Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Baum am Wege

Urkund dessen unsere und zweier erbetenen Zeugen – eigenhändige Unterschrift!« las in kurzen Absätzen im Schreiben der Gemeindeschriftführer des Dorfes Hummelberg, sonst und nebenbei mit dem schlecht rentierenden Amte des Dorfschullehrers bekleidet, worauf er sich von seinem Sitze erhob, die Feder frisch eintunkte und selbe mit der verbindlichen Aufforderung: »Also unterschreiben, meine Herren!« den beiden Bauern hinhielt, die seine Rechtshilfe bei Verfassung des Kaufkontraktes über das Bauernstift Nr. C. 6 im Dorfe in Anspruch genommen hatten.

Der Verkäufer unterschrieb als solcher den Kontrakt zuerst, und wenn uns, die wir uns erlauben, dem Unterfertigenden über die Schulter zu gucken, auch nicht der in großen, etwas unbehilflichen Zügen erscheinende Name desselben: Matej Fenzl verraten hätte, dass derselbe entweder dem böhmischen Flachlande oder der nieder dem Walde gelegenen böhmischen Enklave, »Podlesi« genannt, angehöre, so hätte dies doch zur Genüge ein Blick auf Gesicht und Gestalt desselben getan, die durchwegs den echt slawischen Typus trugen.

Er unterzeichnete ernst und schweigend, legte die Feder nieder und trat beiseite, um dem Käufer seinem auffallenden Widerspiele, einer ausgeprägt deutschen Waldbauerngestalt Raum zur Malerei der vorgeschriebenen drei Kreuze zu geben, welche die Unterschrift des im Schreiben schlecht oder wohl gar nicht Bewanderten zu ersetzen hatten.

Der Käufer entledigte sich dieser Obliegenheit unter halblautem, vergnüglichem Gekicher, das mehr als zur Genüge verriet, wie sehr zufrieden er mit dem Abschlusse dieses Kaufes sei; hierauf setzte der Schullehrer seinen Namen sowohl als erbetener Namensfertiger unter die drei Kreuze, wie auch anderseits als Zeuge, welches letztere auch der anwesende Nachbar des Käufers tat, worauf der Lehrer die beiden gleichlautenden Instrumente mit ungemein wichtiger Miene den Kontrahenten feierlich einhändigte.

»So, jetzt sind wir in Richtigkeit!« sagte er, sich unter pfiffigem Lächeln die Hände reibend, »und jetzt kann ich Euch ohne Gefahr mit meinem herzlichen Glückwunsch sagen, Ihr habt gut gekauft, Lorenz! – Überhaupt« – setzte er vermittelnd dazu, »Ihr könnt beide zufrieden sein: Der Fenzl hat gern verkauft, und Ihr habt gern gekauft, nicht?«

»So ist es!« gab der Verkäufer kurz zur Antwort, legte den Kontrakt zusammen und steckte ihn in die Brusttasche seiner Zwillichjacke, »das Einverleiben besorgt Ihr und ich habe nicht mehr zu tun, als den Kaufschilling zu quittieren. Wann kann ich das Geld haben?«

»Nächsten Donnerstag, auf einen Heller!«

»Gut! Behüt' Gott derweil!«

Damit verließ der Böhme das Haus des Käufers. –

Er hatte kaum die Stubentüre ins Schloss geworfen, und sein schwerer, harter Tritt erklang noch auf den Bohlen, die zwischen den Düngerstellen im Hofraume gelegt waren, als der Lehrer ein unbändiges Gelächter aufschlug. »Nein, hat jemand schon so einen Narren gesehn? Der Böhm' ist rein übergeschnappt! Ihr habt tausend Gulden Schein im Sack, Lorenz! Gefundenes Geld sag' ich Euch!« rief er, die Arme verwundert übereinander schlagend dem Käufer zu, der sich vergnügt die Hände rieb: »Ja, mein Seel! Ich hätt' es selber mein Lebtag nicht gedacht, dass er mir das Stift aufs erste Anbot aufschlägt, mein Lebtag nicht! Es ist ganz ausgebaut, liegt zwischen den Gründen, die er sauber hergerichtet hat, das muss man ihm lassen.«

»Und die heutige Aussaat rein umsonst dazu!« ergänzte der Nachbar, »es ist ein Spottpreis! Möcht' wissen, was er da spekuliert, warum er überhaupt so halsüberkopf verkauft!«

Der Lehrer zog Stirn und Mund in nachdenkliche Falten: »Ich denke – und es ist auch nichts anderes – er geht wieder hinunter ins Böhm! Ich hab' mir das gleich eingebild't, wie ich ihn gar so bitterlich weinen sah, als wir sein Weib begraben haben, und wie er von Zeit an immer wie halbverrückt herumlief droben im Schwarzberg! Ja, es ist nicht anders – ihn leid't es nimmer hier!«

Die beiden Bauern gaben durch ein stummes Kopfnicken zu erkennen, dass sie die Ansicht des Lehrers teilten, der mit wichtiger Miene also fortfuhr: »Er ist überhaupt ein ganz eigener Mensch, der Fenzl, ein echter, verschlagener Böhm'. Ich denk' es noch wie heute, wie er herkam mit der Seligen und seinem Mädel, das damals keine drei Spannen lang war – es wird dies so ein zehn, zwölf Jahre her sein! – wie er heute verkaufte, kaufte er damals; ich war bei dem Kaufe, eben auch wegen dem Kontrakt; die ganze Geschichte dauerte keine zehn Minuten: ‚Was verlangt Ihr für den Hof?' fragte er den alten Thaler. – Das und das! – ‚Ist das Euer letztes Wort?' – ‚Ja!' – Patsch! Schlug er ein – das war der ganze Handel!«

»Woher ist denn die Selige eigentlich gewesen?« fragte nach einer Pause der Nachbar.

