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Wald-Much

Much=Michael

Eine trübe, warme Märznacht lag auf dem tiefen Eisaktale im »alten Land Tirol«.

Der Himmel, dessen Bläue sonst hier schon den Wanderer gemahnt an das schöne Nachbarland hinter den Eiskuppen des Tales, hing voll grauer, langgereckter Wolkengebilde; denn der Frühling, der über das benachbarte Wunderland, den Garten Europas seit Langem schon sein Blütenhorn ausgeschüttet in duftig grünender Fülle, sandte vom Süden herauf seine warmen Grüße durch die Schneewände des Tales hin, und mit jedem lauen Luftstoße löste von den Bergeszinnen sich eine duftige Nebelgestalt los, langsam und zögernd, als wiche sie, die Wacht, vom Winter hingestellt auf die höchste Felsenkrone, nur ungern von dem Posten auf den kristallenen Schneeflächen, die nun, des strengen Hüters ledig, sich gar eifrig hinab tummeln werden in Myriaden aufgetauter Tropfen zu Fluss und Wildbach drunt im Tale, um sich zu erwärmen im munteren Sprunge über Wehr und Geklipp und zu erzählen von der langen, traurigen Haft in des Winters starren Eisesfesseln auf Fels und im Geklüft.

Die Giebel und Türme der Stadt hatten der Nebel und die Nacht ringsher verschleiert; nur über dem Eisak und dem Gries Gries heißt in Tirol das bebaute Gelände an den Flüssen längs ihm lag ein schmaler, zitternder Lichtstreif, gesammelt aus den bleichen Ampelscheinen, die aus den Schlafzimmern der anliegenden Häuser sich heraus gestohlen.

Es musste schon nahe an Mitternacht gehen, denn kein Laut störte die Sabbatruhe, nur der Eisak rauschte laut und grollend in den terrassierten Ufern, an denen sich die her geschwemmten Holz- und Eisklötze langsam durch die schwimmende Schneedecke hinschoben.

Da kam es hastig heran in kurzen, schnellen Sprüngen von der Eisakbrücke her über den Gries – es war ein einzelner Mann, keuchend, in fliegender Eile.

Im selben Momente wurde es unterhalb der Brücke lebendig, und dem Manne nachgerannt kam mit wütendem Geheule eine Schar flinker Gesellen mit »Halt auf!« und wildem Gefluche.

»Hallalih! Die Meut' ist los!«

Der Verfolgte muss jung sein und echtes Tirolerblut, denn der deutschen Gazelle, der Gemse gleich, springt er hin in schnellen, kurzen, gleichen Sätzen, fast ohne den Schlamm zu zerdrücken, der den aufgetauten Weg bedeckt, und erst dem Häusergewirre des Stadtbannes entronnen: ha, wie leicht er setzt über Zaun und Gehäg, über Moorlacke und Bach!

Doch er hat es Rat und Not! Denn hart hinter ihm springt und trottet es ebenso frank und leicht heran und nach, und die Fensterlein, die in den durchrasten Gassen sich schläfrig öffnen der Neugier und dem Schreck, die sind noch lange nicht aufgeklirrt, so ist schon Wild und Meute längst davon und hinan klingt nichts mehr als der ferne Hetzruf und der springenden Sohle Geklapp.

Jetzt liegt wieder eine niedere Häusergruppe dem Gejagten im Wege; jach springt er ab vom Wege und taucht in ihre Schatten. Da hält er einen Augenblick, tief aufatmend, still und horcht – das Rufen der Verfolger schlägt noch immer an sein Ohr, aber rechts, weit ab – sie sind auf falscher Fährte.

»Gott sei Dank!« ächzt er schwer auf und macht sich wieder auf den Weg, risch und leise durch die Häuser hin wie das Wiesel durchs Gestein.

Endlich hat er ein einsam stehendes Häuschen erreicht, an dessen Fensterlein er leise klopft.

Auf den weckenden Ruf folgt fast gleichzeitig ein rasches »Wer ist's?«

»Ich – der Much vom Gries!« antwortet der Verfolgte.

Diesen Worten folgt ein kurzes, schwaches Gepolter, die Türe tut sich auf und schließt sich sogleich wieder – der Mann ist geborgen. Der Lärm der Verfolger entfernt sich immer mehr, und bald liegt weitum im Tale wieder die tiefe Stille der Nacht.

Der Mann war in ein kleines Stübchen getreten, dessen kargen Raum ein mattes Ampelflämmchen erhellte. Er hielt sich zitternd an dem Arme dessen, der ihn eingelassen, eines jungen Burschen, dessen Auge verwundert an dem totenblassen Antlitze seines Gastes hing. »Um Gott, Much, was ist Dir zugestoßen?«

Der Befragte antwortete nicht, er ließ den Arm des Burschen los, taumelte auf das Bett und sank mit dem Kopfe schwer in die Kissen – ein dumpfes, stöhnendes Schluchzen entrang sich seiner Brust.

Der Bursche sprang besorgt und erschreckt zu ihm und ergriff seine kalte, zitternde Hand. »Sprich, Much«, fragte er abermals und drängender, »was ist's denn mit Dir?«

»Ach Anton«, erwiderte endlich der Befragte mit tiefer, bebender Stimme, »mit mir ist's aus – alles aus! – ich habe den Stadtschreiber in den Eisak geworfen!«

Mit einem Schrei des Entsetzens, und die Hände ringend, sprang Anton zurück; Much aber sank wieder in die Kissen und weinte laut und bitterlich.

»Herr Gott! Mann des Unglücks, wie ist denn das gekommen?« fragte endlich der junge Bursche, als Much sein erdfahles, verzerrtes Gesicht wieder erhob.

