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Lokis (Der Bär)

Über die Entstehung der Novelle vergl. Augustin Filon, Mérimée et ses amis, Paris 1894, Seite 300-305; vgl. auch S. 373 und 397 ff. dieses Bandes.

Aufzeichnungen des Professors Wittenbach

Nach einer älteren Übersetzung

Erstdruck in der Revue des Deux Mondes vom 15. September 1869. In Buchform in den Dernières Nouvelles, 1873. Es liegen vier deutsche Übersetzungen vor.


Theodor, sagte der Professor Wittenbach, sei so gut und reiche mir den Schweinslederband dort im zweiten Fach über meinem Schreibtisch …, nein, den nicht, den kleinen in Oktav. Darin stehen Auszüge aus meinem Tagebuche von 1866, wenigstens alles, was sich auf den Grafen Szemioth bezieht.

Der Gelehrte setzte seine Brille auf und las, von tiefem Schweigen umgeben, folgendes vor.

Lokis

Motto (litauisches Sprichwort):

Miszka su Lokiu,
Abu du tokiu.

Zu deutsch:

Michel und Lokis,
Ein und derselbe.

Als in London die erste litauische Übersetzung der Heiligen Schrift erschienen war, veröffentlichte ich in der Königsberger Zeitschrift für Wissenschaft und Literatur eine Besprechung, in der ich der gelehrten Arbeit sowie den Absichten der Bibelgesellschaft volle Gerechtigkeit widerfahren ließ, dabei aber auf einige leichte Irrtümer aufmerksam machte und darauf hinwies, daß diese Übersetzung nur einem Teile des litauischen Volkes zugute komme, da der Dialekt, dessen man sich bedient, schwer verständlich für die Bewohner der Gegenden sei, in denen die schamaitische oder, wie man sie volkstümlich nennt, die schmudische Sprache gesprochen wird. Es ist dies die Mundart, die in der Woiwodschaft Samogitien gebräuchlich ist und dem Sanskrit vielleicht noch nähersteht als das Hochlitauische. Diese Bemerkung, obgleich sie mir die heftigste Entgegnung eines gewissen in Dorpat wohlbekannten Professors zuzog, leuchtete dem ehrenwerten Verwaltungsrat der Bibelgesellschaft ein, und er machte mir den schmeichelhaften Antrag, die Übersetzung des Matthäus-Evangeliums ins Schamaitische zu übernehmen und herauszugeben.

Ich war damals zu sehr durch meine transuralischen Sprachstudien in Anspruch genommen, als daß ich mich einer weitergreifenden Arbeit, der Übertragung aller vier Evangelien, hätte unterziehen können, schob aber dieser Aufgabe zuliebe meine Verheiratung mit Fräulein Gertrud Weber auf und begab mich nach Kowno in der Absicht, alle zugänglichen gedruckten oder handschriftlich vorhandenen Denkmäler der schmudischen Sprache zusammenzutragen. Besonders rechnete ich auf Volkslieder (Daïnos) sowie auf Erzählungen und Legenden (Pasakos), die mir die Unterlage zu einem Wörterbuche liefern sollten, dessen Aufstellung der Übersetzung vorangehen mußte.

Unter anderen Empfehlungsbriefen hatte man mir einen an den jungen Grafen Michael Szemioth mitgegeben, dessen Vater, wie man mich versicherte, den berühmten Samogitischen Katechismus des Paters Lawicki besessen, ein Buch, das so selten ist, daß hie und da sein Vorhandensein überhaupt bestritten worden ist, namentlich von jenem schon erwähnten Dorpater Professor. Außerdem sollten sich in der Bibliothek des Grafen nicht nur eine Sammlung alter Daïnos, sondern auch Dichtungen in der alten preußischen Mundart befinden. Nachdem ich dem Grafen geschrieben, um ihm den Zweck meines Besuches mitzuteilen, empfing ich von ihm eine liebenswürdige Aufforderung, die zu meinen Studien nötige Zeit im Schlosse Medintiltas zuzubringen. Seine Einladung schloß in höchst anmutiger Weise mit der Versicherung, der Schreiber tue sich etwas darauf zugute, das Schmudische fast so geläufig zu sprechen wie die Bauern, und es werde ihm Freude machen, seine Bemühungen mit den meinigen bei dieser Arbeit zu vereinigen, die ihn ebenso wichtig wie anregend dünke. Wie etliche der reichsten Grundbesitzer Litauens, bekannte sich der Graf zum evangelischen Glauben, dessen Diener zu sein ich die Ehre habe. Übrigens hatte man mich darauf vorbereitet, daß er nicht frei von gewissen Wunderlichkeiten sei, schilderte mir ihn aber als sehr gastfrei, als Freund der Künste und Wissenschaften, sowie als besondren Gönner ihrer Jünger, und so reiste ich nach Medintillas ab.

An der Freitreppe vor dem Schlosse ward ich vom Inspektor des Grafen empfangen und sofort nach den für mich bestimmten Gemächern geführt.

Der Herr Graf bedauert sehr, vermeldete er mir, heute nicht mit dem Herrn Professor speisen zu können; er leidet etwas an Migräne, die ihn von Zeit zu Zeit heimsucht. Wenn der Herr Professor das Diner nicht auf dem Zimmer einzunehmen wünscht, so wird er gemeinsam mit Herrn Dr. Fröber, dem Arzt der Frau Gräfin, in einer Stunde dinieren. Toilette ist nicht nötig. Hat der Herr Professor Befehle: hier ist die Klingel.

Nach diesen Worten zog sich der Inspektor mit tiefer Verbeugung zurück.

Mein Zimmer war geräumig, gut eingerichtet, mit Spiegeln und Vergoldungen geschmückt und hatte auf der einen Seite Aussicht nach dem Garten oder vielmehr nach dem Parke des Schlosses, auf der andern nach dem großen Hofe. Trotz der Benachrichtigung, Toilette sei nicht nötig, glaubte ich meinen schwarzen Rock aus dem Koffer nehmen zu müssen und stand, eben beschäftigt, meine Habseligkeiten auszupacken, in Hemdärmeln da, als mich das Rollen eines Wagens an das Fenster nach dem Hofe lockte. Eine elegante Kalesche war soeben vorgefahren. Darin saß eine schwarzgekleidete Dame, ein Herr und eine Frau in der Tracht der litauischen Bäuerinnen, die aber so groß und stark war, daß ich sie anfänglich für einen verkleideten Mann zu halten geneigt war. Diese Frau stieg zuerst aus. Zwei andre Weiber von nicht minder kraftvollem Äußern standen bereits unter der Einfahrt. Der Herr neigte sich zu der schwarzgekleideten Dame und schnallte zu meiner nicht geringen Verwunderung einen breiten Ledergürtel los, mit dem sie an ihren Platz im Wagen gefesselt war. Die Dame hatte langes, weißes, verwirrtes Haar und große, weitgeöffnete Augen, die leblos schienen; man hätte sie für eine Wachsfigur halten können. Nachdem sie losgebunden war, richtete ihr Gefährte in ehrerbietiger Weise und mit dem Hute in der Hand einige Worte an sie, die sie aber offenbar nicht im geringsten beachtete. Er wandte sich nun zu den weiblichen Dienstboten, gab ihnen einen Wink mit dem Kopf, und augenblicklich bemächtigten sie sich der schwarzen Dame, hoben sie, trotz ihrer Bemühungen, sich an die Kalesche festzuklammern, wie eine Feder heraus und trugen sie ins Schloß. Einige Diener waren Zeuge des Geschehnisses, das ihnen wohl nichts Ungewöhnliches war. Der Mann, der den ganzen Vorgang geleitet hatte, zog seine Uhr und fragte, ob man bald zu Tisch gehe.

In einer Viertelstunde, Herr Doktor, entgegnete der Diener.

Ich erriet ohne große Mühe, daß ich den Dr. Fröber vor mir hatte, und daß die schwarze Dame die Gräfin war. Ihrem Alter nach mußte sie die Mutter des Grafen Szemioth sein. Die gebrauchten Vorsichtsmaßregeln ließen keinen Zweifel, daß sie geisteskrank war.

Einen Augenblick später trat Dr. Fröber bei mir ein.

Da der Herr Graf unpäßlich ist, muß ich mich Ihnen selber vorstellen, Herr Professor, sagte er. Ich bin Dr. Fröber und sehr erfreut, die Bekanntschaft eines Gelehrten zu machen, dessen Verdienste allen Lesern der Königsberger Zeitschrift für Wissenschaft und Literatur wohlbekannt sind. Wäre es Ihnen angenehm, wenn wir unser Mittagsmahl gleich einnähmen?

Ich beantwortete seine verbindlichen Worte so gut wie möglich und erklärte mich gern bereit, ihm zu Tisch zu folgen.

Sobald wir den Speisesaal betreten hatten, bot uns der Haushofmeister, nach der Sitte des Landes, eine silberne Platte dar mit Schnäpsen und allerlei gesalzenen und starkgewürzten, die Eßlust anregenden Delikatessen.

Erlauben Sie mir, Herr Professor, sagte der Doktor, Ihnen in meiner Eigenschaft als Arzt ein Gläschen von diesem Starka zu empfehlen, echtem Kognak, der seit fünfzig Jahren im Fasse liegt. Er ist unübertrefflich. Dazu nehmen Sie eine Drontheimer Anschove; nichts ist geeigneter, die Verdauung vorzubereiten. Und nun zu Tisch! Aber warum sprechen wir nicht Deutsch? Sie sind aus Königsberg, ich bin aus Memel, habe aber in Jena studiert. So sind wir ungezwungener, und die Diener, die nur Polnisch und Russisch sprechen, verstehen uns nicht.

Anfänglich aßen wir schweigend; nachdem wir aber das erste Glas Madeira getrunken, fragte ich den Doktor, ob der Graf oft an dem Übel leide, das uns heute seiner Gesellschaft beraubte.

Ja und nein, entgegnete er. Das hängt von den Ausflügen ab, die er macht.

Wieso?

Reitet er zum Beispiel in der Richtung von Rosiano, so kehrt er stets mit Kopfweh und in schlechtester Laune zurück.

Seltsam? Ich bin auch in Rosiano gewesen, und es ist mir derlei nie widerfahren.

Ja, Sie sind auch nicht verliebt! entgegnete der Doktor lachend.

Ich seufzte, indem ich an Gertrud Weber dachte.

Die Braut des Grafen wohnt also in Rosiano? fragte ich.

Ja, in der Nähe. Aber von Brautschaft ist nicht die Rede. Sie ist eine ausgemachte Kokette und wird es noch dahin bringen, daß er den Verstand verliert wie seine Mutter.

Die Frau Gräfin ist allem Anschein nach krank?

Verrückt, lieber Professor, verrückt. Noch verrückter aber bin ich, daß ich hierbleibe.

Hoffen wir, daß die Gräfin unter Ihrer Pflege wiederhergestellt wird.

Der Doktor schüttelte den Kopf, während er sorgfältig die Farbe eines Glases Bordeaux prüfte, das er in der Hand hielt.

Wie Sie mich hier sehen, Herr Professor, war ich Stabsarzt beim Regiment Kaluga, fuhr er fort. In Sewastopol hatten wir vom Morgen bis zum Abend Arme und Beine abzuschneiden. Reden wir nicht von den Bomben, die um uns flogen wie die Fliegen um einen wundgedrückten Gaul. Dabei waren wir aufs schlechteste genährt und verpflegt, aber ich fühlte mich da glücklicher als hier, wo ich esse, trinke und wohne wie ein Fürst und bezahlt werde wie ein kaiserlicher Leibarzt. Ich vermisse die Freiheit, Professor! Stellen Sie sich vor, daß man bei diesem Satansweib niemals eine ruhige Minute hat!

Behandeln Sie die Gräfin schon lange?

Beinahe zwei Jahre; aber sie ist seit fast siebenundzwanzig Jahren wahnsinnig; war es schon vor der Geburt des Grafen. Hat man Ihnen in Rosiano nicht davon erzählt? Nun, so hören Sie. Es ist dies ein Fall, über den ich in der Petersburger Medizinischen Zeitschrift später eine Abhandlung veröffentlichen werde. Sie ist vor Schreck um den Verstand gekommen …

Vor Schreck? Wie ist das möglich?

Vor Schreck! Die Gnädige ist eine Keistut. In diesem Hause schließt man keine Mesalliancen; unser Ahnherr ist Gedimin … Aber hören Sie, bester Herr Professor. Zwei oder drei Tage nach der Hochzeit, die in dem Schlosse stattfand, wo wir gegenwärtig zu Tisch sitzen … (auf Ihre Gesundheit!) veranstaltete der Graf, der Vater des jetzigen Besitzers, eine große Jagd. Wie Sie wissen, sind die litauischen Damen Amazonen. Die Gräfin nimmt also an der Jagd teil … bleibt hinter dem Felde oder ist ihm voraus, was weiß ich … genug, plötzlich erblickt der Graf den kleinen Kosaken der Gräfin, einen Knaben von zwölf bis vierzehn Jahren, wie er mit verhängten Zügeln herangesprengt kommt.

Herr, ruft der Knabe, ein Bär schleppt die Gräfin fort!

Wo, wo? fragt der Graf.

Dort! entgegnet der kleine Kosak.