»Von droben her, von Mehrengarten; sie war aus einem großen Hof und soll einmal viel Geld gehabt haben, obwohl er gerade nicht mehr viel davon herbrachte; denn der Thaler musste an die dreitausend Gulden auf dem Hofe stehen lassen!«

»Und dann hat er die Grundablösung zahlen müssen« – setzte der Nachbar hinzu.

»Hm! Es bleibt ihm doch ein schön' Stück Geld. Schad' um ihn, wenn er wegzieht!« meinte Lorenz, eigentlich nicht um ihn, denn er ist ein zuwiderer, mürrischer Dingrich, aber um das Geld, das sein Mädel einmal allein gekriegt hätte, sie ist ein bildsauberes Dirnl, die Nanni – oder Anna, wie er sie auf böhmisch heißt.« –

»Ah ja, und anstellig und arbeitsam!« ergänzte der Nachbar, »die wär' keine uneb'ne Braut für mein' Bub'n!« –

Der Lehrer nickte lächelnd und fuhr mit der weißen Hand über sein glatt rasiertes Kinn. »Das glaub ich! Die sticht auch andern Leuten in die Augen – aber sie ist ein verzwickt hoffärtiges Ding! Das hat sie von dem Vater.« –

Dieser hatte indes längst die Dorfgasse hinter sich. Er schritt jedoch nicht seinem, inmitten der zugehörigen Gründe gelegenen, einsam stehenden Gehöfte zu, sondern ging bergan und auf einem wenig begangenen, nur von halb verwachsenen Radgeleisen als Holzweg bezeichneten Pfade, waldeinwärts, immer höher, bis er, auf einer abgetriebenen Blöße angelangt, das zu seinen Füßen am Berghange liegende Pfarrdorf mit dem Kirchlein und dem Friedhofe daran frei übersah.

Mit einem tiefen, schweren Seufzer setzte er sich auf einem bemoosten und verwitterten Baumstrunk nieder, der hart an einer verkrüppelten, sonderbarer Weise dicht an dem Wege stehen gelassenen Kiefer, stand und schaute, den Kopf in beide Hände gestützt, lange trüben, traurigen Blickes in die grüne, freundliche Landschaft hinab, die ihm trotz aller Frühlingspracht, die, erhöht vom Abendsonnengolde, darüber ausgebreitet lag, dennoch nur ein dunkler, kalter Schollenhauf dünkte, aufgerichtet über der Grube, in die sie sein Liebstes eingescharrt – sein Weib. –

»Nun, das wäre auch geschehen!« flüsterte er endlich leise vor sich hin, »eins kommt noch, das Schwerste, der Abschied von dir, mein armes Kind – für immer! Alles andere ist leicht, und dann – ist es vorüber!« Sein Blick hing, als diese Worte sich langsam von seinen Lippen stahlen, mit gedankenloser Starrheit an der grünen Talfläche vor ihm, und auf seinem bleichen Antlitz lag jene marmorne, ekstatische Ruhe, wie man sie so häufig über die Züge von Menschen gebreitet sieht, die nach dem gewöhnlichen Ausdrucke mit sich fertig sind.

Er sprach nichts mehr; aber die Sonne war längst zwischen den spitzen Hörnern des Schreinerberges versunken, und hinter und unter ihm hatte der Wald längst leise flüsternd das Lied zu singen begonnen, das er allabendlich tönen lässt, wenn des Tage Stimmen verklungen; er saß noch immer, unverwandten, trüben Blickes in das Flonitztal hinstarrend, das mählig die Nebel und Schatten der Nacht in Dunkel zu hüllen begonnen.

Endlich erhob er sich und wandte sich zum Heimgange, doch als sein Blick auf die Kiefer fiel, unter deren Zweigen er gerastet, zuckte sein erhobener Fuß zurück, und als ob er sich bereiten wollte, eine verabsäumte Pflicht zu erfüllen, als ob er einem lieben Freunde den Abschiedshandschlag zu geben vergessen hätte, legte er seine raue Hand lind auf den moosbehaarten Stamm des Baumes – dann schritt er rasch talab und seinem einsamen Gehöfte zu.

*

»Aber Väterchen, wo bleibst du denn so lange? Den ganzen geschlagenen Tag kriegt man dich nicht zu sehen! Sogar der Sterz macht schon ein verdrießliches Gesicht und ernsthafte Miene steinhart zu werden; dann schiltst du meine Küche!«

Dies sprudelte eine frische, silberreine Mädchenstimme aus dem Hausflur dem Heimkehrenden in Lauten entgegen, die in dieser rein deutschen Waldgegend wohl selten zu hören waren, in böhmischer Sprache nämlich.

Und ihnen nach kam in anmutigen, kurzen Sprüngen die Urheberin derselben, die bildhübsche Tochter des Bauern, die Anna, wie sie nach der Meinung des Lorenz auf böhmisch hieß.