»Wie das kam?« sagte Much tonlos, »weiß ich's doch selber nicht – doch – ich will Dir erzählen.« –

Der Bursche setzte sich auf die Bettkante hinter ihm, wie um dem furchtbaren Anblicke seines Freundes zu entgehen, und dieser hob an:

»Als ich heut von Dir ging zur Merend (Jause), hatt' ich einen Entschluss gefasst, einen Entschluss.« –

»Nun – was denn? Ich bitt' Dich Much!«

»Ja – Du weißt noch nicht, was mir zu Josephi passierte! Es war eine schöne, warme Nacht. Die Stellwägen brachten schon seit acht Tagen von ringsum die Kunde, dass der Föhn weht überm Brenner und Jauffen, dass der Schnee zu gehen anfange und das Eis zu brechen überall; wir drunten am Gries versahen uns noch keines Ganges, denn der Eisak stak, seit ich es denke, nicht so voll Eis wie heuer. Nun – in der Josephinacht kracht und donnert es auf einmal auf dem Flusse, es rührt und hebt sich alles von der Brücke bis zum Klosterturm. Das Eis fängt an zu brechen und zu gehen, und das mit einer Macht und reißender Wut, wie seit Menschengedenken nicht; auf dem Gries liegt alles im tiefsten Schlafe, und schon flutet der wilde, zum Strom angeschwellte Fluss weit über die Terrasse gegen die Erdgeschoße der Häuser; ich war noch auf und sicher – denn meine einsame Keischen (Halbhaus) liegt viel höher – ich feuere Schuss auf Schuss aus meiner Büchse durch das Gewoge und Gekrach in die Nacht hinaus, endlich wird's lebendig und licht in den Häusern, aber es war fast überall zu spät; denn schon hatte die Flut die Hintertüren und Läden eingestoßen und eingedrückt und sich Bahn gebrochen in die Häuser.« –

»Das weiß ich alles«, unterbrach Anton den Erzähler, »aber wie hängt das mit Deiner Geschichte zusammen?«

»Gleich, gleich«, erwiderte seufzend Much, »hör' nur zu. Durch das Geschrei und Gejammer, das ringsum erschallt, dringt eine Stimme mir besonders in Ohr und Herz. – »Judith, Judith! Sie kommt um, sie ist allein im Hause!« so ruft es mit herzzerreißender Stimme vor mir mitten im Wogenschwalle, und ich entnehme endlich eine Mannsgestalt, die sich vom Gries zu Kehrers Hinterhaus durcharbeitet – es ist Judiths Bruder, der Stadtschreiber.« –

»Ho! Da hört' ich nicht ein Wort davon!« fiel Anton ihm verwundert in die Rede.

»Glaub's wohl, Tonderl«, sagte Much traurig, »wirst aber gleich hören, warum nichts unter die Leute kam davon. Als ich den Namen Judith hörte, fuhr es mir wie ein Blitz durch Gehirn und Herz, ich stürzte von meinem Hausdamme hinab mitten in die Flut und dem Hause zu – bald stand ich an der Stelle des Schreibers, der zusammenzusinken drohte, half ihm auf und kam bald mit ihm zur Türe, wo das Wasser seichter stand, da es sich verlaufen konnte im Keller und im Hofraum; da brach mir der schwächliche Schreiber zusammen und bat mich mit flehender Stimme: »Hilf, Much, lieber Much! Rette mir die Schwester, ich will es Dir gedenken mein Lebelang!« so sprach er; ich half ihm auf die Kellerwölbung und drang in das Zimmerchen, wo ich die schöne Judith halb tot vor Angst am Ofen lehnend fand.« –

»Du also hast sie gerettet?«

»Ja – als sie mich erblickte, schrie sie freudig: »Much, Much!« und sank an meinem Hals – ohnmächtig – vergehend. Ich trug sie hinaus und die Stiege hinan, ich wusste nicht, was zu beginnen; ich legte sie nieder auf den Boden, den mein triefendes Gewand in eine Lacke verwandelte; sie lag da wie tot, ihr Herz und Puls standen stille. Da erfasste mich – Angst nicht – nein, ein anderes, weit gewaltigeres Gefühl: ich kniete nieder neben ihr, richtete sie auf, lehnte sie an meine Brust und – und – bedeckte ihr bleiches Antlitz, ihre schönen Augen, ihr reiches, duftendes Haar mit tausend und aber tausend heißen, glühenden Küssen, bis – bis –«

»Nun weiter, Much, weiter.«

»Bis eine kalte, schwere Hand sich auf meine Achsel legte und eine scharfe, schneidende Stimme zu mir sprach: »Auf, Bursch, von da, und mach' Dich auf die Socken; denn wisse, ich seh' des reichen Kehrers Tochter lieber in des Eisaks tiefem Grunde als in dem Arm eines verrückten – Bettelbuben – wie Du. Da ist Dein Trinkgeld und fort mit Dir!« Damit warf er mir drei blanke Karolin zu, und riss die erlebende Judith auf und an sich. »Much, o Much!« rief sie abermals. Das hört' ich noch, diesen einzigen süßen, unvergesslichen Ton, dann brauste und surrte es mir im Gehirne, als gingen alle Waldbäche, die an dem Tage ihr Eis gesandt herab ins Eisaktal, über mich hin mit donnerndem Getöse; ich wusste nichts von mir und wie ich heimgekommen, bis ich am anderen Morgen erwachte auf dem nassen Boden meiner Stube.« –

»Ja, dass du nichts sagtest von all' dem –«

»Wozu?« fragte Much wehmütig, »ich sah die Judith seitdem nicht wieder – bis gestern, als sie aus der Kirche ging; da – ich stand nicht weit von ihr – als sie an mir vorüberging, fühlte ich meine Hand ergriffen, gedrückt und ein Ringlein darin, und einen Blick fühlte ich tief ins Herz mir brennen, einen Blick –« Er hielt mit einem schweren Seufzer inne und bedeckte das erglühte Gesicht mit zitternden Händen.

»Aber wie kamst Du denn heut mit dem Stadtschreiber zusammen?« fragte Anton von Neuem.