Die ganze Jagdgesellschaft eilt nach dem bezeichneten Ort. Keine Gräfin zu sehen! Nichts als ihr erwürgtes Pferd und ihr zerrissener Pelz. Suchend durchstreift man den Wald nach allen Richtungen. Endlich schreit ein Jäger: Da ist der Bär! In der Tat erblickt man das Tier, das eben eine Lichtung durchquert und die Gräfin mit sich schleppt, wahrscheinlich um sie im Dickicht mit Bequemlichkeit zu verzehren; denn die Bären sind Gutschmecker und halten ihre Mahlzeiten, wie die Mönche, gern ungestört. Der Graf, erst seit zwei Tagen verheiratet, will sich mit dem Jagdmesser in der Hand ritterlich auf das Tier stürzen, aber ein litauischer Bär läßt sich nicht abfangen wie ein Hirsch. Glücklicherweise gibt der Jäger des Grafen, ein betrunkener Bursche, der an dem Tage nicht mehr ein Kaninchen von einem Reh zu unterscheiden vermochte, auf hundert Schritt Feuer, ohne sich im mindesten darum zu kümmern, ob seine Kugel die Bestie oder die Frau trifft …

Und er tötet den Bären?

Auf der Stelle. Solche Meisterschüsse tun nur Bezechte. Es gibt aber auch Freikugeln, Herr Professor. Wir haben hier kundige Leute, die welche zu festen Preisen verkaufen … Die Gräfin war ganz zerkratzt, ohne Besinnung und hatte ein Bein gebrochen. Man schafft sie heim; sie kommt zu sich, aber ihr Geist ist gestört. Man bringt sie nach Petersburg. Vier berühmte, mit allen möglichen Orden dekorierte Ärzte halten eine große Konsultation ab. Sie sagen, die Gräfin ist guter Hoffnung; es ist möglich, daß bei der Geburt des Kindes eine günstige Krise eintritt. Bis dahin soll sie sich in guter Luft, auf dem Lande aufhalten, Molken trinken und so weiter. Jeder der Arzte erhält hundert Rubel. Neun Monate später gibt die Gräfin einem wohlgestalteten Knaben das Leben. Aber die günstige Krise? Hat sich was! Im Gegenteil, die Krankheit wird schlimmer. Der Graf zeigt ihr das Söhnchen; ein Mittel, das nie seine Wirkung verfehlt – in Romanen nämlich. Tötet ihn, tötet die Bestie! ruft die Gräfin, und es fehlte wenig, daß sie dem Kinde nicht den Hals umdrehte. Seitdem wechselt ihr Zustand zwischen Stumpfsinn und Wutanfällen. Dabei starker Hang zum Selbstmord. Wir müssen sie anschnallen, um sie an die Luft bringen zu können, und drei starke Weiber vermögen kaum sie zu halten. Nur ein Mittel gibt es, sie zur Ruhe zu bringen; beachten Sie die Tatsache, Herr Professor! Bin ich mit meinem Latein zu Ende, ohne Gehorsam zu erzwingen, so drohe ich, ihr die Haare abzuschneiden. Diese Haare waren, glaube ich, ehedem sehr schön, und Eitelkeit ist offenbar das letzte menschliche Gefühl, das lebendig in ihr geblieben ist. Seltsam, nicht wahr? Dürfte ich nur tun, was ich wollte, vielleicht gelänge es mir doch, sie herzustellen.

Wodurch?

Durch Schläge. Ich habe auf diese Weise zwölf Bäuerinnen in einem Dorfe kuriert, wo die russische Epidemie des Besessenseins ausgebrochen war. Diese besteht darin, daß eine Frau zu heulen anfängt; bald darauf beginnt auch ihre Gevatterin, und binnen drei Tagen heult das ganze Dorf Im Russischen heißt eine Wahnsinnige: Heulerin. (Mérimée.). Mit Hieben bin ich da zum Ziele gekommen. Man nimmt dazu Haselruten, die sehr geschmeidig sind. Aber der Graf hat mir nie erlauben wollen, den Versuch zu machen.

Wie? Sie wollen, er solle zu dieser abscheulichen Behandlung seine Einwilligung geben?

Mein Gott, er kennt seine Mutter ja kaum. Außerdem wäre es zu ihrem Besten. Aber sagen Sie mir, Herr Professor, hätten Sie je geglaubt, daß man vor Schreck den Verstand verlieren kann? Die Lage der Gräfin war allerdings entsetzlich … Sich in den Klauen eines wilden Tieres zu befinden!

Ihr Sohn ist ihr darin sehr unähnlich. Es mag etwa ein Jahr her sein, daß er sich in der fast gleichen Lage befand, und dank seiner Kaltblütigkeit ist er ohne allen Schaden davongekommen.

Ohne Schaden aus den Tatzen eines Bären?

Einer Bärin und zwar einer der größten, die man seit langem gesehen. Der Graf wollte ihr mit dem Spieß zu Leibe gehen. Aber sie schlägt das Eisen zur Seite, stürzt sich auf den Grafen und wirft ihn mit derselben Leichtigkeit zu Boden, wie ich diese Flasche umwerfen würde. Der Graf, ein Schlaukopf, spielt den Toten. Die Bärin beschnüffelt und beschnuppert ihn und fährt ihm dann, anstatt ihn zu zerreißen, mit der Zunge übers Gesicht. Der Graf besitzt Geistesgegenwart genug, sich nicht zu rühren, und das Tier geht ruhig seines Weges.

Die Bärin hat wahrscheinlich geglaubt, er wäre tot. Ich habe in der Tat gehört, daß Bären nichts Totes fressen.

Man muß es glauben und auf die Bestätigung durch eigene Erfahrung verzichten. Aber in puncto Schreck möchte ich Ihnen eine Geschichte aus Sewastopol erzählen. Wir saßen ihrer fünf oder sechs um einen Krug Bier, den man uns an den Verbandplatz der berühmten fünften Bastion gebracht hatte. Die Vedette rief: Eine Bombe! Wir warfen uns alle platt zur Erde, mit Ausnahme eines einzigen, eines gewissen …, doch der Name tut nichts zur Sache. Dieser eine, ein junger Offizier, der eben angekommen war, blieb stehen und hielt gerade im Augenblick, als die Bombe platzte, ein volles Glas in der Hand. Das Geschoß riß meinem Kameraden Andreas Speranski, einem braven Jungen, den Kopf weg und zerschlug den Bierkrug, der glücklicherweise beinahe leer war. Als wir wieder aufstanden, erblickten wir, inmitten des sich verziehenden Rauches, unsern Freund, wie er seinen letzten Schluck Bier austrank, als ob nichts geschehen wäre. Wir hielten ihn natürlich für einen Helden. Am nächsten Tage begegne ich dem Hauptmann Gedeonoff. Er war eben aus dem Feldlazarett entlassen. Ich esse heute mit euch, sagt er, und um meine Auferstehung zu feiern, lade ich euch zu Champagner ein. Wir setzen uns zu Tisch. Der junge Offizier, der gestern, während die Bombe platzte, sein Bier austrank, ist ebenfalls anwesend, aber auf den Champagner nicht vorbereitet. Man macht in seiner Nähe eine Flasche auf. Paff! Der Pfropfen trifft ihn an die Schläfe. Er stößt einen Schrei aus, und es wird ihm übel. Glauben Sie mir, unser Held hatte das erstemal ganz gehörige Angst, und wenn er, statt sich auf die Erde zu werfen, sein Bier austrank, so geschah das, weil er vor Schreck dergestalt den Kopf verlor, daß er nur noch einer ganz unbewußten, mechanischen Bewegung mächtig war. In der Tat, Herr Professor, die menschliche Maschine …

Herr Doktor, die Idanowna sagt, daß die Frau Gräfin sich weigert zu essen! meldete ein eintretender Diener.

Der Teufel soll sie holen! brummte der Arzt. Ich komme! Wenn ich die Hexe dazu gebracht habe, zu essen, können wir, wenn es Ihnen recht ist, eine Partie Préférence oder Duratschki spielen.

Ich bedauerte, keinerlei Spiel zu können, und, während der Doktor zu seiner Kranken ging, begab ich mich in mein Zimmer, um an Gertrud zu schreiben.

Die Nacht war heiß, und ich hatte das Fenster nach dem Park offen gelassen. Da ich, nachdem mein Brief fertig war, noch keine Lust verspürte, zu schlafen, so beschäftigte ich mich damit, die litauischen unregelmäßigen Zeitwörter durchzugehen, um im Sanskrit nach dem Grunde ihrer verschiedenartigen Unregelmäßigkeiten zu forschen.

Als ich noch bei dieser mich ganz in Anspruch nehmenden Arbeit war, bemerkte ich, wie ein Baum in der Nähe meines Fensters in Bewegung geriet. Ich hörte die dürren Zweige knacken, und es schien mir, als ob ein großes schweres Tier ihn zu erklettern versuchte. Noch unter dem Eindrucke der Bärengeschichte, die der Doktor mir erzählt hatte, stand ich nicht ohne Erregung auf und erblickte einige Fuß von meinem Fenster im Laubwerk des Baumes einen menschlichen Kopf, der durch das voll darauffallende Licht meiner Lampe beleuchtet wurde. Die Erscheinung währte nur einen Moment, aber der eigentümliche Glanz der Augen, die meinem Blicke begegneten, überraschte mich mehr, als ich zu sagen vermag. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Dann aber eilte ich ans Fenster und fragte den Eindringling in strengem Ton, was er wolle. Währenddem hörte ich ihn in aller Eile hinabklettern; schließlich faßte er mit den Händen einen großen Ast, und ihn mit sich hinabbiegend, ließ er sich auf den Boden fallen, wo er alsbald verschwand. Ich klingelte. Ein Diener kam herbei. Ich erzählte ihm, was soeben geschehen.

Der Herr Professor wird sich gewiß getäuscht haben.

Ich bin dessen, was ich sage, sicher, entgegnete ich; ich fürchte, es befindet sich ein Dieb im Park.

Unmöglich, Herr Professor!

Also war es jemand aus dem Hause?

Der Diener sah mich ohne Antwort mit großen Augen an. Endlich fragte er, ob ich noch Befehle hätte. Ich hieß ihn das Fenster schließen, legte mich zu Bett und schlief vorzüglich, ohne weder von Bären noch von Dieben zu träumen.

Am andern Morgen, als ich eben mit dem Ankleiden fertig war, wurde an meine Tür geklopft. Ich öffnete und befand mich einem sehr großen, schönen jungen Mann gegenüber, der in einem bucharischen Schlafrock gekleidet war und eine lange türkische Pfeife in der Hand hielt.

Ich komme, Sie um Verzeihung zu bitten, Herr Professor, daß ich einen Gast wie Sie nicht besser empfangen konnte, sagte er. Ich bin der Graf Szemioth.

Ich erwiderte, daß ich ihm im Gegenteil für seine großartige Gastfreundschaft verbindlichst zu danken habe, und fragte, ob seine Migräne vorüber sei. So ziemlich – bis zum nächsten Anfall, entgegnete er in traurigem Tone. Sind Sie hier erträglich aufgehoben? Sie müssen bedenken, daß Sie sich unter Barbaren befinden. In Samogitien darf man keine allzu großen Ansprüche machen.

Ich versicherte, daß ich mich gar nicht besser befinden könne. Aber während ich mit ihm sprach, vermochte ich mich nicht zu enthalten, ihn mit einer Neugier zu betrachten, die ich selber recht unschicklich fand. Sein Blick hatte etwas Eigentümliches, das mich, ich mochte wollen oder nicht, an den Mann erinnerte, den ich gestern abend auf dem Baume gesehen hatte.

Aber wie sollte Graf Szemioth dazu kommen, nachts auf Bäume zu klettern? fragte ich mich.

Der junge Mann hatte eine hohe, entwickelte, freilich ein wenig schmale Stirn. Seine Züge waren durchaus regelmäßig, nur standen die Augen etwas dicht zusammen. Es schien, als wäre, von einer Tränendrüse zur andern, nicht Platz genug für ein drittes Auge, wie es die Regel der griechischen Bildhauerkunst verlangt. Sein Blick war durchdringend. Unsre Augen begegneten sich, gegen unsern Willen, mehreremal mit forschendem Ausdruck, und immer wendeten wir sie mit gewisser Verlegenheit ab. Plötzlich brach der Graf in ein Gelächter aus und rief:

Sie haben mich wiedererkannt?

Wiedererkannt?

Ja, als den Gassenjungen von gestern Abend!

Herr Graf!

Ich hatte den ganzen Tag sehr leidend in meinem Zimmer zugebracht. Am Abend befand ich mich etwas besser und ging im Garten spazieren. Ich sah Ihr Licht und gab der Neugier nach. Ich hätte meinen Namen nennen, mich Ihnen vorstellen sollen, aber die Lage war zu lächerlich. Ich schämte mich und lief davon. Wollen Sie verzeihen, daß ich Sie mitten in Ihren Studien gestört habe?

Alles dies wurde in einem Tone gesagt, der scherzhaft klingen sollte; aber der Sprecher ward dabei rot und befand sich offenbar in großer Verlegenheit. Ich tat alles, was ich konnte, um ihn zu überzeugen, daß die erste Begegnung keinen unangenehmen Eindruck in mir hinterlassen, und um das Gespräch auf ein andres Gebiet zu leiten, fragte ich ihn, ob es wahr sei, daß er den Samogitischen Katechismus vom Pater Lawicki besitze?