Der Bauer streifte sein liebliches Kind mit einem unnennbar zärtlichen und dennoch gar seltsamen Blicke, zog dessen Arm mit freundlichem Lächeln durch den seinen und betrat also die große, lichte Stube, die, abweichend von der hierzulande üblichen Weise, statt durch kleine, holzgerahmte Luken durch hohe, gemauerte Fenster Licht und Luft erhielt.

»Und was ich mich schon abstudiert habe«, plauderte Anna weiter, während sie aus der schwerfälligen Tischschublade das Leinwandtischtuch und das Esszeug hervorholte, »denk' dir nur, Hegers Franz hat mir vor einer Weile ans Fenster geklopft und hineingerufen, dass du – nein, ich sag's gar nicht, es ist ja so erlogen.« –

»Was denn, mein Herzchen! Was hat er dir denn gesagt?«

»Dass – dass du den Hof verkauft hast und wegziehen willst!«

»Und wenn er nicht gelogen hätte?«

»Ach geh! Das kann nicht sein!«

Der Bauer sah sein Kind ernst an und trat mit verschränkten Armen nä-her an dasselbe: »Es ist so, Anna! Ich habe Haus und Gründe verkauft, und nur noch einige kurze Tage wölbt sich dieses Dach als ein heimatliches über unseren Häuptern!«

»Aber – warum …?« fragte stotternd und erbleichend das Mädchen, und sein helles, blaues Auge füllte sich mit Tränen.

»Warum?! – Frage die Schwalben, warum sie ihre Nester in den gastlichen Hütten des Waldgebirges verlassen, wenn die vergilbten Buchenblätter fallen und der kalte Nordwind die alten Baumriesen schüttelt auf den Bergen! – Warum?! Draußen drängt und hastet sich freilich alles Wesen zu grünen, zu knospen und zu blühen, und in Kurzem wird sich von den tiefsten Schluchten des Flonitztales an bis über die höchsten Spitzen des Schreiners, in und auf denen noch unlängst die kalte Schneedecke des Winters lag, der Blütenmantel des sonnigen Frühlings breiten – aber mein Frühling ist vorbei! Mein Winter ist angebrochen, als der nimmermüde, unerbittliche Ackersmann, der Tod, im Tale unten die tiefe Furche zog, in die sie mein geliebtes Weib, deine arme Mutter, hineinlegten! Drum lass uns fort – weit fort, drum!«

Es war nicht irre, was er sprach; er hatte auch sonst zu Zeiten inniger Herzergießungen die Hand seiner Tochter an sein leidenschaftlich pochendes Herz gedrückt und seinen Blick tief versenkt in die Strahlenaugen seines Herzenskindes; aber diese seltsame, sonderbar schwungvolle Sprache, dieses krampfhafte Drücken seiner Hände, dieser unergründlich dunkle, unheimliche Blick – Anna zog ihre bebenden Hände furchtsam aus den sie umklammernden ihres Vaters und wich scheu von ihm zurück – ihr graute vor ihrem Vater, und ein geheimnisvoller Trieb drängte sie, um Hilfe zu rufen; aber ihre schwere Zunge versagte den Dienst, und kein Laut vermochte sich ihrer von unnennbarer Angst zusammengeschnürten Brust zu entringen.

»Was ist dir Kind? Solltest du – hängst du so sehr an diesem grünen Waldflecke?« fragte der Bauer plötzlich in ruhig mildem Tone und zog sein Kind sanft neben sich nieder auf die Ofenbank.

Anna antwortete nicht, aber ihr Zittern und leises Weinen nahmen das Wort für sie und – der Bauer, wie es schien zu einem plötzlichen Entschlusse gekommen, sprach mit gedämpfter Stimme, sein Kind enger an sich ziehend: »Höre Anna! Ich will dir erzählen, was du wissen musst, um zu begreifen, was und warum dies dein Vater tut. Höre aufmerksam zu und unterbreche mich nicht.« –

Das Mädchen sah stillweinend und bleich wie ein Marmorbild vor sich nieder, und der Bauer begann:

»Wie es hier herum bei den Bauern gebräuchlich ist, deren Verkehr sich über ihre Sprachgrenzen erstreckt und der unerlässlich die Kenntnis der beiden Landessprachen bedingt, ward auch ich, ein stockböhmischer Junge, von meinem seligen Vater, der tief unten im Lande, gegen Wollin zu, hauste, in Tausch, oder wie man sagt, auf den Wechsel gegen den stockdeutschen Sohn eines seiner bewährtesten, langjährigen Geschäftsfreunde gegeben, er war ein Getreide- und Siebreifhändler in Mehregarten an der bairischen Grenze, dein Großvater, Anna. – Während der Bruder deiner Mutter, der bei meinem Vater war, in Böhmen unten mit Pferden umzugehen, mit dem Wendepflug zu ackern, den Klee auf hier nie gesehene Art in Hütten aufzuschlagen, und wie es sonst noch für Eigenheiten im Böhmischen gibt, nebst der böhmischen Sprache lernte, ward ich hier in den Eigentümlichkeiten der Waldgebirgswirtschaft unterwiesen, lernte Ochsen im Joche ackern, Gries, Graupen und Schrott mahlen, lernte die Bäume kennen, die ‚gehen' und dergleichen, und nebstbei deutsch. – Nach fast drei Jahren glaubten unsere beiderseitigen Alten, dass wir genug wüssten und es Zeit wäre, uns wieder heimzunehmen. An einem Jahrmarkt in der Stadt wurden wir denn – beide bereits Burschen wie die Bäume – sodann wieder umgetauscht. Ich könnte nicht sagen, dass mir der Abschied von Mehregarten weh getan hätte, obwohl ich diese, meine vorübergehende Heimat, ziemlich liebgewonnen hatte, besonders die schöne Waldarbeit da, das Flößen im Sommer und das lustige Holzverführen im Winter. Anders schien es mit dem Sepp zu stehen, dem Bruder deiner Mutter, der bei meinen Leuten gewesen war. Er hätte es mir nicht zu sagen gebraucht, ich hatte es in der ersten Stunde weg: Er hatte sein Herz an meine Schwester verloren. – Nun da war leicht zu helfen: Er war um fünf Jahre älter als ich – deine Mutter war seine Zwillingsschwester – mein Vater war gerade auch nicht arm – es dauerte nicht lange, so ging das Handeln an, wie es bei Bauernheiraten üblich ist; von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ward auf beiden Seiten zugegeben oder nachgelassen, zur Kirchweih darauf fuhr der Sepp mit seinem Alten hinunter zu uns ums ‚große Wort', und in der zweiten Faschingswoche führte er meine Schwester nach Mehregarten heim als sein Weib. Die Alten zogen natürlich ins ‚Stübel'. – Obwohl sie mich daheim auch schon anfingen, hin und wieder zu verheiraten, ließ ich mich das wenig anfechten, und lebte lustig und ledig fort, bis auf einmal etwas geschah, was alles änderte. Es kam die ‚hitzige Krankheit' (Typhus) hinauf in den Wald und – der Sepp und sein Weib starben beide daran – inner vier Tagen.« –

Bis hierher hatte der Bauer mit leiser, monotoner Stimme erzählt, wie man etwas tausendmal Gesagtes oder Gedachtes aufzusagen pflegt. Hier aber hielt er plötzlich ein und fuhr rasch mit der Hand nach der gefurchten Stirne, als ob er sich mühsam auf etwas besinne, worauf er mit fast tonloser Stimme fortfuhr: »Jetzt kommt es, Anna, das, was du noch nie gehört hast, was deine Mutter, mein braves, edles Weib mit sich in die Grube nahm, die es nicht treuer bewahren kann, als sie es bewahrte in ihrem starken Herzen; jetzt kommt es, was mich mit dir, einem zarten Kinde, die Stätte verlassen hieß, an der deine Wiege stand, und was mich auch heute wieder forttreibt von hier, nur dass ich heute das allein tragen muss, was damals deine Mutter getreulich mit mir trug, denn dein junges Herz damit zu belasten, halte ich für Sünde! – Höre!«

Und Anna horchte; sie sah nicht auf und nach ihm. Stieren Blickes schaute sie vor sich hin in die dunkle Stube, die nur von Zeit zu Zeit das knisternde Aufflackern des verlodernden Kienes auf dem offenen Herde kurz und grell erleuchtete, aber sie sah mit dem Auge des Geistes tief gebeugt die dunkle Gestalt neben ihr, wie grauenhaft bleich des Vaters Antlitz, wie trübe sein Auge; sie hörte jeden Schlag seines stürmisch klopfenden Herzens, und hörte seine tiefe, traurige Stimme. –

»Es war ein Kind dageblieben, ein Knabe, von Rechts wegen der Erbe des Bauernstiftes. Das plötzliche Sterben der beiden Wirtsleute brachte alles in heillose Verwirrung, und es tat Not, dass eine kräftigere Hand da Ordnung mache und halte als die des alten, bereits kindisch gewordenen Ausnehmers. Ich musste hinauf nach Mehregarten und führte die Wirtschaft so ein halbes Jahr, als auf einmal unsere Alten alle samt mit dem Vorschlage über mich kamen, die Regi (Regina), deine Mutter, auf die halbe Wirtschaft zu heiraten. Das Ding ging an und machte sich schnell, wir heirateten. – Was ich jetzt weiß, wusste ich damals nicht – es kümmerte mich auch wenig, dass deine Mutter mich liebte, seit Langem. Ich hatte mich eben verheiraten lassen und hatte weder etwas dafür noch dawider, obgleich die Regi älter war als ich. – Hörst du Anna? Jetzt kommt's!«

Anna nickte stumm mit dem Kopfe.

»Das Kind meines Schwagers fing plötzlich an, auffallend schlecht zu werden und – plötzlich starb es. An der Auszehrung, sagten die Leute anfangs, aber nur anfangs, Anna«, – bei diesen Worten drückte die schwielige Hand des Bauern den Arm seiner Tochter so krampfhaft zusammen, dass es ihr einen leisen Angstschrei erpresste, – »sei ruhig! Ich sage, anfangs sprachen sie so, dann sagten sie, ich hätte – dem Kinde vergeben (das Kind vergiftet), um allein Besitzer des Stiftes zu werden.«

Anna fuhr auf, als hätte ein Blitzstrahl neben ihr niedergeschlagen, und einen Blick, nur einen kurzen Blick warf sie auf das grambleiche Gesicht ihres Vaters, das sich voll Trauer, aber halb offen zu ihr empor wandte, dann sagte sie kurz und bestimmt ein Wort, ein armes, kleines Wort: »Nein!« Aber es mussten geheimnisvolle Schätze aufgehäuft liegen in diesem armen, kleinen Worte, denn der alte Mann, in dessen Herz es fiel, wiederholte es voll jubelnden Dankes viel und viele Male und er weinte dabei vor Freuden.