Much erhob den fieberisch brennenden Kopf und antwortete:

»Das war so: Heute, wie gesagt, fasst' ich den Entschluss, mich, dem stolzen Bruder zu Trotz, der schönen, guten Judith zu nähern nach altem Brauch durch »Gasselgeh'n« (Fensterln) und ich tat's.«

»Nu, und da kam der Schreiber über Dich?«

»Ja, aber nicht er allein. Da wäre das Unglück nicht geschehen; es kamen ihrer wohl sechs oder acht, die alle auf sein Geheiß über mich herfielen und mich von der Hofmauer herab rissen; ich wehrte mich bloß und suchte auf den Gries hinaus zu gelangen, aber sie ließen nicht los von mir und ich musste Ernst gebrauchen; so packte ich denn einen von ihnen und warf ihn in den Haufen der Angreifer – da hörte ich einen schweren Fall, ein Geplätscher und den gellenden Schrei: »Der Kehrer liegt im Fluss!« Der Schreck machte sie alle starr – und mich frei; ich sprang davon, und das ist alles.«

»Gott, mein Gott!« jammerte Anton, »was wird das werden? Aber wer weiß, wie es ausgegangen ist, der Schreiber kann ja gerettet worden sein.« – und nach einem kurzen Nachsinnen setzte er rasch hinzu: »Weißt was, Much, es geht schon gegen früh, leg' Dich in mein Bett die Weil', ich springe in die Stadt und bringe Dir Nachricht; so ein Fall macht die Leute früher munter als der tägliche Hahnenschrei, ich werde wohl wen finden, der Bescheid weiß.«

Much antwortete nicht, und sah stieren Blickes zu Boden, während Anton sich ankleidete und auf den Weg machte. Er sagte noch immer nichts, als dieser ihm die Hand bot mit dem herzlichen Wunsche, er möge schlafen, bis er wiederkomme mit guter Botschaft. Traurig und wie irre lächelte er vor sich hin, bis sein Kopf zu sinken begann, seine Augen müde schlossen, er langsam in die Kissen sank und die Lampe erlosch.

Much lag lange, lange so da im wachen Schlafe mit traurigem, verzweifelndem Herzen, bis endlich die Ermattung des Körpers sowohl als die der Seele ihn übermannte und umfing mit Schlaf und Traum.

Und ihm träumte, er stehe an des Eisak brandenden Ufern, ein hoffnungsloser, aufgegebener Mann; die Wellen hüpften so lustig an ihm vorüber und riefen ihm zu – der träge Schneesaum, den sie an die Terrassen drängten, rauschte hoch hinan zu ihm und schien ihn zu locken und ihm zuzuflüstern: »Zu mir, zu mir hinab! Was willst Du da droben noch, Du armer Bettelmann!« Und der Föhn von den Bergen schien eigens herab geflogen zu ihm, um ihn zu stoßen und ihm zuzuraunen: »Hinab, hinab, die Welle nimmt Dich willig auf und will Dich tragen in ein Land, wo die Liebe nicht fragt nach Hufenmaß und Kapital!« Es drängte ihn immer tiefer, immer tiefer hinab zum grünen Wellengrab; da fasste und hielt eine Hand ihn auf, er sah zurück und in die blauen Augensterne der schönen Judith, die vor ihm niedersank in brünstigem Flehen und leise, leise sprach: »O geh' nicht von mir, ich liebe Dich ja so sehr.«

Much fuhr auf und strich mit der Hand über das brennende Gesicht, da fühlte er wieder eine Hand auf seiner Schulter, und eine freundliche Stimme sprach zu ihm:

»Sei getrost, Much, der Schreiber lebt.«

Es war der Anton, der von der Stadt zurückgekehrt mit dieser Freudenkunde.

Much ermannte sich gewaltsam, indem er sich Augen und Schläfe rieb mit hastiger Gebärde, dann sagte er langsam und traurig: »Dem Himmel Dank! So liegt doch keine Blutschuld auf mir, aber – mit mir ist's dennoch aus, alles aus!« und wieder ließ er den Kopf niedersinken auf die grambewegte Brust.

»Aber, Much, warum? Das kann noch alles gut werden.«

»O, lieber Anton, nein, nein; wär' ich reich – dann ja. Der Reiche kann alles; er darf seine Villa auf jeden Berghang stellen, dessen Leiten der Sonne heißeste Küsse in Glut setzen, während der Arme sein Hüttlein hängen muss in dessen ödestes Geklüft, zufrieden mit dem kümmerlichsten Abfall ihrer Strahlen. Doch das ist Gottes Sonne, und der Bettler darf den Blick zur Sonne tragen; aber zu erheben den Glutblick, in dem das Herz und die Liebe liegt, zur Schönheit, dieser Erdensonne, das ist nur des Reichen eigen, nur ihm gestattet zum Hoffen und Begehr: der Arme hat das Los der Sonnenblume, die schüchtern auftut ihren vollen Kelch, um ihn zu wenden so lange nach dem Strahle des Tagesgestirnes, bis er versengt und verbrannt niedersinkt an dem welken Stamme, trostlos und vergehend.

»Much, rede nicht so; die Judith ist so lieb und gut.«

»Wohl ist sie das. Doch was kann das arme Kind gegen ihren Bruder und Vormund, der – der mich einen Bettelbuben hieß und behandelte wie einen Hund.« Er versank wieder in trübes Brüten, und auch Anton sagte nichts, er wusste nichts zum Troste seines Freundes vorzubringen. Endlich fragte er leise: »Und was wirst Du anfangen, Much? Du darfst auf nicht viel Gutes und auf keine Ruhe mehr rechnen daheim nach dem, was geschehen.«

»Was ich tun werde?« antwortete nach einer kurzen, gedankenvollen Pause der Gefragte, »verlassen die Heimat, meine liebe, alte Heimat, denn meine Ruh' ist hin, und hier find' ich sie wohl nimmermehr; in den Wald, in die Berge will ich flüchten, in das Reich der Natur, an ihrem Herzen will ich mich ausweinen, und ihr will ich es klagen, dass die drunten mich verachten und verstoßen, weil ich nichts mein Eigen nenne, als was sie mir gab zum Leben und dessen Wehr, ein gesundes Herz und eine kräftige Faust.« Er ließ den Kopf wieder traurig sinken und ächzte schmerzlich auf.

Da fragte Anton mir zweifelndem Lächeln: »Und was soll aus Deiner Huben (Hufe) werden und aus der Keischen?«

»Du wirst mir die Freundschaft erweisen, Tondl«, erwiderte Much, »und meiner alten Häuserin (Wirtin) sagen, sie möge sitzen darauf und es bewirtschaften, bis sie wieder von mir hört, was, denke ich, wohl nicht früher geschieht als am St. Nimmermehrstage.«

»So ist's Dein Ernst, Much, Du willst fort!«

»Ja, und sogleich!« versetzte Much rasch und erhob sich. »Um eines noch bitte ich Dich, Anton, nimm meine Büchse zum Angedenken an und frage mich nicht, wohin ich gehe; solltest Du aber einmal die – die Judith sehen, so bringe ihr meinen letzten Gruß! Leb' wohl, Anton, Gott sei mit Dir!«

»Und mit Dir, Much!« rief schluchzend sein junger Freund mit einer flehenden Gebärde, als wolle er ihn zurückhalten, aber Much war schon hinaus und schritt, ohne zurückzuschauen, durch das im Morgensonnenstrahle funkelnde Schneegefilde des Tales hin den Höhen zu.

