Max Messer
Wiener Bummelgeschichten
Max Messer

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Edis »letzte« Untreue.

Edi hatte längst seinen Morgenkaffee getrunken. Er berührte keine der Zeitungen, die der Kellner auf den Stühlen neben ihm aufhäufte. Er sah auch nicht auf die Straße hinaus, wo im strahlenden Lichte des ersten Frühlingstages Tramways und Wagen aller Art vorbeirollten und die Leute über dem reingewaschenen und vom Silber der Märzsonne glacierten Trottoir drängten.

Niemand hatte den Frühling in der Stadt erwartet: und als er jetzt so plötzlich kam, so hervorgezaubert, wie eine Gnade der Natur, 108 als er seine laue, würzige Luft über die Gassen streichen ließ und die milde blaue Farbe über den Himmel malte, da begrüßte ihn jeder dankbar, verbeugte sich gleichsam in seinem Herzen tief vor dem Allbeglücker, der noch dem Aermsten etwas zu geben hatte, und stimmte seine Seele auf den süßen Ton: Frühling.

Alle Menschen schritten draußen leichter hin, wie nach dem Takt einer inneren, fröhlichen Melodie. Man gieng mit erhobenem Haupte, jetzt, da kein grauer Himmel dem Auge mehr weh that und der Schnee nicht mehr blendete.

Die ganz heiter Gesinnten zogen ihre Ueberröcke aus und trugen sie auf dem Arme. Sie schlenderten dahin, als wäre es Sommer; ja, sie vergaßen im Herzen, dass man erst März schrieb. Auf ihren Lippen lag das Wort Mai und es lächelte aus den Augen der Mädchen.

Die Gleichgiltigkeit, die Edi heute gegen den Tageszauber der Straße bewies, fiel sogar dem Kellner Gustav auf, der, zwei Tische von ihm entfernt, an einem Stuhle lehnte, wie in Bereitschaft, auf die ersehnte erste Wunschregung seines Gastes dienstfertig herbeizuspringen.

109 Freilich wusste der Kellner nicht, dass Edi, trotz seiner so sichtbaren Benommenheit, schon früh morgens, sehr früh morgens, dem ersten Frühlingstage gehuldigt hatte – dass er um fünf Uhr früh, als seine Verblüffung über das strahlende Blau des Himmels, der in sein Zimmer schimmerte, vorbei war, die beiden Flügel des Fensters aufgerissen hatte und die Luft einschlürfte, die, wie Quellwasser vom Gebirge, klar und köstlich war. Mit beiden Händen hatte er weit hinausgegriffen in den Luftraum, wie um den Zauber festzuhalten, an sich zu pressen . . . .

Edi rührte sich noch immer nicht; seine blauen Augen waren auf das Marmorplättchen des Tisches geheftet, mit einem Ausdruck, der jedem fremden Beobachter zum Verzweifeln ausdruckslos erscheinen musste. Der Kellner Gustav kannte diesen Ausdruck an seinem »zehnjährigen Stammgast«. Seine Neugierde begann zu wachsen.

Es musste etwas Außerordentliches sein, was in Edi diesen Zustand schweigsamer Apathie hervorgebracht hatte. Redselig war Herr Edi Hoffinger immer gewesen, seit Gustav ihn kannte. Und wenn er schon nicht zu Gustav, 110 zur Sitzcassierin oder zu einem der ihm befreundeten Frühgäste sprach, so saß er in der Fensternische hingerekelt, einen Arm auf dem Tischplättchen, den anderen Arm in die Nische gelehnt, und hielt einen Dialog mit der Straße, die so hell und munter war, wie die Züge Edis, der sie beobachtete und genoss . . .

Heute saß Edi schon eine und eine halbe Stunde da und hatte weder eine Zeitung gelesen, noch ein Wort zu Gustav, zur Sitzcassierin oder zu einem der ihm befreundeten Frühgäste gesprochen, – noch einen Blick und ein schweigendes Gespräch mit der Straße getauscht. Sein Blick blieb auf das Marmorplättchen geheftet.

Die Anknüpfungsversuche Gustavs wies er lächelnd und mit einer Handbewegung, die sagen wollte: »Störe mich nicht!« zurück.

Gustav musste eine letzte Attaque versuchen. Er benützte die günstige Gelegenheit, als ein neuer Gast in das Café trat.

