bringst mir denn, Lenzl?« fragt die Alte weiter, »das ist doch nit Gold?« schiebt sie hastig ein und fasst die Medaille mit den dürren Fingern.

»I freilich, Altrichterin!« erwidert freudig Lenz, »das hab ich von unserm jungen Kaiser in Italien kriegt, und das tragt mir täglich meinen fertigen Silberzehner, ohne dass ich einen Finger rühr!«

»I Jessas! Herrje! Das wär?«

»Ja, ja, Altrichterin! Und drum mein ich, jetzt werdet Ihr nichts dawider haben, wenn ich nach Eurer Vroni geh? – Alles in Ehren nat…«

Als hätte eine Viper sie gestochen, so schnellte die Alte mit einem gellenden Schrei in die Höhe, sank aber gleich wieder nieder und kauerte sich schaudernd in die Ofenecke: »Hihi! Mein Jüngerl!« rief sie mit irrsinnigem Lachen, »der Vrondl willst nachgehen? Der schönen Richter-Vrondl? Hihi! Wo wirst du sie denn suchen, he?«

Lorenz sprang auf und starrte mit stockenden Pulsen der Alten in das gräulich verzerrte Gesicht, in dessen Zügen das Weinen des Grams mit dem Lachen des Wahnsinns um die Oberhand stritt.

»Um Gott, Richterin! Was ist's mit der Vrondl?« ächzte Lorenz voll ahnungsvollem Schrecken.

»Sitz nieder, Lenzl!« flüsterte etwas ruhiger die Alte, »ich will dir's verzählen.«

Lorenz ließ sich mechanisch nieder.

»Schau, Büberl!« hob die Alte an, »es wird jetzt drei – na, wann war's denn, wie alles Vieh ritzig worden ist im Gäu bei uns – zwei oder drei Jahre ist's, da kam so ein Viehdoktor herüber vom Bistum, ein geschickter Mann und hübsch auch. Der hat in Wallern, in der Röhren und bei uns das Vieh kuriert und ein Narrengeld verdient. Mein Seliger als Richter hat auf die Kontumaz schauen müssen, und da ist der Doktor alleweil bei uns gesteckt. Wer hätt' was Übles denkt? Es wurd' auch nichts geredt im Dorf, bis der Doktor abfahrt und – d' Vrondl mit ihm. – Mein Seliger ist ihnen nach – der Doktor hat sich allweil für ein' Röhrnbacher ausgeben – ja, in ganz Röhrnbach hat ihn keine Seele kennt, und sonst konnten wir auch nichts erfahren – der Meinige ist gestorben vor lauter Qual und Schand und ich – bin halt jetzt ganz allein und wart und wart …«

Sie weinte, ach so bitterlich und konnte nichts mehr reden.

Lorenz saß totenbleich wie eine Statue des Schmerzes neben der Alten. Er konnte nicht weinen, aber das Herz wollte es ihm abdrücken.

Alles – alles umsonst! Zerstiebt der schöne Traum von Liebesglück im Waldesschatten der Heimat, zertrümmert mit einem Schlage das ganze schöne Gebäude aller seiner Hoffnungen, das er so fest zu kitten gemeint mit seinem Herzblut, verspritzt auf den Schlachtfeldern Italiens. Vorüber – alles vorüber!

Er reichte der weinenden Alten stumm die Hand, die sie schluchzend an das gramzerrissene Herz drückte, um ihm selbst jetzt noch zu danken für die Liebe, die er gehegt für ihr einziges, geliebtes – ach gefallenes Kind. – Er seufzte tief und schmerzlich auf und verließ das Haus der Trauer.

Mit hastigen Schritten flog er über die Heide hin, als ob Sonnenschein und Tagesglanz sein düsteres Auge blendete, und schritt dem Walde zu.

*

Wie arm ist der Mensch, dessen Herz in Kummer zu schlagen verdammt ist zwischen Mauer und Gestein! Wohin er auch immer flüchtet, er findet keinen so entlegenen Winkel, in dem ihn das Keuchen, Stoßen, Rennen der Menge nicht erreichen würde, die da jagt nach – Geld! Leben – Leben! Ruhlos tickt und hämmert es tagsüber – tagsüber, und wenn der Feierabend niedersinken will mit freundlichem Gedämmer, jagt es von Neuem heran und verscheucht das Sabbatdunkel der Nacht mit dem Gefunkel der Gasreverberen. Hurrah! Frisch auf, gekeucht, gestoßen, gerannt, gejagt nach Geld und Genuss! Wie duftet und schimmert und glänzt der Salon! Ist das sein Widerschein, was so bleich umspielt das Fensterlein der Mansarde? O nein, es ist ein armes Menschenkind, das droben wacht, mit rotgeweinten Augen bei bleichem Ampelschein. Es suchte die Ruhe im entlegensten Dachstübchen – es fand sie nicht, aber die Not, die schlich ihm nach, die kauert neben ihm und schüttet immer frisch Öl zu, wenn das Lämpchen müd' erlöschen will, wie die müden Augen. Keine Ruhe!

