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Gretl unter der Stauden

Gretl (Gretchen) unter – hinter – der Stauden nennt das Volk gewiss poetisch die schöne Waldblume nigella damascena aus der Familie der Ranunkeln, die sonst auch ebenso poetisch »Braut in Haaren« heißt.

1. Der Hüttenbettelmann

Wenn der hohe Pyrges, der Seekogl und der Königsberg, zwischen deren waldigen Sockeln sich die Enns durch unwegsame Schluchten aus Obersteier hinaus nach Oberösterreich hineinstiehlt wie ein echter Pascher, wenn die besagten drei Recken nicht gar so unbändige Bergriesen wären, so könnte man ohne Weiteres sagen, dass Altenmarkt auf einem Berge liege; aber so – was können Leute, denen es ein helllichter Spaß ist, alle Wochen, und wenn's darauf ankommt, auch öfter über den Pötschen, den Rottenmanner oder Radstädter Tauern oder über die Lichtmessalm zu steigen, was können die für Wesen mit dem Bergel oder Hübel machen, auf dem Altenmarkt liegt? Kein's. Sie gehen hat ganz einfach »auf Altenmarkt«!

Drum ist es eine wahre Schande, wie der junge, rüstige Bursch da, dem man es übrigens auf eine Viertelstunde weit ansieht, dass er ein echtes Gebirgskind ist, so verdrießlich und faul den Gehsteig hinankriecht, der so schnurgerade, als hätte ihn der leibhaftige Durst erfunden und gebahnt, aus dem Tale zum Altenmarkt'ter draußnaen (draußigen) Wirtshaus führt!

Das ungefähr mochte ein alter, ziemlich schäbig aussehender Mann sich denken, der vor Kurzem aus der Tiefe der Talsohle heraufgekommen, den vorbesagten, ihm weit voran gewesenen jungen Burschen fast auf dem halben Steige eingeholt hatte.

Wir sagen »vor Kurzem«, indem wir uns in jene Zeit zurückversetzen, in der sich diese wahrhaftige Geschichte zutrug. Ist seitdem wieder um ein gut Teil älter geworden die liebe, alte Welt, denn man schrieb damals anno domini 1824, und St. Adalbertitage war's, der dazumal auf einen Samstag fiel, als die Zwei auf der Mitte des Steiges zum Altenmarkter Wirtshause zusammenkamen.

Wohl mochte der Alte sich wundern, was der flinke Bursch, den er schon von Weitem erkannt hatte – es war der Schmied Franz aus dem Hammer St. Gebriele, was der heute also gar so trübselig dahin schlich auf dem schmalen Steige, und gerade er, der sonst dafür bekannt war, den Weg vom Hammer zum Wirtshause in ein paar Sätzen zu machen, wie es ihm weitum keiner nachtat; warum? Weil – nu, weil er seinen Schatz dort hatte, die kleine, nette Gretel, unstreitig die hübscheste Schänkmagd, die jemals im Ennstale einen Gast die schaumgegupfte Halbe mit einem freundlichen »G'seg'n Gott« zugebracht.

»Ho, Franzl! Müd? Gelöscht? Feierabend?« rief ihn der Alte an, als er an der Seite des Burschen war, und warf den vielgeflickten, schmutzigen Sack, den er auf der rechten Achsel trug, auf die linke hinüber; dem Klange nach befanden sich Eisenabfälle, vermutlich zusammen gebettelte, darin, denn so was ungefähr schien das Metier des Mannes zu sein, und er mochte unter die Klasse jener privilegierten Bettelleute gehören, die in den Hütten und Hämmern der an hartem Eisen und weichen Herzen so reichen Obersteiermark faktisch wie Pensionäre ge- und erhalten werden – oder wurden: denn es ist schwer anzunehmen, dass die Sturmflut der Zeit, die so viele Privilegien verwaschen und davon geschwemmt, gerade das jener Strolche unbehelligt belassen hätte.

Das Privilegium besagte Bettlergattung bestand darin, dass sie sich des Samstags, ehe die Öfen gelöscht wurden, bei der Verteilung der gebräuchlichen Eisenprozente unter die Arbeiter (die »Förderung – Forderung« – oder das Gwinngats – Gewinnst – genannt) allda einfinden konnten, um, ohne viel Bitten und Betteln, ihren guten Anteil davon an sich zu nehmen, der natürlich größer oder kleiner ausfiel, je nachdem der Hüttenbettler mehr oder weniger beliebt war unter den Eisenarbeitern.

Es ließ sich leicht verkaufen und gut verwerten dies Almosen, beim draußigen Wirt in Altenmarkt hatten die Hüttenbettelleute bekanntlich ihren Stapelplatz; und galt das durch Brauch und Zeit fundierte Recht eines Bettlers für ein größeres oder geringeres Kapital, je nachdem er es auf mehr oder weniger Hochöfen und Hämmer auszudehnen befugt war. Es soll sogar erblich und zu vermachen gewesen sein – was freilich eine ungeheure Bonhommie der Beteiligten voraussetzt, aber es sieht ihnen gleich das den guten Leuten droben in den betriebsamen Tälern, in deren Tiefen Altar an Altar dem Kult des Gottes ragt, »der Eisen wachsen ließ«.

Also – als der Alte den Schmied, wie gemeldet, angesprochen, stand der still und drehte sich bald um: »Du bist's Lorenz?« sagte er traurig, trat ein wenig auf die Seite, um ihn heranzulassen und ließ sich dann im Weitergehen recht kläglich also vernehmen: »Ja, ja, Lorenz! Gelöscht und Feierabend – auf lange Zeit, vielleicht auf immer!«

»Hoho! Wie das?« rief der Bettler verwundert, der, ohne ein Auge von dem Burschen zu verwenden, auf dem holperigen Steige neben ihm hertrottete.

»Hm! Einrücken muss ich; montagabends muss ich in Judenburg sein!«

»Ho! So bist du Soldat? – 's erste Wort!«

»Ja freilich, schon seit vorigem Frühjahr bei der Landwehr; ich hatt' Urlaub bis zur Einberufung!«

»Ei, ei, und so g'schwind? Weiß's die Gretl schon?!

»Nein! Ich denke nicht, obwohl – –.« Der Schmied hielt plötzlich inne und hob den gesenkten Kopf rasch in die Höhe: auf seinen Zügen lag auf einmal der düstere Ausdruck der Trauer nicht mehr, sondern der helle, scharfe des bitteren Argwohns zuckte darüber hin, als er leise weiter sprach: »obwohl sie's wissen kann, wenn – wenn sie falsch ist!« »Die Gretl falsch – nein Franz! Sie ist eine brave Dirn!« rief der Bettelmann mit sonderbarem Eifer, und er rief es mit so feierlich hallender Stimme, mit so bestimmtem Ernste, dass in demselben Momente der zwiefache Feuerstrom der Scham und der Freude seine Flammen in das erregte Antlitz des jungen Burschen schoss und er, den Arm des Alten ergreifend, hastig ausrief: »Gelt nein, Lorenz? Sie ist nicht falsch, sie ist recht, meine Gretl?« was der Bettler stumm, aber mit nachdrücklichem Kopfnicken bejahte.

Der Schmied strich sich leicht mit der schwieligen Hand über die heiße Stirne: »Wie konnt' ich nur so reden, ich schlechter Mensch!? – aber es war – weiß Gott! wie mir der Gedanke kam – eben, als der Amtsbote mit dem Zettel zu mir trat, worauf mit kurzen, dürren Worten der Befehl zum Einrücken stand, da war es mir, als ob der Gedanke mich anflöge mit den sprühenden Feuerfunken, die mich umtanzten, und als ob der Hammer bestätigend dazu nickte im Niederfallen und als ob es aus dem Rauschen der Wässer und aus dem Zischen der Öfen mir heraus zuflüsterte: »I nu freilich, Du dummer Franz.« – –

»Ja, was denn, Franz! Was denn für ein Gedanke?« fragte der Bettelmann kopfschüttelnd.

»Dass – dass der neue Hüttenverwalter Schuld daran ist, dass ich einrücken muss, dass der Wirt droben, der scherwenzelnde Schuft, der ihm die Stange hält, gar gut davon weiß und – vielleicht auch die Gretl!« – –

»Pah! Wie das?« – rief der Bettelmann plötzlich stehen bleibend: »Du willst doch nicht sagen, dass mei – – dass die Gretl was habe mit dem alten Schleicher?« – –

»Hm – gerade nicht, dass sie schon was hat mit ihm – aber, trau' einer dem Weibsvolke«, meinte der Schmied mit traurigem Kopfnicken; »ich kann mir nicht helfen, aber mir kommt's vor, als müsse ich fort, um Platz zu machen – ihm!«

»Aber wie um aller Welt willen kommst Du denn auf den Gedanken, Franz!« fragte der Bettler dringend: »Was ist denn geschehen? Ich denke, ich, der ich fast die ganze Woche über im Wirtshause droben herumsitze, müsste doch auch etwas bemerkt haben?«

»Oh, mein lieber Lorenz, was solltest Du bemerkt haben!« sagte der verzagte Schmied, »das Auge eines Fremden, und hätt' es die Schärfe jenes des Hähers, ist blind gegen das Auge der Liebe.«

»Und wer sagt Dir, dass ich auf die Gretl mit dem Auge eines Fremden schau'?« warf der Bettelmann so ernst und nachdrücklich ein, dass der Schmied unwillkürlich wieder stehen blieb, und einen raschen, verwunderten Blick nach dem seltsamen alten Manne warf, der, sonst so schweigsam und unzugänglich, sich heute in so auffallender Weise an ihn und in sein Vertrauen drängte; doch in demselben Momente fiel ihm ein, dass es der närrische Lorenz sei, wie man den Hüttenbettler allgemein hieß, der diese närrische Frage an ihn tat, und beachtete sie nicht; aber weil es ihm wie jedem leidbedrückten Menschen, wohl tat, seinen Kummer überhaupt auszusprechen, sagte er mit einem freundlichen Blicke auf den Bettelmann: »Ja, Lorenz, ich will es Dir sagen, wie mir der Verdacht kam, wie er wuchs in mir, bis – bis zur traurigen Gewissheit.« – –

»Mag sein, dass Du recht hast, was den Verwalter und den Wirt anbelangt, aber die Gretl nimm aus!« – fiel ihm der Alte mit strafender Miene in die Rede.