Wohl möglich. Ich muß aufrichtig gestehen, daß ich in der Bibliothek meines Vaters wenig Bescheid weiß. Er liebte alte Bücher und Raritäten, und ich lese nur neuere Schriftsteller. Aber wir werden nachsuchen, Herr Professor. Sie wollen also, daß wir das Evangelium künftig in schmudischer Sprache lesen?

Glauben Sie nicht, Herr Graf, daß eine Übersetzung der Heiligen Schrift in die Landessprache wünschenswert wäre?

Gewiß. Indessen gestatten Sie mir wohl eine Bemerkung. Ich möchte behaupten, daß unter den Leuten, die nur Schmudisch verstehen, kein einziger ist, der lesen kann.

Vielleicht ist es so, aber ich möchte mir erlauben, Euer Erlaucht Siatelstvo, Erlaucht, Anrede, die dem russischen Grafen zukommt., dagegen zu bemerken, daß die große Schwierigkeit, lesen zu lernen, auf dem Mangel an Büchern beruht. Wenn das Land erst gedruckte Bücher besitzt, wird man sie auch lesen wollen und wird deshalb lesen lernen. So ist's schon vielen wilden Völkern ergangen, zu denen ich die Bewohner dieses Landes keineswegs zählen möchte. Und ist's denn außerdem nicht schade, daß eine Sprache vom Erdboden verschwinden soll, ohne eine Spur zu hinterlassen? setzte ich hinzu. Seit etwa dreißig Jahren ist das Preußische eine tote Sprache. Der letzte Mensch, der Kornisch verstand, ist in diesen Tagen gestorben …

Traurig freilich! unterbrach mich der Graf. Alexander von Humboldt hat meinem Vater erzählt, er habe in Amerika einen Papagei gesehen, der allein noch einige Worte von der Sprache eines von den Blattern aufgeriebenen und ausgestorbenen Volksstammes wußte … Erlauben Sie, daß man den Tee hier serviert?

Während wir zusammen frühstückten, unterhielten wir uns weiter über die schmudische Sprache. Der Graf tadelte die Art und Weise, in der die Deutschen das Litauische gedruckt haben, und mit Recht.

Ihr Alphabet, sagte er, genügt für unsre Sprache nicht. Sie haben weder unser J, noch unser L, noch unser Y und E. Ich besitze eine im vergangenen Jahr in Königsberg veröffentlichte Sammlung von Daïnos und habe die größte Mühe, die Worte zu erraten; so fremdartige Entstellungen haben sie erfahren.

Erlaucht sprechen ohne Zweifel von der Leßnerschen Sammlung?

Gewiß. Recht alltägliche Sachen, nicht wahr?

Vielleicht hätte man Besseres finden können. Ich gebe zu, daß die Sammlung, so wie sie ist, allerdings bloß philologische Anregungen bietet; aber ich glaube, wenn man ordentlich suchte, müßte es gelingen, duftigere Blumen unter Ihren Volksliedern zu finden.

Das möchte ich trotz meinem Patriotismus bezweifeln.

Ich bekam vor einigen Wochen in Wilna eine wirklich schöne, obendrein historische Ballade, eine merkwürdige Dichtung. Erlauben Sie mir, sie Ihnen vorzulesen? Ich habe sie in meiner Brieftasche.

Sehr gern.

Er lehnte sich in seinen Lehnsessel zurück, nachdem er mich um Erlaubnis gebeten, rauchen zu dürfen.

Ich verstehe Poesie nur, wenn ich rauche, sagte er. Das Gedicht führt den Titel: Die drei Söhne des Budrys.

Die drei Söhne des Budrys? rief der Graf mit einer Gebärde der Überraschung.

Ja, des Budrys. Erlaucht wissen besser als ich, daß dies eine Gestalt der Geschichte ist.

Der Graf sah mich mit seinem eigentümlichen Blicke scharf an. Es lag etwas Unerklärliches, halb Schüchternes, halb Wildes darin, das, wenn man nicht daran gewöhnt war, einen beinahe peinlichen Eindruck hervorbrachte. Um dem zu entgehen, fing ich an zu lesen.

Die drei Söhne des Budrys.

Der alte Budrys ruft seine drei Söhne, drei echte Litauer wie er selber, in den Hof seines Schlosses und spricht zu ihnen:

Kinder, füttert eure Streitrosse, macht eure Sättel zurecht, schärft eure Säbel und Wurfspieße. Man sagt, daß in Wilna der Krieg gegen die drei Ecken der Erde erklärt ist. Olgerd wird gegen die Russen ziehen, Skirgello gegen unsre Nachbarn die Polen, Keistut wird die Deutschritter bekriegen. Ihr seid jung, stark, kühn. Zieht in den Kampf, und die Götter Litauens mögen euch beschirmen! Heuer bleibe ich daheim, aber ich will euch einen Rat geben. Ihr seid ihrer drei; drei Wege sind euch offen.

Einer von euch begleitet Olgerd nach Rußland an die Ufer des Ilmensees, unter die Mauern von Nowgorod. Man findet dort Hermelinfelle und Damaststoffe in Hülle und Fülle, und Rubel gibt es bei den Kaufleuten soviel wie Eisschollen im Fluß.

Der Zweite folge Keistut auf seinem Ritte. Möge er das kreuztragende Geschmeiß in die Pfanne hauen. Bei ihnen gibts Bernstein wie Sand am Meere. Ihre Tuche haben an Glanz und Farbe nicht ihresgleichen, und die Kittel ihrer Priester sind mit Rubinen besetzt.

Der Dritte ziehe mit Skirgello über den Njemen. Drüben wird er schlechtes Ackergerät finden, dafür gute Lanzen und starke Schilde, und er wird mir von dort eine Schwiegertochter mitbringen.

Polens Töchter, liebe Kinder, sind die schönsten aller Frauen. Sie sind mutwillig wie Katzen und weiß wie Milch. Ihre Augen glänzen unter schwarzen Wimpern wie zwei Sterne. Als ich vor einem halben Jahrhundert jung war, habe ich aus Polen eine schöne Gefangene mitgebracht, die meine Frau ward. Sie ist längst dahingegangen, aber ich kann ihren Platz am Herd nicht anschauen, ohne ihrer zu gedenken.

Dann gibt der Alte den jungen Männern, die schon gerüstet sind und im Sattel sitzen, seinen Segen. Sie reiten von dannen. Der Herbst kommt, dann der Winter. Sie kehren nicht zurück. Schon hält der alte Budrys sie für tot.

Da erhebt sich ein Schneesturm, und ein Reiter kommt geritten. Mit seinem schwarzen Filzmantel bedeckt er eine kostbare Last.

Das ist ein Sack, sagt Budrys. Er wird voller Rubel sein von Nowgorod.

Nein, Vater; ich bringe Euch eine Schwiegertochter aus Polen.

Während des Schneesturms kommt ein zweiter Reiter geritten. Sein Mantel bauscht sich über einer kostbaren Last.

Was hast du da, mein Sohn? Gelben Bernstein aus Deutschland?

Nein, Vater; ich bringe Euch eine Schwiegertochter aus Polen.

Immer noch fällt dichter Schnee hernieder, und ein dritter Reiter kommt geritten, der eine kostbare Last unter seinem Mantel birgt. Aber ehe er noch seine Beute zeigt, hat Budrys seine Freunde zur dritten Hochzeit eingeladen.

 

Bravo, Herr Professor, rief der Graf. Sie sprechen das Schmudische vortrefflich aus. Aber wer hat Ihnen die hübsche Daïna mitgeteilt?

Eine Dame, deren Bekanntschaft ich in Wilna, bei der Fürstin Katarina Paz, gemacht habe.

Und wie heißt sie?

Panna Iwinska.

Fräulein Julka! rief der Graf. Die kleine Hexe. Ich hätte es erraten können. Mein lieber Professor, Sie verstehen Schmudisch und alle andern Sprachen der Welt; Sie haben alle alten Bücher gelesen, aber Sie haben sich durch ein junges Mädchen, das nichts als Romane im Kopfe hat, hinters Licht führen lassen. Sie hat Ihnen eine der hübschen Balladen von Mickiewicz, die Sie nicht kennen, da sie nicht älter sind als ich, schlecht und recht ins Schmudische übersetzt. Wenn Sie wünschen, kann ich Ihnen den polnischen Text zeigen. Oder ziehen Sie eine vortreffliche russische Übersetzung vor, so gebe ich Ihnen Puschkin.

Ich gestehe, daß ich sprachlos war. Welcher Triumph für den Dorpater Professor, wenn ich die Daïna von den Söhnen des Budrys als Original veröffentlicht hätte!

Statt sich über meine Verlegenheit lustig zu machen, lenkte der Graf das Gespräch mit erlesener Höflichkeit auf einen andern Gegenstand.

Sie kennen also Fräulein Julka? fragte er.

Ich habe die Ehre gehabt, ihr vorgestellt zu werden.

Und was halten Sie von ihr? Aufrichtig!

Sie ist eine sehr liebenswürdige junge Dame.

Das sagen Sie so!

Auch finde ich sie sehr hübsch.

Ah!

Hat sie nicht die schönsten Augen der Welt?

Ja …

Und eine Haut von außerordentlicher Zartheit. Ich erinnere mich eines persischen Ghasels, in dem ein Liebhaber die feine Haut seiner Geliebten besingt: Wenn sie roten Wein trinkt, sagt er, sieht man ihn durch ihre Kehle rinnen … Panna Iwinska hat mich an diese persischen Verse erinnert.

Vielleicht ist Fräulein Julka ein solches Wunder; aber ich weiß nicht recht, ob sie Blut in den Adern hat … Sie besitzt kein Herz. Weiß wie Schnee und ebenso kalt.

Er stand auf und ging einige Zeit im Zimmer auf und ab, ohne zu sprechen, indem er, wie ich sah, seiner Bewegung Herr zu werden suchte. Dann blieb er plötzlich stehen.

Verzeihen Sie, sagte er. Wir sprachen, glaube ich, von Volksdichtungen.

Das taten wir, Herr Graf.

Man muß übrigens zugeben, daß Julka den Mickiewicz sehr hübsch übersetzt hat. Mutwillig wie eine Katze … weiß wie Milch … ihre Augen zwei glänzende Sterne … Julkas Selbstbildnis. Finden Sie nicht?

Ganz und gar, Herr Graf.

Und was den Scherz betrifft, den sie sich erlaubt hat und der ja übel angebracht ist …, das arme Kind langweilt sich bei ihrer Tante … Sie lebt wie im Kloster …

In Wilna war sie viel in Gesellschaft. Ich habe sie auf einem Balle gesehen, den die Offiziere des Regiments …

Ja, ja, junge Offiziere … das ist die Gesellschaft, die ihr zusagt … Lachen mit dem einen, schwatzen mit dem andern, mit allen liebäugeln … Wollen Sie jetzt die Bibliothek meines Vaters in Augenschein nehmen, Herr Professor?

Ich folgte ihm in eine große Galerie, wo eine Menge schöngebundener Bücher stand, die aber, wie man an dem daraufliegenden Staube sah, wenig benutzt wurden. Man denke sich meine Freude, als ich unter den ersten Bänden, die ich herauszog, den Katechismus Samogitikus fand. Ich konnte nicht umhin, einen Freudenschrei auszustoßen. Gewisse geheimnisvolle Kräfte beherrschen uns bisweilen. Der Graf nahm das Buch und schrieb, nachdem er es flüchtig durchblättert hatte, auf das Schmutzblatt: Herrn Professor Wittenbach von Michael Szemioth. Ich vermag nicht auszusprechen, wie groß meine Dankbarkeit war, aber ich gelobte mir im stillen, daß das kostbare Buch nach meinem Tode eine Zierde der Bibliothek der Universität werden sollte, an der ich meinen Doktorhut erworben hatte.

Wollen Sie die Bibliothek als Ihr Arbeitszimmer betrachten? fragte der Graf. Sie werden hier ganz ungestört sein.

Am andern Tage nach dem Frühstück schlug mir der Graf einen Ausflug vor.

Es handelte sich um den Besuch eines Kapas (so nennen die Litauer die kegelförmigen Grabmäler, die bei den Russen Kurgan heißen), der im Lande große Berühmtheit genoß, weil sich dort, der Sage nach, ehedem die Dichter und Zauberer – was ein und dasselbe war – bei gewissen feierlichen Veranlassungen zu versammeln pflegten.

Ich kann Ihnen ein ganz frommes Pferd geben, sagte der Graf. Leider bin ich nicht imstande, Ihnen eine Kalesche anzubieten, denn die Wege, die wir nehmen, sind nicht fahrbar.

Ich hätte es vorgezogen, in der Bibliothek zu bleiben und mir Auszüge zu machen, aber ich glaubte mich den Wünschen meines Wirtes fügen zu müssen, und so ging ich auf das Anerbieten ein. Die Pferde erwarteten uns an der Freitreppe, wo auch ein Diener stand, der einen Hund an der Leine hielt. Der Graf blieb einen Augenblick stehen und drehte sich nach mir um.

Verstehen Sie sich auf Hunde, Herr Professor? fragte er.

Sehr wenig, Erlaucht.