Dorthin sieh! Der Sohn des Waldes, schwer das Herz und verschüttet alle seine Freudenschlösser, er geht langsam dahin, sein Leid auszuschütten und seinen Jammer auszuweinen an dem Herzen seiner Mutter, der gewaltigen Waldnatur!

Da hebt und regt sich nichts, was nicht groß wäre, wahr und heilig! Waldeinsamkeit! Wer hätte je deine Schatten gesucht, ohne deinen Frieden gefunden zu haben? O Waldnacht! Dein Säuseln, Flüstern, Rauschen, es ist derselbe unvergessliche mütterliche Ton, den jeder kennt, über dessen Wiege je ein Mutterherz gesungen: »Schlaf, Kindlein, schlaf!« O Waldesdunkel! Wie senkt dein Dämmern sich so lind in das Herz, das erschreckt und geblendet erbebt vor den Blitzen des Geschickes, die zündend nieder fuhren darein!

Hier ist Ruhe, heilige Ruhe! Und sie wäre eine ewige, wenn nicht das Raffinement des Genusses seinen immer fertigen Sklaven, den Menschen, fände, sie zu stören und zu entweihen mit den Waffen des Todes.

Lorenz schritt langsam dahin, und immer mehr kräftigte und erhob sich sein zagendes, gedrücktes Herz bei dem Anblicke der ringsum sprossenden, grünenden, gewaltigen Waldnatur. Da liegt nichts nieder, schwach und tot, als was der Frevel gefällt, den der Mensch sein Recht nennt! Alles schießt, strebt und ragt himmelan stolz und frei, und ringsum tönt die urewige Hymne an die Allmutter Natur. Es rauschen sie die Kronen mit demütigem Neigen, die Zweige flüstern sie mit raschelndem Laub und säuselnden Nadeln, die Vöglein singen sie mit schmetterndem Jubelton, und unter dem zitternden Gezweige zwischen schwankenden Heidegrasblumen führt den Elfenreigen dabei der Mücken und Libellen munteres Volk, dem die schwerfällige Käferschar mit ernster Miene Beifall lacht aus den klaren, schwarzen Äugelein. Wer könnte da traurig sein?

Versinke Gram! Der Wald ist nicht dein Revier! Horch! Was schallt da herein und herüber mit froh gewaltigem Klange von dem Holzschlage!

Lorenz steht still, die Vögelein selber verstummen und lauschen, denn es ist echter, rechter Waldliedton, was da herüberklingt:

 

»Gor koana in Stond
Der an Scheidabuam fongt
Der an Scheidabuam reißt
Und am Schluss inaschmeißt!«

 

Das sind Guthausner Scheiterschlager! Frische Burschen, keck und verliebt alleweil!

Und dort? Was klingt dort herauf, von der Waldlehne oberm Bachel, deren Wellen munter hüpfen im Takt, den die schlanken Weidenruten dazu nicken?

 

»Ba da Wulda durt drunt
Wiad ma Diarndai wo stehn
Und ös Scheida schwingts oba,
Geht's, grüaßts ma's fai schön!«

 

Das sind die Flößer, die lustigen Schwemmbuben aus dem Dorfe, die mehr »Gsätzeln« wissen, als die Moldau jährlich Scheiter trägt auf dem grünen Wellenrücken! Hurrah! Wald und Gesang! Hurrah!

Dem Lorenz schwillt das Herz, aus dessen tiefsten Falten plötzlich mit beflügelten Engelsköpfen hervorgucken die alten, schönen, fürzwängerischen Gsangeln aus seiner Jugend und holzhauerischen Vergangenheit. Sie flattern heraus, flügge geworden durch die Sympathie des Liedes und der Waldeslust und umgaukeln ihn wie Mücken den Sonnenstrahl, bis endlich die Trauer schwindet, verschrumpft und versinkt in seinem Herzen und er mit voller, kräftiger Stimme das Motto singt, das er fortan setzen will über die folgendes Kapitel seines Lebens:

 

»Da Wold is mei Hoamat
Und d' Hocka mei Büx'
Und im Wold will i sterb'n
Sunst wünsch i ma nix!«

 

So sei es denn! Du lieber, guter, alter Wald, nimm es wieder auf zu Gnaden, dein abtrünniges Kind! Es schwört von Neuem zu deiner grünen Fahne und will nimmer von dir lassen, solange seine Hand nicht erlahmt, die Axt zu schwenken und den Schwemmhaken zu führen! Amen!