Franz lächelte wehmütig: das war es ja nur, was er wollte; es hatte gar viel gebraucht, um in seiner treuen, ehrlichen Seele den Gedanken an eine Falschheit seines Schatzes aufkommen zu lassen, er hatte ihn sorglich gehütet, verschlossen in der Tiefe seines Herzens und hätte ihn nimmer ausgesprochen, wenn ihn nicht heute dieser gewaltige Schlag getroffen hätte: fort zu müssen von ihr – auf lange vielleicht! Und dennoch wäre er, mit Freuden freilich nicht, aber leichten Herzens zur Kreisstadt hainabgezogen, um sein geliebtes rußiges Schmiedegewand mit dem »Zweierlei-Tuch« zu vertauschen, wenn er nur die Gewissheit mit auf den Weg hätte nehmen können, dass seine Liebste unbeteiligt sei an dem Streiche, den ihm, das ließ er sich einmal nicht nehmen, sein mächtiger Nebenbuhler gespielt.

»Ich werde Dir sagen, Lorenz«, begann er, »wie ich dahinter kam, dass der Wirt und der Verwalter Übles gegen mich und meine Lieb' im Sinne haben, merk' auf: es mögen ungefähr zwölf, vierzehn Wochen her sein – um die Weihnachten herum war's – da kam der neue Verwalter zum ersten Male hinauf ins Wirtshaus, spät in der Nacht, es stöberte gewaltig, und begehrte einen Führer mit einer Laterne hinab nach St. Gabriele. Da sah er die Gretl, und zwar gleich »weg«, wie man sagt; so erzählte mir's wenigstens der Martin, der Knecht im Wirtshause droben und auch, dass der gestrenge Herr Verwalter jetzt auf einem keine Eil' mehr hatte und sogar über Nacht oben blieb. Ich lachte dazu, als mir das Martin den andern Tag gleich brühwarm brachte mit dem Ausdrucke: »Du, gib' acht, Franzl, der hat ein Aug' auf Dein Dirndl.«

Mein Gott, dacht' ich mir, warum sollt' er sie scheel ansehen, die Gretl, die muss wohl jedem gefallen, sie ist ja danach! Nun, das war nichts, und ich machte mir auch später wenig daraus, wenn mich meine Kameraden damit scherten, dass mir der Verwalter ins Kraut gehe: war ich doch der Gretl gewiss! Da einmal kam der Wirt Sepp – es war zu Josefi, an seinem Namenstage und er ein Bissen angestochen – kam der zu mir und brachte mir's zu, und zeigte dabei nach dem Schänktisch, wo die Gretl stand und der Verwalter wie alleweil bei ihr: »Fürchtst Di nix, Franzl?« raunt er mir zu. »Na«, sag ich und trink'. »Na freilich, so lang D' da bist, hat's ka Not, aber – wann's D' so einrucken müessest!« meint er drauf und lacht so giftig dabei, dass es mich in allen zehn Fingern gejuckt hat – ich geb' ihm kein' Antwort drauf und bin bald drauf heimgegangen; aber von der Stund' an hatt' ich kein' Ruh' mehr, immer und immer wilder hört' ich ihn hämisch fragen: ‚wann's D' so einrucken müessest!' – und heut' hab' ich den Zettl kriegt.«

Die Stimme des armen Burschen zitterte, als er hiermit schloss und sie klang hohl und dumpf, als er die Frage des Bettlers, ob der Verwalter die Zeit her in Judenburg gewesen, also beantwortete: »Zweimal, vor vier Wochen einmal und vor vierzehn Tagen.«

»Dann ist schon was daran«, meinte der Alte nachdenklich; »aber wie bringst Du die Gretl dazu?«

Der Schmied sah sinnend vor sich nieder und antwortete lange nicht. »Wie? Ich weiß es selber nicht!« sagte er endlich, »ich kann nicht sagen, dass sie weniger freundlich und liebevoll gegen mich wäre als in früherer Zeit, aber – ich denke mir, dass es denn doch ein großes Glück für sie wäre, wenn sie der Verwalter zur Frau nehme, und dass sie darüber leicht den armen Schmiedgesellen vergessen dürfte, und so.« – –

»Pah, du Narr!« rief der Lorenz mit höhnischem Lachen, »es wird Dir doch nicht einfallen, anzunehmen, der gestrenge Herr Verwalter von St. Gabiele werde in Ehren um die Magd des Altenmarkter Schänkwirtes freien?«

»Ja, was denn sonst?« fragte der Schmied erstaunt und erhob die großen, blauen Augen ahnend zu dem braunen Gesichte des Hüttenbettlers, auf dem bei dieser Frage der Ausdruck bitteren Hohnes verschwand, um einem Zuge tiefer Rührung Raum zu geben: »Du gute Seele!« sprach er leise, »was weißt Du von der bösen, falschen Brut, die man – doch lassen wir das, wir sind zur Stelle. Sag' mir, warum Du mich so sonderbar anschaust und mir keine Antwort gabst, als ich Dir sagte, dass ich die Gretl nicht mit den Augen eines Fremden anschaue?«

Sie standen bereits an dem Zaune, der den Wirtshausgarten umfriedete, als der Bettelmann diese Frage tat, die den jungen Schmied in einige Verlegenheit zu setzen schien, denn er wandte und drehte sich hustend und räuspernd bald auf die eine, bald auf die andere Seite, gab aber keine Antwort.

»Gelt, Franz!« begann der Bettelmann nach einer Weile wieder – er sah ernst aus dabei, und seine Stimme klang tief und feierlich: weil die Leute mich den alten, närrischen Lorenz nennen, weil Du dachtest, dass es ein Verrückter sei, der Dir das sagte, darum tat'st Du also? Wohl, Du hast wie jedermann Dein gutes Recht dazu, so zu denken und zu tun, und es war mir seit den zwanzig Jahren, die ich wieder in diesem Tale lebe, bis zur Stunde wenig darum zu tun, die Leute einer anderen Ansicht von mir zu machen, ich ließ sie bei ihrem Glauben; sie hatten ja eines Teiles recht: war mir doch seit meiner Jugend alles verrückt geworden von Recht zu Unrecht, von Glück zu Elend – alle, – warum sollte ich nicht selber auch verrückt geworden sein am Ende? Vielleicht erzähle ich Dir einmal, wie – wie das alles so kam, doch ist das eine lange, trübselige Geschichte und jetzt nicht die Zeit dazu: höre jetzt, wann musst Du einrücken?«

»Morgen ist mein letzter Sonntag hier in Altenmarkt, am Montag muss ich in Judenburg sein!«

»Gut, so geh' jetzt zur Gretl und bring' ihr die traurige Neuigkeit. Aber das schlag' Dir aus dem Sinn, sie weiß nichts um die Geschichte, und vor dem Wirt darf Dir nicht bange sein, solange ich da bin und – –«

Der Schmied sah mit ungläubigem Lächeln auf zu dem verrückten Alten; dass ihm sein Schmerz so nahe ging, freute ihn doch, obwohl er sich gar wenig zu hoffen getraute von seiner Hilfe.

»Was siehst Du mich so zweifelnd an?« fragte der Bettler stolz. »Gut denn! Du sollst noch heute erfahren, dass ich der Mann dafür bin, Deinen Schatz vor den Nachstellungen des Verwalters wie vor der Habgier des feilen Wirtes zu bewahren. Du hast morgen noch den ganzen Tag zu einem Werke, das am besten in einer Sekunde abgetan wird – zum Abschied nehmen: komm also heut' Nacht um die zehnte Stunde hinab zu der Stelle unterhalb des Steges, wo die Enns so tief in die felsige Schlucht hineinstürzt, als wolle sie es versuchen, dort den Markttag zu erklimmen; bei der großen Mehlbeerenstaude werd' ich Dich erwarten. Wird es Dir nicht zu bald sein, gut' Nacht zu sagen oben um zehn Uhr? Wirst du kommen?«

»Gewiss!« sprach Franz rasch, von einem ahnungsvollen Gefühle bestimmt, das mehr als Neugier war.

»Gut! Wirst's nicht bereuen! Also um zehn Uhr unter der Stauden!« Damit schritten sie rasch dem Wirtshause zu, der Bettelmann, um sein eisernes Almosen in heller klingendes Metall umzutauschen – und Franz zu seinem Schatz.

 

2. Unter der Stauden.

Die Gretl hätte blind sein müssen, wenn sie nicht auf der Stelle gewusst hätte, als Franz eintrat, dass ihm was Übles passiert sei, und selbst wenn sie blind gewesen wäre, sie hätte es gewusst, gehört an den leisen, scheuen Tritten, mit denen er langsam herankam, wie das Unglück auf Socken schleicht über die Schwellen der Menschenhütten.

Sie wusch eben das Geschirr. Mit einem leisen Schrei ließ sie den Zinnkrautkranz fallen, mit dem sie die Gläserdeckel rieb, als sie ihren Liebsten langsam und bleich auf sich zutreten sah und flog ihm entgegen.

Der Jammer macht nicht viel Worte. »Einrücken!« hauchte der Schmied, und – wie wusste alles. –

Ein Glück, dass noch keine Gäste da waren.