Der Starost von Zorany, wo ich ein Gut habe, schickt mir diesen Hühnerhund, von dem er mir Wunderdinge meldet. Erlauben Sie, daß ich mir ihn ansehe? Er rief den Diener, der den Hund hielt. Es war ein sehr schönes Tier. Schon vertraut mit seinem Führer, sprang der Hund freudig an ihm empor und war voll Leben und Feuer, aber plötzlich, nachdem er bis auf einige Schritte an den Grafen herangekommen, nahm er den Schwanz zwischen die Beine, ging rückwärts, wie von jäher Angst erfaßt, und brach in ein klägliches Geheul aus, als der Graf ihn streichelte. Der betrachtete ihn eine Weile mit Kennerblick und sagte dann:

Ich glaube, er wird gut. Man soll ihn gehörig pflegen. Dann saß er auf.

Sie haben die Angst des Hundes gesehen, Herr Professor, sagte der Graf, als wir in der Schloßallee hinritten. Ich wollte, daß Sie einmal Zeuge seien und mir in Ihrer Eigenschaft als Gelehrter das Rätsel lösen. Warum fürchten sich alle Tiere vor mir?

Sie tun mir die Ehre an, mich für einen Ödipus zu halten, Herr Graf, während ich nur ein bescheidener Professor der vergleichenden Sprachwissenschaft bin, entgegnete ich. Es wäre möglich …

Lassen Sie sich vorher sagen, unterbrach mich der Graf, daß ich niemals ein Tier, weder Pferde noch Hunde, schlage. Ich bringe es nicht über mich, ein armes Geschöpf, das ahnungslos einen Fehler begeht, zu mißhandeln. Trotzdem können Sie sich keinen Begriff von dem Widerwillen machen, den ich Pferden und Hunden einflöße. Es kostet doppelt soviel Mühe und Zeit, sie an mich zu gewöhnen als an andere. Da haben Sie zum Beispiel das Pferd, das Sie reiten. Es hat lange gedauert, ehe ich mit ihm einig wurde. Jetzt ist es fromm wie ein Lamm.

Ich glaube, Herr Graf, die Tiere sind Psychologen; sie wissen sofort, ob ein Mensch, den sie zum ersten Male sehen, ihnen zugetan ist oder nicht. Ich vermute fast, daß Sie die Tiere nur um der Dienste willen schätzen, die sie Ihnen leisten. Dagegen besitzen manche Menschen eine natürliche Zuneigung für gewisse Tiere, was diese augenblicklich merken. Ich zum Beispiel hatte von Kindheit auf eine angeborene Vorliebe für Katzen, und selten laufen sie davon, wenn ich mich ihnen nähere, um sie zu streicheln; nie hat mich eine gekratzt.

Das ist möglich, sagte der Graf. Ich bin in der Tat nicht, was man einen Tierfreund nennt; denn die Tiere sind keineswegs mehr wert als die Menschen … Ich führe Sie jetzt in einen Wald, Herr Professor, der so recht als ein Reich der Tiere Das Reich der Tiere. Vgl. die Romane: Pan Thaddaeus von Adam Mickiewicz und: Das gefesselte Polen von Charles Edmond. (Mérimée.), gleichsam als ihre magna mater gelten kann. Der Sage nach ist nie ein Mensch bis in die Mitte dieser Wälder und Sümpfe eingedrungen, mit Ausnahme natürlich der Dichter und Zauberer, denen ja nichts verschlossen bleibt. Dort leben die Tiere in einer Republik, oder vielleicht, wer kann es wissen, unter einer Verfassung. Löwen, Bären, Elentiere, Auerochsen, alles das lebt in bester Eintracht. Das Mammut, das sich dort noch erhält, genießt hohe Achtung und bekleidet, glaube ich, die Stelle eines Reichstagspräsidenten. Auch sehr strenge Polizei wird dort geübt. Lasterhafte Tiere werden verurteilt und ausgewiesen und kommen dann aus dem Regen in die Traufe. Sie sind genötigt, sich in das Reich der Menschen zu flüchten, und nur wenige retten ihr Leben.

Eine eigentümliche Legende, rief ich. Aber Sie sprechen vom Auerochsen, Herr Graf. Ist dies edle Tier, das Cäsar in seinen Kommentaren beschreibt und das die merowingischen Könige im Walde von Compiègne jagten, wirklich in Litauen noch vorhanden, wie man behauptet?

Gewiß. Mein Vater hat eigenhändig einen Auerochsen erlegt, selbstverständlich mit Erlaubnis der Behörde. Haben Sie den Kopf in dem großen Saale nicht bemerkt? Ich habe noch keines dieser Tiere gesehen und glaube, daß sie sehr selten sind. Dafür besitzen wir hier Bären und Wölfe in Menge. Für den Fall einer Begegnung mit einem solchen Burschen habe ich dies Instrument hier mitgenommen, fuhr der Graf fort, auf eine Tscherkessenflinte zeigend, und mein Groom hat am Sattelknopf einen doppelläufigen Karabiner.

Dabei hatten wir den Wald erreicht und drangen in ihn ein. Bald verschwand der schmale Pfad, den wir anfänglich verfolgten, und jeden Moment sahen wir uns gezwungen, riesenhafte Bäume zu umreiten, deren tief niederhängende Zweige uns den Weg versperrten. Einige, die vor Alter abgestorben und umgefallen waren, sahen aus wie mit spanischen Reitern gekrönte, unübersteigliche Wälle. Weiterhin stießen wir auf tiefe, mit Wasserlinsen und Seerosen bedeckte Lachen und Tümpel, und hie und da schimmerten Lichtungen in smaragdgrünem Glanz. Aber wehe dem, der sich ihnen genaht hätte! Die reiche, üppige Pflanzendecke verbirgt zumeist Moräste, in denen Roß und Reiter spurlos verschwänden …

Die Schwierigkeiten des Weges hatten unser Gespräch unterbrochen. Ich bemühte mich, dem Grafen auf Schritt und Tritt zu folgen, und bewunderte die unerschütterliche Sicherheit, mit der er ohne Hilfe eines Kompasses vorwärtsdrang und immer genau die Richtung wiederfand, die wir verfolgen mußten, um zu dem Kapas zu gelangen. Man sah, daß er lange und viel in diesen wilden Forsten gejagt hatte.

Endlich erblickten wir den Grabhügel in der Mitte einer weiten Waldblöße. Er war sehr hoch und von einem Graben umgeben, der sich, trotz des wuchernden Gesträuchs und des eingerollten Erdreichs, noch deutlich erkennen ließ. Der Hügel schien mir bereits durchsucht zu sein. Auf seiner Höhe bemerkte ich Überbleibsel von zerbröckeltem Mauerwerk. Eine große Menge mit Kohlen vermischter Asche und verstreuter Scherben von groben Tongefäßen bekundeten, daß man auf der Spitze des Hügels lange Zeit Feuer unterhalten hatte. Verdienen die volkstümlichen Überlieferungen Glauben, so haben auf dem Kapas ehedem Menschenopfer stattgefunden; aber es gibt keine erloschene Religion, der man solche abscheuliche Gebräuche nicht zuschriebe, und ich möchte bezweifeln, daß es sich für die alten Litauer wissenschaftlich beweisen läßt.

Als wir, der Graf und ich, wieder am Hügel hinabkletterten, um zu unseren Pferden zu gelangen, die wir jenseits des Grabens gelassen hatten, da sahen wir eine alte Frau auf uns zukommen, die sich auf einen Stock stützte und einen Korb in der Hand trug.

Meine guten hohen Herren, sagte sie, an uns herankommend, meine guten hohen Herren, schenken Sie mir etwas, um Gottes willen, damit ich mir ein Glas Schnaps kaufen kann, meinen alten Körper zu erwärmen.

Der Graf warf ihr ein Silberstück zu und fragte, was sie hier im Walde, so fern von jeder menschlichen Wohnung, zu tun habe?

Statt aller Antwort zeigte sie auf ihren mit Pilzen gefüllten Korb, und obgleich meine botanischen Kenntnisse beschränkt waren, dünkten mich mehrere der Schwämme giftiger Art zu sein.

Ihr wollt doch diese Pilze nicht essen, liebe Frau? fragte ich.

Mein guter hoher Herr, die armen Leute essen alles, was der liebe Gott ihnen beschert, entgegnete die Alte mit traurigem Lächeln.

Sie kennen unsere litauischen Mägen noch nicht; die sind mit Blech gefüttert, sagte der Graf lachend. Unsere Bauern essen jeden Schwamm, und es bekommt ihnen.

Warnen Sie die Frau wenigstens, diesen Agaricus necator zu essen! rief ich, indem ich die Hand ausstreckte, um mich eines der giftigsten Pilze zu bemächtigen; aber die Alte zog den Korb hastig zurück.

Nehmen Sie sich in acht! rief sie im Tone des Schreckens; die Pilze werden bewacht … Pirkuns! Pirkuns!

Pirkuns ist beiläufig gesagt der samogitische Name der Gottheit, die die Russen Perun nennen, des Jupiter tonans der Slawen. Ich war erstaunt, die Alte einen heidnischen Gott anrufen zu hören, und war es noch mehr, als die Pilze plötzlich in Bewegung gerieten und der schwarze Kopf einer Schlange sich etwa einen Fuß hoch daraus erhob.

Ich machte einen Sprung nach rückwärts, und der Graf spuckte über seine Schulter, nach der abergläubischen Gewohnheit der Slawen, die, wie die alten Römer, den Glauben hegen, dadurch bösen Zauber abwenden zu können.

Die Alte stellte den Korb auf die Erde, kauerte sich daneben, streckte die Hand gegen die Schlange aus und sprach einige unverständliche Worte, die wie eine Beschwörungsformel klangen. Eine Minute lang blieb die Schlange unbeweglich, dann ringelte sie sich um den abgezehrten Arm der Alten und verschwand in den Ärmel ihres Kittels von Schaffell, der nebst einem schlechten Hemd, wie ich glaube, die ganze Bekleidung dieser litauischen Kirke ausmachte. Wie ein Taschenspieler, dem ein schweres Kunststück gelungen ist, sah uns die Alte mit triumphierendem Kichern an. In ihrem Gesicht lag jenes Gemisch von List und Dummheit, das man bei sogenannten Zauberern, die meist Betrüger und Betrogene zugleich sind, ziemlich häufig wahrnimmt.

Da haben Sie ein Stück Lokalfarbe, sagte der Graf in deutscher Sprache zu mir. Eine Hexe, die am Fuße eines Kapas in Gegenwart eines gelehrten Professors und eines unwissenden litauischen Edelmannes Schlangen beschwört. Das wäre ein hübscher Vorwurf zu einem Bilde für Ihren Landsmann Knaus … Haben Sie nicht Lust, sich aus der Hand wahrsagen zu lassen? Die Gelegenheit ist günstig.

Ich entgegnete, daß es mir fernliege, solche Dinge zu unterstützen.

Ich werde sie lieber fragen, fügte ich hinzu, ob sie keine Einzelheiten von der eigentümlichen Überlieferung kennt, von der Sie vorhin sprachen.

Gute Frau, fuhr ich fort, hast du nicht von einem Bezirk in diesem Walde sprechen hören, wo die Tiere in Gemeinschaft leben, ohne von der Herrschaft der Menschen zu wissen?

Die Alte machte ein bejahendes Zeichen mit dem Kopf und erwiderte mit halb blödsinnigem, halb boshaftem Kichern:

Da komme ich her. Die Tiere haben ihren König verloren. Nobel, der Löwe, ist gestorben. Sie müssen einen andern König wählen. Geh hin, vielleicht wählen sie dich!

Was redest du da, Mütterchen? rief der Graf, in lautes Lachen ausbrechend. Weißt du, mit wem du redest? Du weißt nicht, daß dieser Herr … (zum Teufel, was heißt Professor auf schmudisch?) daß dieser Herr ein weiser Mann, ein Waidelot Schlechte Übersetzung des Professors! Die Waideloten waren litauische Barden. (Mérimée.) ist?

Die Alte sah ihn aufmerksam an.

Ich habe mich geirrt, sagte sie; du sollst hingehen. Dich werden sie zum König machen, nicht ihn. Du bist groß und stark, hast Pranken und Fänge.

Was sagen Sie zu den Epigrammen, die uns die Hexe an den Kopf wirft? fragte der Graf … Du weißt also den Weg dahin, Mütterchen? fuhr er zu der Alten gewendet fort.

Sie zeigte mit der Hand nach einer Richtung des Waldes.

Dort? rief der Graf. Und die Sümpfe, wie kommst du durch die Sümpfe? Sie müssen nämlich wissen, Herr Professor, daß sich dort, wohin sie zeigt, unwegsames Moor ausdehnt, unergründlicher Sumpf, der mit grünen Pflanzen bedeckt ist. Im vorigen Jahre flüchtete sich ein Hirsch, den ich angeschossen hatte, dahin. Ich sah, wie er einsank, langsam, langsam. Nach zwei Minuten erblickte ich nichts mehr von ihm als sein Geweih; bald darauf war auch das verschwunden und mit ihm zwei meiner Hunde.

Aber ich bin nicht so schwer, grinste die Alte.

Ich glaube, du reitest auf einem Besenstiel über den Sumpf, sagte der Graf.

Ein zorniger Blick zuckte in den Augen der Alten auf.

Mein guter hoher Herr, sagte sie, indem sie den näselnden, schleppenden Ton der Bettler wieder annahm, willst du nicht einer alten Frau eine Pfeife Tabak schenken? Du würdest besser tun, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, du würdest besser tun, die Furt durch die Sümpfe zu suchen als nach Dowgielly zu gehen.

Dowgielly! rief der Graf; er war rot geworden. Was willst du damit sagen?