Er breitete weit die Arme auseinander, und ein frohherzliches Lächeln erhellte sein bleiches Gesicht, als ringsum Eich' und Föhre ihm freundlich zuwinkten mit grünem Arm, als durch Laub und Nadeln ein flüsterndes »Willkommen« säuselte! Der kannte noch gut die Sprache seiner Mutter, der Waldsohn von Guthausen!

*

Wochen und Monden rauschten vorüber schnell und still. Das Grummet war längst daheim, auf den Feldern draußen stand nichts mehr als der Haber, die Erdäpfel und das Kraut. Die Haarstuben rauchten und widerhallten von den Gesängen der Dirnen, die darin Flachs brechelten. Der Herbst war da!

Lorenz war seinem Entschlusse treu geblieben und wieder ins Scheitermachen gegangen wie damals, wo ihn die Not dazu zwang. Die harte, aber gesunde Waldarbeit hatte seinen Körper schnell wieder gekräftigt, und auch sein Aussehen war ein besseres geworden, denn die roten Brandmale, die Andenken an die feigen »welschen Katzelmacher«, hatten nach und nach die natürliche Fleischfarbe angenommen, und die ehrenvollen Narben standen ganz gut zu dem vollen, braunen Backenbart, den der Invalide sich angeschafft.

Ach, wie schielten die Dirnen nach ihm mit verlangender Sehnsucht, wenn er sonntags zur Kirche ging an die Seite seiner glücklichen, stolzen Mutter, die blankgeputzte Medaille mit des Kaisers Bild im Knopfloch des feinen, städtischen Überrockes. Alles umsonst! Er hatte für das Bild, das die Zeit herabgestürzt von dem Altare seines Herzens und zertrümmert, noch kein anderes aufgestellt.

Er war freundlich und herzlich – aber gegen alle – alle. O das kränkt mehr als Hass!

Es war an einem Samstagabende, als Lorenz mit seinen Kameraden vom Holzschlage heimkehrte.

»Hoho! Was muss es denn da geben bei der Altrichterin?« rief einer aus, »da steht ja das halbe Dorf vor'm Hause?«

»Na, und das G'schrei! Grad wie damals, wie d' Vrondl davon is mit dem bairischen Vagabunden!« sagte ein anderer.

Das Herz Lorenz's erstarrte, denn er glaubte den Ton einer Stimme unterschieden zu haben, deren unvergesslicher Klang selbst jetzt noch sein Herz erbeben machte in süßen Schauern. Sie standen an dem Hause.

»Was gibt's denn da? Was ist geschehen?«

»'s Altrichter Vrondl ist am Schub herkema von da Stadt«, war die Antwort.

Hoho! Lenzl! – Lenzl! Was ist's denn? Du hattest »alle Fünfe beieinander« im Schlachtengewühl, als der Todesengel eure tapferen Reihen durchschritt mit erbarmungslos mähender Sense, und jetzt versteint dich das Gekreisch einer nichtsnutzen Dirn? Auf, auf! Denk' deiner Ehr!

Er fühlt, hört, sieht nichts! Durch sein Gehirn brennt glühend der eine, herzzerreißende Ton des Jammers, mit dem Vroni gerufen: »Erbarmen Mutter! Ich bin doch dein Kind!«

Ein lauter, den Gafferhaufen durchzitternder Schrei des Entsetzens reißt ihn aus seiner Erstarrung; er hört einen schmerzlichen, markerschütternden Klageton, er sieht die Altrichterin mit Harpyenwut niederstampfen die vor ihr kniende, reugebeugte, schöne Gestalt, er sieht diese sinken, das bleiche Antlitz überströmt von Blut …

»Vrondl, Vrondl!« stößt er heiser hervor aus den tobenden Brust. Er teilt mit ungestümer Hast den Menschenhaufen, stürzt nieder neben der Leblosen und nimmt sie in die Arme und drückt und herzt sie in sinnverwirrter Erregung und überschüttet mit allen Schmeichelnamen glühender Liebe das gefallene Mädchen, deren Mutter abseits steht, Hass in den Blicken und Fluch auf den Lippen! Er hebt Vroni auf, und wie ein Kind trägt sie der starke Mann von der Schwelle, die zu überschreiten ihr das Gespenst des Mutterfluches verwehrt, hinab mit beflügelten Schritten durch das erstaunte Dorf dem Häuschen seiner Mutter zu.