Als die ersten lauten Ausbrüche der Klage und des Schmerzes vorüber waren, saßen sie mit ineinander geschlungenen Armen hinter dem Schanktische und weinten – beide bitterlich. »Mein Gott! mein Gott!« wehklagte sie und »Ja, ja!« sagte er und nickte mit dem Kopfe gar traurig dazu. »Aber kein Krieg ist wenigstens nicht!« meinte die Gretl, denn das war der einzige Trost, den das arme Mädchen wusste; Franz sah sie wehmütig lächelnd an dabei, es kam ihm vor, als ob es für ihn im tiefsten Frieden der Todesarten mehr zu sterben gebe als im Kriege: an fruchtloser Sehnsucht, an nagendem Zweifel, am Heimweh, an gebrochenem Herzen.

Endlich kamen Leute und auch der alte Lorenz; er tat aber, als ob er sie nicht bemerkte, und setzte sich an seinen gewöhnlichen Platz hinter dem Ofen.

Der Verwalter kam diesen Abend nicht, und auch der Wirt ließ sich wenig sehen, und wenn je, so wich er Franz so auffällig aus, dass bei ihm aller Zweifel an dem Bestehen eines Komplottes zwischen ihm und dem Verwalter vollends schwand. »Er weiß es – er hat es lange gewusst!« knirschte er in stiller Wut vor sich hin.

Vor zehn Uhr, ehe er ging, sah er nach der Ofenecke, in der Lorenz gewöhnlich saß, der Platz war leer. »Gretl, ich geh'! Gut' Nacht – zum vorletzten Male!« sagte er, seiner Liebsten die Hand bietend.

»Schon? Warum denn so bald, Franz?« fragte das Mädchen mit den weichsten Tönen ihrer süßen Stimme.

»Ich hab' jemandem versprochen, um 10 Uhr unterhalb des Steges zu sein, dem alten Lorenz.«

»Dem? Und was hast Du denn mit ihm?«

»Was ich mit ihm hab'? Weiß ich selber nicht, aber Dich geht's an – Deinetwegen geh' ich hinab an die Enns«, er sah ihr dabei lange und innig in das wunderliebste Gesicht und, indem er es an dem rosigen Kinne in die Höhe hob, setzte er lächeln hinzu: »er hat mir versprochen, acht zu geben auf Dich, wenn ich weg bin!«

»Ach geh, Du Garstiger! Du weißt doch, dass das nicht Not tut bei mir!« schmollte Gretl.

»Hm, doch! Wer weiß? Besser vorbedacht als nachgeklagt! Der Verwalter – –«

»Ach ja! mit dem hab' ich mein Kreuz; aber vor dem – –«

Franz horchte gegen die Stube hin, es schlug zehn Uhr. »Ich muss geh'n«, rief er, das Mädchen sanft an sein Herz drückend, »es ist ein gut Stück Weg zu der großen Stauden unter dem Stege, und warten soll der Alte nicht, ich hab' es ihm versprochen: gut' Nacht!«

»Wart' Franz! Nur einen Augenblick!« rief die Gretl ihm nacheilend, »zu der Stauden hat er Dich bestellt, sagst Du! das ist sonderbar.«

»Sonderbar? Und warum das? Er wollte halt nicht, dass alle Hüttenleut' an uns vorüber kommen, wenn wir bei oder auf dem Stege stehen!« meinte der Schmied.

»O nein, nein!« rief das Mädchen, »das hat seinen Grund, gewiss, dass er Dich gerade dorthin bestellte; weißt Du denn nicht, dass sie mich Gretl unter der Stauden heißen?«

»Nun ja, weil Du wie das schöne, frische Blümerl bist, das sich unter dem Staudenlaub versteckt!«

»Ach geh! Das sagst Du nur so – Du wirst ja doch wissen, dass ich unter der, – g'rad unter der Stauden gefunden worden bin, wohin dich der Lorenz bestellt hat; damals war sie freilich noch kleiner, vielleicht so klein, wie ich selber.«

»Gefunden? Unter der Stauden?« fragte der Schmied erstaunt zurücktretend, »ja, wie denn das?«

»Nun, ich – ich bin ja ein Findelkind!« erklärte die Gretl nach einigem Zögern, »ich meint', es wüsst' es das ganze Tal. Ja Franz! Ich bin eine arme, verwaiste Dirn', der Vetter, der Wirt ist gar nicht mein Vetter, und ich heiß ihn nur so, weil er mir's so geschafft hat, ich weiß nichts, wer mein Vater und Mutter gewesen – aber der Lorenz soll's wissen, das hat mir der alte Martin gesagt, und so viel hab' ich auch aus dem Vetter sein' Reden entnommen, aber ich habe noch nie so viel Courage gehabt, den alten Mann, der mich immer bockstarr anschaut, danach zu fragen; ich fürcht' mich vor dem närrischen Lorenz – ich weiß nicht warum.«

»Jetzt kann ich mir denken, was er mir sagen will«, sprach Franz nachdenklich, zum dritten Male Abschied nehmend, »jetzt lass' mich aber gehen, und schlaf' gesund, ich darf den Alten nicht länger warten lassen.«

»Aber gelt, Franz! Du hast mich doch gern, wenn ich auch ein Findelkind bin«, flüsterte das Mädchen, noch die Hand des Scheidenden zurückhaltend.

»I du Närrchen!« sagte er mit gerührtem Lachen, »möge die Stauden immer blüh'n, wie ich sie immer lieben will, die ihre grünen, schattigen Arme segnend über das hilflose Kind gebreitet! Mach' Dir nichts d'raus, Gretl! Du bist schön und gut geworden, als ob Du in einer goldenen Wiege gelegen wärst. Gut' Nacht!«

Ein fester Kuss klang hell durch die Nacht und die Verliebten stoben auseinander. – – –

Der Alte saß, aus einer kurzen Pfeife rauchend, unter der Staude.

»Seid nicht harb, Lorenz!« rief ihm der in hastigen Sprüngen fast atemlos herankommende Schmied schon von Weitem entgegen, »ich konnt' nicht ab früher.«

»Das glaub' ich Dir ohne Schwur!« meinte der Bettelmann mit einem leichten Lächeln, »weiß ja selber aus alter Zeit her, wie das geht, wenn man soll und nicht mag, und nun gar auseinander zum vorletzten Male! – Nun, wie nahm die Gretl die Trauerbotschaft auf?«

»Wie? Mein Gott! was will sie tun? G'flennt hat sie halt und das rechtschaffen und – ich mit ihr.«

Der Bettler verzog keine Miene seines starren Gesichts bei dieser naiven Antwort des Burschen und sah schweigend vor sich nieder, was dieser für eine Aufforderung nahm, das Gespräch fortzuführen: »Sie hat mir auch gesagt, und das hat mich nicht wenig überrascht, dass sie ein Findling sei, und dass sie glaubt, Du wissest um das Geheimnis ihrer Geburt, Lorenz!«

»So, glaubt sie das?« sagte der Alte langsam, »sie zeigte sich seltsamer Weise nie neugierig, dies Geheimnis zu erfahren.«

»Sie sagt – sie meint – sie fürchte sich ein wenig vor Dir!« versetzte Franz stotternd, offenbar Willens, die Saumsal seines Schatzes zu entschuldigen.

»Nun, es wäre ihr auch wenig gedient gewesen, ihr junges Herz damit zu beschweren«, sprach Lorenz weiter, ohne auf des Schmiedes Einrede zu achten, »dies Geheimnis ist nicht von der Art, ihr Freude zu machen oder mit seiner Enthüllung ihr Leben umzugestalten: es ist nichts dahinter als Elend und Jammer. Und was nützt es sie rundherum, wenn sie erfährt, dass sie nicht allein stehe auf der weiten Welt, dass es einen Menschen gebe, den Bluts- und Leidensbande fest an sie knüpfen, wenn dieser eben ein armer, verachteter Mensch, ein Bettelmann, ist. Für Dich aber ist es insofern von Wichtigkeit, als Du erfährst, dass Du Deinen Schatz nicht allein und ohne Obhut hier lässt, hier, wo die Habgier nur des günstigen Augenblickes harrt, ihn zu verschachern, und die sündliche Lust, ihn zu verführen, – – darum hab' ich Dich herbestellt, Du sollst erfahren, was es ist.«

Der Bettler zog den Schmied neben sich nieder auf den üppigen Rasen und begann: »Ich bin kein Hüttenarbeiter, wie Du wohl glauben magst, sondern ein Bergmann, und war von Jugend auf rundum überall in den Bauen Obersteiers herumgekommen, bis ich mich hier im Ennstale häuslich niederließ, das heißt, heiratete. Ich war ein glücklicher Mann viele Jahre lang, bis mich Gott heimsuchte, – mein liebes Weib starb. Da war es aus – alles und für immer. Es litt mich nicht mehr in der Gegend – ich zog fort in die Fremde. Ich hatte nur ein Kind, es war schon ein großes, starkes Mädel – wie die – –, das nahm ich mit. Eine neue Heimat war bald gefunden, und es ging so ziemlich, eine gute Weile. Da hatt' ich einmal einen bösen Streit in der Grube: einer der Hauer sprach schlecht von der Lene – so hieß mein Mädel – dass sie nämlich hoch hinaus wolle, indem sie nach dem jungen Herrn angle, der vor Kurzem von Schemnitz in die Prar bei uns gekommen, dass sie des Nachts heimlich mit ihm zusammen komme, dass sie – weiß was ich, was er alles vorbrachte, – ich hatte gerade eine Brechstange in der Hand – die warf ich nach ihm – und schlug ihn tot.«

»Entsetzlich!« rief der Schmied schaudernd.