Durch den schönen, gewaltigen Hochwald schritt langsam dahin der arme Much, den Tod im hoffnungsleeren Herzen.

Doch wie lange konnte er wandeln in trüber Trauer durch die heiligen Hallen des urewigen Domes der Natur, ohne das Herz erzittern zu fühlen in tröstender Erhebung?

Die Morgensonne war gekommen, um anzuzünden mit ihren goldenen Strahlen ringsum die Millionen Altarkerzen des Taues auf Halm und Moos und Gebüsch, Alpröslein und Heideglöcklein schwankten lustig hin und her, um einzuläuten den Morgengottesdienst, und die Tannenzweige schwenkten das duftige Rauchfass des Herzes dazu, als die Vöglein alle begannen die fromme Feierhymne, zu der die hohen Baumkronen, rauschend im Morgenwinde, ihr Amen flüsterten.

Da ging die Rührung auf das Herz des jungen Bergessohnes, er sank in die Knie und rief mit erhobenen Armen und tränenden Augen: »O nimm mich auf, du schöne Waldeswelt, die du die Mücke hegst und pflegst und den kleinsten Wurm mit gleicher Mutterhuld wie die muntere Gemse und den stolzen Hirsch! Für alle gleich springen deine Quellen, knospen deine Blüten, kühlen deine Schatten! Dein Rauschen singt allen deinen Kindern das gleiche Wiegen- und Schlummerlied! Du fragst den Käfer nicht: was singst du nicht wie Nachtigall? Du wirfst dem Wurm nicht vor, er springt nicht der Hündin gleich! Dein Herz pulsiert für alle gleich, die keine grünen Zelte zur Heimat sich erwählten! Nimm auf, du schöne Waldeswelt, ein müdes Menschenkind, das sie verachten und verstoßen drunten, weil es ein armes ist – o nimm es auf und lass es ruhen in deinem Frieden!«

Da schien es ihm, als klinge ein helles, freundliches Willkommen durch den Wald. Die Zweige schwankten tiefer nieder, wie um ihm die Hand zum Gruß zu reichen, die Vöglein flogen zu ihm hinan und sangen ihm leise, süße Weisen von Waldesruh' und Waldeslust, und selbst die Sonne brach klarer durch die Zweige, wie um ihn zu erhellen und zu verschönen den dunklen Pfad durchs dichte Tannengehege.

Er erhob sich, getröstet und wundersam gekräftigt, brach sich einen Wanderstab vom Busche und schritt rüstig weiter den Wald und Berg hinan.

Er mochte etwa zwei Stunden lang den vielfältig gewundenen Bergsteig verfolgt haben – die Natur um ihn wurde bereits viel rauer und wilder als in den niederen Gebirgsgehängen, der Wald viel öder und trauriger; das lenzgrüne Laubholz war verschwunden und bloß starre, dunkle Kiefern und Knieholz rankten um die turmhohen, bemoosten Urstämme des Waldes empor, da bog Much plötzlich vom Steige ab und drang, mühsam sich Bahn brechend, durch ein Kieferngestrüpp gerade bergan, bis er an eine rohe Steintreppe kam, die ihn zu einer hellen Waldlichtung führte, wo er ermattet stille stand und auf seinen Stock gelehnt, einen wehmütigen Blick zurückwarf in das Tal, das hier in seiner ganzen Pracht und Ausdehnung vor ihm lag, in den grünen Smaragdschmuck der Wiesen fassend die Perlenschnur des wild schäumenden Eisak. Wohl mochte Wehmut ihn ergreifen, als sein Blick das paradiesische Land überflog, aus dem er freiwillig sich verbannt und wohl für immer.

Ein langer, tiefer Seufzer war alles, was er dem Schmerze des Scheidens von seiner alten Heimat gewährte, dann wandte er sich frisch seiner neuen zu.

Er hatte sie bald erreicht.

Es war ein am Ende der Lichtung in einer Felsenbucht gelegenes Haus mit einem Kapellchen, von dem stereotypen Aussehen aller jener Wohnungen des Fleißes und der Mühsal, die trotzdem allüberall im schönen Land Tirol so freundlich, man möchte sagen mit zufrieden lächelnder Miene niederschauen von den hohen Bergeshalden der Ferner in die lustigen Talebenen.

Als der müde Wanderer an das Tor kam, sprang ihm ein großer, zottiger Hund entgegen mit freundlichem Gebelle, und sprang an ihm mit zutäppischen Liebkosungen wie an einen alten Bekannten; zugleich ertönte aus dem Hausflur der herzliche Gruß einer tiefen Stimme: »Ho! Much? Grüß Gott auf St. Vigil – und ohne Stutzen und Waidsack?«

Much erklomm rasch die hölzerne Stiege, die vor dem Eingange hing, und stand vor einem alten, schneehaarigen Manne, der ihm freundlich lächelnd die Rechte entgegen streckte, während seine Linke eine rauchende Eisenpfanne schüttelte, deren Inhalt sich dem Geruche nach als geschmorte Polenta erwies.

»Hoho! Was soll das sein?« fragte er weiter, ehe der Angekommene noch seinen Gruß erwiderte, »wie schaust Du aus? Die Backen welk und bleich, das scharfe Schützenauge trüb? Nun, das kommt wohl nicht vom steilen Wege nach St. Vigil?«

»Nein, Klaus, nein; das kommt vom Leid.«

»Hoho, Leid? Wer sollte Dir was Leides tun?«

»Ein reicher Mann, Klaus, mir, dem Bettelmann!«

»Ho! Und Du schlugst nicht d'rein? Was? Und gehörten alle Almen sein von Lienz bis gen Rovereit – Du schlugst nicht d'rein? Pfui, pfui, pfui! Bist Du es denn, der trutzige Much vom Gries? Die Faust nicht lahm, der Fuß nicht letz (verletzt) – lässt sich schimpfieren und kommt daher und flennt und klagt dem alten Bären von St. Vigil von Leid – ei pfui!« so polterte der alte Mann, und er hätte noch lange nicht aufgehört zu wettern, hätte an sein feines Ohr nicht ein schmerzlicher Seufzer seines jungen Freundes geschlagen, der vor sich schweigend nieder sah mit blödem, stierem Blicke.