Mit sprachlosem Erstaunen schaut die Weberin dem Gebaren ihres Sohnes zu.

Er reißt das Tuchet vom Bette zurück und versenkt mit mütterlicher Sorgfalt die noch immer ohnmächtige Vroni in die schwellenden Kissen. Dann fällt er der Mutter um den Hals und mit bebender Stimme, deren herzinniger Ton mehr sagt als die Träne auf der gebräunten Wange des Mannes, spricht er zu ihr: »Mein liebes, treues Mütterchen! Wirst du mir diesmal zu Willen sein, wenn ich dich bitte, dies unglückliche, von aller Welt verlassene Kind aufzunehmen an deinen Herd? Wirst du mir es verargen, dass ich für sie in dem Herzen, das ich ihr einst zu eigen gab, einen kargen Liebesteil unversehrt aufbewahrte, trotz Zeit und Gram – die Bruderliebe.«

Die Weberin sah mit nassen Augen in ihres Sohnes erglühtes Angesicht und erwiderte mit gerührter Stimme:

»Mein Lorenz! Es geschehe nach deinem Willen. Du hast dein Liebesleid allein getragen, lass nun mein Mutterherz mit dir tragen, was auch immer komme: Sorge – Glück – oder Reue!«

Das einfache Weib sprach dies mit dem ernsten Tone einer Seherin, aber Lorenz hörte es nicht, er sprang an das Bett, denn Vroni seufzte tief auf, begann sich zu regen, und im nächsten Augenblicke fiel auf ihn ein Glutblick jener Augensterne, die seinen Liebeshimmel zu erleuchten nicht bestimmt waren.

*

Es war gegen das Frühjahr 1850 an einem Arbeitstage noch vor der Frühstückszeit, als die Leonorenhainer Hütte vor unbändigem Gelächter widerhallte. Der vermutliche Gegenstand des Gelächters stand mitten unter den Glasbläsern, die von den Bühnen ober den Arbeitslöchern ihre leichtfertigen Witze herab feuerten auf den geängstigten Mann, den Guthauser Wastl, der mit zwei Kiesfuhren zeitlich herübergekommen war vom Dorfe.

Der bitterste Feind des armen Wastl schien jedoch hinter der Schirmmauer zu stecken, denn sooft von dorther ein, wenn auch noch so lakonisches »Sprüchl« ertönte, brach Gelächter und Lärm von Neuem los. Es musste dies der Schürer sein.

»Und i glaub's net«, hob Wastl abermals an, als eben wieder eine Lachsalve verklungen war, »i glaub's amol net, dass d' Vrondl so was tät – und goar z'weng so an Ruasrommel von an Schürabuam! Sie woaß scho, wos außi kimmt mit an sellan Haludri – und so schö wird do da Lenzl a no sa, nix z'reden von sein Gholt für dö guldani Medalion!«

»Jo woast, Wastl!« rief der Schürer höhnisch wieder über die Mauer, »dös is scho sou gebäuchli do ban uns, dass d' Hüttenkotz in Schüra ghört und sunst …«

Ein warnendes Pst unterbrach den Schürer, denn soeben trat der Hüttenverweser ein.

Hei, wie flogen da die Blasröhren nieder in die Hafen um weiche Glasmasse, wie eifrig rührten sich da die Richteisen, Drehzangen und Streichlimmel, wie schwirrten die Glasblasen mit künstlichem Schwunge durch die heiße Hüttenluft, bis die fertige Form in den Kühlhafen kommt und das Blasrohr zischend führt in den brodelnden Obertrog, um gekühlt frisch wieder zu beginnen das heiße Tagewerk!

Der Wastl kratzt sich den krausen Kopf, als besänne er sich auf etwas, dann tritt er plötzlich zu dem Verweser der Hütte und fragt gar manierlich: »Mit Verlaub, Herr! Wos hoast ban enk a Hüttenkotz?«

Der Verweser schaut ihn verwundert an, antwortet jedoch sogleich: »So heißen wir das Abgeronnene, Abgesprungene im Ofen, nichtsnutzes Glas – Ausschuss!«

»So – so! Schön Dank und bhüat Gott!« versetzt auf diese Auskunft der Guthauser Wastl und verlässt die Hütte, nicht ohne einen giftigen Blick nach dem Schürloche zu werfen, vor dem der Schürer steht, ein junger, über und über schwarzer, aber pfiffig aussehender Bursche.