Ich konnte nicht umhin, zu bemerken, daß das Wort einen sonderbaren Eindruck auf ihn machte. Er war sichtlich verlegen, senkte den Kopf und beschäftigte sich, um seine Bestürzung zu verbergen, emsig mit dem Tabaksbeutel, der am Griffe seines Waidmessers hing.

Nein, geh nicht nach Dowgielly! wiederholte die Alte. Die weiße Taube ist nichts für dich. Habe ich nicht recht, Pirkuns?

In diesem Moment steckte die Schlange ihren Kopf aus dem Halsausschnitt des Kittels der Alten und erhob sich bis zu ihrem Ohre, indem sie, wahrscheinlich auf dies Kunststück abgerichtet, Zunge und Kiefern bewegte, als ob sie spräche.

Er sagt, daß ich recht habe, kicherte die Alte.

Der Graf reichte ihr eine Handvoll Tabak.

Du kennst mich also? fragte er.

Nein, mein guter hoher Herr.

Ich bin der Besitzer von Medintiltas. Komm in diesen Tagen einmal zu mir! Ich werde dir Tabak und Schnaps geben.

Die Alte küßte ihm die Hand und eilte in großen Schritten davon. Nach wenigen Augenblicken hatten wir sie aus dem Gesicht verloren. Der Graf blieb nachdenklich; er zog die Schnur seines Tabaksbeutels auf und zu, offenbar seines Tuns kaum bewußt.

Sie werden sich über mich lustig machen, Herr Professor, begann er nach längerem Schweigen. Die alte Hexe kennt mich besser als sie zugesteht und als den Weg, den sie mir gewiesen … Doch liegt in alledem nichts Erstaunliches. Ich bin in der Gegend bekannt wie ein weißer Wolf, und die Alte hat mich wahrscheinlich mehr als einmal auf dem Wege nach Dowgielly gesehen. Dort gibt es eine heiratsfähige junge Dame, und so hat sie vorausgesetzt, daß ich in sie verliebt sei. Irgendein hübscher Junge aus der Umgegend wird sie durch ein Trinkgeld bestochen haben, mir Unheil zu prophezeien … Alles das springt in die Augen, und doch, ich mag mich dagegen wehren, wie ich will, haben ihre Worte Wirkung auf mich; sie haben mich geradezu erschreckt. Sie lachen und mit Recht. Die Sache ist aber die, daß ich den Plan hatte, uns heute in Dowgielly zu Tisch einzuladen, und daß ich nun irre geworden bin … Ich bin ein großer Narr, nicht wahr? Aber entscheiden Sie selber, Herr Professor! Sollen wir hinreiten oder nicht?

Ich werde mich hüten, einen Rat zu geben. In Heiratsangelegenheiten spreche ich nie eine Meinung aus, entgegnete ich lachend.

Dabei hatten wir unsre Pferde wieder erreicht. Der Graf schwang sich leicht in den Sattel und ließ die Zügel fallen.

Der Gaul soll für uns entscheiden! rief er.

Das Tier zögerte keinen Augenblick, sondern bog sofort auf einen kleinen Pfad ab, der, nachdem er sich eine Weile zwischen den Bäumen hingeschlängelt, auf eine feste Straße mündete. Sie führte nach Dowgielly, und eine halbe Stunde später waren wir vor der Freitreppe des Schlosses.

Der Hufschlag unsrer Pferde lockte einen hübschen Blondkopf ans Fenster, in dem ich sofort die schelmische Übersetzerin des Mickiewicz erkannte. Seien Sie willkommen! rief sie zwischen den Gardinen hervor. Sie konnten nicht gelegener kommen, Graf Szemioth. Ich habe eben aus Paris ein Kleid erhalten, und ich werde so schön darin aussehen, daß Sie mich nicht wiedererkennen.

Damit schlossen sich die Vorhänge. Als wir die Freitreppe hinaufstiegen, murmelte der Graf zwischen den Zähnen:

Sicherlich legt sie das Kleid nicht für mich an. Ich wurde Frau von Dowgiello, der Tante Julkas, vorgestellt, die mich verbindlich empfing und von meinen letzten Aufsätzen in der Königsberger Zeitung für Kunst und Literatur sprach.

Der Professor kommt, sich bei Ihnen über Fräulein Julka zu beklagen, die ihm einen boshaften Streich gespielt hat, sagte der Graf.

Sie ist ein Kindskopf, Herr Professor. Verzeihen Sie ihr! Sie hat mich durch ihre Torheiten schon oft beinahe zur Verzweiflung gebracht, entgegnete die Dame. Ich war mit sechzehn Jahren vernünftiger als sie mit zwanzig, aber im Grunde ist sie nicht so schlimm und besitzt alle möglichen vortrefflichen Eigenschaften. Sie spielt gut Klavier, malt entzückende Blumen, spricht drei Sprachen, Französisch, Deutsch und Italienisch, alle geläufig. Sie stickt …

Und macht schmudische Verse! fügte der Graf lachend hinzu.

Nein, das kann sie nicht! rief Frau von Dowgiello, der man nun den Schelmenstreich ihrer Nichte erzählte.

Frau von Dowgiello war unterrichtet und mit den Altertümern ihres Landes vertraut. Ihre Unterhaltung fesselte mich. Sie las die deutschen Revuen und hatte ein gesundes Urteil über Sprachen und Sprachforschung. Ich gestehe, daß mir die Zeit, die Fräulein Iwinska brauchte, um sich anzuziehen, schnell verfloß; aber desto länger schien sie dem Grafen Szemioth zu werden, der sich bald erhob, bald wieder setzte, zum Fenster hinaussah und mit den Fingern an den Scheiben trommelte, wie ein Mann, dem die Geduld ausgeht.

Endlich, nach dreiviertel Stunden, erschien die junge Dame in Begleitung ihrer französischen Gesellschafterin. Sie trug mit ebensoviel Grazie als Stolz ein Kleid, dessen Beschreibung größere Kenntnisse in diesem Fache erfordern würde als ich besitze.

Bin ich nicht schön? fragte sie den Grafen, indem sie sich langsam um sich drehte und sich ihm von allen Seiten zeigte.

Dabei sah sie weder mich noch ihn an, sondern nur das Kleid.

Nun, Julka, sagst du dem Herrn Professor, der sich über dich zu beklagen hat, nicht guten Tag? fragte Frau von Dowgiello.

Was habe ich verbrochen? rief Fräulein Iwinska, den Mund zu einem allerliebsten Schmollen verziehend. Werden Sie mich zur Strafe ins Karzer stecken, Herr Professor?

Die Strafe würde nur uns treffen, indem sie uns Ihrer Gegenwart beraubte, entgegnete ich. Auch bin ich fern davon, mich zu beklagen; im Gegenteil, ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet für die Überzeugung, die ich durch Sie gewonnen, daß Litauens Muse glänzender denn je blüht.

Sie beugte den Kopf und hielt die Hände vor das Gesicht, wobei sie sich jedoch in acht nahm, um ihr Haar nicht in Unordnung zu bringen.

Verzeihen Sie, ich will es nicht wieder tun! sagte sie im Ton eines Kindes, das genascht hat.

Ich werde Ihnen nur unter der Bedingung verzeihen, gnädiges Fräulein, daß Sie ein gewisses Versprechen erfüllen, das Sie mir in Wilna bei der Fürstin Katarina Paz gegeben haben, entgegnete ich.

Was für ein Versprechen? fragte sie lachend, sich hochreckend.

Haben Sie das schon vergessen? Sie versprachen mir, wenn wir uns in Samogitien wiedersehen sollten, einen volkstümlichen Tanz, von dem Sie Wunderdinge berichteten.

Ach, die Russalka! Mit Vergnügen; und da haben wir auch gleich den Partner, den ich dazu brauche. Damit lief sie zu einem Tische, auf dem Musikhefte lagen, blätterte rasch darin, legte eins auf das Notenpult des Flügels und wendete sich an ihre Gesellschafterin.

Bitte, Beste, allegro presto!

Und ohne sich niederzusetzen spielte sie das Ritornell, um das Tempo anzugeben.

Kommen Sie, Graf Michael! rief sie. Als echter Litauer werden Sie die Russalka gut tanzen können. Aber tanzen Sie wie ein Bauer, hören Sie!

Frau von Dowgiello versuchte Einwände, doch vergebens. Der Graf und ich, wir gaben nicht nach. Er hatte allerdings seine guten Gründe; denn die ihm zufallende Rolle war, wie man sehen wird, die angenehmste. Die Gesellschafterin erklärte nach einigen Ansätzen, sie glaube, diese Art von Walzer, so sonderbar er auch sei, spielen zu können, und nachdem Fräulein Iwinska einige Stühle und einen Tisch, die ihr im Wege standen, beiseite geschoben, faßte sie ihren Partner am Rockkragen und führte ihn in die Mitte des Salons.

Herr Professor, nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich eine Russalka bin, begann sie mit einer tiefen Verbeugung.

Eine Russalka, fuhr sie fort, ist eine Nixe. Es gibt solche in jedem der schwarzen Teiche, die unsre Wälder schmücken. Kommen Sie ihnen nicht zu nahe! Die Russalka, die womöglich noch schöner ist als ich, huscht heraus, zieht Sie hinab ins Wasser, und frißt Sie aller Wahrscheinlichkeit nach.

Also eine wirkliche Sirene! rief ich.

Der da, fuhr Fräulein Iwinska auf den Grafen Szemioth deutend fort, er ist ein junger, sehr dummer Fischer, der mir in die Fänge läuft. Um mir das Vergnügen zu verlängern, berücke ich ihn, indem ich ein bißchen um ihn tanze … Aber um alles das gut darzustellen, brauchte ich notwendig einen Sarafan. Schade! Sie müssen dies Kleid, das weder Charakter noch Lokalfarbe besitzt, entschuldigen … Ach, und ich habe Schuhe an! Die Russalka mit Schuhen, noch dazu mit Stöckelschuhen zu tanzen, ist unmöglich!

Sie hob ihr Kleid, schüttelte einen ihrer kleinen hübschen Füße graziös und schleuderte, auf die Gefahr, einen Teil ihres Beines zu zeigen, den Schuh in die Ecke des Salons. Der zweite folgte dem ersten, und sie stand nun in seidnen Strümpfen auf dem Parkett.

Fertig! rief sie ihrer Gesellschafterin zu.

Und der Tanz begann.

Die Russalka umschwebt ihren Tänzer. Er streckt die Arme aus, um sie zu erfassen; sie schlüpft darunter durch und entwischt ihm. Alles das ist sehr zierlich, die Musik bewegt und eigenartig. Der Tanz endigt damit, daß der Tänzer die Russalka endlich zu erhaschen meint, um sie zu küssen. Sie macht einen Sprung und versetzt ihm einen Schlag auf die Schulter. Er fällt wie tot ihr zu Füßen … Aber hier improvisierte der Graf eine Variation. Er umfaßte die neckische Nymphe wirklich und küßte sie herzhaft. Fräulein Iwinska stieß einen leichten Schrei aus, errötete und sank schmollend auf ein Sofa, indem sie sich beklagte, er habe sie umarmt wie ein Bär. Ich sah, daß der Vergleich dem Grafen nicht gefiel, denn er erinnerte ihn an sein Familienunglück. Seine braune Stirn ward noch dunkler.

Ich meinesteils bedankte mich bei Fräulein Iwinska lebhaft und lobte den Tanz, der mir antiken Charakter zu tragen schien und mich an die heiligen Tänze der Griechen erinnerte.

Ein Diener, der den General und die Fürstin Veliaminoff meldete, unterbrach uns. Fräulein Iwinska machte einen Sprung vom Kanapee zu ihren Schuhen, schlüpfte mit ihren kleinen Füßen halb hinein, eilte der Fürstin entgegen und machte ihr zwei tiefe Knixe. Ich bemerkte, wie sie bei jedem äußerst geschickt völlig in die Schuhe kam.

Der General brachte zwei Adjutanten mit und lud sich, wie wir getan, zu Tisch. In jedem andern Lande der Welt hätte das unerwartete Eintreffen von sechs Tischgästen, die den besten Appetit mitbrachten, die Hausfrau in Verlegenheit gesetzt, aber in den litauischen Häusern herrscht eine solche Gastfreundschaft und Fülle, daß sich das Mittagessen nicht um eine halbe Stunde verspätete. Nur zu viele warme und kalte Pasteten gab es.

Das Diner verlief sehr heiter. Der General teilte uns merkwürdige Einzelheiten über die Sprachen mit, die im Kaukasus gesprochen werden, und von denen die einen zu den arischen, die andern zu den turanischen gehören, obgleich die verschiedenen Volksstämme unter sich eigentümliche Übereinstimmung in Sitten und Gebräuchen zeigen. Ich mußte von meinen Reisen erzählen; denn nachdem Graf Szemioth mich wegen meiner Reitkünste beglückwünscht und hinzugefügt hatte, daß ihm nie ein Professor oder Geistlicher vorgekommen, der einem Ritt, wie wir ihn heute gemacht, so gewachsen gewesen wäre, hatte ich ihm zur Erklärung sagen müssen, daß ich, von der Bibelgesellschaft mit einer Arbeit über die Sprachen der Charruas beauftragt, drei Jahre in der Republik Uruguay zugebracht, während der Zeit fast immer in den Pampas und unter den Indianern gelebt und natürlich wenig vom Pferde heruntergekommen war. Auf diese Weise kam ich dazu, unter anderm zu erzählen, daß ich einmal, drei Tage in den endlosen Ebenen verirrt und ohne Lebensmittel, genötigt gewesen wäre, es wie die Gauchos zu machen, das heißt meinem Pferde zur Ader zu lassen und sein Blut zu trinken.