»Ja, ja – schlug ihn tot!« fuhr Lorenz, mit irren Blicken vor sich nieder starrend, fort, »und da tat ich übel daran, denn, was der Mann sagte, war alles wahr!«

Er schüttelte sich, leise ächzend; nach einer kurzen Pause erzählte er wieder: »Sie führten mich in die Stadt und sperrten mich in die Fronfeste – und als sie mich verhört hatten, sagten sie mir, dass ich närrisch sei, wahnsinnig nannten sie's. Das glaubt' ich ihnen gern. Sie ließen mich frei, die guten Herren, und her nach Altenmarkt führen, und der Markt gab mir einen Platz im Spitl.«

Der alte Mann sagte oder sang vielmehr das alles so gleichgültig und monoton vor sich hin, als habe er es zu tausend Malen schon erzählt und sich geläufig gemacht, und dennoch war es heut' zum ersten Male, dass er seinen Jammer in ein offenes Menschenherz ausschüttete: aber – den still rauschenden Bäumen im Walde, der brausenden Enns und den hallenden Felsen an ihren Ufern hatte er es oft erzählt, ach, wie oft in den langen Jahren, die zwischen dem Damals und dem Heute an und über ihm hinweg gezogen!

Der Schmied saß regungslos an seiner Seite; es graute ihm – nicht vor dem unglücklichen Manne und vor dem, was er erzählt, aber vor dem, was er noch zu erzählen habe.

»Eines Tages – nein, es war bei Nacht, tief in der Nacht«, begann Lorenz von Neuem, leise, fast flüsternd und sich schüttelnd, als ob ihn friere – »klopfte es an mein Fenster im Spitl, und eine Stimme, die ich zu kennen glaubte, rief mich heraus. Ich öffnete das Fenster, es stand ein altes Weib draußen, – Du wirst sie schwerlich gekannt haben, die Heger Rosel – die sagte mir, dass ein Weib mit mir zu reden verlange, nur eine Stunde, nur eine Viertelstunde, – nur ein Wort – sie harre meiner unten an der Enns – meine Tochter. – Hm, meine Tochter? Ich wusste nichts von einer Tochter! Ich sagte der alten Rosel, dass sie sich schämen solle, bei Nacht mit einem armen Narren zu tun, wie die Kinder bei Tage, die mir Steine und Klötze nachwarfen unter dem wilden Halloh: Da narrisch' Lorenz und – schlug das Fenster zu.«

Der Schmied wich unwillkürlich auf dem Rasen weiter zurück und schlug die Hände krampfhaft über seinem beklommenen Herzen zusammen; der Alte bemerkte es wohl und nickte traurig mit dem Kopfe dazu: »Ja, ja! das war wieder nicht Recht getan, aber – rede mit einem Narren: halte mich nicht für schlechter, – als ich bin Franz! Bei meiner Seele, ich wusste damals nichts von einer Tochter! Wo war sie denn? Warum war sie nicht bei mir, wenn ich ihr Vater war? Pah, ich hatt' ja keine! – So dacht' ich damals wirklich steif und fest, Du darfst mir's glauben; wirst bald hören, wie ich's endlich erfuhr. – Kaum eine Stunde darauf kam sie wieder, die alte Rosel, und klopfte wieder an mein Fenster und bat mich wieder aufs Flehentlichste und um der fünf Wunden Christi Willen, hinab zu kommen an die Enns, nur auf eine Minute; nur auf so lange, als ich brauche, die Hände über ein tief gebeugtes, leidgedrücktes, müdes Haupt zu breiten und zu sagen: Gott segne Dich, mein Kind! Ich habe Dir verziehen! Und sie setzte hinzu, wenn ich es nicht tue, nicht gehe, so komme das Blut meiner Tochter über mein Haupt, denn sie sage, sie wolle in die Enns – es zöge sie in den Tod. Ich dachte nach und sinnierte hin und her, aber ich erinnerte mich nicht, eine Tochter zu haben, immer fragte ich mich: ja, wo ist sie denn? Und wo gewesen? – Dass sie erst gekommen, die Gefallene, überall Ausgestoßene, weit her über die Alpen herauf mit wunden Sohlen und wundem Herzen, dass sie sich todmüde bis zu mir geschleppt, um mir ihre Schuld abzubitten, und da zu sterben, – das fiel mir nicht ein; ich hielt mit der Zähigkeit des Wahnsinns an dem Gedanken fest und schlief damit ein: ich habe keine Tochter! Und – ich hatte eine Stunde darauf – keine mehr!«

Seine Stimme erstarb, und seine Worte tönten dumpf wie auf dem Sargdeckel die fallenden Schollen.

»Ihr ginget abermal nicht, Mann!« schrie Franz, die kalten Hände an seine Schläfe pressend.

»Nein!« stöhnte Lorenz schwer atmend, »ich rief hinaus, mich nicht zu narren und riegelte das Fenster zu. – – Wie ich Tags darauf erfuhr, war sie noch einmal gekommen, die Rosel, aber da war ich bereits fest eingeschlafen. Dafür – schlief ich lange, lange Zeit keine Nacht mehr. Die Wärterinnen sagten, ich hätte das Fieber, aber es war nicht wahr: Nachts, wenn sie eingenickt waren auf ihren Schemeln, da kroch ich leise aus meinem Bette und kauerte mich an dem Fenster nieder und harrte, bis die Rosel klopfe, denn wisse Franz! Ich hatt' mich indes doch besonnen auf mein verlassenes Kind, – ich erinnerte mich nach und nach eines Tages, einer Stunde, – damals als die Fronboten eintraten in meine Stube, mit Ketten und Waffen, um einen Totschläger zu fangen, – damals, erinnerte ich mich jetzt genau, lag ein Weib zu meinen Füßen in Jammer und Tränen, ein gefallenes Weib – meine Lene! Und damals musst' ich die verfluchten Worte ausgesprochen haben, die sich so glühend in mein krankes Gehirn gebrannt, dass ich sie nimmer vergessen konnte: ich habe keine Tochter mehr! – Aber die Rosel kam nicht wieder und ich konnte nicht an die Enns – sie hielten mich eingesperrt als einen gefährlichen Narren. Recht! – Aber hätten sie lieber damals die Lippen versperrt gehalten, die immer nur das eine wahnsinnige Wort sprachen: ich habe keine Tochter! – – Die Zeit verging – ich wurde wieder ruhig und still und zahm wie ein kleines Kind. Da klopft' es einstmals des Nachts wieder an mein Fenster. Ich zuckte zusammen, wie vom Blitze getroffen und, d' Rosel! Entrang sich unwillkürlich meinen Lippen – aber im nächsten Augenblicke belächelte ich meinen Wahnsinn: jetzt! Nach so viel Jahren! – ich öffnete: draußen stand der Sakristan und bat mich, zu einer Sterbenden zu kommen – zur Heger-Rosel. – So rief sie mich doch noch einmal! – Ich sprang in die Kleider und folgte dem Manne. Der Pfarrer war bei ihr. Sie war schlecht und am Sterben, das sah ich, aber sie schaute mich so licht an und redete so klar, als ob ihr Leben im Frühjahre stände. »Seid Ihr noch närrisch, Lorenz?« fragte sie mich zuerst. Ich wusste, was sie meinte und sagte: »Nein Rosel, denn ich bin gekommen! Wo ist meine Lene!« – Sie antwortete nicht: ins Wasser gesprungen vor einem unerbittlichen Vater! Sie deutete sanft nach oben, denn sie wollte in Frieden sterben und keinen Stein mehr nach einem sündigen Menschen werfen. – Sie erzählte mir alles: wie sie die arme Lene damals getroffen vor zehn Jahren, zwiefach hilflos und verlassen, denn sie hatte ein Kind – – und wie meine Tochter sie immer und immer wieder zu mir schickte, nicht um Ihret-, nur um des armen Kindes Willen, das sie in Jammer und Schmerzen geboren, das sie meinem Schutze empfehle, damit es vor dem Schicksale bewahrt bleibe. – Doch lass uns abbrechen; ich kann nicht, die Rosel flog wieder hinab, die brave, an die Enns – das Kind lag wimmernd unter der Staude hier, wo wir sitzen, und die Lene – war in die Enns gesprungen!

Er schlug die mageren Hände vor das gefurchte Gesicht und schwieg – der Schmied aber weinte wie ein Kind. – –

»Das Kind« – begann er nach einer Pause wieder – »das Kind war nicht da – ja so. Das hab' ich vergessen, die Rosel nahm damals das Kind zu sich und zog es auf, bis sie sich niederlegte, um zu sterben. Da übergab die treue Alte durch Vermittlung des Pfarrers die Gretl, die gerade neun Jahre alt und ein starkes, anstelliges Dirndel war, dem Wirt – Sepp, also das Kind war nicht da, dafür aber der Wirt, um den der Pfarrer geschickt hatte, um ihn mit den Verhältnissen bekannt zu machen; denn seltsamer Weise hatte die Rosel bis zum Versehen niemandem verraten, wessen Kind und Kindeskind die Gretl sei; die Leute begnügten sich damit, sie die »Gretl unter der Stauden« zu heißen, welchen Namen ihr die Schulkinder aufgebracht hatten. Nun – mir konnte es in meiner Lage nicht einfallen, etwas an der Sache zu ändern, der Pfarrer riet auch, sie zu lassen, wie sie ist – es weiß bis heut' außer dem Pfarrer und dem Wirt niemand, dass ich der Großvater der Gretl bin, sie selber nicht. – Aber von der Stunde war mein Wahnsinn wie verflogen, nur – wenn ich an die Stauden kam – auf diesen Fleck – da hörte ich, wo andere Leute meinten, es brause die Enns und es rauschen die Erlen an dem Ufer, hörte ich die Lene mir zurufen: ihr armes Kind zu beschützen und vor ihrem Schicksale zu bewahren. Um dies besser zu können, meldete ich mich beim Marktrichter als hergestellt von meinem Wahnwitz. Sie wollten's nicht recht glauben; aber als ich bei der Rosel ihrem Begräbnis mitbetete und mitsang, ihre Truhe mittragen half und drei Handvoll Erde darauf warf wie jeder andere vernünftige Christenmensch, da nahm man es endlich als ausgemacht an, und ich fand keinen Widerstand, als ich mich Tags darauf aus dem Spital meldete, weil ich mir mein Brot selber verdienen könnte. So wurde ich ein Hüttenbettelmann und des Wirt-Sepps Haus mein Absteigquartier. Und seitdem hüte ich die Gretl getreulich, wie mir's die Lene geschafft vor ihrem Tode.«

Damit schloss der Alte seine traurige Erzählung.