Der Wastl schreitet langsam an den Mühlen, Schleifen und Stampfen vorüber dem Wirtshause zu.

»Ei, Wastl! Grüaß Gott z'Lenora!« ruft ihm die Wirtin zu.

»Schön Dank, Frau! A Biar hätt i gern, und a Gebitt hätt i a!« sagte heimlich der Wastl.

»No Jes! Und dos war?«

»Sitzst inna bei mir Frau und lousz zu a wenig'l. Ös kennts ja den Schürabuam drent von da Hüttn?«

»No wer i'n net kenna, den Teuflsbuam!«

»Jo? Na – hot a denn a an Schotz do?«

»O du liaba Gott, an Schotz? – In jed'n Häusl oan – zwoa Stund umadum! A niedi, dö a siagt!«

»Sou, sou!« sagte Wastl langsam und kummervoll, »davon höbt ös oba nix g'hört, dass er dö Täg mit da Vrondl von uns wos ghobt hot – a Gschpusi …«

»Mai jo! I woaß net gewiss – wiar i's ghört hob, sou vakaf i's – in Pfingsta moan i is do gwen, und er is mit ihr bis geg'n Guathousen gonga – dar Ihri, da Lenzl, sullt in da Stadt gwen sa, um sei Invalidengeld ban Steuereinnehmer …«

»Sou, sou! – na – i woaß gnua. Do is Geld und schön Donk für d' Neuchigkeit …”

Er ging bekümmert hinaus in den Stall, schirrte seine »Öxeln« ein und fuhr langsam gegen Guthausen. Die ehrliche Seele wusste nicht, was anzufangen.

Als er früh in die Hütte getreten war, empfingen ihn, den intimsten Freund Lenzls, die Glasarbeiter alle mit der höhnischen Frage, ob denn der Lenzl nicht bald vorwärts macht mit der Altrichter-Vrondl – sonst könnte wieder etwas dazwischen kommen.

Der Wastl, der seines Freundes ehrliche Liebe zur Vroni kennt, nimmt dies schief und fragt spitz, was sie die Sache anginge. Die lachen und meinen, es stände wohl einer beim Schürloch, der ein Liedel zu singen wüsste von der Vrondl treuer Liebe!

Den Wastl wurmt das Sticheln, er hält der Vroni eine Lobrede, die niemand glauben will, denn alles lacht unbändiger als zuvor.

Und eh' er der Geschichte auf den Grund gekommen, trägt der Teufel den Hüttenverweser daher.

Nun – etwas ist an der Sache, sonst hätte die Wirtin nichts erzählen können. –

Der Donner! Was ist da zu tun? Der Lenzl muss wissen, was unter den Leuten herumgeht, er ist der Mann dazu, vorlaute Mäuler zu stopfen. Viel Rares ist keinesfalls an der Vroni! Er hat sie zu sich genommen, wie sie verlassen war von aller Welt – er will sie wieder zu Ehren bringen – er will sie heiraten – der Lenzl muss wissen, was für ein Gerede geht. – »Hei, füra, hüo, Öxel!« Die Wagen rollen schneller den Wiesenpfad hinab. – Der Wastl hat sich entschlossen – der erste Gang ist zum Lenzl und – reinen Wein eingeschenkt.

*

Im Stübel der Weberin in gar ernstem Gespräch schreiten langsam auf und nieder Mutter und Sohn.

»Du weißt, Lorenz, wie wenig ich auf »die Leute« gebe, ich bin der festen Überzeugung, dass, was du tun willst, wohl getan sei, aber ich fürchte, das Mädel weiß nicht, was du ihr für ein Opfer bringst!«

Lorenz antwortete lange nicht. Er blieb an dem Fenster stehen und schaute starren Blickes hinaus in das kleine Gartel hinter dem Häuschen, wo unter tausend Primeln, den ersten Boten des freundlichen Lenzes, eine Rose stand in prangender, duftiger Pracht – Vroni.

Wie schön sie ist! Wie zart, wie frisch, wie jung! Und in dieser knospenden Menschenblüte sollte der Wurm der Sünde genistet haben?