»Sie erlauben, Herr Doctor, die Zeitungen??«

»Ja, ja . . . nehmen S' nur alles weg!«

»Machen Herr Doctor heute wohl einen Ausflug, weil's so schön is?«

111 »Sie, Gustav, mir scheint, sie wollen mir heute durchaus die Lust verderben, hier sitzen zu bleiben.«

Gustav erbleichte und verschwand mit einer gekränkten Miene.

Edi rekelte sich noch bequemer in das rothe Plüschsopha und trommelte mit den Füßen auf den Boden. Wie gut, dass er den zudringlichen Menschen losgeworden! Nun konnte er die kurze Zeit, die ihn noch von der großen Entscheidung trennte, in ungestörter süßer, weicher Träumerei verbringen.

Plötzlich stand er auf und zog etwas aus der Tasche seines Paletots, der hinter ihm hieng. Es war ein kleines, mit grünem Atlas bezogenes Etui, kreisrund, mit der Peripherie eines Guldenstückes. Edi sah sich um. Der neue Gast hatte sein Gesicht in die Zeitung vergraben, Gustav war nirgends zu erblicken.

Er öffnete das Etui und hob einen wunderbaren Ring aus feinem Plüschkissen: drei schmale Goldreifen, die sich rückwärts verschlangen, während sie an der Vorderseite einen mandelförmigen, von kleinen Brillanten umsäumten Opal fassten.

112 Edi hielt den Ring gegen die Sonne. Das Licht fiel auf den Opal und begann ihn zu entzünden. Rothe und grüne Blitze funkelten aus dem Juwel, dazwischen brodelte es in winzigen, milchweißen Streifen, die sich bald sanft rötheten, bald wieder ins Grüne oder Violette schillerten, je nach der Brechung der Sonnenstrahlen, die in ihn eindrangen.

Er lächelte, zum ersten Male heute; so freute und entzückte ihn der Anblick des kostbaren Steines. Er versuchte, den Ring an einen seiner Finger zu stecken. Aber der Versuch war vergeblich. Der Ring passte nicht einmal seinem kleinen Finger.

»O Martha, Martha, wie herrlich wird dieser Ring auf Deiner schmalen, süßen Hand leuchten!« jubelte Edi sich zu und hob noch einmal den Juwel in das Licht, tauchte ihn in die Fluten der Frühlingssonne . . .

Ein Einspänner stand auf der drüberen Seite der Straße, hart am Trottoir. Das magere Pferd fraß gierig aus dem Futtersack. Am Bock saß der Kutscher, wie es schien, ein sehr armseliger Geselle.

Edi hatte seinen Blick bemerkt, der neidisch und bewundernd auf sein Spiel mit dem Ring 113 gerichtet war . . . Er hatte noch zwei Stunden Zeit, bis er Martha treffen sollte, von heute an seine Martha . . . Er hatte sich vorgenommen, die Wartezeit hier in seinem Café zu versitzen, bis es dann Zeit sei, zum Rendezvous in den Stadtpark aufzubrechen. Aber es hielt ihn nicht länger in dem halbgelüfteten Local.

Draußen war es zu schön! . . . Der Kutscher fixierte ihn noch immer, demüthig, neidisch . . .

»Dem Mann und mir kann geholfen werden«, sagte Edi zu sich und verließ das Café. Der Kutscher wartete mit einem blöden Lächeln auf seinen Befehl: »In den Prater, Heustadelwasser!« und hob dann die Peitsche, mit der er sein elendes Rösslein aufmunterte.