»Höre!« fuhr er endlich wieder fort: »Deine Mutter ging zu der Zeit mit dir gesegneten Leibes. Ich ging mit mir zu Rate und beschloss nach ihrer Niederkunft den Hof in Mehregarten zu verkaufen und fort, weit fort zu ziehen, wo uns niemand kennt, um dem furchtbaren, unfassbaren Gespenste zu entfliehen, dem Gerüchte. – Hätten wir es gleich getan, wärest du auf der Flucht geboren worden, du armes Kind der Schmerzen! – Du kamst zu böser Stunde auf die Welt, mein Kind! Sie läutete ein Missjahr ein, und darauf kam ein Hungerjahr, und als das dritte kam, hatte es einen bisher ungekannten Gast in den Wald mitgebracht – einen gar schlimmen, heimtückischen – den Hungertyphus.

Angst um dich, Furcht überhaupt steigerte unser Missbehagen an dem Aufenthalte in der Gegend, wo man uns verdächtigte und offen mied, wir schlugen den Hof los, obwohl mit bedeutendem Schaden; denn seit fast zwei Jahren war kein Grund weder gedüngt noch angebaut worden, da uns sowohl Viehfutter als Saatkorn fehlte. Wir zogen hierher und kauften diesen Hof. – Das, mein Kind, ist alles, was bis zum Tode deiner Mutter geschehen ist; was aber nicht geschah, was mein Herz verbrennt und verzehrt mit höllischer Glut, das ist – dass ich lieblos und kalt all' die Jahre herging neben deiner Mutter, der armen Kreuzträgerin, dass ich ihr großes, starkes Herz, das sich dürstend nach Liebe und Vertrauen dem meinen auftat, erkalten ließ, bis es alle seine Schatzkammern verriegelte in bitterem Leide und sie mir nie mehr erschloss, als bis dies seine letzten Schläge tat – für mich – als es brach. – Drum fort!«

Und weiter sprach er nichts mehr. Mit tief gesenktem Haupte und krampfhaft gefalteten Händen saß er da, ein Bild echter, tiefer Trauer; erst als er leise wie Flaum um seinen Nacken gelegt die warme Hand seines still weinenden Kindes fühlte, löste er die verschlungenen Hände, um dies enger an sich zu ziehen. Und so lehnten sie aneinander in schweigender Trauer. –

Die Herdglut war längst verloht und erstorben, die Stube tief dunkel und keine Spur von Leben in ihr als das leise, geschäftige Ticken der Wanduhr.

Als Anna morgens erwachte, fand sie sich in ihrem Bette, müde und matt wie nach einem wüsten Traume. Der Vater war zeitlich in die Stadt hinabgegangen. »Zum Advokaten«, richtete ihr der Hofknecht aus.

*

Der Donnerstag war gekommen und zur Stunde, wie er es versprochen, der Lorenz mit dem Kaufschilling.

Da der ‚Böhm' erklärte, sich mit nichts als dem Notwendigsten ‚schleppen' zu wollen, fanden sich in Kürze die Wirtschaftsbesitzer des Dorfes zur ‚freiwilligen' – von dem Richter geleiteten Lizitation der Stuben-, Haus- und Feldgerätschaften sowie des vorrätigen Strohes und Wiesenfutters ein, und als es zu dämmern begann, war das Haus so weit geleert, dass die übrig gebliebenen Betten und besseren Möbelstücke – Annas Aussteuer – gar leichtlich auf dem Wagen zu verladen gingen, den ihr Vater zu ihrer Übersiedlung nach der Stadt gemietet hatte.

Zu ihrer Übersiedlung, denn als er damals von dem Advokaten in der Stadt zurückkam, hatte er Anna auf dem, wie er meinte, letzten Gange zu dem Grab ihrer Mutter seinen Willen und seine Pläne für ihre Zukunft mitgeteilt.

Sie sollte in der Stadt bei einer ihm bekannten, guten Familie dasjenige erlernen, was zu ihrem Fortkommen – falls ihm etwas Menschliches begegnen sollte – förderlich sein konnte. Zu diesem Zwecke hatte er fast die ganze Kaufschillingssumme des Gehöftes nutzbringend angelegt und gerichtlich versichert. Er selbst wolle, so sagte er zu Anna, die Zeit ihrer Ausbildung über wandern, rastend, arbeitend, wie und wo es ihm beliebe und gefalle, bis – nun bis er eben wiederkomme, um nach seinem Herzenskinde zu schauen.

Dass die Leute in der Stadt unten ihn gar verwundert angesehen ob solchen seltsamen Beginnens, und dass der Advokat ihn gar erstaunt gefragt habe: »Ei, Mann! Ihr tut ja, als ob Ihr morgen schon zu sterben gedächtet«, das sagte er dem Mädchen freilich nicht! – Wozu auch?