»Hol' mich St. Christoph!« rief Klaus verwundert, »wenn Dir's nicht im Herzen fehlt, arm's Michele! Du hast Dich wohl verschaut in eine Herrenkitsch?« Kitsch, lokal an der Drau und dem Eisak für Mädchen

Much nickte mit dem Haupte und sagte: »Ja, ja, Klaus, das trieb mich hinauf zu Dir und ein böser Handel mit dem Bruder von – von dem Mädel!«

»Na – komm, Much, und sei kein altes Weib«, unterbrach ihn ernst lächelnd der Alte, »komm herein in die Stube und erzähle mir die Geschichte; Du weißt es ja, dass auch mich einmal ein paar blaue Äuglein herauf jagten von den grünen Ufern der Rienz bis her auf den öden Kamm, hab' damals auch gemeint, es müsste mir das Herz in Scherben gehen vor lauter Pochen und Drücken, aber hab's verwunden und begraben im tiefen Waldesschatten; komm erzähle, das erleichtert das Herz.«

Much ließ sich in die Stube ziehen und nieder an die Seite des Alten – und er erzählte.

Als Klaus alles wusste, nahm er des jungen Mannes zitternde Hand in seine schwielige, drückte sie ihm und tröstete ihn und sprach ihm zu mit so herzlichen, zarten Worten, wie Much sie nimmer gesucht hätte in dem verwitterten mossbedeckten Herzen des alten Waidmannes.

Das ist wohl dein höchster Triumph, erste Liebe! Du unverwelkliche Wunderblüte des Lebenslenzes, dass bei deinem Gedanken selbst im greisen Herzen der alten Liebe Gluten blitzend aufdämmern und es sie drängt, die Immortellenkränze der Erinnerung zu legen um deinen Grabeshügel!

»Und was willst Du nun beginnen, Much?« fragte endlich der Alte.

Da warf der junge Mann sich dem Greise an die Brust und sprach leise und dem Weinen nahe: »Bei dir will ich bleiben, Klaus, so lange Du mich dulden magst!«

»Topp, Junge! So, das lass ich gelten!« rief der Alte freudig aus, »her mit der Hand, Kamerad! Sei willkommen denn und nimm vorlieb beim alten Klaus auf St. Vigil!«

Much schlug ein und drückte gerührt des alten Mannes Hand an seine bebenden Lippen.

Sechsmal hatten seitdem des Eisaktales trotzige Ferner die Schneekappen rücken müssen und abziehen vor dem gewaltigen Herrn, dem König Frühling, der alljährlich einmal im Triumphe zieht auf grünen, mit Maßlieb und Primeln bestreuten Wegen über unsere arme Erde.

In der Wirtschaft unserer beiden Junggesellen hatte sich nichts geändert.

Much war diese ganzen Jahre hindurch nicht herab gekommen ins Tal, dafür hatte ihm der alte Klaus, der jedes Jahr zwei-, dreimal herabstieg von seinem Felsenkamme zur Jahrmarktszeit, zwei Nachrichten gebracht seitdem, die ihn angingen.

Die erste nach zwei Jahren ungefähr war die, dass sein kleines Anwesen von seinen weitläufigen Anverwandten in Besitz genommen. Das machte ihm wenig Kummer.

Die zweite Nachricht war, dass die Kehrer-Judith den Schleier genommen bei den Klarissinnen in der Stadt; das war ein Jahr danach. Das griff ihm tief ins Herz, denn er meinte, der arme Much, sie hätte es getan aus Liebesharm um ihn.

Er war lange Zeit danach zu nichts recht tauglich und immer träumerisch und traurig, und der gute Klaus hatte seine liebe Not mit ihm.

Da – eines Tages – es war lange danach, man zählte damals nach des Herrn Geburt das Jahr 1848 – kam der alte Klaus hinauf in das obere Stübchen zu Much, der da neue Schneereifen umflocht, und rief: »Du, Much, da lug' einmal hinaus; mein Aug' ist zwar schon schwach, aber ich möchte wetten, wir kriegen da ein' Heimsuch aus dem Pustertal!«

Much trat ans Fenster und besah sich den Mann, der aus dem Kieferngehege über die Lichtung her gerade dem Hause zuschritt. Der Mann ging trotz der Kühle – es war im April – ohne Jacke, und trug die lederne Weste und Hose, die breiten, grünen Hosenträger über der roten Weste, blaue, kurze Strümpfe, nackte Knie und den spitzen Sextnerhut – alles, was den Pustertaler kennzeichnet.

»Es ist der Pusterer!« sprach Much nach kurzem Hinblick, »und wie mir scheint, trägt er eine Schrift in der Hand.«

»Ei, was wird das sein«, sagte nachdenklich der Alte, indem er hinabstieg, um den Gast willkommen zu heißen.

Der Pusterer trat in das Haus, grüßte den Alten säuberlich und fragte: »Bin ich nicht irre bei dem alten Klaus auf St. Vigil?«

»So ist's, mein Freund! Was bringst Du mir?«

»Ein' schönen Gruß vom Müllerlenz zu Sillian ob der Drau – und was dazu, das steht da in dem Zettel!« Damit hielt der Bote dem Alteneinen unversiegelten Brief hin.

Der Alte nahm den Brief und lächelte: »Teufel! Das ist ja wie eine Landkurrenda aus den Sandwirts Zeiten!« Doch kaum hatte er das Schreiben durchflogen, als er zur sichtbaren Freude des Boten wie elektrisiert in die Höhe fuhr und mit fiebernder Erregung schrie: »Much! Much! Komm runter, da ist was für uns!«

Much sprang rasch die Treppe herab und nahm aus der Hand des Alten den Brief, den er mit höchstem Erstaunen las. Das originelle Schreiben lautete:

»Grüß Gott und unsere Gnadenmutter, lieber Waffenbruder! Ich weiß, dass Du lebst und noch den Stutzen brauchst zu St. Vigil ob dem Eisak. D'rum schreib ich Dir, dass es wieder Not tut treuer und tapferer Tirolerschützen; denn ein Walischer – ich weiß nicht recht, wie er heißt – will heut den Napoleon spielen gegen unseren guten Kaiser, und sie raufen schon drunt hinter unsern Bergen, und am Ortler und Tonal soll es wimmeln von fremden Soldaten und Kanonen – nun! Der Mann von Rim ist tot und die meisten Kameraden von Anno neun schon längst im Himmel bei dem Pseyrer Andres, da müssen denn doch wir Alten noch einmal zusammenstehen für unsern Kaiser und unser altes Land Tirol und an die Grenze, damit die Jungen nachtun der Väter treue Sitte. Damit du weißt, was es ist, schreib ich Dir, und in Bozen triffst Du mich »im Pfau« nach dreien Tagen. Auf Wiedersehen und guten Ausgang für Kaiser und Land. Amen.«

Much ließ, als er gelesen, die Hand mit dem Briefe verwundert sinken und schaute mit fragenden Blicken den Boten an, der lachend fragte: »Ja, ist denn zu Euch nichts hinaufgelangt von all' den Geschichten, die sich da begeben auf einmal in der ganzen Welt?«

»Nichts, wir wissen nichts. Klaus kam seit 6 Wochen schon nicht ins Tal hinab!« war die Antwort.

»Na – dann lasst Euch sagen, dass alles rebelliert, was Faust und Zunge heben kann, und der Vater Radetzky hat harte Not im Lombardischen, und von Ampezzo rauf da brachten sie gar die Nachricht, die in Venedig ha'n die Replik oder wie das Dings heißt, das nichts taugen muss, denn bei uns schreckt sich alles schon bei dem bloßen Namen! Ja, da geht's zu bei uns, im ganze Lüsen- und Pustertal kein Schuster mehr beim Leisten, kein Weber bei den Schützen, alles auf dem Schießstand, die Büchse in der Hand und die Hüt' voll Spielhahnfedern; eh' die der Wal'sche alle runter rauft, mag wohl der Föhn ein paarmal kommen und gehen!«

Much wandte sich verwundert fragend an den alten Klaus, der aber war verschwunden; ehe jedoch der redselige Pusterer einen frischen Neuigkeitsregen niederschauern lassen konnte über Much, tat sich die Kammertüre auf und heraus trat Klaus – im vollen Schützenkostüme: im grauen Lodenrock mit grünem Aufschlag, auf der Brust die goldene Medaille der Landesverteidiger von Anno Neun, den grünen Hut mit Gemsbart und Birkhahnfeder auf dem greisen Kopfe und den Stutzen über der Schulter.

»Nun, Much!« sprach er ernst und feierlich, »der Kaiser ruft und das Vaterland in Nöten – gehst du mit gegen die Wälschen?«

»Alleweil! Mit Freuden für Kaiser und Vaterland!« rief erglühend der junge Mann und stürzte hinaus, um sich zu waffnen.

Der Pusterer war noch keine Viertelstunde weg von St. Vigil, als bereits Klaus und Much das Haus verließen und den Gebirgssteig einschlugen über St. Magdalena nach Kastellruth und Bozen.

Hei! Wie das lebt und rumort in dem alten Bolzano an den grünen Rebenhügeln der Etsch! Wie das herein flutet von den Höhen St. Justinos her und über die lange Talferbrücke!

Alle Gassen und Plätze voll sich stoßender und drängender, trotziger Männergestalten, den grünen Hut mit Federzieraten und weißgrünen Schleifen gar keck auf dem Ohre, weit offen den grün ausgeschlagenen Lodenrock auf der starken Brust, die entgegen pocht dem ersten Strauße mit dem falschen Wälschen, dem Erbfeind seines Kaisers und Stammes.

Da sind die Seenthaler mit den roten Jacken, die von der Etsch mit rotgefassten, braunen Jacken, die Grödner mit den breiten, schwarzen Hüten und die Pustertaler mit den nackten Knien, lauter wackere Burschen, herbeigeeilt mit Stutzen, Kraut und Loth, als sie vernommen, die gekrönte Schlange der Lombarden züngele lüstern nach dem toten Aar Tirols. Und auf dem Domplatze, welch' Gewimmel! Da werden die Waffen geweiht nach altem Landesbrauch zum heiligen Kampfe für Fürst und Vaterland.

Die Marmorlöwen vor dem Dome sehen ganz verwundert aus ob dem Getriebe, und sie hätten wohl die Köpfe geschüttelt, wären sie nicht so starr und steinhart, denn so ein Gewühl war lange nicht her um sie, vielleicht seit jenem Unglückstage nicht, an dem d'Hillies den gefangenen, durch Verrat gefangenen, Löwen des Berglandes hier im Triumphe hergebracht, den Mann von Sand, der sein Land nahm in die gewaltige Faust und warf auf den gallischen Koloss.

Fast ober jedes Hauses Schwelle winkt lustig ein Kranz von Rebenblättern, ein lustiger Buschen zum Zeichen, dass drinnen im Keller manch' Fässlein glühenden Terlaners und Traminers harrt des durstigen Gastes. Und in den Herbergen erst, da wiederhallt es rings von Schützenliedern und Spottweisen auf die schwarzäugigen Nachbarn, die sich vermessen, auf den Brenner zu stecken die Grenzmark Italiens.

Im Pfau, in der lustigen Bindergasse, da gab es nichts nach den anderen lustigen Herbergen. Nur an einem Tischchen nahe dem Ofen saßen zwei verdrießliche, trutzige Gesellen in trübem Brüten.

Es war dies vom Alter und der Jugend des Tirolerlandes ein wahres Prachtexemplar – der Alte, der Prototyp der raschen, heißblütigen Greise hier, schneeweißes Haar, funkelnde Augen, rote Backen und sehnigte Knochen – der Junge, ein echtes Kind des Eisaktales, groß, breit und stämmig, doch so gelenk dabei, wie sich's für den Eisaktaler ziemt, der keinem anderen nachsteht im Raufen und Ringen als denen von der Ziller.