Der wagen humpelte durch die Straßen, endlich die Ringstraße hinab, wo es zum Prater gieng. Edis Augen mussten seine geliebten Gebäude begrüßen, die seine Blicke vorwurfsvoll zu erwidern schienen. Er schämte sich ein bisschen. Denn er sollte ja wirklich all dem untreu werden. Das Schubert-Monument hinter den braunen Gitterstäben kehrte ihm einfach den Rücken. Freilich konnte es sich nicht auf seinem steinernen Sockel umdrehen, damit er, 114 Edi Hoffinger, auch im Wagen auf dem Ring fahrend, sein Antlitz sehe. Aber nichtsdestoweniger empfand er es wie eine Kränkung, eine selbstverschuldete Kränkung. Edi – auf dem Ring fahrend, in einer Comfortable-Baracke: da hatte das Schubert-Monument freilich vollkommen recht, ihm die Reversseite zu zeigen. Diese Geschmacklosigkeit hatte er heute zum ersten Male begangen, zum ersten Mal in seinem Leben. Tausende Male war er durch die geliebte Straße gebummelt, in allen Tonarten des Ganges – schaukelnd, eilend, sich wiegend, müde schlürfend – einige Male hatte er sie im Fiaker durchbraust und sie gemustert wie ein König, der die Fronte seines Heeres abreitet, wenn auch nicht auf einem Rosse sitzend, so doch von Rossen gezogen, aber heute – – im Comfortable und noch dazu in diesem!

Edi ließ seinen Kopf melancholisch hängen und erwachte aus dumpfer Träumerei erst, als der Wagen über den leise erzitternden Bogen der Sophienbrücke rollte. Die Praterluft fächelte ihn an und erregte sein Herz zu einem Resumé seines Erlebnisses, dem er seit vier Wochen mit Haut und Haar verfallen 115 war und das ihn an der Seite seiner neuen Geliebten aus Wien weg, aus allen lieben Banden der Gewohnheit und eingefleischten Neigung hinaus in die Fremde, in das Fremde ziehen musste.

Mizzi war an allem schuld. Er war böse mit ihr geworden, warum? weiß der Teufel –! aber er wollte es wieder gutmachen. Er schickte ihr einen Sitz für das Wientheater, zu »Waldmeister«. Sie kam nicht, trotzend, eigensinnig, anmaßend, wie schon die Weiber sind, wenn man sie länger als vier Wochen kennt. Er kannte Mizzi 24 Jahre. Sie wusste wohl, was »Waldmeister« für ihn bedeutete. Es war sein Liebling unter allen Theaterstücken, es berauschte ihn jedesmal, wenn er es hörte, aufs neue und schürte alles Flatterhafte, Genusssüchtige, Toll-Unsinnige in ihm auf. Zweimal war der »Waldmeister« schon Anlass gewesen, dass er Mizzi untreu geworden. Und Mizzi verschmähte es jetzt absichtlich, seiner so deutlichen Bitte um Versöhnung zu folgen! . . .

So saß er damals allein im Theater. Vom ersten Act hörte er nichts; zu heftig war sein Aerger. Erst im zweiten Act begannen 116 die weichen, zauberischen Melodien in seine Seele, wie in ihre zweite Heimat, zu schweben – sich mit seinen Stimmungen zu vermählen und sein ganzes Edi Hoffingerisches Ich in einen Taumel entzückter, sehnsüchtiger Verwirrung zu jagen, es zu dem Dreiklang: Strauß, Edi, Wien aufzulösen, so wie jetzt auf der Bühne der Trau-Schau-Wem-Walzer auf den harmonischen Stufen des Adur-Dreiklanges herabstieg – geradezu in die geheimste Kammer seines Herzens hineindrang und eine neue passion d'amour aus ihr in das Leben hob – zu wem? zu Mizzi, deren Herzlosigkeit in dem leer klaffenden Parkettsitz neben ihm verbildlicht, nur tiefe Bitterkeit in ihn gießen konnte? – nein! sondern zu seiner Sitznachbarin links, dieser schwarzen, pikanten, fremdländischen Schönheit, die aus Petersburg oder aus Paris her sein mochte, dieser »Frou-Frou«, dieser . . . Ja, Frou-Frou . . . das Wort erlöste ihn und machte ihn muthig . . . .

Und jetzt, während auf der Bühne der Waldmeister verschenkt wird und im Unisono des Chores und des Orchesters der herrliche Walzer durch das Theater schwingt und klingt, während die silberne Stimme der Annie 117 Dirkens wie ein Führer-Vogelruf das Gebrause und Gezwitscher der Stimmen und Instrumente durchschneidet – da legt er seinen Arm um die Schönheit zu seiner Linken und küsst in seinem frechen Taumel die Seidenpuffe an ihrer Achsel. Hat es jemand bemerkt? wird sie es dulden? wird man ihn hinauswerfen, durchprügeln – – was geht das ihn an! Aber niemand hatte es bemerkt, niemand warf ihn hinaus. Die Schöne erröthete tief und sah ihn mit einem Blick an, der die Ergebung auf seinen frechen Sturm bedeutete.