Alle Damen stießen einen Schrei des Abscheus aus. Der General bemerkte, daß die Kalmücken in gleicher Lage das gleiche zu tun pflegten, und der Graf fragte mich, wie ich das Getränk gefunden hätte.

Moralisch war es mir sehr zuwider, entgegnete ich. Physisch bekam es mir gut, und ich verdanke es allein diesem Blute, daß ich heute die Ehre habe, hier mit Ihnen zu Mittag zu essen. Viele Europäer, das heißt Weiße, die lange mit Indianern gelebt haben, finden sogar nach und nach Geschmack daran. Mein vortrefflicher Freund Don Fructuoso Rivero, Präsident der Republik, versäumt zum Beispiel selten eine Gelegenheit zu diesem Genuß. Ich erinnere mich, daß er eines Tages, als er sich in großer Uniform nach dem Kongreß begab, an einem Rancho vorüberkam, wo man einem Füllen zur Ader ließ. Er hielt an, stieg vom Pferde, verlangte einen Schoppen und ein Saugröhrchen, worauf er eine seiner besten Reden hielt.

Ihr Präsident ist ein abscheuliches Ungeheuer, rief Fräulein Iwinska.

Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, entgegnete ich, er ist ein distinguierter Mann von hervorragenden geistigen Gaben. Er spricht mehrere sehr schwere indianische Sprachen ausgezeichnet, besonders das Charrua, dessen große Schwierigkeit in den zahllosen Formen besteht, die ein Zeitwort, je nachdem es transitiv oder intransitiv gebraucht wird, je nach den gesellschaftlichen Beziehungen der sprechenden Personen zueinander, annimmt.

Eben wollte ich noch einige eigentümliche Einzelheiten vom Gebrauch des Zeitworts in dieser Sprache hinzufügen, als mich der Graf mit der Frage unterbrach, wo man dem Pferde zur Ader lassen müsse, wenn man sein Blut trinken wolle.

Um Gottes willen, lieber Professor, sagen Sie es ihm nicht! rief Fräulein Iwinska mit drolligem Entsetzen. Er wäre imstande, seinen ganzen Marstall zu opfern, und wenn er keine Pferde mehr hat, sich an uns zu machen.

Nach diesem scherzhaften Ausfall standen die Damen lachend vom Tische auf, um Kaffee und Tee zu bereiten, während wir rauchten. Nach einer Viertelstunde ließ man den General bitten, in den Salon zu kommen. Wir wollten ihm folgen, aber man sagte uns, die Damen wünschten nur einen der Herren auf einmal. Bald darauf hörten wir lautes Lachen und Händeklatschen im Salon.

Fräulein Julka ist in ihrem Elemente, meinte der Graf.

Jetzt wurde er selber gerufen. Neues Lachen, neues Händeklatschen. Nun kam ich an die Reihe. Als ich in den Salon trat, hatte die Gesellschaft den Anschein tiefen Ernstes angenommen, was nichts Gutes prophezeite. Ich erwartete irgendeine Neckerei.

Herr Professor, begann der General so geschäftsmäßig wie möglich, die Damen behaupten, wir hätten dem Champagner zuviel Ehre angetan; sie wollen uns nur, wenn wir eine Probe ablegen, in ihre Gesellschaft aufnehmen. Es handelt sich darum, mit verbundenen Augen von der Mitte des Salons bis an jene Mauer zu gehen und sie mit dem Finger zu berühren. Sie sehen, die Sache ist einfach; man hat nur geradeaus zu marschieren. Fühlen Sie sich imstande, die gerade Richtung innezuhalten?

Ich glaube, Herr General!

Sogleich band mir Fräulein Iwinska ein Tuch um die Augen und zog es am Hinterkopfe mit aller Gewalt zu.

Sie stehen mitten im Salon, sagte sie. Strecken Sie die Hand aus! So! Ich wette, Sie finden die Mauer nicht.

Vorwärts marsch! rief der General.

Ich hatte nicht mehr als fünf oder sechs Schritte zurückzulegen, bewegte mich aber sehr langsam vorwärts, überzeugt, einer ausgespannten Schnur oder einem Sessel zu begegnen, den man mir verräterisch in den Weg gestellt, um mich zum Straucheln zu bringen. Unterdrücktes Lachen, das ich vernahm, vermehrte meine Verlegenheit. Endlich glaubte ich mich der Mauer nahe genug, um sie erreichen zu können; aber anstatt der Wand berührte mein vorgestreckter Finger etwas Kaltes, Klebriges. Ich schnitt eine Grimasse und machte einen Sprung nach rückwärts, den alle Anwesenden mit lautem Gelächter begrüßten … Das Tuch von den Augen reißend, erblickte ich Fräulein Iwinska, einen Topf voll Honig in der Hand, in den ich, anstatt die Mauer zu berühren, gefahren war. Mein einziger Trost war, daß die beiden Adjutanten, die dieselbe Probe zu bestehen hatten, nicht besser davonkamen als ich.

Fräulein Iwinska ließ ihrer tollen Laune den ganzen Abend über freien Lauf. Immer spöttisch, immer neckisch, machte sie bald den, bald jenen zum Ziel ihrer Scherze. Ich bemerkte jedoch, daß sie sich am häufigsten an den Grafen wendete, der, wie ich zugestehen muß, auch durchaus kein Spaßverderber war, sondern offenbar das größte Vergnügen an ihren Neckereien fand. Wendete sie dagegen ihre Angriffe einem der Adjutanten zu, so verfinsterte sich seine Stirn, und ich sah sein Auge in dunklem Feuer blitzen, das unverkennbar etwas Erschreckendes hatte. Mutwillig wie eine Katze und weiß wie Milch. Es schien mir, als hätte Mickiewicz, als er diese Worte schrieb, Panna Iwinska zeichnen wollen.

Man trennte sich ziemlich spät. In vielen vornehmen Häusern Litauens findet man prachtvolles Silberzeug, schöne Möbel, kostbare türkische Teppiche, aber man hat dem ermüdeten Gaste kein gutes deutsches Bett zu bieten. Der Sklave, sei er reich oder arm, Edelmann oder Bauer, schläft vortrefflich auf dem Fußboden. Schloß Dowgielly machte keine Ausnahme von der Regel. In dem Zimmer, das man uns, dem Grafen und mir, anwies, befanden sich nur zwei Ledersofas. Mich erschreckte das nicht weiter; denn ich hatte auf meinen Reisen oft auf bloßer Erde gelegen, und die Klage des Grafen über Mangel an Kultur bei seinen Landsleuten nötigte mir ein Lächeln ab. Ein Diener kam, um uns die Stiefel auszuziehen, und brachte uns Schlafröcke und Pantoffeln. Der Graf ging, nachdem er seinen Rock abgelegt, eine Weile im Zimmer auf und ab und blieb dann plötzlich vor dem Sofa stehen, auf dem ich mich bereits ausgestreckt hatte.

Was denken Sie von Julka? fragte er mich.

Ich finde sie reizend.

Gewiß aber auch kokett. Glauben Sie, daß sie eine ernstliche Neigung zu dem kleinen blonden Hauptmann hat?

Dem Adjutanten? Wie kann ich das wissen?

Er ist ein Geck; also gefällt er den Frauen.

Die Folgerung bestreite ich, Herr Graf. Soll ich Ihnen aufrichtig sagen, was ich glaube? Ich glaube, Fräulein Iwinska denkt vielmehr daran, dem Grafen Szemioth zu gefallen als allen Adjutanten der Armee.

Er errötete und antwortete mir nicht; aber es kam mir vor, als hätten ihm meine Worte großes Vergnügen gemacht. Eine Weile ging er noch, ohne zu sprechen, im Zimmer auf und ab. Endlich sah er nach seiner Uhr.

Donnerwetter, wir tun gut, zu schlafen. Es ist bereits spät, sagte er.

Dann nahm er sein Gewehr und seinen Hirschfänger, die man in unser Zimmer gebracht hatte, legte sie in einen Schrank und zog den Schlüssel ab.

Wollen Sie ihn an sich nehmen? fragte er, indem er mir ihn zu meinem Erstaunen überreichte. Ich könnte ihn vergessen. Jedenfalls haben Sie ein besseres Gedächtnis als ich.

Das beste Mittel, Ihre Waffen nicht zu vergessen, wäre es wohl, wenn Sie sie auf den Tisch da neben Ihrem Sofa legten.

Nein. Hören Sie, um aufrichtig zu sprechen! Ich habe nicht gern Waffen in meiner Nähe, wenn ich schlafe. Und ich will Ihnen auch meine Gründe sagen. Als ich bei den Husaren in Grodno stand, schlief ich eines Tages mit einem Kameraden in demselben Zimmer. Meine Pistolen lagen auf dem Stuhle neben mir. In der Nacht erwachte ich von einem Knall. Ich hatte eine Pistole in der Hand, hatte Feuer gegeben, und die Kugel war in einer Entfernung von zwei Zoll am Kopfe meines Freundes vorübergeflogen. Ich habe mich nie besinnen können, was ich geträumt hatte.

Diese Anekdote machte mich etwas nachdenklich. Dagegen, daß er mir eine Kugel durch den Schädel jagte, war ich ja geschützt; aber wenn ich die gewaltige Gestalt und die herkulischen Gliedmaßen meines Gefährten ins Auge faßte, seine nervigen von schwarzem Flaum bedeckten Arme, so mußte ich eingestehen, daß er recht gut imstande war, mich im Traume mit seinen Händen zu erwürgen. Gleichwohl hütete ich mich, ihm die geringste Unruhe zu zeigen. Nur setzte ich ein brennendes Licht auf den Stuhl vor meinem Sofa und fing an, im Katechismus von Lawicki zu lesen, den ich mitgebracht hatte. Der Graf wünschte mir gute Nacht, streckte sich auf sein Sofa, drehte sich fünf- oder sechsmal um und schien endlich einzuschlafen, obgleich er zusammengeringelt lag wie jener Liebende des Horaz, der, in eine Truhe eingeschlossen, mit dem Kopfe die heraufgezogenen Knie berührt.

Turpi clausus in arca
Contractum genibus tangas caput …

Von Zeit zu Zeit stieß er einen gewaltigen Seufzer aus, oder ließ eine Art von nervösem Schnarchen hören, das ich der sonderbaren Stellung zuschrieb, in der er schlief. So verging etwa eine Stunde. Ich wurde ebenfalls schläfrig, schloß mein Buch und legte mich so bequem als möglich zurecht, als ein seltsames Lachen meines Stubengenossen mich plötzlich zusammenfahren ließ. Ich betrachtete den Grafen. Er hatte die Augen geschlossen, sein ganzer Körper zitterte, und seinen halboffenen Lippen entschlüpften kaum vernehmliche Worte: Sehr frisch! … Sehr weiß! … Der Professor ahnt nicht, was er sagt … Pferde taugen dazu nicht … Köstlich!

Dann biß er mit den Zähnen in das Kissen, auf dem er mit dem Kopfe lag, und stieß tierische Laute aus, bei denen er erwachte.

Ich blieb still auf meinem Sofa und stellte mich schlafend, aber ich beobachtete ihn genau. Er setzte sich aufrecht, rieb sich die Augen, seufzte traurig und blieb, ohne sich zu rühren, etwa eine Stunde in tiefe Gedanken versunken sitzen. Mir war sehr unbehaglich zumute, und ich nahm mir vor, nie wieder mit dem Grafen im selben Zimmer zu schlafen. Schließlich überwand aber die Müdigkeit alle Unruhe, und als der Diener am andern Morgen in unser Zimmer trat, schliefen wir beide fest.

Nach dem Frühstück kehrten wir nach Medintiltas zurück. Dort gelang es mir, Dr. Fröber allein zu sprechen, und ich teilte ihm mit, daß ich den Grafen für krank halte, daß er entsetzliche Träume habe, vielleicht Nachtwandler sei, und daß er in diesem Zustande gefährlich werden könne.

Alles das habe ich bereits bemerkt, entgegnete der Arzt. Bei einer athletischen Gestalt ist er nervös wie eine Frau. Vielleicht hat er das von seiner Mutter … Sie war diesen Morgen sehr bösartig. Ich glaube nicht recht an das, was man von den Gelüsten schwangerer Frauen und den Einwirkungen eines gehabten Schreckens erzählt, doch es waltet kein Zweifel, daß die Gräfin wahnsinnig ist, und Wahnsinn überträgt sich durch das Blut.

Aber der Graf ist sonst ganz vernünftig, erwiderte ich. Er denkt vollkommen klar, ist sehr unterrichtet, unterrichteter, als ich, offen gestanden, geglaubt hätte. Er liest gern …

Das alles gebe ich zu, mein lieber Professor; aber er ist auch oft sehr sonderbar. Zuweilen schließt er sich mehrere Tage ein und streift nachts umher … Dabei liest er unglaubliche Bücher … Deutsche Metaphysik, physiologische Werke, was weiß ich. Erst gestern hat er einen Ballen Bücher aus Leipzig bekommen. Soll ich die Sache beim rechten Namen nennen? Ein Herkules bedarf einer Hebe. Es gibt hier sehr hübsche Bauernmädchen. Sonnabends abends, nach dem Bade, könnte man sie für Fürstinnen halten. Und es ist nicht eine darunter, die nicht stolz darauf wäre, wenn sie dem Grafen die Zeit vertreiben dürfte! In seinem Alter … Der Teufel soll mich holen! … Aber nein, er hat keine Geliebte und nimmt auch keine Frau, und daran tut er sehr unrecht. Er braucht eine Ableitung …

Der grobe Materialismus des Doktors war mir unliebsam, und ich brach das Gespräch kurz ab, indem ich ihm sagte, daß ich dem Grafen von Herzen eine seiner würdige Gattin wünschte.

