Max Messer
Wiener Bummelgeschichten
Max Messer

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Ringstraßenbummel.

Ueber eine Stunde hatte Edi verbraucht, seine Geschenke zu gruppieren. Jetzt war alles harmonisch! Keine Farbe die andere drängend, alle Sachen unsymmetrisch, doch malerisch gestellt . . .

An den Rändern des runden Tisches lagen die Bücher, ein paar Bände Maupassant mit grünen, goldverzierten Decken, Kupferstiche, seidene Cravatten, Cigarrenkistchen – dann Meerschaumpfeifen, Bonbons, Nadeln und bunte Cotillons, die er vom letzten Fasching her gesammelt hatte . . .

Hell beleuchtete der kleine Weihnachtsbaum den runden Tisch . . . durch das Zimmer zogen 38 die Kerzchen ein schleieriges Licht, an den Wänden tanzten die Schatten . . .

Edi nahm jetzt eine dicke Regalia aus einer der Schachteln, setzte sie an einem Weihnachtslichtchen in Brand und genoss, indem er den Tisch prüfend umwandelte und sich dann auf das Sopha streckte, von dem duftigen Rauch gewiegt, seine einsame, zarte Stimmung: Harzduft, grüne Zweige, schwelende Kerzen, darüber eine Stille so weich gebreitet, dass ein seliges Kindergefühl in ihm erwachte, wie einst, da seine Mutter jeden Abend, nachdem er sich zu Bette gelegt und die Augen geschlossen, sachte herantrat und mit vorsichtigen Fingern ihm die Decke fester um den Leib legte . . .

Er stand rasch auf, um nicht in Träumen einzuschlummern, und schob die mächtige Sachertorte, die ihm seine Zimmerfrau verehrt hatte, von der horizontalen in eine schiefe Lage, so dass sie sich an den Stamm des Bäumchens lehnte und, mit ihrer braunen, schimmernden Fläche vor den übrigen Dingen dominierend, wie ein dicker Glatzkopf aus einem Kreis junger, buntgekleideter Mädchen guckte.

39 Natürlich dachte er auch an Mizzi, schon weil ihr Geschenk, das sonst immer den Ehrenplatz erhielt, heute an seinem Tisch fehlte.

Er sann nach, was denn eigentlich Anlass zum Böswerden gegeben hatte? Wie er die dicke Wolke, die er ärgerlich auspuffte, mit heftigen Strichen der Hand zertheilte, schien die Geste auch zu sagen: »Ach was, das wird vorübergehen, wie dieser Rauch . . . weg mit den Sorgen!«

Er gieng zum Fenster und zog die Rouleaux in die Höhe. Bei dem Anblick der Straße und der gegenüberliegenden Häuser verzogen sich die kleinen Fältchen über seinen Brauen. Die Weihnachtstimmung erfüllte ihn wieder ganz mit ihrer süßen Reinheit. Seine Seele durchklang ein Reigen milder, ja feierlicher Melodien und bewegte sie mächtig. Es war ein Gemisch von Erinnerung und Hoffnung, welches ihn so rührte, dass er mühsam Athem holte und dass sein Gesicht brannte. In diesen Minuten der Einsamkeit fühlte er, wie die Freuden und Schmerzen, die er erlebt hatte, gleichsam aus dem Friedhof der Vergessenheit stiegen und sich in zwei Scharen feindlich bedrohten. Er spürte einen kurzen, 40 gewaltsamen Kampf, aber der Jubel, der plötzlich aus ihm sprang, verkündete ihm den Sieg der Freuden.

Lachend sprang er vom Fenster weg und schob, die Arme fröhlich schwingend, im Walzerschritt ein paarmal durch das Zimmer, rund um den Tisch!

Aber er musste wieder zum Fenster, musste nochmals auf die Straße sehen, wo der Schnee wie eine Wolke von feinen Spitzen niedersank.

Aus den Häusern drüben schwankten Weihnachtslichter, und schnelle, immer wechselnde Schatten der Menschen zogen vorbei. Diese betrachtend und mit dem süßen Taumel in sich, genoss er die seltene Stimmung am tiefsten. Dabei empfand er jene Angst vor der Störung, die man manchmal im Sommer hat, wenn man einsam im Wald liegt: man lauscht einem leisen, fernen Vogelruf, der jubelnd anhebt und auf Secunden versinkt – wenn nur kein Hauch über die Blätter rauscht, kein Schritt naht . . .!

Er sah auf die Uhr. Es war neun! Jetzt musste er gehen. Er musste sich von seiner Stimmung lösen, die sich nach einem 41 aufrührerischen Toben wieder wie ein leichtes, weiches Gewand an ihn schmiegte. Denn er wollte bald in eine andere schlüpfen, vielleicht eine weniger weihnachtliche, aber eine ganz eigene, die – wie der glitzernde Baum von Millionen – von ihm, dem Einzigen, alljährlich als ein hohes Fest erwartet wurde.