So hatte er Martha de Borowski, die Frau des russischen Staatsrathes Iwan de Borowski, kennen gelernt, welche eine diplomatische Mission ihres Gatten, die ihn auf längere Zeit aus Warschau, ihrer Heimatstadt, entfernte, benützte, um nach Wien zu reisen, wo ein Theil ihrer Verwandtschaft lebte.

Heute sollte es sich entscheiden, ob Martha sich von ihm trennen musste, oder ob sie – wenn auch auf kurze Zeit – ihm ganz gehören sollte. Für den letzteren Fall hatten sie verabredet, in irgend ein kleines Nest an der ligurischen Küste zu fahren und ihre Liebe mit dem italienischen Frühling vereint zu genießen.

118 Wird Martha kommen und ja sagen? Die Schalen der Wage standen gleich. Es war sogar möglich, dass der Gatte selbst nach Wien kam, um Martha mit sich heimzuführen. Punkt 12 Uhr musste er sie auf dem Südbahnhof erwarten. Sie hatten ausgemacht, dass, wenn alles günstig gieng, Martha mit dem 1 Uhr-Zug nach Triest vorausfahren sollte, Edi ihr in ein oder zwei Tagen folgen werde.

Edi sah auf die Uhr. Es war noch Zeit in Fülle. Die herbe Praterluft erquickte ihn so und hob etwas von der ihm selbst unbewussten Gedrücktheit und Aengstlichkeit. Er liebte ja Martha! Dessen war er gewiss. Martha war etwas, das er noch nicht gekannt hatte. Solche Frauen gab es in Wien nicht. Ja, es gab auch welche in Wien . . . O, o, da durfte ihm niemand dreinreden. Aber die waren anders. Zum Beispiel Mizzi . . . Nein, die verdiente es nicht, dass er gerade jetzt an sie dachte, wo er in zwei Stunden vielleicht den letzten Schritt gethan, um aus diesem Verhältnis zu kommen. Lieber nicht dran denken. In Weibersachen denken – das gieng gegen seinen Geschmack . . . Also nicht denken, die Luft einsaugen und frohe Miene machen! 119 Ein anderer würde taumeln vor Freude, wenn er mit Martha . . .!

Und doch dachte Edi nach, sein eigenes Verbot vergessend. Er zerlegte seine Empfindungen. Er fand, dass er nicht den rechten Muth, nicht die rechte Freude, nicht dieses unbedachte Drauflosleben genießen werde, wenn ihm Martha heute ihr Ja zuflüstern würde. An ein Zurückgehen war freilich nicht zu denken . . . Im Gegentheil, er hätte größere Hindernisse gewünscht, die ihn aufgestachelt hätten, zum Beispiel nur ein wenig Eifersucht von Mizzi. Dass Mizzi nichts von sich hören ließ, dass er nicht einmal einen Besuch ihrer Mutter empfing! Einen Brief freilich hatte er empfangen. Da stand einfach drauf: »Lieber Herr Edi, es wird uns sehr freuen, Sie morgen zu einer Landpartie in die Höldrichsmühle bei uns zu sehen. Gruß von Mizzi. Ihre alte Sophie Grünthaler . . .« Mizzi hatte nichts eigenhändig hinzugefügt. Natürlich sagte er damals ab. Seit diesem Brief war es aus . . . aus . . .

Der Wagen fuhr durch die Kronprinz Rudolfstraße im Prater. Edi ärgerte sich, dass seine Stimmung kühl und verdrossen wurde, 120 wie die noch unbelaubten Aeste der zitternden und gleichsam auf den Frühling lauschenden Birken.

Einmal fuhr er zufällig in die Tasche seines Paletots und fühlte das kleine Etui des Ringes. Er öffnete es und ließ den Ring in den silbernen Sonnenstrahlen glitzern. Sie drangen in den Edelstein und entzündeten alle Gaukel- und Schaukelfarben des Opals. Es war dies das erste Geschenk, das er für Martha brachte. Sie hatte ihm verboten, ihr irgend etwas zu geben außer seiner Liebe. Und er liebte sie so, dass er bis heute ihrem Willen folgen konnte . . . . Wird es sie vielleicht kränken? . . .