Der Schmied, dem es, während der Bettelmann dieses Nachtbild vor ihm aufrollte, schwer wie ein Ambos auf der Brust gelastet hatte, atmete frei auf, als der Lorenz endlich schwieg.

Doch graute es ihm, hier, an diesem verhängnisvollen Orte etwas von sich und seiner Liebe, von etwas dem Leben und dem Glücke Zugehörigen zu reden; es war ihm, als säße er auf einem verfallenen Grabeshügel.

Er stand auf. »Ja, geh'n wir, es ist nah' an Mitternacht!« sagte der Alte, sich ebenfalls erhebend, und sie schritten schweigend hinter einander auf dem engen Pfade bis an den Steg.

Hier erst fasste sich der Bursch ein Herz und sprach: »Soll ich der Gretl was mitteilen von – –«

»Tu, wie du willst!« meinte Lorenz, »jedenfalls wird sie es von niemandem lieber hören als von Dir.«

»Und insofern kann ich ruhig fortgehen übermorgen, als ich weiß, dass Du die arme Dirn' beschützen wirst nach Kräften vor Überredung, Zudringlichkeit und jedweder Ungebühr.«

»Gewiss Franz! Das heißt, was den schäbigen Wirt und den schleichenden Fuchs, den Verwalter, betrifft; sollte aber die Gretl selber – –«

»O, auf die schwör' ich!« rief Franz eifrig.

»Schwöre nicht!« warnte der Alte ernst, ich hätte auf die Lene auch geschworen und doch –, also für diesen Fall, Franz, langt meine Kraft nicht aus, das weiß ich, denn das Mädl hat eine eigene Scheu vor mir, einen förmlichen Hass, als wisse sie, dass ich – ihre Mutter in die Enns gejagt! Für diesen Fall verspreche ich Dir, um dich zu kommen, und wäre es um Mitternacht!« »Und dann geh' ich mit Euch, und wäre es um Mitternacht!« antwortete der Schmied mit funkelnden Augen.

Sie reichten sich die Hände darauf und gingen auseinander.

 

3. So wahr die Enns unter diesem Stege rinnt.

Der Verlauf der kurzen Spanne Zeit, die man Tag nennt, vor dem Wiedersehen und dem Scheiden steht in gar grellem Kontraste mit den Wünschen der Menschenherzen. Während den Scheidenden Stunde um Stunde rasch verfliegt, als ob die sehnsüchtige Erwartung sie beschwingte, schleicht die Zeit an den Erwartenden vorüber, als ob Liebe und sinnige Trauer ihr Rad gehemmt hielten.

Das ungefähr mochte der alte Martin denken und drückte es nach seiner Weise auch aus, als er am andern Tage um elf Uhr Nachts ungefähr die derbe Hand auf die Achsel des Schmiedes legte und sagte: »Gelt Franzl, der Tog is da g'schwinta valoffen, als sunst fünf Minuten, döst af d' Gretl hast warten müassen hintern Zaun draust?«

Er wollte hiermit dem jungen Schmied offenbar seine freundliche Teilnahme kundgeben, dass er es auf die dem schlichten Landvolke eigene zu täppische Weise tat, konnte ihm niemand übel nehmen, er wusste es eben nicht anders. Franz lächelte ihm auch freundlich zu und sagte traurig: »Ja, ja Martin! Der Tag ist hin, und 's Glück und d' Freud am Leben und alles – jetzt heißt's geh'n!« und mit unsicherer Hand langte er nach seinem Hute, der an dem Schlüsselsims über dem Schanktische hing.

»So gehst du wirklich schon, Franz?« flüsterte die Gretl erbleichend.

»'S ist nicht anders – ich muss!« antwortete der arme Bub mit dumpfem Tone und drehte den Hut verlegen zwischen den Fingern seiner bebenden Hände, ungewiss, wie er es anfangen solle, das Wort anzubringen, das die Liebe wie an Ketten hinter seinen Lippen zurückhielt, das bittere Wort: »Leb' wohl.«

»Geh' voraus, ich begleite Dich!« flüsterte das Mädchen und dem alten Knechte einen ihrer unwiderstehlich flehenden Blicke zuwerfend, fragte sie: »Gelt, Martin! Du gibst mir derweil Obacht hier da Weilerl?«

»Dos vasteht si', geht's nur«, meinte der Alte und pflanzte sich hinter den Schanktisch, rief dem Schmied noch ein herzliches »Bfüad Gott« zu – sie machen nicht gerne viel Worte, derlei Leute – und war bald allein in dem Schankzimmer, das von der einzigen Kerze an dem Schanktische kümmerlich genug, aber dennoch nicht so schlecht beleuchtet wurde, dass er nicht eine dunkle Gestalt wahrgenommen hätte, die bald nach dem Verschwinden der beiden Liebenden hinter dem Kachelofen hervorkam, und sich langsam seinem Sitze näherte – der alte Lorenz.

Die beiden Alten sahen einander lange scharf und aufmerksam an, ohne zu sprechen, nur das Baffen des zahnlosen Mundes Martins, in dem ein qualmender Nasenwärmer stak, das tiefe, laute Atmen des Hüttenbettlers und das leise Ticken der hölzernen Wanduhr zeugten von Leben in der Stube.

»Er geht fort, der Franzl«, begann Lorenz endlich, leise und heimlich, »Du, der Wirt meint's nicht gut mit ihm und der Gretl!«

»Na!« war die kurze, kräftige Antwort des Knechtes.

»Wir müssen acht geben, Martin! – wir!« sprach Lorenz eindringlich und fast gebieterisch.

»Jo!« sagte der Knecht, und die Allianz war geschlossen.

Er stopfte sich eine frische Pfeife, und Lorenz kroch wieder hinter den Ofen. –

Bald darauf kam der Wirt aus der Kammer heraus, die hier den Beruf eines Extrazimmers zu erfüllen hatte, mit ihm der Verwalter.

»Wo ist die Gretl?« fragte der Wirt Sepp.

»'n Franz is begleiten gonga!«

»Und Lorenz?«

»Schloft!« antwortete der Knecht in seiner beliebten Kürze, dabei wies er nach dem Ofen hin, aus dessen Hintergrunde sich der laute, leicht schnarchende Atemzug eines fest Schlafenden vernehmen ließ.

»Bring' Bier!« herrschte der Wirt dem Knechte zu.

Martin ging, und bald saßen die andern beiden Alliierten im zuerst leise geflüsterten, dann immer lauteren Gespräche bei den schäumenden Gläsern. –

Aber es schläft nicht jeder, der die Augen zu hat! –

»Kommt lange nicht, die Gretl!« meinte der Verwalter endlich etwas spitz.

»I, vergönnt ihr die Freud' das letzte Mal!« beschwichtigte ihn der Wirt, und lachte dazu so sonderbar. –

*

Sie stand indes an der Seite ihres Liebsten auf dem Stege – Beide traurig und schweigend.

Wenn das Herz spricht mit lauten, heißen, schnellen Schlägen, stockt der Quell der Rede immer.

»Es nützt nichts, Gretl!« sagte Franz endlich, »Du musst heim und ich fort!« – und dennoch lösten sich seine Arme nicht, die sein Liebstes auf der Welt fest umrankt hielten, die zogen sich wie krampfhaft enger zusammen und sie fester an sein banges Herz.

»O Franz! Das ist hart!« schluchzte das Mädchen.

Sie versuchten's aber und abermals zu scheiden und kamen nicht auseinander – endlich riss sich der Mann mit einem tiefen Seufzer los von der weichen, warmen Brust, in der er ja dennoch blieb, wenn er auch noch so weit von dannen ging – trat einen Schritt zurück, um die geliebte Gestalt noch einmal aufzusaugen mit einem glühenden Blicke, sprang ihr noch einmal an den Hals, küsste seine Seele auf ihre Lippen und flüsterte das letzte Lebewohl.

Sie breitete ihm laut weinend die Arme nach. Es bannte ihn am Ende des Steges, und er wandte sich noch einmal um: »Vergiss mich nicht, Gretl! Und bleib mir treu!«

»Bis an den Tod, Franz! So wahr die Enns unter diesem Stege rinnt!«

Sie hatte geschworen! –

Sie hörten's beide nicht, die mit kummervollem Weinen auseinander gingen, wie die Enns dabei hoch aufrauschte in ihrem steinigen Bette, und ihre springenden Wellen flüsterten: wir haben's gehört! – wie die Bäume am Ufer ihre reichen Kronen schüttelten, um zu zeigen, sie schliefen nicht, und rauschten: wir haben's gehört! – wie es von den Felsen rundum hallend wiedertönte: wir haben's gehört! Sie hörten's nicht! –

 

4. Ein Brief und ein Zettel

Ein volles Jahr beinahe war vergangen und der Frühling wieder ins Land gekommen. – Ein Jahr ist lang!

Franz lag noch immer in Judenburg in Garnison, und im Altenmarkter Wirtshause, wo die Gretl diente, sowohl als im Hammerwerke St. Gabriele hatte sich dem Anscheine nach wenig geändert.