Dafür aber sagte er dem Kinde, dessen Hand er den mehr als stundenlangen Fahrweg über nicht losließ, tausend und tausendmal, wie er es liebend im Herzen trage, und ward nicht müde, von der Mutter zu erzählen und Anna immer wieder aufzutragen, ja deren Grab nicht zu vergessen, es alle Frühjahre mit frischem Rasen zu umkleiden und mit frischen Blumen zu schmücken und es wenigstens am Allerseelentage immer heimzusuchen, so dass Anna, sie wusste nicht, wie es kam, es noch gerade für etwas Ausgemachtes anzunehmen anfing, sie müsse wirklich unter die fremden Menschen in die Stadt und der Vater hinaus in die weite, weite Welt, um sein Leid zu vergessen.

Sie kamen endlich an – es war geschlagene, finstere Nacht.

Freundlich und liebevoll aufgenommen, fand sich Anna schnell in der gefürchteten Fremde zurecht, stand er ja doch ihr wie von der Wiege an zur Seite, ihr lieber, und seit der Stunde sogar lieber gewordener Vater, in der er sie zur Vertrauten seines so lange geheim gehaltenen und allein getragenen Schmerzes machte, saß er doch, ihre Hände immer in den seinen haltend, an ihrem Bette. Bis zum Morgen wolle er das, sagte er, denn er könne und wolle nicht schlafen. –

Und der Morgen kam, ein schöner, wunderklarer Frühlingsmorgen, der die grünende, sprossende Erde mit so sonnigem Lächeln begrüßte, dass es unmöglich schien, es könne jemand seine helle, frische Freudigkeit schnöde durch bittere Tränen entweihen!

Und dennoch war es so, Anna und ihr Vater waren es, die dies taten – Ach, und wie sie weinten!

Und plötzlich sah sich Anna allein vor dem Hause, das sich ihr gastlich aufgetan, und auf ihren Lippen brannte der letzte Kuss ihres Vaters. –

Der aber stieg, ohne sich umzuschauen, hastig, als gelte es, dem Banne eines Zauberkreises zu entfliehen, bergan, bergan, bis er, zwischen den Sätteln des Schwarzberges angelangt, auf die zungenartige Hochebene kam, die von dort an den Übergang des Mittelgebirges zum Hochwald vermittelt.

Da erst mäßigte er seinen Schritt und wandelte gesenkten Hauptes, die Arme über der Brust verschränkt, langsam durch den Wald und den nebelbesäten Steig entlang.

Was will der Mann? Was soll seine Wiederkehr, nachdem er freien Willens die Form zerschlagen, in der er bisher sein schlichtes Leben gestaltete?

Nein, er geht an dem Hause vorüber, aus dem sie tot und kalt das hinaustrugen, was er zu spät als dessen Schutzgeist erkannt – vorüber, und wieder wie damals, als er sein Gehöfte losschlug, auf dem Waldsteige bergan, immer höher wie damals, bis er eben wieder auf derselben Blöße stand – das blühende Tal zu seinen Füßen, die säuselnde Kiefer, den Baum am Wege zu seinen Häupten.

Und wieder wie damals ließ er sich auf dem alten, vermorschten Baumstrunk darunter nieder, und wieder wie damals hing sein Blick starr, als wolle er sich festsaugen an dem grünen Talgelände vor ihm, in dessen Tiefe das ernste Widerspiel des knospenden Lebens umher – der Friedhof lag.

Lange, lange sah er hinab. – Gibt es ein Sattsehen an dem, was die geheimnisvollen Augen des Herzens und der Seele immer sehen, ob es auch Nacht ist, ohne Ziel und durch alle Weiten?

Wandte er sich ab von dem Anblicke des kalten Grabeshügels und schaute, drang sein inneres Auge tiefer, als er plötzlich die Hände vor sein Gesicht legte und den Kopf tief auf die Brust gesenkt, bitterlich zu weinen begann? – Wer vermag das wissen!

Er schaute nicht mehr auf. War es die Ermüdung und Abspannung nach so vielen schlaflos durchwachten Nächten, oder war es das Übermaß tiefen, echten Schmerzes – sein Oberleib sank mählig nach rückwärts, bis er an dem bemoosten Stamme der einsam am Wege stehen gebliebenen Kiefer einen Halt fand und der Mann entschlummerte.

Es war gegen Mittag, und der Wald ruhte.

Alles Leben, sprossendes, grünendes, säuselndes, rauschendes, summendes, singendes, krabbelndes, springendes und fliegendes – alles ruhte, jedoch nicht im Schlummer, sondern wie durch die magische Berührung der gewaltigen Hand der Natur urplötzlich in starrende, schweigende Ruhe versetzt, um voll und unverkümmert eines jedweden Funkens des schaffenden, nährenden und befruchtenden Lichtes teilhaftig zu werden, das da aus dem unversiegbaren Lebensborne der Sonne niederströmt auf die ruhende Erde, von der sich Millionen grüner, knospender Arme sehnend deren Flammenkusse entgegenstrecken.

Alles ruht! Von den knorrigen Wurzeln der Bäume, unter deren tausendfaltigen Moosdecken das rührige Volk der Käfer und Ameisen ihre Wohnsitze aufgeschlagen, an den in stillen Träumen hängenden Zweigen vorüber bis zu den schwanken, spitzen Baumkronen – alles ruht.