Nicht ohne Verwunderung hatte ich vom Doktor vernommen, daß der Graf sich mit philosophischen Studien beschäftigte. Dieser Husarenoffizier und leidenschaftliche Jäger, der deutsche Werke über Metaphysik las und sich mit Physiologie beschäftigte, warf alle meine Voraussetzungen über den Haufen. Der Doktor hatte mir übrigens die Wahrheit gesagt, und ich erhielt noch am nämlichen Tage den Beweis.

Wie erklären Sie den Dualismus oder die Doppelnatur des Menschen, Herr Professor? fragte der Graf mich plötzlich gegen Ende der Mahlzeit.

Da er merkte, daß ich ihn nicht gleich verstand, fuhr er fort:

Haben Sie niemals auf der Höhe eines Turmes oder am Rande eines Abgrundes gestanden und die Versuchung empfunden, sich hinabzustürzen, während Sie sich gleichzeitig von Schrecken gepackt fühlten?

Das läßt sich durch rein physische Ursachen erklären, sagte der Doktor. Erstens bringt die Anstrengung des Steigens stets einen Andrang des Blutes nach dem Gehirn hervor, der …

Ach, lassen wir das Blut, Doktor, und wählen wir ein anderes Beispiel! rief der Graf ungeduldig. Wir halten zum Beispiel eine geladene Flinte in der Hand. Unser bester Freund steht vor uns, und plötzlich kommt uns der Gedanke, ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Man empfindet den größten Abscheu vor einem Mord, und doch kommt der Einfall. Ich glaube, meine Herren, wenn man alles, was uns im Lauf einer Stunde durch den Kopf geht … wenn man zum Beispiel Ihre Gedanken, Herr Professor, den ich für einen weisen, tugendhaften Menschen halte, aufschriebe, sie würden wahrscheinlich einen Folioband bilden, auf Grund dessen jeder Advokat mit Erfolg für Ihre Amtsentsetzung plädieren, jeder Richter Sie ins Gefängnis oder in ein Narrenhaus sperren könnte.

Sicherlich würde mich kein Richter verurteilen, weil ich heute morgen länger als eine Stunde das geheimnisvolle Gesetz zu ergründen suchte, nach dem die slawischen Zeitwörter futural werden, sobald sie sich mit einer Präposition verbinden. Aber wenn ich auch zufällig etwas anderes gedacht hätte, welcher Beweis wäre das gegen mich? Ich bin ebensowenig Herr meiner Gedanken als der äußeren Veranlassungen dazu. Wenn auch ein unrechter Gedanke in mir auftauchte, so könnte man daraus noch lange nicht auf die Ausführung, ja nicht einmal auf den Vorsatz zur Ausführung schließen. Ich bin niemals auf den Einfall geraten, einen Menschen zu töten, aber selbst wenn mir die Idee käme, so hätte ich doch meine Vernunft, um sie zu verscheuchen.

Ja, von Vernunft läßt sich leicht reden, aber es ist doch die Frage, ob sie wirklich immer bei der Hand ist, um uns zu leiten, wie Sie sagen. Um die Vernunft zu hören und ihr zu gehorchen, bedarf es der Überlegung, das heißt, wir brauchen Zeit und kaltes Blut. Hat man aber immer das eine und das andere? Im Gefecht sehe ich zum Beispiel einen Abpraller geflogen kommen; ich springe zur Seite und stelle meinen Freund bloß, für den ich mein Leben gegeben, wenn ich Zeit gehabt hätte, zu überlegen …

Ich versuchte ihm von unseren Pflichten als Menschen und Christen zu sprechen, von der Notwendigkeit, den Streitern des Evangeliums nachzuahmen und immer zum Kampfe bereit zu sein. Ich suchte ihm endlich zu Gemüt zu führen, daß wir, indem wir ununterbrochen gegen unsere Leidenschaften ankämpfen, auch immer neue Kräfte gewinnen, sie zu besiegen und zu beherrschen. Aber ich erreichte, wie ich fürchte, nichts als daß er schwieg; überzeugt war er offenbar nicht.

Noch etwa zehn Tage verweilte ich im Schlosse und stattete während dieser Zeit einen zweiten Besuch in Dowgielly ab; doch blieben wir diesmal nicht über Nacht. Fräulein Iwinska zeigte sich, wie das erstemal, als mutwilliges, verwöhntes Kind. Auf den Grafen übte sie eine Art von unwiderstehlichem Zauber aus, und ich zweifelte nicht daran, daß er in sie verliebt war. Indessen kannte er ihre Fehler und machte sich kein Trugbild. Er wußte, daß sie gefallsüchtig, eitel und gleichgültig gegen alles war, was ihr kein Vergnügen versprach. Ich bemerkte oft, wie sehr er darunter litt, daß sie so und nicht anders war, aber sobald sie ihm eine kleine Aufmerksamkeit erwies, vergaß er alles; sein Gesicht verklärte sich und er strahlte vor Freude.

Er wollte mich vor meiner Abreise ein letztes Mal mit nach Dowgielly nehmen, vielleicht weil ich die Tante zu unterhalten pflegte, während er mit der Nichte im Garten spazierenging, aber ich hatte noch so viel zu arbeiten, daß ich mich entschuldigen mußte, so sehr er auch in mich drang. Zum Mittagessen war er wieder da, obgleich er uns gesagt, wir möchten nicht auf ihn warten. Er setzte sich an den Tisch, vermochte aber nicht zu essen. Während der ganzen Mahlzeit blieb er düster und verstimmt. Von Zeit zu Zeit zogen sich seine Brauen zusammen, und die Augen nahmen einen unheimlichen Ausdruck an. Als der Doktor sich entfernte, um zur Gräfin zu gehen, folgte der Graf mir in mein Zimmer und teilte mir mit, was ihm auf dem Herzen lag.

Es tut mir sehr leid, Herr Professor, Sie verlassen zu haben, um jene Dame zu besuchen, die sich über mich lustig macht und nur neue Gesichter liebt, sagte er. Aber glücklicherweise ist jetzt alles zwischen uns zu Ende. Ich bin der Sache überdrüssig und werde Fräulein Iwinska niemals wiedersehen …

Seiner Gewohnheit nach ging er eine Weile im Zimmer auf und ab. Dann begann er wieder:

Sie haben vielleicht geglaubt, ich sei in sie verliebt? Wenigstens denkt es der Dummkopf von Doktor. Nein, ich habe sie nie geliebt. Ihr Lachen hat mich fröhlich gemacht; ich habe ihre weiße Haut gern gesehen … Das ist alles, was gut an ihr ist … Besonders die Haut. Das Gehirn ist wenig wert. Ich habe niemals etwas anderes in ihr erblickt als eine hübsche Puppe, die man gern sieht, wenn man sich langweilt und keine neuen Bücher hat. Sie ist ohne Zweifel eine Schönheit zu nennen … Ihre Haut ist prachtvoll. Und das Blut, das unter dieser Haut rinnt, muß noch schmackhafter sein als das eines Pferdes. Was meinen Sie dazu, Herr Professor?

Dabei brach er in ein lautes Gelächter aus, das mir eine unangenehme Empfindung verursachte.

Am nächsten Tage sagte ich ihm Lebewohl, um meine Untersuchungen im Norden des Herzogtums fortzusetzen.

Meine Studien dauerten noch etwa zwei Monate, und ich darf wohl sagen, daß es in Samogitien kaum ein Dorf gibt, in dem ich nicht gewesen und wo ich nicht einige wertvolle Urkunden erworben hätte. Es sei mir erlaubt, die Gelegenheit zu benutzen, um den Bewohnern dieser Provinz und namentlich den Herren Geistlichen für die zuvorkommende Unterstützung zu danken, die sie meinen Forschungen zuteil werden ließen, sowie für die wertvollen Beiträge, mit denen sie mein Wörterbuch bereichert haben.

Nach einwöchigem Aufenthalt in Szawle hatte ich mir eben vorgenommen, nach Klaigoda (der Hafenstadt, die wir Memel nennen) zu gehen, um nach Hause zurückzukehren, als mir Graf Szemioth durch seinen Jäger den folgenden Brief zusandte:

 

Lieber Herr Professor! Gestatten Sie mir, Ihnen deutsch zu schreiben, denn schriebe ich schmudisch, so würde ich noch mehr Sprachschnitzer machen und mir Ihre Achtung vollends verscherzen. Weiß ich doch sowieso nicht, ob sie sonderlich groß ist, und die Neuigkeit, die ich Ihnen mitzuteilen habe, dürfte sie vielleicht nicht erhöhen. Ohne weitere Vorrede: ich verheirate mich, und Sie ahnen gewiß, mit wem. Jupiter lacht der Schwüre Verliebter. Das nämliche tut Pirkuns, unser schmudischer Jupiter. Ich heirate also am achten des künftigen Monats Julka Iwinska, und Sie würden der liebenswürdigste aller Menschen sein, wenn Sie der Feier beiwohnen wollten. Sämtliche Bauern von Medintiltas und den umliegenden Ortschaften werden bei der Gelegenheit zusammenkommen, um einige Ochsen und unzählige Schweine zu verzehren, und wenn sie betrunken sind, tanzen sie auf der großen Wiese rechts von der Eingangsallee, die Ihnen bekannt ist. Sie werden Trachten, Sitten und Gebräuche kennenlernen, die Ihre Aufmerksamkeit verdienen. Sie würden Julka und mir durch Ihr Kommen das größte Vergnügen bereiten; ja, ich füge hinzu, eine Ablehnung würde uns in arge Verlegenheit bringen. Sie wissen, daß ich mich zum evangelischen Glauben bekenne, ebenso meine Braut. Nun liegt unser Geistlicher, der einige dreißig Meilen von hier wohnt, an der Gicht darnieder, und ich wage zu hoffen, daß Sie sich bereit finden lassen, an seiner Statt zu amtieren. Bis dahin gestatten Sie mir, lieber Herr Professor, mich zu nennen Ihren ganz ergebenen

Michael Szemioth.

 

Am Ende des Briefes, in Form einer Nachschrift, war mit hübscher Frauenhand in schmudischer Sprache beigefügt:

Ich, die litauische Muse, schreibe schmudisch. Michael ist ein unartiger und ungalanter Mensch, daß er an Ihrem Beifall für seine Heirat zweifelt. Ich glaube wirklich, keine außer mir wäre so töricht, ihn zu nehmen. Sie werden am achten künftigen Monats eine nicht unschicke Braut sehen. (Das ist nicht schmudisch, sondern französisch!) Lassen Sie sich dadurch wenigstens nicht während der Zeremonie aus dem Texte bringen.

 

Weder Brief noch Nachschrift gefielen mir. Ich fand das Brautpaar, angesichts des so wichtigen Schrittes, von unverzeihlicher Leichtfertigkeit. Dennoch hatte ich keinen Vorwand, nein zu sagen. Außerdem lockte mich das versprochene Schauspiel, und jedenfalls waren unter der großen Menge von Edelleuten, die bei dieser Gelegenheit in Medintiltas zusammenkamen, mehrere zu erwarten, die mir brauchbare Mitteilungen machen konnten. Mein schmudisches Glossarium war bereits reich, aber der Sinn einer gewissen Anzahl von Wörtern, die ich nur aus dem Munde ungebildeter Leute gehört hatte, war mir in mancher Beziehung dunkel geblieben. Kurz, alle diese Gründe zusammen waren mächtig genug, um mich auf das Verlangen des Grafen eingehen zu lassen.

Ich antwortete also, daß ich am Morgen des achten in Medintiltas einzutreffen gedächte.

Wie sehr hatte ich Ursache, mein Versprechen zu bereuen!

Als ich in die Allee des Schlosses einfuhr, erblickte ich eine Menge Herren und Damen in Morgentoilette, die in Gruppen auf der Freitreppe standen oder in den Wegen des Parkes umherspazierten. Der Hof stand voll geputzter Bauern. Das ganze Schloß war festlich geschmückt; überall Blumen, Girlanden, Fahnen und Behänge. Der Inspektor geleitete mich in das für mich bestimmte Zimmer im Erdgeschoß, indem er sich entschuldigte, mir kein besseres geben zu können; aber es seien so viele Menschen im Schlosse, daß es unmöglich gewesen, mir das Zimmer aufzuheben, das ich während meines ersten Aufenthaltes innegehabt, und das man jetzt der Gattin des Adelsmarschalls eingeräumt habe. Mein jetziges Zimmer war sehr nett, hatte Aussicht auf den Park und lag unter den Gemächern des Grafen.