»Mutter! Ich will euch etwas sagen«, sprach endlich Lorenz, »das lange Hin- und Herreden führt zu nichts; ‚vorwärts und dreingeschlagen', war die Parole bei uns in Italien, jetzt gehe ich zur Vrondl und trage ihr meine Hand an. Schlägt sie ein, so müsst Ihr mir zu Liebe dem lieben Guthausen Lebewohl sagen und mit uns ziehen – irgendwohin, wo man nichts weiß von – von der Geschichte mit dem baierischen Doktor.«

»Mein Lorenz! Wo du bist, ist mein Guthausen!«

Lorenz sagte nichts mehr, schweigend bückte er sich nieder zur welken Hand seines Mütterchens, um einen herzinnigen Kuss darauf zu drücken. Sie aber zog ihn in die Höh und schrieb mit zitternder Hand auf Antlitz und Brust des geliebten Kindes das heilige Zeichen des Kreuzes, des Palladium, unter dem die Einfalt nimmer wehrlos geht in den Kampf mit des Geschickes Mächten.

Er ging ins Gartel – seine Mutter aber fiel nieder in die Knie in der Betecke des Zimmerchen, wo der bäuerliche Hausaltar prangte in schönen Stubenbacher Glasbildern und betete – ach so innig und inbrünstig: »Mein Gott, mein Gott! Lass den Weg, den mein Kind einschlägt, ihn zum Guten führen!« –

Lorenz stand vor der Vrondl, die scheu und errötend zu ihm aufblickte.

»Mein liebes Vrondl!« sprach er mit innigem Tone, »ich komm', um Abschied zu nehmen von dir für kurze Zeit! Wohin glaubst du, dass ich geh? Das heißt – nur – wenn's dir recht ist!«

Vroni antwortete nicht, sie zupfte verlegen an den Bänderspitzen ihrer Schürze.

»Du weißt, wie ich bin«, fuhr er fort und ergriff die feine, weiche Hand des Mädchens, »du weißt, dass meine alte Liebe zu dir mit neuer Heftigkeit erwacht und anders nicht zu befriedigen ist als mit deinem Besitze! Vroni! Ich komme, dich zu fragen, ob du mein Weib werden willst …«

Vroni erwiderte keine Silbe, aber ihre Hand zog die des ehrlichen Invaliden an die wallende Brust. Er fühlte sich gezogen an den schlanken, üppigen Leib der Geliebten, er neigte sich nieder zu dem kirschroten, küsslichen Lippenpaare, dessen duftige Knospen ihm zulachten, ein langer, seliger Kuss, und er schoss von dannen.

»Wohin denn Lenzl?« fragte die Mutter, als er mit Hast die Kappe herab riss vom Geschirrgestelle und zur Türe hinaus wollte.

»In die Stadt, zur Bezirkshauptmannschaft! Diesen Sonntag muss das Aufgebot sein – und – einmal für dreimal!«

»Nun, nun, so geh mit Gott! Sein Segen, sein bester Segen mit dir!«

Er eilt der Stadt zu über die Wiesen hin. Doch während hier ein treues, liebendes Mutterherz alles, was es birgt, von inbrünstigen Segenswünschen mitgibt, dem Sohne auf den entscheidenden Weg, liegt ein zweites, ach unglückliches Mutterherz mit des Todes Qualen ringend, auf dem Schmerzenslager – einsam und allein.

Es ist die Altrichterin.

Ich sage ‚einsam und allein', und doch umstehen das Krankenbett Scharen von Nachbarn und Bekannten! – Ach, sie liegt doch verlassen hier! Da ist keine liebende Hand, die den Todesschweiß trocknet auf der blassen Stirne so lind! – Da ist keine liebende Hand, die den Löffel reicht voll bitterer Medizin – so mild! Da ist kein liebendes Herz, das süße Märchen von Hoffnung und Leben flüstert in das Ohr der Verzagenden. – Einsam – einsam sterben – das ist hart!

Die Altrichterin liegt im Todeskampf – die Nachbarn beten den Rosenkranz. –

Lorenz schreitet lustig der Straße zu.

Da kommt des Wastls Schneckenpost.

»Nu, Wastl, was Neu's z' Lenora?«

Ah, Lenzl! – ach der ormi Bua! »Oh, Blassel, oh!« Der Wastl steigt ab von dem Leiterwagen und geht dem Lorenz mit einem so verlegenen Gesicht entgegen, dass dieser unwillkürlich in banger Ahnung erbleicht.

»Wohin denn, Lorenz?« fragt der Wastl.

Lorenz erzählt ihm, was er im Sinne habe.

Der Wastl erschrickt, fasst den Freund bei den Händen und – was nutzt all dein täppisches Beschönigen, du ehrliche Seele! – Es muss heraus – es gilt ja dem Freund! – Endlich weiß der Lorenz – alles.