. . . . . Der Wagen blieb knarrend stehen. Edi stieg aus und sah links das Heustadelwasser, stellenweise noch mit einer leichten Eisdecke verhüllt, im Sonnenlichte liegen. Er befahl dem Kutscher, zu warten, und stieg an das Ufer hinab, längs dessen er bis zur Hauptallee und zurück spazierengehen wollte. Während der Fahrt hatte er fast keinen Menschen erblickt. Die vegetative Stimmung des ersten Frühlingswachsthums, des Kräftesammelns, welches in der Luft lag, bevor es noch in die 121 Erde gedrungen, strömte durch seine feinen Nerven und drängte durch seine so leicht bewegliche Natur all das hinaus, was ihn heute bedrückt hatte. Er athmete tief. Er sang Bruchstücke aus seinen Lieblingsstücken, immer mit dem unterlegten Text von Frauennamen seiner Bekanntschaft. Ohne dass er es beabsichtigte, war plötzlich der Trau-schau-wem-Walzer aus seinen Lippen gedrungen, erst in reinen, harmonischen Pfiffen, dann von seinem schönen und hohen Tenor, wie auf Händen gewiegt. »Martha – Mizzi« – sang er im Waldmeister-Dreiklang herab, und bevor er sich selbst dabei überraschte, gewahrte er eine schmale, schlanke Mädchengestalt, welche, die Arme über den Kopf geschlungen, an einer Birke lehnte. Sie kehrte ihm den Rücken. Weinte sie? War es eine Unglückliche, Verzweifelte? Sie musste ihn doch gehört haben? Er pfiff und sang doch laut? . . . Sie rührte sich nicht. Edi blieb stehen und überlegte. Der Trau-schau-wem-Walzer sang still in ihm weiter. Es war ein Unsinn, was er beschloss. Uebrigens unausführbar. Er spürte, dass er wieder in dem gewissen Stadium war, wo ihm das Unsinnige sinnig, das Unmögliche möglich schien. Drauf 122 los! Edi schlich mit den behutsamsten Schritten an das Mädchen heran. Schon hatte er die Arme gehoben und geöffnet, um seinen Plan durchzuführen. Er wusste ja, dass es nicht dazu kommen konnte, ihn auszuführen. Sie musste ihn ja hören. Aber sie hörte ihn nicht! Zum Teufel hinein! Mit zwei Sprüngen war er bei ihr. Bevor sie den Kopf umwenden konnte, hatte er beide Hände über ihre Augen gelegt und frug mit der schmeichlerischesten, mildesten Edi-Stimme: »Wer bin ich, wie heiß ich?« Ein unterdrücktes Lachen, das halb ein Schluchzen war, antwortete ihm. Sie stand still. Ihre schmale Gestalt erbebte. Dann sagte sie leise: »O, bitte . . . lassen Sie mich!«

»Nicht umsonst – – den Preis nehm' ich mir selbst,« und Edi drückte ihr einen Kuss auf den Nacken, wo das Blondhaar in verwirrten Netzen lag.

Sie schrie auf. Edi erschrak.

»Ein Kuss am ersten Frühlingstag ist keine Sünde.«

»Was denken Sie von mir? Ich warte hier. Gehen Sie weg. Um Gotteswillen, gehen Sie weg! Wenn er kommt . . .!«

123 »So werd' ich ihm sagen, dass es eine Schandthat ist, ein so junges, schönes – –«

Das Mädchen ließ ihn nicht aussprechen, mit einem heftigen Stoß suchte sie sich aus den Armen Edis zu befreien, der jetzt erst ihr herziges, verweint-verlachtes Gesichtchen sah und entschlossen war, zehn Nebenbuhler hinzustrecken, ehe er von dieser kostbaren Beute ließe.

»Schönste – – doch nein – sagen Sie mir erst, wie Sie heißen, bitte, bitte – ich schwöre Ihnen, dass ich dann alles thun werde, was Sie wollen!« Er küsste ihre Hände, ihre Finger.

Sie sagte ganz leise: »Kathi.«

Edi durchfröstelte es. Unter allen Frauennamen war ihm dies der verhassteste. Ja, es gehörte zu seinen Lebensgrundsätzen, Frauen zu meiden, die Kathi, Mali oder Toni hießen. Mit diesen drei Namen konnte man ihm jeden Teufel der Liebe austreiben.