Maus, Eidechs und Wiesel schauen starr mit den klugen, schwarzen Äuglein aus den halb verdeckten Türen ihrer labyrinthischen Schläfe herauf, Raup' und Käfer harren in sicheren, luftigen, sanft und leise geschaukelten Blatthängematten ihrer wunderbaren Metamorphosen, Fink und Hänfling, Drossel und Specht kauern dicht wie zum Schutze an den Seiten ihrer scheu hin geduckten Nestgenossen; nur die unverbesserlichen Guckindiewelte, die neugierigen, vorwitzigen Mücken balancieren keck auf leise bewegten Grashalmen, deren höchste Spitzen sie pfiffig erklettern, um sich ja nichts von dem entgehen zu lassen, was es da setzt im schweigenden Walde. –

Und fürchtet denn der ruhende Wald nichts von dem traurigen, leidbedrückten Wanderer, der die Arme über die Brust geschlagen, langsam unter seinem Schatten hin wandelt bis zu der abgetriebenen Stelle, die von der einsamen Kiefer, dem Baume am Wege gekrönt wird?

O nein! Der Wald kennt ihn gar gut, sah er den Mann doch seit einer gewissen Zeit Tag für Tag herauf pilgern zu der von Brombeergestäude bedeckten Blöße, und er weiß es gar wohl, was der hier sucht. Hörte er ihn doch zu so vielen Malen nur das eine mit leiser, bebender Stimme vor sich hinflüstern, wenn er, den Blick von der Talfernsicht zu dem umrankten Boden senkend, sich seufzend und oft gar bitterlich weinend niederließ auf dem gefällten Stamme: »Ruhe! Ach nur Ruhe!«

Und dennoch – horch! Ein leiser, leiser und doch fast schriller Luftstoß fährt plötzlich hochhin durch die träumenden Föhren, welche ringsum die Blöße begrenzen – er fährt nieder an ihren reich beschildeten Schäften und durch das Gesträuch und Gestäude zu ihren Füßen und wecket alles, von den kahlen, dornigen Wipfeln an bis tief unter die knorrigen Wurzeln aus der träumerischen Ruhe.

Auf! Auf!

Was ist's? – Kommt der grimme Feind des Waldes und seines stillen Lebens, dem er mit Axt und Säge zu Leibe geht, der Scherge der Despotin »Industrie«? Nahen Menschentritte?

Urplötzlich, als ob eines Riesenleibes tief dunkler Schatten sich zwischen die Sonne und den unter ihren Strahlen in geheimnisvollem Werden ruhenden Wald geschoben hätte, erbebt, erzittert mit raschem Schauder Busch und Baum, Halm und Kraut; die duftenden Knospen schließen angstvoll hastig die offenen Blütenaugen, die jungen, maigrünen Zweigansätze huschen furchtsam flüchtend zwischen die schützenden, starken, mit Rinde bepanzerten und bewahrten Äste hinein, und von Stamm zu Stamm flüstert und säuselt es mit Millionen Nadel- und Blätterzungen hinauf und herab: »Habt acht! Seid auf der Hut!«

Und der Wachtruf des Waldes kriecht, raschelt, springt und fliegt all' sein erschrecktes Volk eiligst in seine bereiten Verstecke; sogar die arme Schnecke, die sich von Ruh' und Sonnenschein verleiten ließ, sich weitab von ihrer feuchten Moosheimat hinaus auf den nadelbesäten Waldpfad zu wagen, macht einige hastige, unbehilfliche Sätze, um sich zu retten, aber – aufgehalten durch Staub und Kiessand – verkriecht sie sich endlich mit verzweiflungsvoller Resignation in ihr schillerndes Gehäuse, es dem Zufalle anheimgebend, ob die feindliche Menschenferse sie als zu geringfügig verachtend verschonen oder freventlich zertreten werde.

Doch nein – ei, du alter, närrischer Böhmerwald! Wie könntest du also erschrecken? Es war ja nicht der Habtachtruf deiner alten, graubemoosten, seit Jahrhunderten treue Wacht haltenden Baumveteranen, es war etwas anderes – etwas ganz anderes!

Der Mann unter der einsamen Kiefer war, den schweren Kopf immer tiefer auf die bedruckt atmende Brust senkend, endlich allgemach eingeschlafen, und der Baum am Wege war es, dessen Stamm, als die an ihn sich lehnende Gestalt des Schläfers ihn erschütterte, jenen zitternden, rischen, von all' seinen nadelbesäeten Ästen zugleich ausgehenden Ruf ausstieß.

Es war nicht erst nötig, dass die Nadelzweige es hinab zu den Farren- und Brombeerraken am Fuße desselben telegraphierten, damit diese es von den Moosspitzen und Grashalmen weiter gehen ließen über die Blöße bis über deren Grenze und in die Wiederanfänge des Waldes hinein; der jach aufgeschreckte, leise flüsternde Wald verstummte alsbald, sowie er die fein säuselnde und dennoch so klar vernehmbare Stimme der Kiefer vernahm, die sogar hell und voll in die Seele des Schläfers unter ihr schlug. –

Und sie sprach – eigentlich erzählte sie, und der Ton, in dem sie dies tat, klang schlicht, harmlos und absichtslos, als ob es eben nur gelte, eine alte, tausendmal erzählte Mär zu verkünden:

»Vor vielen, vielen Jahren – wie lange es ist, weiß ich nicht und wird dies erst das scharf berechnende Auge dessen, der mich einst fällen oder kaufen wird, meinen angesetzten Jahrringen nach ermitteln – vor vielen Jahre also stand ich meiner Erinnerung nach auf diesem grünen Waldflecke ein junges, schlankes, kaum halb gewachsenes Bäumchen; nicht allein – ein Schwesterchen neben mir, so hoch, so schlank wie ich – mein liebes, liebes Schwesterchen! – der da unter meinem Schatten sein Leid auf einen Augenblick verträumt schläft, er sitzt auf ihrer Leiche – damals kannte man hier oben keinen Feind – wir Bäume nämlich – als Sturm und Borkenkäfer, und wütete jener nicht, und tat uns dieser nichts zu leide, so war es, wie mir Eltern, Nachbarn und Verwandte gar oft erzählten, in der Regel nie anders, als dass der Stamm stand, oft in die hundert Jahre, bis es ihn selber verdross und er sich hinlegte ins grüne, weiche Moos – und starb. – Doch ich ward älter, höher, stämmiger, ein Baummann – und derweilen war es auch im Walde anders.