Er erwidert kein Wort darauf – stumm drückt er dem Freunde die Hand, der selber dem Weinen nahe ist und – geht langsam wieder zurück gegen das Dorf. Er ist grauenhaft bleich.

Der Wastl fährt traurig nach. Was wird das werden?

*

»Wo ist die Vroni?«

»G'rad ist sie runter gegen die Haarstube auf den Hüttenweg! – Aber um Gotteswillen – was ist dir denn – Lorenz? Du siehst ja aus, als wie ein Toter?«

»Ich bin's auch Mutter – tot für Glauben, Liebe und Hoffnung – und fürs Leben!«

»Kind, was ist denn geschehen? So hab ich dich nie noch geseh'n! Deine Brandfleck sind wieder so dunkel so blutrot wie gleich anfangs, als du kamst.«

Der Lorenz legte mit einem matten Lächeln die Hände an das verzagende Herz: »Ich weiß es nicht mehr recht – aber mir ziemt, mir ist wohler gewesen damals in Mailand, als das Vitriol mit gefräßiger Gier mir Hals und Brust verbrannte, als heute – wo mir das Herz versengt – zu Staub gebrannt hat – der Undank – und die Untreu! – Mutter! Die Vroni hat mich verraten, schmählich verraten meine treue, unsägliche Lieb – ach und wofür?«

»Na, Lorenz! Sei das 's größte Unglück – unser Herrgott macht immer 's Beste, wer weiß, was für ein End die Sach genommen hätt – kein gutes nicht – das hab ich immer gefürcht – geh, nimm dir's nicht so zu Herzen – es gibt hübsche und brave Dirndln g'nug im Gäu.«

Lorenz schüttelte traurig mit schmerzlichem Lächeln den Kopf und sagte: »Mit mir ist's aus – aber – ich will es ihr sagen und – sie zum letzen Male sehen.« Damit ging er der Glashütte zu.

Frühling! Frühling! Rings allüberall sprossendes, knospendes Leben, Maiengrün und Maienluft, Finkenschlag und Lerchensang. – Im Herzen des armen Lorenz ist's trüber, trauriger Winter – Schnee und Eis – und tief darunter das zarte Blümlein seiner Liebe verschüttet, erstarrt, vergangen!

Auf dem Anger hinter der Haarstube leuchtet ein weißes Frauengewand – das ist die Vroni – mit einigen gewaltigen Sätzen hat er sie erreicht. »Vroni!« keucht er hervor aus dem gebrochenen Herzen mit einem Akzente so tiefen Schmerzes, dass das Mädchen sich erbleichend umwendet. – Sie schaut ihn an und liest ihr Urteil auf den gramentstellten Zügen des Antlitzes, aus dem das Leben gewichen, weil es ihr nicht mehr entgegen leuchten kann mit dem Lächeln der Liebe.

»Vroni! Wohin du gehst, mag ich nicht wissen«, stößt er mühsam hervor, »eins aber weiß ich sicher, unsere Wege gehen fortan auseinander. – Lebe wohl! Gott verzeihe dir!«

Das war alles, – er wandte sich um und schritt dem Dorfe zu. Zu der Mutter! Ausweinen an dem nimmermüden, immer treuen Mutterherzen, das wird dir erleichtern den Kampf mit der törichten Liebe, mein guter Lenz! Zur Mutter!

Das Weib, verfallen dem Fluche und der Sünde, stand eine kurze Weile sinnend da, ungewiss, ob es versuchen solle ein abermaliges Aufgebot von Seufzern, Tränen, Schwüren und wie sie heißen mögen, alle die Fallen, die Weiberlist aufzustellen pflegt der Ehrlichkeit des Mannes – oder ob sie lassen solle von dem Toren, der die Schönheit zu lieben unternahm, ohne das Laster zu entschuldigen. –

Vroni schürzte nach einer kurzen Pause der Überlegung den Rock und hüpfte der Hütte zu. Von der Straße tönte ihr ein kecker, lustiger Jodler entgegen – ein junger, hübscher Bursche sprang ihr zu – es war der Ofenschürer aus der Glashütte. »Grüaß Gott, mei Täuberl!« rief er und zog das Mädchen in seine Arme. »No, host'n wieda amol onbrocht, dein g'strengen Schotz?«

»Jo Natz! Und mi ziemt auf ewi – d' Leut red'n jo oulls auf …«, damit sprang Vroni am Arme des Burschen die Straße hin, das war alles, was sie an Angedenken dem armen Lorenz weihte.