Der Ring war sein Ziel. Ohne es zu wollen und zu wissen, gieng er auf einem Umweg hin, von der Landstraße, wo er wohnte, über die Marxergasse, wo sie wohnte. Erst wie er vor ihrem kleinen einstöckigen Hause stand, merkte er lächelnd die List seiner Beine und war ihnen nicht undankbar.

Er schaute hinauf. Richtig! im Salon stand der Baum. Er sah nur seine Spitze, wo himmelblaue Bänder sich durch die grünen Zweige schlangen. Die Farbe der Bänder freute ihn.

Er erinnerte sich jenes blauen Sommertages in Weidlingau – »dort ist der Himmel blau« – wo sie sich, nachdem sie sich tüchtig ausgeküsst und zuerst ihre Liebe mit hohen Worten ausgeputzt hatten, auf »blau« beeidigten und er Mizzi, an der Taille wie ein 42 Kind in die Luft hebend, »Fräulein Blauerl« getauft hatte.

Seit jener Verlobung im Grünen begannen die kleinen Zänkereien, weil jedes, trotz der großen Liebe zum Andern, von seinem besonderen Wesen nicht lassen konnte, oft trotzig und empfindlich war und seine wienerische Freude am »Frozzeln« nicht zurückhielt.

Freilich kam immer bald die Versöhnung, die, je länger der Zank, desto lustiger und toller wurde.

Diesmal dauerte der Zank schon zwei Wochen lang. Eben weil Weihnachten kam und sich da eins auf das andere so freute, gab keines nach. Er hätte ihr vielleicht auch sein Weihnachtsgeschenk nicht geschickt, aber es war schon einen Monat vorher bestellt worden: ein Album aus blauem Plüsch und drinnen Photographien ihrer Lieblingsorte im Wienerwald, die sie gemeinsam im Sommer aufgenommen hatten. Ob sie's zum Baum gestellt hat? Oder noch trotzig in ihrem Schrank versteckt hielt?

Schon wäre er hinauf geeilt, um sich davon persönlich zu überzeugen; aber ein Schatten, der plötzlich aus ihrem Fenster kam, 43 erschreckte ihn so, dass er sich wandte und fortgieng.

Er durfte doch nicht zuerst nachgeben! – Wenn sie ihn nur nicht da unten sehnsüchtig gaffen gesehen! O, diese Blamage, und die Frozzelei dann! – –

Er spürte, wie ihm der bloße Gedanke daran die Röthe in die Wangen trieb. Gut wenigstens, dass ihn niemand von der Straße bemerkt hatte. Da sah man nur ganz fern einige menschliche Rücken sich schnell bewegen.

Er dachte wieder an sein Ziel: den Ringstraßenbummel. Früher hatte er mit seinen Freunden oder Freundinnen Weihnachten gefeiert, später aber war er von der Sorte der lebenden Freunde zu einer anderen übergegangen, die ihm treuer blieb. Die Straßen, Gärten und Gebäude der Stadt wurden seine rechten Freunde. Erstens waren sie alle schön, und anders schön im Frühling als im Sommer, im Winter und Herbst; dann ließen einen diese Freunde nie aufsitzen, man konnte sie besuchen, wann man wollte, sich immer mit ihnen freuen, traf sie immer an, störte sie nie . . .

44 Und weil die Ringstraße aller Wiener Straßen Königin ist, gleichsam das von vielen Edelsteinen leuchtende Stirnband der Stadt, so hatte Edi beschlossen, sein Weihnachten mit dieser liebsten Freundin »Frau Ringstraße« zu begehen . . .

Wie er jetzt zwischen den Häusern schritt, aus deren Fenstern noch immer die lieben Lichter glitzerten, und auf dem weichen Schneeteppich des Trottoirs seine Schritte dumpf, fast wie ferne Glockenschläge hallten, kam noch einmal die Weihnachtstimmung über ihn. Da schienen ihm die Straßen, jetzt, wo die Menschen sie verlassen hatten und nur mehr für einander lebten, fremd, als verberge ihr vertrautes Gesicht eine starre Maske; da schien ihm die Stadt selbst – in grausamer Vision – wie ein gewaltiger Friedhof und die Häusersärge auf eine Riesenhand harrend, die sie einscharre . . .

Aber als er in die Nähe des Rings kam, hatte er sich dieser Stimmung entwunden, und es schwand auch der todestraurige, einsame Schein an den lieben Gebäuden. Jedes nahm sein eigenes, ihm so vertrautes Leben wieder an und prunkte mit seiner Pracht vor ihm, 45 wie ein schönes und seiner Schönheit bewusstes Weib vor einem Don Juan.