Für den Menschen, der sich seither immer begnügt hatte, die bis ins tiefe Tal zu seinen Hütten hinab verwehten, endlich nach und nach aufgeschossenen Keime des Waldes zu seiner Notdurft zu verwenden, fand sich nachgerade, als die Familie zum Volke geworden, dort keine genügende Ausbeute mehr, und von Tag zu Tag erklang der Schlag der Axt und der kreischende Ton der Säge der Berggipfeln näher. Kohlenfeuer, Pferde, Wagen – Dinge, die der Wald sonst nie gesehen, wurden stetig unter seinem Schatten und – eines Tage kamen sie – die Menschen – mit Axt und Spaten und gruben eine lange, lange Grube durch den gelichteten Wald bis zur Kuppe des Berges – einen Weg – das Grab des Waldes.

Mich verschonte Axthieb und Spatenstich; ich blieb der Baum am Wege – damals.

Die Zeit verstrich. Hüben und drüben auf den Berghängen ward geschlagen und in Scheite gespalten, ich blieb stehen – doch wie?

Sie fuhren täglich, stündlich vorüber an mir, die die Leichen und Trümmer meiner Brüder talabwärts führten; mein verkrüppelter Bau, mein umfangloser Stamm reizte sie wenig – was wollten sie von mir? Was tat ich ihnen – höre du armer Schläfer unten, der du meinst, dir hätten die Menschen Übles angetan! – Was tat ich ihnen, ich armer verkrüppelter Baum, der ich jedweden Vorübergehenden mit zitternden Nadelzungen um Erbarmen anflehte, dass sie mir zum Scherz – welcher Scherz – Hieb auf Hieb beibrachten im Vorüberfahren? Sieh her du, dessen Herz du auch von ihnen zerrissen wähnst! Sieh her! Schau die tiefen, klaffenden, erst nach jahrelangem Schmerz vernarbten Wunden, die sie mir geschlagen, betrachte die breiten, langen Tränenströme, die mein Herz geweint – sie nennen es Herz?! – sieh mich an, genau, und höre, dennoch grünte und blühte und wuchs ich fort – hörst du?« –

Der Wald rauschte laut hochauf – der Baum am Wege senkte müde seine emsig flüsternden Nadelzweige, und der Schläfer unter ihm erwachte. –

»Ho! Hat mir geträumt? – Sprach der Baum zu mir? – Allein, ich weiß es, es fiel wie goldener Regen in mein Herz. – Sterben wollt' ich, der kleinen Wunden wegen, die mir das Leben und der Tod geschlagen, und du, du treuer Warner, du mein lieber Lehrer.« – Der Mann sprach lange nicht weiter, er hatte sich erhoben und die Arme um die Kiefer gelegt, sich laut weinend an ihren Stamm gelehnt.

»Wie sie flüsternd aufsäuselte? So frisch, so freudig? Ja – du hast mir die rechte Lehre gegeben«, fuhr er endlich glänzenden Auges fort: »Sei ich der Baum am Wege, den Sinnlosigkeit und Mutwillen ungestraft verletzen kann, ich will fortgrünen! Sei ich der Prellstein an der Straße, den Huf und Rad achtlos schädigt – stehen will ich, bis es zu Ende ist – und mein Kind, mein geliebtes Kind!«

Plötzlich – ohne mehr ein Wort zu verlieren, ohne mehr einen Blick auf die Kiefer zu werfen, eilte der Undankbare fort. –

Nein! Er war nicht undankbar. Des anderen Tages früh wallfahrtete er abermals auf demselben Steige, demselben Ziele zu, und nicht allein, sein Kind mit ihm.

Und unter dem Schatten der rauschenden Kiefer erzählte er dem staunenden Kinde, was er dunkles, sündhaftes gewollt, wie und wodurch es plötzlich anders und licht geworden in seinem trostlosen Herzen und wie er wieder sich gerne mühen wolle, um zu leben für und mit ihm, seinem Herzenskinde, seinem alles auf der Welt.

Und als sie gingen – zum letzten Male – um hinaus zu pilgern in die weite Welt, bis sie ein annehmbares Fleckchen fanden in der unbekannten Fremde, da hoben beide segnend die zitternden Hände zu der säuselnden Kiefer – und gingen weinend davon.

Als aber der Tag zur Ruhe ging und die Sonne versinkend mit ihren roten Strahlen die Kuppen des Schwarzberges vergoldete, fielen ihre blinkendsten Goldkörner auf die einsame Kiefer inmitten der dunkelgrünen Blöße, und es duftete und glühte wie ein märchenhafter Rosenstrauch, »der Baum am Wege«.


 


 << zurück weiter >>