Vielleicht merkte sie, wie ihm dieser Name missfiel. Sie erröthete und ihr Gesichtchen schlug gleichsam Blüten in dieser reizenden Verwirrtheit. Die »holde Wirklichkeit« siegte über Edi.

124 Noch einmal nahm er Anlauf: »Schönste, Katharina!« Doch kaum war dieser Renovierungsversuch über seine Lippen gedrungen, als er sich schon den Namen der Schönen verwünschte. Das Mädchen war ihm unfehlbar verleidet, wenn er noch einmal ihren Namen aussprach – sei es in der Abkürzung oder in der Naturlänge.

Er schloss sie wieder in seine Arme und küsste ihr Gesicht. K. erduldete es einige Minuten bebend, selig, verwirrt. Dann stieß sie ihn plötzlich zurück.

»Ich erwarte meinen Bräutigam hier. Ich bin nicht mehr frei. Wenn er jetzt noch kommt – um Gotteswillen, gehen Sie weg. Ich bitte Sie . . .«

Nun loderte Edi auf. Was Bräutigam, was Weggehen . . . Jagdrecht – Beuterecht! Sie müsse mit ihm bleiben und wenn hundert Bräutigame heranzögen.

Ja, es sei heute vielleicht das letzte Mal. Sie hätten Streit gehabt. Seit einer Stunde warte sie auf ihn. Vielleicht kommt er gar nicht, dann sei es ja aus. Es war ohnehin eine geheime Brautschaft, ihre Eltern wüssten nichts davon . . . Edi möge nur ein paar 125 Minuten warten, weggehen und dann wieder herschauen – dann wolle sie ja, wenn er nicht komme, bei ihm bleiben.

»Himmel-Herrgott. Er kommt!« K. schrie es auf. Edi wandte sich um, zu der Richtung ihrer Blicke . . . Er sah einen Comfortable langsam im Schritte daherfahren. Das war ja seiner – er erkannte den Kutscher . . . . Und dort kam ein junger Mann, er lief beinahe, direct zu ihnen her.

Edi richtete sich auf.

K. weinte . . .: »Was soll ich thun? Geh'n Sie weg . . . So geh'n Sie doch. Er sieht Sie ja, er kommt ja her. Meinethalben – – so geh'n Sie doch – – – – – – – –«

Da standen sich schon die beiden Männer gegenüber.

Der Bräutigam: »Kathi, was hat dieser Mensch bei Dir zu thun?«

K.: »Der Herr kam – kam zufällig – –«

Edi: »Wer ist »dieser Mensch«? Sie Lump! Wenn die Dame wirklich Ihre Braut ist, dann sind Sie ein Lump, verstanden, ein Lump – nur ein Lump lässt seine Braut – –«

Der Bräutigam schlug den ersten Hieb. Edi stürzt sich auf ihn. K. versucht jammernd, die Balgenden zu trennen. Da ist der Comfortable-Kutscher von seinem Bock gesprungen und in 5 Sätzen von der Straße hergelangt. Er trennt die Nebenbuhler und schlägt mit derben Flüchen ein paar Mal seinen Peitschenstiel auf den Kopf des »Bräutigams«. Edi nimmt eine Karte aus seiner Tasche und wirft sie dem Geprügelten ins Gesicht.

K. kniet weinend an der Seite ihres Bräutigams und liebkost ihn, tröstet ihn, bittet ihn um Verzeihung. Edi wirft ihr noch einen verächtlichen Blick zu und murmelt zurück: »Na ja – – Kathi – – – – – –!«


Edi kam im Wagen langsam zur Besonnenheit. Er zog seinen kleinen Spiegel aus der Westentasche, besah sich sorgfältig und begann an der Renovierung seiner Toilette zu arbeiten. Zuerst richtete er seine Cravatte, die schwer blessiert war, dann stäubte er seinen Rock aus. Aber zu seinem Schauder waren Kothflecke auf ihm, die durch all sein Wischen eine noch unglücklichere Färbung erhielten. Am schlimmsten war es dem Hut ergangen. Der Fuß seines Gegners hatte ihn zerbrochen. Edi griff in die Tasche seines Ueberrockes, um mit dem 127 Sacktuch Reinigungsversuche vorzunehmen. Da fühlten seine Finger das kleine Etui mit dem Ring für Martha.