Nach langem Schweigen sagte endlich der Alte missmutig: »Jetzt hab' ich's satt, Much, und will's Gott, tu' ich auch danach! Der Teufel hole die Protokolle und Listen, die werden's Kraut fett machen. Wollen die Federfuchser die Wälschen schrecken und verjagen mit Rapporten und Tabellen? Mein' Seel', da war es anders zu der Zeit, wo der Franzos im Lande patzig saß, und das war ein anderer Feind als die Wälschen; wer einen Stutzen heben konnt', vom Buben bis zum Ahnl (Großvater), der kam herab von seiner öden Hube und stellte sich; da hat es kein Verlesen gebraucht, sie wussten's gut, dass der Herrgott selbst da führt den Katalog, wo die gar schlecht notiert werden, die Kaiser und Land im Stich lassen in der Not. Was wissen die Burschen da von Aufgebot und Landsturm, ich lass' mich einmal nicht einprotokollieren; ich weiß, wie wir den Krieg im neuner Jahr geführt, und dem hat Gott ein' guten Ausgang geben, so tu' ich wieder mit! D'rum denk' ich, Much, wir machen uns auf die Strümpfe und ziehen fort zum Krieg auf eigene Faust! Ich kenn' die Weg' und Stege alle hier, und hundert alte Kameraden trau' ich mir zu finden, die mit uns geh'n, eh' wir noch eine Zinke seh'n vom eisigen Tonal!«

»Nun – ich bin auch dabei!« sagte Much lächelnd, »halt' selber nicht viel darauf, dass die hier vor einem Monat die Etsch passieren! Wozu hier sitzen, ich bin so fremd geworden unter Leuten und Häusern, dass es mich förmlich schon ankränkelt um Berg und Alm!«

»Abgemacht!« rief Klaus, »wir lassen die da schwatzen und protokollieren und geh'n unseres Weges.«

Damit erhob er sich, zahlte die Zeche und schritt mit Much zur Türe hinaus.

Als sie sich erhoben, war ein blasser, schmächtiger Mann, der seit einer geraumen Weile ihnen gegenüber gesessen war und sie scharf fixiert hatte, aufgesprungen, wie um ihnen zu folgen. Doch er besann sich eines anderen und trat zu dem geschäftigen Wirte, um ihn nach Namen und Heimat der beiden malkontenten Schützen zu fragen.

»Weiß nichts, Herr Leichter!« antwortete flüchtig der Pfauwirt, »als dass beide hergekommen mit mehreren von dem Eisak und aus dem Lüsental – ich glaube, Klaus heißt der Alte – und – und –«

»Des jungen Burschen Namen wisst Ihr nicht?«

»Wartet nur, wartet. Ja, ja, den »Wald-Much« haben sie ihn geheißen.«

»Wald-Much!« wiederholte stammelnd der bleiche Frager, »er ist's – ohne Zweifel – obwohl er sich stark verändert hat – ich muss ihn sprechen!« und rasch verließ er die Stube.

Als er aber auf die Gasse kam, wogte ihm gerade eine frisch zusammengestellte Schützenkompagnie entgegen und versperrte ihm den Pass.

Wäre er in diesem Augenblicke auf der Talferbrücke gestanden, so hätte er die Gesuchten fürbass wandern gesehen auf der Straße nach Branzoll und Mezzotedesco (Deutschmetz).

Am Tonal – lombardicher Seits – stand jene Schar italischer enfants perdus, welche die Spada d'Italia nicht Teil nehmen lassen wollte an ihren anrüchigen Lorbeeren, die sogenannte Fremdenlegion.

Und ihr zugehörig waren jene Streifpatrouillen, die tagtäglich heraufzogen von Pezzo nach Pizzano und Pellizzano, um heimzusuchen beim Fouragieren den armen Zwitter von Wälschdeutschen, der jene Waldgegend bewohnt.

Es war an einem Samstag, im Sommer schon, als eine solche Streifpatrouille, mit der Brandschatzung dreier armer Weiler beladen, dem Joche des Tonals zuwandelte. Sie war eben in das Niveau des Dorfes Cornisello gekommen, in das Défilé, das unterhalb des Dorfes fast die ganze Talbreite des Val di Sole fasst, als sie sich mit dem lustigen Rufe »Mit Gott und St. Cassian!« von zwei Seiten attackiert sah von einem Detachement der bereits furchtbar gewordenen Tiroler Schützen.

Die Patrouille mochte aus ungefähr fünfundzwanzig Mann bestehen; die angreifende Schar der Tiroler betrug kaum mehr als die Hälfte dieser Zahl, aber sie hatte vor den Italienern, die mit Geschirr und Viktualienpäckchen behängt waren, den ungehinderten Gebrauch der Waffen voraus.

»Ah – i bersaglieri tirolesi!« rief der Anführer der Patrouille, gewohnt an solche Unterbrechungen, »werft die Päcke ab und formiert ein Quarré und frisch dreingefeuert in die p… Tedeschi!«

Die Patrouille formierte sich im Augenblicke zu einem Klumpen, der sich alsbald in Feuer setzte.

Ehe sich noch der Rauch der ersten Decharge der Italiener verzogen hatte, konnte man über dem Rovein, der den Gebirgssteig zum Tonalpasse einfasste, zwei grüne Hüte gewahren, die ohne Zweifel auf den Köpfen von Leuten saßen, die zu den Freunden der Italiener nicht gehörten. Und wirklich, noch ehe die Schützen sich in Appell gegen das Quarré setzen konnten, fielen nach zwei Blitzen vom Rovein her auf Seite der Italiener zwei der Vordersten schwer getroffen in den Kies des Steige.

»Diavolo!« ertönte es erschreckt aus dem Klumpen, die in einen Hinterhalt gefallen zu sein fürchten musste, und es löste sich sofort ein kleiner Trupp davon los, um diesen verborgenen Feind aufzuspüren, während der Überrest des Quarré mit gefälltem Bajonette gegen die Schützen lief.

Hinter dem Rovein standen Klaus und Much.

Ihre Stellung hatte den Vorzug, leicht verteidigt und ohne Gefahr verlassen werden zu können, nebst dem aber den, dass sie alles frei übersehen konnten, was sich in dem Défilé begab.

»Um Gott! Klaus!« rief Much erschreckt, als der Rauch der ersten Salve sich verzog, »ich will blind sein, wenn der Schützenoffizier, der dort getroffen liegt am Wegessaume, nicht der Kehrer ist, der Judith Bruder. –«

»Mag schon sein, Kind!« sagte kalt der Alte, »in dem Falle möge er seine Seele Gott befehlen, denn er liegt, und die Patrouille wird in nicht fünf Minuten das Schützenkommando zum Rückzug gedrängt haben, sie sind zu stark die Wälschen, und nur unsereiner, der sich mit zwei, drei sicheren Schützen zufrieden gibt, hätte es anbinden können mit ihnen, aus sicherem Versteck, nicht aber die Handvoll Rekruten und noch dazu auf offener Straße. –«

»Klaus, Klaus! Ich bitte Dich, hilf! Wir retten ihn, es ist ja doch ihr Bruder, die Wälschen Banditen geben keinem Schützen Pardon!« rief Much in rührender Herzensangst zu dem Alten.