Als er jetzt durch die leere Straße zur Votivkirche schritt und die grauen Thürme wie eine Pforte zu der Herrlichkeit der Ringstraße herüberragten, jubelte es ihm zu: »Du Glückskerl, heute gehört sie ja dir, dir allein! Geh' sonst am Tag her, am Abend, in der Früh', da wimmelt's von Leuten, und sind sicher welche darunter, die ihr Wien und ihre Ringstraße so lieb haben wie du und sich im Schauen als Besitzer ihrer Schönheit fühlen. Heut' aber ist kein Teufel da, alles in den Mauern mit den Gedanken bloß an sich und die Familie. Es ist ohnehin das letzte Mal, dass du allein (Edi ist im nächsten Jahr schon mit Mizzi verheiratet!) hier deine Weihnacht feierst. Grab' dir die Herrlichkeit tief ein und lass' in dir das Bild dieser Nacht zu einem ewigen und unvergesslichen werden!« –

Lange stand er vor der Kirche. Die jetzt langsam und zerstreut fallenden Flocken ließen ihn hoffen, dass die Wolken sich theilen würden. Vielleicht glitzerten dann sogar noch ein paar Sterne vom Himmel?! –

46 Ohne scharf umrissene Klarheit, aber auch nicht im Nebel verdeckt, griffen die zwei Thürme der Votivkirche wie rasch aus der Erde gestreckte Riesenarme in die Luft, nicht drohend und feindlich, aber gewaltig, als ob sie sich der eigenen Größe freuten.

Die Häuser des Platzes standen wie ängstlich zitternde Planken umher. Und auch der breite, weibliche Bau der Universität schmolz zu etwas Unansehnlichem vor jenen grauen, einsamen Thürmen. Aber sie war ein rechter Uebergang von der schroffen, im Dunkel wie aus Dolomitfelsen gehauenen Kirche zu den spielenden, fast wie versteinte Walzerrhythmen in den Horizont klingenden Formen des Rathhauses.

Da kam ihm seine behaglichste, wienerischste Stimmung; da wurde der Grundton seines Wesens zu einem harmonisch ausschwellenden Accord erhöht. Sein Rathhaus, sein liebstes Gemäuer in der Stadt! Wie es nur so lieb, freilich auch ein bisschen protzig, dastand! Aber wenn man was Rechtes hat, darf man sich wohl etwas einbilden. Darum, Rathhaus, mein herziges, liebes Haus – so sang seine Seele – mach' dir nichts draus, scher' dich um nichts, 47 stell' dich nur so her, wie du bist, und erdrück' da alle deine verehrten Mithäuser, wie sie auch heißen mögen: Burgtheater, Universität, Parlament &c. &c., mit deiner hellen, giebeligen, fahnenlustigen, schlankbogigen Pracht! –

Und wie, wenn man die Geliebte weinen sieht, man sich gerne vorstellt, wie schön sie lachend ist, so sprang Edis Phantasie in den Frühling und gedachte der blauen Tage mit dem Silberstaub, den sie auf die Welt streuen, und wie da das Rathhaus, blau gestickt sich in den Himmel prägend, den erst schön macht, so dass man nicht weiß, solle man sich wünschen, blau und froh zu sein wie er, oder schlank, gothisch und voll jauchzender Kraft wie es . . .

Er schritt tief athmend vor dem Burgtheater auf und ab, um die Hitze, in die er gerathen, zu kühlen. Dann überquerte er den Ring, und als er den steilen, wie eine Wolke hängenden Schatten der Minoritenkirche gewahrte, musste er lächeln. Was waren ihm da schon für Vergleiche in seinem Leben eingefallen! Einmal war sie der Dachstein, der Thurmstumpf dagegen eine ungeputzte Stiefelröhre, ein anderesmal kam es ihm just vor, das schiefe Dach sei eine aufgestellte Staffelei 48 für den lieben Herrgott und der Thurmstumpf der nebenhin gestellte Cylinder eben desselben Herrgotts. Heute aber musste es ein Elephant sein, der von Indien nach Wien gefahren und nun höhnisch über unsere ihm zu kleine Stadt seinen Rüssel zu diesem Thurmansatz aufschnupperte.

Noch lächelte Edi, aber sich zum Parlament wendend, nahm seine Miene etwas leise Klagendes an. Der zierliche griechische Palast stand im Schnee da, wie ungefähr eine Venus Anadyomene in Boa und Muff . . . Rasch schritt er von hier auf den Burgring und erquickte sich an der Justamentpose der bronzenen Maria Theresia. Dass er sie so ansah, führte ihn in ganz intime Regionen seiner Seele . . .