Und doch! – die Gretl war freilich noch die hübsche, dralle Dirn' wie vordem, nur dass sie um ein Jahr älter geworden war, der Wirt Sepp schacherte noch immer mit den zusammen gebettelten »Förderungs-Eisenstückeln«, der alte Martin war der alte Martin und der alte Lorenz auch der Alte geblieben; aber die Gretl war träumerisch und traurig geworden, das flog nicht mehr singend durchs Haus wie ein lustiger Fink, das strich still und traurig hindurch wie ein scheuer Nachtvogel; der Wirt trieb nebst dem Eisenschacher noch einen andern und schien sich gut zu stehen dabei; der alte Martin redete noch weniger und wickelte noch mehr Garn um seine Pfeifenspitze als sonst, und der alte Lorenz ging mehr als je an der Enns herum, besonders um die Mehlbeerenstaude. Die Leute sagten, er fange schon wieder zu narrieren an, denn er rede mit dem Flusse wie mit einem lebendigen Menschen.

Der Verwalter in St. Gabriele war noch ledig.

Der Franz hatte der Gretl einen Haufen Briefe geschrieben, einen lamentabler als den andern; in allen sagte er, natürlich auf seine schlichte Art, dass ihn die Sehnsucht verzehre, und dass er's nicht aushalte, wenn er nicht Urlaub bekomme.

Ja, so ein Jahr, das ändert viel!

Was bleibt denn sicher, wie es ist? Der Himmel mit seinen Lichtern höchstens und die Berge! Für Wälder, Ströme, Städte, Menschen kann man keinen Tag gutstehen: die können umgehauen werden, die austreten und sich ein anderes Bett wühlen, jene können durch Brand oder Erdbeben zu Grunde gehen, diese sterben – alle Stund! –

Die beiden Alten, der Lorenz und der Knecht hatten die Zeit her eine Masse Konferenzen miteinander gehalten; was kam heraus dabei? Dass der Wirt ein ausgemachter Halunke, die Gretl ein schwaches Weib war, – sie war g'rad nicht schlecht geworden, aber Präsente hatte sie die Menge angenommen von dem Verwalter – und schließlich, dass der Franz ein armer, bedauernswürdiger Kerl sei, dem nicht jemand helfen werde, – wenn er nicht selber.

»Oder ich!« sagte dann der Lorenz immer mit geheimnisvoller Miene. Aber die nützte ihm nichts: der Martin hätte ihn sein Lebtag nicht gefragt, wie er das anstellen wolle. So musste er' schon selber sagen, und das tat er auch, es drückte ihn zu sehr.

Einmal, als sie wieder beisammen saßen und miteinander die Sachen beredeten, das heißt: der Lorenz sprach allein, der Martin, der sonst doch Ja oder Nein gesagt hatte, hatt' sich in der letzten Zeit sogar das abgewöhnt und tat, wenn er antworten sollte, immer nur einen Huster; es war aber leicht auszulegen, ob der Ja oder Nein bedeuten sollte. – Also einmal saßen sie wieder beisammen. Es war eben wieder ein Brief voll Ach und Weh gekommen vom Franz, da hob der Lorenz an: »Und weißt Du, wie ihm zu helfen wäre, dem armen Burschen?«

Martin hustete nicht, was bewies, dass er weder Ja noch Nein sagen wolle oder könne, er sah bloß scharf auf.

»Es wäre das freilich nur für den Fall, als alle Stricke rissen«, fuhr Lorenz, seine Stimme zum Geflüster mäßigend, fort, »es ist, wenn man's nimmt, Unrecht und besteht eine entsetzliche Strafe darauf – aber hilf was hilft – weiß Du, was ich meine?«

Martin hustete rasch Ja; nach einer Weile nahm er die Pfeife aus dem Munde und sagte leise: »Desentier'n!«

Lorenz nickte hastig mit dem Kopfe, und aus seinen kleinen, grauen Augen blitzte ein unheimliches Feuer, als er sprach: »Ja! so zahlt er die zwei Spitzbuben am besten aus: Desertieren und die Gretl mitnehmen!«

Martin sah ihn fragend an.

»Hinauf in den Wald: d'roben hantiert gar mancher, der eigentlich anderswo hingehört, wer sucht ihn da? – Ich weiß alle Schliche auf dem Seekogel.«

Martin sagte nichts darauf, er zuckte bloß die Achseln, was ebenso gut den Zweifel ausdrücken konnte, ob wohl der Schmied keck und – schlecht genug zu so einem Stückel sei, als den, ob die Gretl sich geneigt zeigen dürfte, lieber das Weib eines geächteten Holzbauers als die Frau des Herrn Verwalters zu werden; er hielt nämlich für ausgemacht, dass der verliebte alte Herr die Gretl vom Fleck weg heiraten täte, wenn sie ihn möchte.

So endete diese Unterredung, aber sie hatte ihre Folgen.

Sooft fortan ein Brief von Franz kam – die waren natürlich alle Gemeingut des ganzen Hauses – zerrte Lorenz den Knecht regelmäßig in eine Ecke und raunte ihm zu: »Wirst sehen, es hilft nichts anderes!« –

Eines Tages kam er in die Schankstube und fand seine Enkelin abgeweint und traurig hinter dem Spinnrade sitzen: »Was ist ihr denn?« fragte er stutzig.

»E nix! Der Franzl hat wieder g'schrieben!« sagte der Wirt verdrießlich.

»Wo ist der Brief?«

»Die Mariandel studiert'n d'raust in Stall!«

Der Alte suchte die Magd auf und studierte mit.

Der Brief hob mit der schlichten Form an:

»Herzliebste Gretl,

Ich grüße und küsse Dich viel tausend Mal und hoffe, dass Dich diese paar Zeilen bei guter Gesundheit antreffen. Was mich anbelangt, bin ich Gott sei Dank gesund, aber – –« Jetzt kam's, der Brief schloss, wie ihn kein rechter Soldat zu schließen pflegt, es hieß da: »Und sooft ich an die Mur komme, denk' ich, ich könne nicht vorbei an ihren grünen Tiefen, ich müsse hinein, und sooft ich auf den Posten ziehe mit geladenem Gewehr, zuckt mir es immer mit der Hand auf dem Drücker, – – ich weiß, dass dies alles so schandhaft für den Mann als sündhaft für den Christen ist; aber mir ist, als könne es nicht anders kommen mit mir vor Lieb' und Leid – –, das heißt, wenn es schon mit Sünden sein muss, weiß ich noch einen andern Weg, aber der ist voll harter Gefährlichkeit; – doch er führt zu Dir, – ob Du ihn aber mit wandern wirst?« Mit dieser Frage schloss der Brief.

Das las Lorenz. Seine Augen leuchteten in wildem Feuer und das Herz sprang hoch in seiner Brust: »Er geht! Ich komme um ihn, sonst wird's nicht gut! Ich hab's versprochen!« flüsterte er vor sich hin, »er geht« raunte er dem alten Martin im Vorbeigehen zu, »er geht«, murmelte er vor sich hin auf seinem gewöhnlichen Abendgange zur Staude an der Enns und, »er geht«, rief er in die Wassertiefe, in den Waldesschatten, in die Felsenriffe hinein.

*

»Ei, wein' nicht, Gretl, 's ist ja Schad' um die schönen, hellen Augen! Wein' nicht, das ist ja leicht zu ändern!«

»Ändern?« stammelte Gretl und schaute durch Tränen scheu dem Manne auf, der also zu ihr gesprochen: es war der Verwalter. –

Der Versucher war zu ihr getreten. »Leicht sag' ich Dir! mit Gold geht alles: kauf' ihn los, Deinen Schatz!«

»Ihr spottet meiner, Herr, Ihr wisst, ich bin eine arme, heimatlose Dirn'!«

»Pah! Arm? Ich gebe Dir, so viel Du dazu brauchst, wenn – wenn Du mich nur ein Bissel gernhaben möcht'st!« flüsterte er mit schmeichelndem Tone und legte die geübte Hand um den schlanken Leib der Dirn', dass er ihr ungestüm springendes Herz klopfen fühlte.

Die instinktmäßige Ahnung, ihr sei eine schwere Beleidigung angetan worden, trieb der Jungfrau alles Blut aus dem stockenden Herzen in das Gesicht: sie stieß die Hand des Versuchers zurück und sah ihn mit zornflammenden Blicken an.

Die brachte aber den gewiegten Mann keineswegs aus der Fassung; er sprach kalt weiter: »Hast Du den Brief auch recht verstanden? Brauchst Dich nicht zu fürchten, dass er ins Wasser springt oder sich erschießt, der liebe Franzl, nein! Aber desertieren will er, und das weißt Du wohl, was einem Deserteur geschieht?«

Das Mädchen starrte ihn frgend an.

»Er muss Gassenlaufen durch 300 Mann! – keine Kleinigkeit das; es hält's selten einer aus.«

»Mein Gott, mein Gott!« stöhnte das gequälte Kind.

»Pah! Klagen hilft nichts – besser machen!« sagte der Verwalter gleichgültig und tat, als ob er gehen wollte; »überleg' Dir's, ob du mich nicht doch lieber ein Bissel gern haben willst!«

»Was soll – was verlangt Ihr denn von mir?« ächzte Gretl.

Der Verwalter kehrte sich mit triumphierendem Lächeln um: »Hm! Närrchen! Eine Kleinigkeit: ein freundliches Gesicht, ein Paar Busserln und so weiter – – willst Du also? In vier Wochen ist der Franzl frei!« er streckte ihr die Hand hin und sie – schlug ein.

Nachts, als er heimging, drückte er ihr an der Türe ein Zettelchen in die Hand. Darauf stand:

»Ich will Dich nicht drängen und lasse Dir drei Tage Zeit; ich komme indes nicht hinauf; kommst Du in der Nacht des dritten Tages zu mir hinab, so ist Franzl frei und Dein.«

Das war doch nichts Übles verlangt! Das klang so schön, so wunderbar ehrlich, und dennoch weinte die Gretl bitterlich, als sie es las!