Sie lachen und springen – ei, Jugend und Frühling! –

Als Lorenz im Dorfe ankam, sah er eben des Richters Knecht den Strang des Glöckleins losmachen bei dem überdachten Gerüste, und gleich darauf fing es an zu regen das eherne Zünglein und hinaus zu wimmern in die warme Frühlingsluft die trübe Kunde – vom Sterben.

»Wer stirbt denn?« – »Die Altrichterin!« war die Antwort. In diesem Augenblicke sprang trällernd durch den Wald voll Liebeslust das Kind der eben Gestorbenen. – Es hörte nicht des Zügenglöckleins Ton, es wusste nicht, dass der grässliche Mutterfluch, der es getroffen und ihm folgte, wenn auch langsam und hinkend wie die Reue – selbst auf dem Totenbette nicht widerrufen – nein, erneuert worden mit erhöhtem Hass.

Und wenn das Mädchen es gewusst hätte? Ei was, grämen und härmen! Frisch zu, gelebt und geliebt! Jugend und Frühling!

*

Wohin solltest du dich flüchten um Trost und Frieden, armer Lenzl, wenn alles nicht zureicht, was die Natur an Milde und Mitleid gelegt in ein Mutterherz? Wenn die Natur dich zu verhöhnen scheint mit dem schwellenden Frühlingsleben, das immer gewaltiger um dich pulsiert, während in deinem Herzen späte Herbstnacht liegt auf den vergilbten, verwehten Blättern deiner Liebesblüten! Wohin solltest du flüchten als in den Wald? Lockt dich sein Rauschen nicht in seinen stillen, dämmerigen Schatten? Ruft nicht die Nachtigall vom Dornbusch her mit süßem, langgezogenem Klageton, dass sie es kennt dein tiefes Leid, – du mögest kommen und nicht fürchten, dass dort ein Jubelton dich in der Trauer stört! Komm, komm!

Wie lange ist es her, da stand er da unter den rauschenden Eichen und Föhrenwipfeln, und des Waldes flüsternde, singende Stimmen gossen Ruh' und Frieden in sein krankes Herz! Ach, jetzt ist es anders!

 

Er möchte am liebsten sterben,
Dann wär's auf einmal still!

 

Er hört tief drinnen im Waldesherzen den Hackenschlag und Sägeton und all' die frischen Liedlein dazu, die auch er einst mitgesungen, er hört im Tale drunten den eigenen Ton, mit dem die Scheiter einander vorwärts stoßen auf der grünen Moldauflut, er hört das Gewimmel und Geblök der Herden, das Schnalzen und Jodeln der Hütbuben im Gereut, auf Büheln und Heideland – alles wie sonst! Nur er liegt traurig im grünen Moos – das Auge verfallen, die Wange so fahl und das Herz traurig, so müde!

Hier möchte er schlafen den ewigen Schlaf, umrauscht von säuselnden Zweigen, eingelullt von den Vöglein des Waldes, im weichen, grünen Moose, zugedeckt mit dem fallenden Laube.

Allabendlich, wenn das Glöcklein zum Gebete und Feierabend läutet, sah man sein treues Mütterchen hinaus pilgern mit kummervollem Antlitze zu der Lichtung, von der man am weitesten sieht ins leuchtende Moldautal, um ihren Sohn zu wecken aus seinen kranken Träumen – und ihn heimzugeleiten. Er hatte die Abzehrung.

Und eines Abends, als die Weberin kam zu dem »Invalidenplatzl«, wie es die Leute jetzt nennen, das Grasplätzchen unter den Tusseter Grenzeichen, da fand sie den Lorenz bleich und starr, – aber so schön, so lächelnd und überirdisch froh, – eingeschlafen für immer.

Er war gestorben, wie er es immer gewünscht hatte – im schönen, grünen Walde, eingewiegt und eingesungen von seinen Eichen und seinen lieben Vöglein.

Sie begruben ihn auf dem Friedhofe von Böhmisch-Röhren, er hat da ein schönes, freundliches Grab, voll Veiglein und Rosen. Die hat sein armes Mütterchen gepflanzt, ach unter heißem, bitterlichem Weinen.

Und die goldene Medaille hat sie aufgehängt zu den kleinen Heiligenbildeln in der Betecke, sie betet immer davor, ehe sie ihre tägliche Wallfahrt beginnt auf den Friedhof, um die Blumen auf Lenzels Grabhügel zu begießen und zu dem Plätzchen im Walde, wo er eingeschlafen.

Von der Vroni hat man nichts mehr gehört. Sie wird wo verdorben sein in der Fremde.


 


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