Stehend mochte er aber in diesen nicht wandeln, drum sah er sich nach einer Bank um und entdeckte erstaunt eine, wo an der Seite der Schnee weg war und die Stapfen, die von ihr liefen, darauf wiesen, dass ein Paar hier gewesen sei. Er freute sich darüber. Jetzt wollte er ja paarweise denken. Die Maria Theresia war der Uebergang. Gerade so wie die hätte eine gewisse Mutter einer gewissen 49 Mizzi dasitzen können und ist schon einmal so gesessen. In der »Cavalleria«, wo er damals eine Loge genommen. Die Tochter war freilich proportionierter. Sie musste einen Körper haben wie das »Donauweibchen« im Stadtpark – –

Als Edi so sann und zurücksann, mit der linken Hand den Schnee auf der Bank zerknüllte, kam er sich ziemlich allein vor . . . Es wäre doch hübsch gewesen, mit der Mizzi zu bummeln, jetzt und gerade hier . . . Na, bis zur nächsten Weihnacht ist ja Zeit genug zur Versöhnung . . . Sie wird aber ein Gesicht gemacht haben . . . er sah auf die Uhr. Ja, jetzt muss sie's schon geöffnet haben, die kleine Schachtel mit der kleinen Brosche, worauf E und M in blauen Steinchen verschlungen sind, und g'rad' im Mittelpunkt ein dunkler Rubin . . .

Er hob die Augen. Hinter den Dächern von Mariahilf hatten sich die Wolken geöffnet und ließen einen schmalen Streifen gestirnten Himmel durchleuchten. Seine Gedanken schlummerten langsam ein. Der Spalt hatte sich wieder geschlossen – – Rathhaus, Mizzi, die Kuppeln der Museen, blaue Augen, Schneesterne und Brosche schlangen sich zu einem 50 bunten Traum. Die Augen fielen ihm zu. Da sah er alles klarer und rascher durcheinander schwingen . . . Zuletzt erschien ihm ein sonderbares Bild . . . Es war der mittlere Rathhausthurm. Dort, wo gewöhnlich die große Uhr herausschaut, beugte sich der Kopf eines Mädels, um den die blonden Haare im Winde flatterten. Sie schien jemandem unten aus der Straße zuzuwinken, die Zeiger ihrer Augen verkündeten einem Einzigen die froheste Stunde. Edi aber fühlte in seinen Gliedern drückende Schwere, wie von einer eisernen Rüstung. Er hätte gern die Hand herabgestreckt und gerufen: Mizzi, schau! ich bin ja ober Dir, nicht unter Dir. Seine Hand aber war um eine lange Fahne gepresst, er konnte sie nicht rühren und die Zunge nicht zu einem einzigen Worte lösen . . .

Da schallten langsam und dumpf Schritte her. Er sah auf. Eine glänzende Pickelhaube befreite ihn aus der Rolle des »Eisernen Mannes«.

Noch umfieng ihn aber der Traum so sehr, dass er nicht aufstehen konnte, sondern mit erstaunten Blicken den Mann herankommen ließ. Er spürte plötzlich eine dicke Hand auf 51 seiner rechten Schulter. Das erweckte ihn vollends. Er sprach: »Sie entschuldigen schon, ich hab mich in meinem Weihnachtsbesuch bei Frau Ringstraße etwas verspätet.« Dann zog er den Cylinder mit einer weiten, runden Bewegung des Armes, verneigte sich mit kleinen Wendungen nach rechts und links; und bevor der stramme Wachmann ein dienstlich Wort in den Mund nehmen konnte, schritt Edi mit seinem leichten, rhythmischen Gang dem Opernring zu. Jener blieb einen Moment stehen, – wahrscheinlich sah er dem scheinbar Verrückten nach – dann gieng er plump und fest die entgegengesetzte Richtung, um die Inspection zu beenden.

Man hörte geraume Zeit die leise knirschenden Schritte Edi's und das Gedröhne der Polizeibeine.

Noch einmal blickte der Behelmte um und schüttelte die Haube über den seltsamen Gang des seltsamen Herrn. Edi machte es nämlich Spass, in den breiten Stapfen zu gehen, die sein Retter vorher in den weichen Schnee gegraben hatte.

Auf dem Heimweg quälte es ihn, ob in dem bewussten kleinen Haus in der 52 Marxergasse noch die Kerzen am Baum mit den himmelblauen Bändern brennen würden, ob ein blaues Plüschalbum im Salon unter den Geschenken in gebürender Stellung stände oder ob es im Schrank versteckt wäre. – Ein paar blaue Augen konnten verweint sein . . . . sie aufzuhellen wäre doch der beste Abschluss! 53

 


 


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