»Was ficht Dich an, Much!« versetzte der Alte, »wir sind da, um dem Feind zu schaden und dem Land zu nützen, nicht so 'nen Burschen, der sich und andere mutwillig in Gefahr und Todesnot begibt, herauszuhauen, damit er's wieder tue; ich weiß mein Ziel, was geht mich der Leutnant an!« Damit lud er von Neuem, schlug an und abermals riss der krachend dahinfahrende Schuss eine Lücke in der Kolonne der Italiener.

Much war leichenblass geworden, als Klaus ihm auf seine Bitte so herzlos geantwortet, aber sogleich fuhr wieder ein hohes Rot über seine frischen Züge, denn ein großer Entschluss war plötzlich in ihm reif geworden, und er sprach ihn also aus:

»Wohlan, Klaus, ich geh' allein! Ich möchte quitt werden mit – diesem Menschen und will's selbst um des Lebens Preis – mit Gott, ich geh' und hilf dem Kehrer, denn seine Schützen wenden sich schon zur Flucht!« Mit diesen Worten sprang Much über den schützenden Rovein mitten in den offenen Passsteig hinab.

»Much! Willst Du zurück, Teufelsmuch, was fällt Dir ein? Du stehst ja wie eine Scheibe da auf dem offenen Wege!« schrie Klaus besorgt dem jungen Manne nach, der ernst und feierlich, ohne sich mehr nach dem alten Gefährten umzuschauen, dahin schritt gerade in die Schusslinie der Schützen und Italiener.

Diese hatten kaum den grauen Lodenrock und grünen Hut des Tirolers erschaut, als sie mit ungeheurer Wut gegen ihn anstürmten; hierzu befeuert von dem gellenden Rufe eines aus ihrer Mitte: »Ai – ah, fratelli! Der schwarze Much, Wald-Much vor uns – allein! Hurrah! Ihm nach!« und alsbald bewegte sich der ganze Freiwilligentrupp im Laufe vor, um dem berüchtigten Much den Pass abzuschneiden.

Klaus hatte recht, als er den Leutnant tadelte, sich mit seinen geringen Kräften an die Patrouille gewagt zu haben; denn kaum war Kehrer gefallen, und kaum hatte die Patrouille die Offensive ergriffen, als die Schützen ihre Stellung im Stiche ließen, und gegen die Noce zu retirieren begannen.

Hierdurch näherten sie sich dem alten Klaus, der seinem unbesonnenen Freunde hinter dem an der Straße hinlaufenden Rovein gefolgt war.

Als er sah, dass Much sich selbst durch die Flucht der Schützen nicht irre machen ließ in seiner Absicht, den verwundeten Leutnant zu retten, sprang auch er über den Rovein und den fliehenden Schützen in den Weg: »Steht! Steht und lasst schauen, ob Ihr keinen Schuss mehr habt für Euren Leutnant und den braven Eisaktaler dort, der allein mehr Courage und Nächstenliebe hat als Ihr alle zusammen. Steht und fertig! An auf die wälschen Banditen!«

Maschinenmäßig standen und schlugen an die Schützen; die Decharge krachte echoweckend hin durch das zerklüftete Nocehochtal, und als der Rauch sich verzog, sah man Much, den blutenden Leutnant auf den Armen, bereits hinab trotten gen Pizzano.

Die Italiener aber waren nicht gesonnen, sich so leicht um einen so wünschenswerten Fang, als der seit Wochen bekannt und gefürchtet gewordene Guerilla »Wald-Much« war, bringen zu lassen.

Es löste sich von der Patrouille ein Plänklerhäuflein ab, das ihm nachsetzte, während die anderen zum zweiten Male die von Klaus geführte Schützenschar angriff.

Klaus wehrte sich tapfer, aber selbst im heißesten Kampfe ließ er die Gestalt Muchs nicht aus den Augen, die immer noch rüstig gen das Dorf zu lief. Plötzlich stieß Klaus einen schmerzlichen Schrei aus, sprang auf die Seite und begann mit einer für sein Alter fabelhaften Schnelligkeit Much nachzulaufen; sein scharfes Schützenauge hatte bemerkt, dass Much im Gehen wankte und häufig stille stand, wie um Kraft zum Weiterkommen zu sammeln.

Einer der vielen ihm nachgesandten Schüsse musste ihn getroffen haben.

Als Klaus von den Schützen wegsprang, war auch der Strauß auf dem Punkte zu Ende, denn von den Höhen des Nocetales strömte es massenhaft nieder der Tonalstraße zu, das durch die Schüsse aufgebotene Schützenkontingent von den benachbarten Stationen.

Bei deren Erblicken tauchten auch die Plänkler, die Much verfolgt, sogleich in die Schatten der Kiefern, die den Noce umflüstern, und Klaus erreichte ungefährdet seinen jungen Freund.

»Much! Bist Du getroffen? Armer Kerl«, fragte er traurig, als er bei ihm ankam, der trotz der tiefen, rasch blutenden Brustwunde dennoch den Leutnant noch immer fest in den Armen hielt, obwohl er bereits in den Knien lag und sogleich umsank, als Klaus ihm seine Last abnahm.

Much antwortete nicht – mit einem seligen Lächeln blickte er auf Judiths Bruder, dessen Brust sich zu heben begann und dessen Auge sich matt und verwundert auftat gerade in dem Augenblicke, als Muchs zerschossene Brust sich zum letzten Male hoch hob und sein Auge brach.

»Grüß mir die – Judith – –« flüsterte er leise und mit ersterbender Stimme, drückte sich noch einmal die Hände in die dunkle Todeswunde und – wandte das Gesicht zur Seite – auf das sich die Schatten des Todes lagerten.

»Wo bin ich – – die Wälschen – ich lebe?« fragte verwundert mit leiser Stimme der Leutnant.

»Der da ist für Dich in den Tod gegangen – kennst Du ihn?« fragte ernst der Alte.

Der Leutnant blickte scheu auf die Leiche nieder und stammelte erblassend: »Der Wald-Much!«

Die Schützen trugen beide auf Bahren nach Pellizano.


 


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