Ehe sie schlafen ging, kam der Lorenz zu ihr – er sah lustig-feierlich aus wie ein Brautwerber. »Hör' Gretl!« sagte er an sie tretend, »was soll ich dem Franzl ausrichten?«

Gretl stieß einen leisen Schrei aus, und zum ersten Male ihre Scheu vor dem verrückten Alten vergessend, fasste sie seine Hände und rief: »Ihr geht zu ihm, o Gott Lob und Dank! So sagt ihm – nein, sagt ihm nichts – –« sie erbleichte plötzlich und schlug die Hände vor das Gesicht.

Der Alte starrte sie verwundert an: »Was ist Dir denn? Was ist denn geschehn?«

»Nichts ist geschehen, Lorenz, gar nichts!« stieß sie leise heraus und fuhr mit der zitternden Hand über die heiße Stirne; »und wann wollt Ihr wiederkommen?«

»In drei Tagen!« antwortete der Alte, über die ungewöhnliche Aufregung seiner Enkelin erstaunt, und sein Kopfschütteln wurde immer ernster, als er sie seine Antwort »in drei Tagen!« mit kreischender Stimme wiederholen hörte und darauf wie ohnmächtig auf die Bank niedersinken sah. – »Da ist was geschehn!« rief er wild und klinkte rasch die Türe der Kammer auf, wo der Wirt lag. Er trat mit finsteren Blicken an dessen Bett und weckte ihn: »Sepp, was ist's mit meiner Tochter Kind? Es ist nicht so, wie's sein sollt', red'!« rief er ungestüm.

Der Wirt sah ihn verwundert an: »Was wird's denn sein? Hat halt wieder ihre Mucken weg'n dem Franzl!«

»Nein! Es muss was anders sein und du weißt's! Ich habe Dir nicht einmal zugehört, wenn du wegen ihr mit dem andern Schächer verhandeltest – red', was ist's?« schrie er und griff nach dem Halse des Mannes.

Der aber warf ihn mit einem geschickten Stoße zurück und sprang aus dem Bette: »Willst du wieder ins Spitel, Narr!« rief er drohend und griff nach einer Wehr.

Lorenz taumelte zurück – das traf.

»Er kann es tun und – dann ist alles vorbei!« dachte er und zog sich zähneknirschend zurück – heut' noch wird aufgebrochen und das gleich!« murmelte er, suchte nach seinem Ranzen und Stecken und verließ die Stube.

Draußen wandte er sich noch einmal um, eh' er bergab ging, und warf einen nachdenklichen blick nach der Kammer Gretls.

Es brannte noch Licht darin. –

Was mochte sie wohl lesen: den Brief des Geliebten oder den Zettel des Versuchers?

 

5. Die Zeugen des Schwurs.

Die bewussten drei Tage, die Galgenfrist der Gretl, waren nun auch vorüber und die verhängnisvolle Nacht gekommen, wo sich das Spiel des Verführers um das arme Mädchen, so wie jenes des Bettelmanns um Franz entscheiden sollte.

Es war ein außerordentlich schwüler Tag gewesen, wie sie sonst selten so früh hier herum vorkommen. Gegen Abend hatten sich schwere, schwarze Gewitterwolken über dem Tale gesammelt, von der Gattung, von der die Leute gerne sagen: »Na g'nade Gott den Leuten, wo das niedergeht!«

Aber trotzdem zeigte sich noch bei Einbruch der Nacht kein rechtes »Wetter«, nur einzelne starke Windstöße, die pfeifend zwischen den Talwänden hinfuhren, schütteten stoßweise Schauer von dicken, schweren Regentropfen herab auf die unruhig und ängstlich dünstende Erde.

Es ward bald finster. Der Regen war – wie man sagt – »nur zum Herabfallen«; dem ungeachtet kam, weitum allein, ein Weib, den Rock über den Kopf gezogen, eiligen Schrittes den Altenmarkter Berg herab dem Stege zu.

Die darf nicht weit heim haben und mag sich tummeln, wenn sie nicht nass werden will bis auf die Haut! –

Hojo! Was geht da unten los an dem hochgeschwollenen Flusse? Die hohen Erlen am Ufer stecken die Köpfe flüsternd zusammen: Ist das nicht die Gretl gewesen? Der Steinfelsen am Gehsteige meint, sie sei es sicher! Sie fragen hinüber ans andere Ufer: richtig, die Gretl ist's.

Ei, wo geht die hin? Und bei dem Wetter? Und so spät?

Sie halten die schwankenden Kronen still und recken sich, als wolle sich jedes Ästlein auf die Zehen stellen und lugen mit den tausend und tausend Knospenaugen scharf aus: Zu dem Verwalter geht sie! Ach, die schlechte Dirn'! Na, da werden die alten Steinfelsen schauen und die Enns, wenn sie das erfahren; die waren ja auch dabei, wie sie vor kaum einem Jahre dem Franz Treue schwur auf dem Stege da, – die werden schauen!

Und von oben herab flüstert ein Blatt dem andern die Neuigkeit zu, die längsten Äste langen sie dem Gestäude auf den Felsen zum »Weitergeben« zu, und die Sträucher unten am Ufer sagen's dem Riedgras, das es zitternd weiter sagt, bis es Binsen, Schilf, Huflattig und Kresse wissen. Jetzt erfahren es die Wellen: Die tummeln sich damit hinüber und herüber, bis es die Enns, die ganze Enns weiß.

Diese – sie war ohnedies schon eine lange Zeit her verdrießlich und mürrisch – – doch das ist eine eigene Geschichte.

Es ist schon im Paradiese, vom Anfange der Welt her so gewesen und so wird's wohl auch bleiben bis ans Ende aller Tage: Wäre kein Verführer, so gäb's keine Sünde. Die Enns nämlich – kein Mensch konnte anders sagen, als dass sie ein so betriebsamer, vernünftiger Fluss sei, wie nur einer, – die war also in der letzten Zeit so griesgrämig und wunderlich geworden, dass es kaum mehr auszuhalten war mit ihr. Besonders die niederen Ufergründe, die Sträucher und Kräuter an den Sockeln der Steinfelsen hatten schweres Kreuz mit ihr; die könnten erzählen! – die riss sie stückweise oder ganz ab, wie es ihr einfiel, anderer Tormente nicht zu gedenken. Und wer war schuld daran? Ein paar junge, ungeleckte, naseweise Bachgesellen, wie sie sich alle Frühjahr, wenn der Schnee weggeht, in tollem Übermut von den Bergen herabstürzen ins Tal. Sie hatten es schon viele Jahre her versucht, der alten Enns dies und das einzureden, aber alles umsonst. Dies Jahr aber kamen sie zu Hauf' viel mehr als sonst – es war ein rechtes Schneejahr gewesen – und hoben wieder an, der Alten zu G'hör zu reden; sie dachten: wenn man lang redet, bleibt doch was hängen! – Und so erzählten sie ihr zuerst, was das für ein Leben sei, das so ein Wildbach führe, hoch droben im grünen Waldrevier: kann hin, wo er will, und tun, was er will, ohne zwängenden Damm und vorbezeichnetes Bett springt er von der Höhe Satz auf Satz aufjauchzend nieder, löst sich in Millionen Perlen auf, ruht dann einmal wieder aus in einem freigewählten, lauschigen Becken und springt dann wieder und wieder, bis – ja weiter sagten sie's nie. Und erzählten ihr, dass sie von den Höhen herab immer so traurig hinabgeschaut zu ihren gefesselten Brüdern und Schwestern im Lande und dass sie eigentlich nur deshalb alle Jahr zur Zeit, wo alles sich verjüngt, herabkämen, um den Geknechteten zu predigen und sie anzurufen, ihre Fesseln zu sprengen! Dann stellten sie ihr vor, wie schmachvoll es sei für einen Fluss, der doch auch frei geboren von den Bergen gekommen, sich von den Menschen abfangen, eindämmen und maßregeln zu lassen und in seinem Dienste zu stehen: für ihn Getreide zu mahlen, Eisen zu schmieden, zu schleifen, zu polieren, seine tausendfältigen Maschinen zu treiben, seine Lasten zu tragen, kurz, sein Narr zu sein! – Sie redeten der alten Enns lange gut, die Sendboten des Nichtstuns, aber es verfing endlich doch, und sie begann es nachgerade dennoch etwas ungebührlich zu finden, dass der Mensch so ohne Weiteres sein Zelt mit seinen Rädern und Maschinen in ihrem Reiche aufschlage. Sie ward, wie gesagt, verdrießlich und mürrisch. – –

Da hinterbrachten sie ihr die Geschichte von der Gretl.

Ei, wie schäumte und brauste sie auf: Hat sie mich nicht zum Zeugen ihres Treugelübdes genommen? Wie sagte sie denn nur? – »So wahr die Enns unter diesem Stege rinnt!« gut! Wart! – Er soll es seh'n, wie Du Dein Wort gehalten! Der Steg muss weg! – doch warten wir, wie die Sache abläuft; dass die Erlen gute Wacht halten! –

Die Wellen eilten treu gehorsam den Ufern zu und auf der Leiter, die die Neuigkeit herabgekommen an das Wasser, stieg das Gebot des Flusses wieder hinauf bis zu den schwankenden Baumkronen.

Und jetzt kommt das Wetter auch noch, jetzt ist alles aus! –

Es war ein einziger Blitz und Schlag, als wolle der Himmel eine außerordentliche Produktion ankündigen; dann senkten sich plötzlich Gewitterwolken nieder, immer tiefer, immer tiefer, bis sie, in einander geballt, eine riesige Wolkenlawine, über dem Tale hingen. Endlich borst die dunkle Decke und der Regen goss in Strömen nieder – weitum ein Strahl.