Ich kleidete mich in Eile für die Zeremonie um und legte mein geistliches Kleid an; aber weder der Graf noch die Braut erschienen. Der Graf war nach Dowgielly gefahren, um sie abzuholen. Sie hätten zwar schon längst wieder da sein müssen, aber die Toilette einer Braut ist keine Kleinigkeit, und der Doktor machte die Eingeladenen darauf aufmerksam, daß das Frühstück erst nach der Feier eingenommen werden sollte und man deshalb gut tun würde, etwaigen allzu lebhaften Appetit an einem gewissen, mit Kuchen und allen Arten von Schnäpsen besetzten Büfett vorläufig zu beruhigen. Ich bemerkte bei dieser Gelegenheit, wie doch das Warten die Medisance herauslockt, denn die Mütter zweier hübscher junger Mädchen waren unerschöpflich in beißenden Bemerkungen über die Braut.

Endlich, es war Mittag geworden, verkündigten Böller- und Flintenschüsse die Ankunft der Brautleute, und gleich darauf rollte ein von dem prächtigsten Viergespann gezogener Galawagen in den Hof. An dem Schaum, der die Pferde bedeckte, sah man leicht, daß die Verspätung nicht ihre Schuld war. In der Kutsche saß niemand als die Braut, Frau von Dowgiello und der Graf. Er stieg zuerst heraus und reichte Frau von Dowgiello die Hand. Fräulein Iwinska gab sich mit einer reizenden Gebärde kindlicher Grazie und Koketterie den Anschein, als wolle sie sich hinter ihren Schal verstecken, um sich den neugierigen Blicken zu entziehen, die von allen Seiten auf sie eindrangen. Gleichwohl stand sie im Wagen auf und wollte eben die Hand des Grafen ergreifen, als die Pferde, vielleicht durch den Regen von Blumen erschreckt, die die Bauern der Braut zuwarfen, vielleicht dem Grauen unterliegend, das Graf Szemioth allen Tieren einflößte, sich schnaubend bäumten. Das eine Rad stieß an eine der Säulen am Fuße der Freitreppe, und einige Momente schwebte man in der Erwartung eines Unfalls. Fräulein Iwinska stieß einen kleinen Schrei aus, aber bald war man wieder beruhigt. Der Graf nahm die Braut in seine Arme und trug sie, als sei sie leicht wie eine Taube, die Freitreppe hinauf. Wir klatschten ihm Beifall sowohl ob seiner Geschicklichkeit als auch ob seiner Ritterlichkeit. Die Bauern riefen Vivat; die Braut, die über und über rot geworden war, lachte und zitterte zugleich. Der Graf, der keine Eile verriet, sich seiner reizenden Last zu entledigen, empfand offenbar eine Art von Triumph, als er sie so der ihn umringenden Menge zeigte.

Plötzlich, ohne daß man wußte woher sie kam, erschien eine hagere bleiche Frau, deren Kleider sich in der größten Unordnung befanden, mit wirr um den Kopf hängenden Haaren und schreckensstarren Zügen auf der Freitreppe.

Ein Bär! schrie sie mit durchdringender Stimme. Ein Bär! Greift zu den Flinten! Er schleppt eine Frau fort! Schießt ihn nieder! Feuer! Feuer!

Es war die Gräfin. Die Ankunft der Braut hatte alle Welt auf die Freitreppe, in den Hof oder an die Fenster des Schlosses gelockt. Sogar die Frauen, die die Wahnsinnige überwachten, hatten einen Augenblick ihre Pflicht vergessen. Sie war entschlüpft, und ohne von jemandem bemerkt zu werden, mitten unter uns erschienen. Der Auftritt war überaus peinlich. Trotz ihres Geschreis und des Widerstandes, den sie leistete, wurde die Gräfin fortgebracht. Viele der Anwesenden wußten noch nichts von ihrer Krankheit, und man sah sich gezwungen, ihnen Erklärungen zu geben. Die Gäste zischelten untereinander; alle Gesichter hatten sich verdüstert.

Schlimme Vorbedeutung! sagten die Abergläubischen, deren Zahl in Litauen sehr groß ist.

Währenddem verlangte Fräulein Iwinska fünf Minuten Zeit, um sich zurecht zu machen und ihren Brautschleier anzulegen, ein Geschäft, das nicht weniger als eine Stunde in Anspruch nahm; und das war mehr als nötig, um alle Personen, die um die Krankheit der Gräfin nicht Bescheid wußten, mit der Ursache und den Einzelheiten bekannt zu machen.

Endlich erschien die Braut. Sie war wundervoll gekleidet und mit Brillanten bedeckt. Ihre Tante stellte sie allen Gästen vor. Als der Augenblick gekommen war, in die Kapelle zu gehen, gab Frau von Dowgiello zu meinem größten Erstaunen in Gegenwart der ganzen Gesellschaft ihrer Nichte eine Ohrfeige, die stark genug ausfiel, um auch die Aufmerksamkeit derer zu erregen, die etwa nach andrer Seite hin beschäftigt waren. Die Ohrfeige wurde mit der größten Ruhe in Empfang genommen, und es wunderte sich offenbar niemand darüber; nur ein in Schwarz gekleideter Mann schrieb etwas auf ein Papier, das er in Bereitschaft gehalten, und einige der Anwesenden setzten in der gleichgültigsten Weise ihre Namen darunter. Ich erfuhr die Bedeutung dieses Vorganges erst, nachdem die Zeremonie vorüber war; hätte ich eine Ahnung davon gehabt, würde ich mich mit dem ganzen Ansehen meines heiligen Amtes gegen den abscheulichen Gebrauch aufgelehnt haben, dessen Zweck es ist, im voraus einen Scheidungsgrund zu schaffen, als habe die Verbindung nur infolge Ausübung eines Zwanges auf einen der beiden Teile stattgefunden.

Nach der Einsegnung richtete ich die üblichen Worte an das junge Paar, wobei ich die Heiligkeit und den Ernst des eben geschlossenen Bundes ihnen mit besonderem Nachdruck ans Herz legte, da mir das unpassende Postskriptum des Fräuleins Iwinska noch in Erinnerung war. Es schien mir auch, als ob dieser Teil meiner Rede eines tiefen Eindrucks auf die Braut sowohl wie auf alle meine Zuhörer, soweit sie Deutsch verstanden, nicht verfehle.

Donnernde Schüsse und Freudengeschrei empfingen den Zug, als er die Kapelle verließ. Das Festmahl war ausgezeichnet. Man brachte den besten Appetit dazu mit, und eine Weile hörte man nichts anderes als das Klappern der Messer und Gabeln; aber bald begann man, angeregt von Ungarwein und Champagner, zu plaudern, zu lachen und sogar zu schreien. Die Gesundheit der Braut wurde mit Begeisterung ausgebracht, und kaum hatte man sich wieder gesetzt, als ein alter Pan mit weißem Schnurrbarte sich erhob und mit schallender Stimme begann:

Ich sehe mit Schmerz, daß unsere alten Gebräuche immer mehr verlorengehn. Unsere Väter würden diesen Toast niemals aus Kristallgläsern getrunken haben. Wir tranken ihn aus dem Schuhe der Braut oder vielmehr aus ihrem Stiefel; denn zu meiner Zeit trugen die Damen rote Stiefel aus Maroquin. Laßt uns zeigen, meine Freunde, daß wir echte Litauer sind! Und du, Herrin, gestatte mir deinen Schuh!

Die Braut antwortete errötend und mit unterdrücktem Lachen:

Komm und hole ihn, Pan! Doch ich tue dir nicht Bescheid aus deinem Stiefel!

Der Pan ließ sich das nicht zweimal sagen.

Er kniete in artigster Weise nieder, zog der Braut einen kleinen weißen Atlasschuh mit roten Stöckeln vom Fuße, füllte ihn mit Champagner und trank so schnell und so geschickt, daß nicht mehr als die Hälfte auf sein Kleid floß. Der Schuh ging nun von Hand zu Hand, und alle Männer tranken daraus, obwohl ihnen das Kunststück nicht ohne Mühe gelang. Dann forderte der alte Herr den Schuh als kostbares Andenken zurück, und Frau von Dowgiello beauftragte eine Kammerfrau, den Anzug ihrer Nichte wieder zu vervollständigen.

Diesem Toast folgten viele andere, und bald wurden die Tischgenossen so laut, daß es mir nicht passend erschien, länger unter ihnen zu verweilen. Ich flüchtete mich, ohne daß jemand acht darauf hatte, und ging, um draußen im Freien frische Luft zu schöpfen.

Aber auch hier erwartete mich ein wenig erbaulicher Anblick. Die Dienerschaft und die Bauern, denen man Bier und Branntwein gegeben hatte, soviel sie wollten, waren zum größten Teile schon betrunken. Sie hatten sich geprügelt und gegenseitig die Köpfe zerschlagen. Hie und da wälzten sich Bezechte ohne Bewußtsein auf der Wiese, und der Festplatz sah einem Schlachtfelde nicht unähnlich. Gern hätte ich auch die Volkstänze in der Nähe gesehen, aber der größte Teil wurde von frechem Zigeunergesindel ausgeführt, und ich hielt es nicht für geraten, mich in das Getümmel zu mischen. Ich begab mich deshalb in mein Zimmer, las noch eine Weile, entkleidete mich dann und schlief bald ein.

 

Ich erwachte, als die Uhr des Schlosses drei schlug. Die Nacht war klar, obgleich sich der Mond mit einem leichten Nebelschleier umzogen hatte. Meine Versuche, wieder einzuschlafen, gelangen nicht. Wie ich gewöhnlich in solchen Fällen zu tun pflege, wollte ich ein Buch nehmen und lesen, aber ich konnte keine Schwefelhölzer im Bereich meiner Hände finden. Ich stand also auf und suchte tastend im Zimmer umher, als plötzlich ein sehr großer undurchsichtiger Körper mein Fenster verdunkelte und mit dumpfem Geräusch zur Erde fiel. Mein erster Eindruck war, daß es ein Mensch sein müsse, und daß wahrscheinlich einer der betrunkenen Hochzeitsgäste aus dem Fenster gestürzt sei. Aber als ich mein Fenster öffnete und hinausblickte, sah ich nichts. Endlich zündete ich Licht an, legte mich wieder ins Bett und las in meinem Glossarium, bis man mir den Tee brachte.

Gegen elf Uhr begab ich mich in den Salon, wo ich viele matte Augen und angegriffene Gesichter fand; man war, wie ich hörte, sehr spät auseinandergegangen. Der Graf und die junge Gräfin waren noch nicht erschienen. Halb zwölf begann man, nach vielen häßlichen Scherzen, erst leise, dann laut über diese Verzögerung zu murren. Doktor Fröber übernahm es endlich, den Kammerdiener hinaufzuschicken und an die Tür des Grafen klopfen zu lassen. Der Mensch kam nach Verlauf einer Viertelstunde ziemlich bestürzt zurück und sagte dem Doktor, er habe mehr als ein dutzendmal geklopft, ohne Antwort zu erhalten. Wir, der Doktor und ich, berieten uns nun mit Frau von Dowgiello. Die Unruhe des Kammerdieners hatte mich angesteckt, und schließlich stiegen wir alle drei mit ihm hinauf.

Vor der Tür der jungen Gräfin fanden wir ihre Kammerfrau in großer Bestürzung. Sie behauptete, ihrer Herrin müsse ein Unglück zugestoßen sein, denn ihr Fenster stehe weit offen. Mit Schrecken erinnerte ich mich des schweren, vor meinem Fenster niederfallenden Körpers. Wir schlugen nun mit aller Gewalt gegen die Tür. Keine Antwort. Endlich brachte der Kammerdiener eine Eisenstange herbei, und wir sprengten das Schloß.

Der Mut fehlt mir, den Anblick zu beschreiben, der sich uns darbot. Die junge Gräfin lag mit furchtbar zerrissenem Gesicht und zerfleischtem Halse, mit Blut überströmt tot in ihrem Bette. Der Graf war verschwunden, und niemand hat je wieder etwas von ihm gehört.

Der Doktor besichtigte den Hals der jungen Frau. Diese Wunden sind nicht durch ein Schneideinstrument hervorgebracht, rief er; sie sind gebissen!

 

Damit klappte der Professor sein Buch zu und schaute nachdenklich ins Feuer.

Ist die Geschichte zu Ende? fragte Adelheid.

Zu Ende! entgegnete der Professor düster.

Aber warum haben Sie sie Lokis genannt? fragte sie. Keine einzige der handelnden Personen führt diesen Namen.

Es ist auch kein Menschenname, erwiderte der Professor. Hören wir, ob Theodor weiß, was Lokis heißt!

Habe keine Ahnung.

Wenn du von dem Gesetz des Überganges vom Sanskrit zum Litauischen gehörig durchdrungen wärest, so würdest du in Lokis das Wort arkscha oder rikscha erkannt haben. Man nennt in Litauen das Tier, das bei den Griechen arktos, bei den Lateinern ursus und bei den Deutschen Bär heißt: Lokis.

Jetzt werdet ihr auch mein Motto verstehen:

Miszka su Lokiu,
Abu du tokiu.

Ihr wißt, daß in dem Gedicht von Reineke dem Fuchs der Bär Meister Braun heißt; bei den Slawen heißt er Michel, litauisch Miszka, und dieser Spitzname wird fast immer anstatt des Gattungsnamens Lokis gebraucht. Es steht damit ähnlich wie bei den Franzosen, die ihr neulateinisches Wort grupil oder gorpil vergessen und dafür renard angenommen haben. Ich könnte noch mehr derartige Beispiele anführen.

Aber Adelheid bemerkte, daß es bereits spät sei, und so trennte man sich.


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