Wie gepeitscht sprang er im Wagen auf. Mit einem Ruck war das ganze Abenteuer vom Heustadelwasser aus seinem Gehirn geschwunden, und Martha, an die er so schmählich vergessen, stand vor seinen Augen, die sich mit Thränen füllten. Er griff nach der Uhr. ¼12 Uhr! Edi jubelte auf. Da konnte er sie ja noch erreichen!

»Kutscher, Kerl, Bruder – hauen Sie Ihr Ross zusammen – – ich muss um 12 Uhr um Südbahnhof sein. Ich muss – hören Sie – – meine Braut reist mit dem 1 Uhr-Zug ab. Sie kriegen einen Zehner, wenn Sie noch hinkommen . . .«

»Gnä' Herr täuschen Ihna wohl . . . Ans is scho vorbei. Und net amal mit an Luftballon könn' ma da noch z'recht kommen . . .«

Edi zog noch einmal seine Uhr aus der Tasche und hielt sie ans Ohr. Er erstarrte. Die Uhr gieng nicht.

»Sie haben recht« – stotterte er – »aber was thut man da?«

128 »Na, Gnä' Herr, in dem Aufzug hätten's eh net vor Ihre Braut treten können. Sö können Ihna freili net so als a Ganzer sehen wie'r i. Dös Fräul'n da, wegen der's Ihna g'rauft haben, war g'wiss 's frühere Fräul'n Braut? – –«

Edi sank in sich zusammen und überhörte diese Frage.

»Also bleiben Sie noch ein bisschen stehen. Ich muss mir die Geschichte überlegen.«

Der Kutscher ließ das Pferd stillstehen und spreitete eine Decke über es.

Edi sann und sann und sann. Wie konnte er nur an Martha vergessen? Welcher Teufel fuhr in ihn und zog ihn zu jener blonden Jungfrau, die auf ihren Bräutigam wartete und sich die Wartezeit durch ihn versüßen lassen wollte – während seine Geliebte auf dem Bahnhof wartete, zur Reise fertig, die sie seinetwillen unternimmt. Was wird Martha von ihm denken? Ja, er war kein Langliebender, und das Enden seiner Verhältnisse trat so oft ein als ihr Beginnen. Nie löste er eines brutal oder dumm. Im Gegentheil, es war ihm eine Sache der Kunst, des Gewissens. Lieber ein Verhältnis schlecht 129 anfangen als schlecht lösen, war sein Grundsatz. Martha wird ihn für einen Gemeinen halten. Mit Recht. Und das alles wegen dieser . . ., die noch obendrein Kathi hieß!! Wie sie ihn in dem Moment vergaß, als der Bräutigam kam, wie sie nur diesen anflehte und zu schützen suchte.

Und wenn er auch nicht die Zeit versäumt hätte, wie konnte er in diesem Aufzug vor Martha erscheinen? Was sollte er thun? In ihre Wohnung fahren, nachfragen, ob sie abgereist sei? Aber ihr Mann konnte ja schon hier sein! . . . ihr nach Triest nachreisen? Aber wer weiß, ob sie abgereist war, da er nicht zum Bahnhof gekommen!

Und wieder flog eine Erinnerung an die blonde Katharine durch sein Herz. Er hatte wirklich gedacht, dass sie ihn plötzlich lieb gewonnen und dass das mit dem Bräutigam nur eine Fabel sei. Und doch musste es einem Kenner wie ihm dann klar werden, dass sie nur jenen liebte, und dass sie gerade aus Kummer, weil jener sie so lange warten ließ, wie um ihn und sich selbst zu strafen, mit Edi angebandelt habe. Wenn es Martha ebenso gethan? Und warum hat er mit Martha und 130 der Blonden »angebandelt«?? – – Diese Frage durchschnitt plötzlich sein Denken und Fühlen. Und er erinnerte sich jenes Abends im Theater an der Wien, bei »Waldmeister«. Mizzi war nicht gekommen. Sie war böse mit ihm gewesen. Warum? Weil er ein Don Juan sei. Direct hatte sie ihm das einmal gesagt.