Ho! Wie sah die Enns in einem Augenblicke aus! Vor Kurzem noch wie eine glänzend grüne Schlange gewunden, lag sie jetzt da, ein gelber unheilbrütender Molch, dumpf tosend. Aber noch brauste sie zwischen ihren Ufern hin, es ging schwer das, und sie sah aus wie gegupft in der Mitte, aber sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, zu sehen, »wie die Sache abläuft«, und da musste es wohl gehen.

Die »Sache« aber lief so ab: zuerst hörte der Gussregen auf, ebenso plötzlich wie er angefangen hatte, ein leichtes Nebeln trat an seine Stelle. Indes kamen die Gießbäche von den Bergen hinab und hinzu, an die Hunderte vielleicht, da ging es schon knapp mit den Ufern, aber es musste noch halten, – – da – kamen von der Hammerkanzlei her zwei Gestalten durch die Nacht dem krachenden, zitternden Stege zu. – Sie ist's – und er! Flüsterten die wachehaltenden Erlen. Da grollt es tief im Bette des Flusses mächtig auf: den Steg lasst mir! Ihr mögt sein Haus verderben! ertönte eine dumpfe Herrscherstimme. Die beiden nächtlichen Wanderer waren auf der Mitte des Steges angelangt, da streckte die Enns zwei riesige Wellenarme aus, erfasste die Joche des Steges, brach sie wie dünnes Rohr und – der Steg mit seiner Menschen- und Sündenlast trieb auf den Fluten.

Zugleich krachte und dröhnte es rechts Schlag auf Schlag an St. Gabrieles Mauern. So schlagen Riesenschwerter im heißen Kampf zusammen! Die Mauern halten Stand! Doch was hilft's! Die müden Wellenstreiter fluten zurück und lassen neue heran mit frischer Kraft, eine unübersehbare Schar.

Ha, die Mauern brechen – fallen!

Genug, genug, nicht weiter! –

Die Enns ruft ihre Wellen! Doch nur ein kleines Häuflein der Treuesten ebbt in ihr Bett zurück, die andern rasen wildbrausend fort – ins Tal hinein!

Die Gießbäche haben sie verführt!
Ja! – nicht weiter! – – –

 

6. Unter der Stauden.

Kaum war das Unwetter vorüber, so trat ein Mann in die Schänkstube des Wirt Sepp, der sich durch sein eigentümliches »G'lobt sei's s' Christ!« als der alte Lorenz ankündigte. Er war gekommen, wie er es versprach, nach dreien Tagen.

Es war niemand in der Stube als der Wirt und der alte Martin; aber seltsam war's, wie verschieden die beiden den Ankommenden empfingen: der Wirt stand auf, ging ihm mit trotzig herausfordernder Miene ein paar Schritte entgegen und erwartete dann, mit verschränkten Armen stehend, sein Herankommen; der Knecht sah ihn mit keinem Auge an, sondern starrte mit fast ängstlichem Ausdrucke in dem alten Gesichte nach der Tür, als ob er erwarte oder fürchte, dass sie noch jemanden einlasse.

Lorenz seinerseits beachtete weder des einen noch des andern Gebaren: sein Blick flog beim Eintritte scheu nach dem Platze am Schanktische, den die Gretl gewöhnlich einnahm, – er war leer und die Stube leer für ihn, denn sein Tochterkind war nicht da.

»Wo ist die Gretl!« fragte er, – auf den Wirt zutretend.

»Weiß ich's? Bin ich ihr Hüter?« gab der trotzig zurück.

Der Bettelmann warf ihm einen Blick voll tiefen Hasses zu, wandte sich ab von ihm und zu dem Knechte, seine Frage wiederholend.

»Fort!« sagte der Alte und wies mit dem Pfeifenstummel hinab nach der Enns, nach – St. Gabriele.

Die starke Gestalt des Bettlers wankte wie von einem mächtigen Schlage getroffen, als er den Knecht seine unzweifelhafte Gebärde noch durch ein trauriges Kopfnicken und ein kurz abgebrochenes Husten vervollständigen und bestätigen sah. Doch nur einen Augenblick – dann richtete er sich hoch auf und bog sich, die Fäuste ballend, zurück, als wolle er sich auf den Mann werfen, dem er die Schuld beimaß, die hier begangen worden, – da durchzuckte plötzlich ein lichter Gedanke sein Gehirn: Er stürzte zu Martin hin, und bat mir gepresster Stimme, dringend, drängend: »Nur das eine sage mir, um der Barmherzigkeit Gottes Willen, ob sie vor dem Wetter hinab ging!«

»G'rad davor!« antwortete Martin dumpf. – Ein heller Freudenstrahl flog über das braune Gesicht des Bettlers: »Vor dem Wetter!« flüsterte er vor sich hin, die Hände sinnend an die Schläfe gedrückt – »es kann sich aufgehalten, getroffen, der Blitz kann sie erschlagen, die Enns sie verschlungen haben, – – Alles besser, als wenn sie – – – fort hinab!« Er stürzte hinaus in den grauenden Morgen und den Marktberg hinab der Enns zu.

So solltest du damals hinab geeilt sein, alter Mann, als die Rosel an dein Fenster klopfte, dann wäre wohl alles anders!

Er stand an der alten Furt, wo sonst der Steg hinüberführte; der Steg war weg und das Wasser stand noch hoch, weit in den Berg hinein, obwohl es sich durch die Überschwemmung des unteren Talgrundes schon um ein Beträchtliches verloren hatte.

Lorenz sah unbewegten Herzens die Verwüstungen des entfesselten Elementes an, er war erfüllt von dem einen brünstigen Gedanken: die Enns, die so oft seinen Schwur gehört: das Kind bewahren zu wollen vor dem Schicksale der Mutter, möge sein Hüteramt übernommen haben – und sein Richteramt.

Er schaute scharf hinüber nach dem Hammer – »Gott sei gelobt und gepriesen!« schrie er erschüttert auf – die nackten, gebrochenen Mauerreste des Werkes starrten drüben schaurig öde aus der sich umspülenden Flut hervor, – was sie erfüllt und belebt noch vor der Tageswende – war dahin. »Sie konnte nicht mehr hinüber, sie ist nicht gefallen – außer in die Hand Gottes!« dachte er und bestieg leichten Herzens den Steinfelsen am Gehsteige, um – nach ihrer Leiche auszuschauen. Der Felsen hätte ihm leicht alles sagen können, wenn er gewollt hätte, aber er wollte nicht: er trug den alten Mann, als wüsste er keine Silbe von der Gretl und ihrer Schuld.

Er sah lange nichts, auf dem Flusse lag dichter, grauer Nebel; da entdeckte er plötzlich unfern des Ufers unterhalb des Steinfelsens ein auf- und niederschwankendes Jochkreuz aus dem Wasser ragen, auf dem ein menschlich Wesen hing, ein Weib – die Gretl.

Mit einem Sprunge war er im Wasser, es reichte ihm nicht über die Brust, denn die Stelle lag auf dem überschwemmten Damme, er erreichte das ohnmächtige Mädchen ohne Gefahr und zog es mit dem Jochkreuze mühelos an das felsige Ufer. Er setzte seine Enkelin auf ein vorragendes Felsstück und blieb, über die Knie im Wasser ihr Erwachen erwartend, neben ihr stehen.

Er löste ihr das Halstuch ab, öffnete ihr Röckl, rieb ihre Schläfe, ihre Brust – – Hilf Gott! was ist das: – er hielt ein Päckchen Banknoten in der Hand, die sie unter dem Brustlatz versteckt hatte.

»Geld! Geld! Sündengeld!« kreischte er mit wilder Stimme – traf der Ton oder das Wort ihr Herz und Ohr und zerriss die Bande der Ohnmacht? – Sie tat die großen, schwarzen Augen auf, sie bewegte die blassen Lippen – doch der wütende Greis wollte ihnen keine Zeit lassen, eine bestechende Bitte zu flüstern, sie hatten nur ein Wort zu sagen, und dann auf immer zu verstummen: »Sprich! Warst Du drüben in dem Hause, das Gottes Zorn vor der Erde vertilgte, warst Du in St. Gabriele?«

»Ja!« hauchte das Mädchen.

»Und dies dein Sündenlohn?« er wies auf die Banknoten.

»Ja – für Franz! Damit er frei werde!«

Lorenz zuckte mit der Hand nach der Schulter des Mädchens – doch plötzlich zog er sie zurück und blickte die bleiche Sünderin lange schweigend an; sein fahles Antlitz glich in diesem Augenblicke dem wild bewegten Spiegel der Enns: Rührung, Wildheit, Schmerz und Wahnsinn jagten darüber hin – – »Eins sage mir noch – hat dich der Wirt überredet oder gezwungen?«

»Nein! Ich ging – freiwillig!« flüsterte die Gretl und ihre Augen schlossen sich wieder.

»Freiwillig!« schrie Lorenz mit grässlichem Lachen – und als es verstummte, war sein Gesicht starr wie ein Stein. Er erhob das graue Haupt gen Himmel, rief: »Lene! Ich hab es dir geschworen!« und – im selben Augenblicke glitt das ohnmächtige Mädchen von dem Steine in das Wasser, das die Widerstandsunfähige mit offenen Armen aufnahm und – verdeckte.

Lorenz sah starr hin, bis sie versank, – dann schaute er das Geld in seiner Hand traurig ernst lange an, und sagte endlich mit irrem Lächeln: »Er wollte nicht desertieren – der wird Freude haben, wenn ich es ihm bringe!«

Und er verlor sich zwischen den Bäumen. –

Tags darauf, als das Wasser sich wieder verlaufen hatte, fand man die Leiche der Gretl unter der großen Mehlbeerenstaude. Die Zweige, die frisch gründend und blühend über dem Kinde geflüstert, sie hingen heute geknickt und ihrer Blätter und Blüten beraubt über der armen toten Gretl.


 


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