Edi begann zu lächeln. Es war ja etwas Wahres an diesem Urtheil. In allem, was Frauen sagen, ist etwas wahr. In manchem, was die Frauen über den Mann sagen, ist alles wahr. Mizzi hatte recht. In ihm steckte Don Juan-Blut. Er empfand das nicht als Untreue, was Mizzi so empfand. Die Frauen, die ihm in den Weg kamen, waren dazu da, von ihm geliebt zu werden. Er liebte nur die, die ihm in den Weg liefen. Schuldlos kam er zu seinen Verhältnissen, gezwungen. Kein Mann würde die Gelegenheiten, die sich ihm boten, vorübergehen lassen. Was konnte er dafür, dass das Schicksal ihm so viele Gelegenheiten gab? Gelegenheit macht Liebe, Gelegenheit schafft Untreue. Ihm die Gelegenheiten wegräumen, das würde heißen, ihn vor Untreue bewahren. Es war ihm ja selber oft unbequem. Nachträglich bereute er es oft.

131 Nein, nein, er war kein Don Juan. Er war ein Mensch mit warmem Blut und Sinnen, die nach Schönheit dürsteten. Die Göttin Zufall, dem einen Verführer, dem anderen Warner, dem dritten Lehrmeister und Tugendwärter – war ihm die große Kupplerin, die Gelegenheitsmacherin der Liebe. Er musste sich vor Zufällen hüten, sich gegen die Lockungen der alten Dame Zufall einhegen – dann war er gegen die jungen Damen geschützt. Wie sollte er sich schützen?! Konnte er es selbst? Edi betrog sich nicht. Eine konnte es . . . eine liebe, blauäugige, gute – die mit ihrem leichtverletzlichen Herzchen ihn so schnell, so unvorsichtig aus ihren süßen Händen ließ.

Mizzi, »Blauerl«, Grünthaler-Mädel, weißt Du nicht, dass ich nur Dich liebe, und dass ich von hunderten, ja tausenden zu Dir heimkehren müsste? Weißt Du nicht, dass Du mich schützen musst, dass Deine Augen und Deine Hände das Palladium sind, das mich von der alten Vettel rettet, die den großen Schlüsselbund des Zufalls trägt? Dass Dein süßer Mund das festeste Schloss ist, um meine Flucht aus dem Kämmerlein unserer Liebe zu hindern, in das kein Schlüssel der 132 alten Vettel Zufall passt? Hast Du noch immer nicht gelernt, mich fest zu halten, da ich doch Dir gehöre, weil Du die Verkörperung meiner Ideale bist, weil in Dir Wiens Himmel, Wiens Leben, Wiens Schönheit weibgeworden, Sehnsucht trägt nach mir, der dies und Dich genießen kann, wie kein anderer? Weißt Du nicht, dass Du allein mir bist, was ich, ein liebestoller Schmetterling, an meinen Gassen und Gebäuden und Liedern und Mädchen naschend suche? . . .

Und Edi sprang im Wagen auf und rief dem Kutscher zu: Zu meiner Braut, Landstraße, Marxergasse 16!

Der Kutscher schüttelte den Kopf. Die Miene hätte Edi verrathen können, dass dieser Mann an seine Zurechnungsfähigkeit zu glauben aufgehört – wenn Edi daran gedacht hätte, ihn zu beobachten.

Edi schwamm in weicher, wollüstiger Freude und Hoffnungen und Erlöstheit. So sollte es heute seine letzte Untreue gewesen sein, so wahr er der Edi Hoffinger war, der Mizzi »Blauerl« liebte.

Er zog noch einmal den Ring aus dem Etui und betrachtete das Wogen der Lichter, 133 das Farbengeglitzer des Opals. Bei diesem Ringe, schwur er sich zu, bei diesem Ringe, der heute noch an Mizzis Hand seine Farbenlieder singen sollte, dass er von nun an ihr, nur ihr treu bleiben wolle. Die alte Vettel Zufall werde seinen Willen wohl merken und ihn nicht mehr zu versuchen wagen . . .

Und Edi schritt mit strahlenden Augen die Stiegen zu Mizzis Wohnung hinauf. Auch wenn er es gewusst hätte, dass er die »alte Kupplerin« in sich trug und ihrer ewig nicht ledig werden sollte, hätte er heute Frau Sophie Grünthaler zum ersten Mal um Mizzis Hand gebeten.

 


 


 << zurück