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Siehe Bildunterschrift

Prosper Mérimée, Medaillon von David d' Angers (1829).
Nach der Kopie in Gips aus Goethes Nachlaß im Goethe-Nationalmuseum zu Weimar.

Arsenia Guillot

Prosper Mérimée wurde am 14. März 1844 in die Académie Française gewählt. Tags darauf erschien die Novelle und erregte großen Skandal; vgl. Mérimées Brief an Jenny Dacquin vom 17. März 1844 in unserm Band IV.
Der aus dem Leben Stendhals bekannte Diplomat L. Cl. Graf von Sainte-Aulaire schrieb am 12. April 1844 an Herrn von Barante: Die Neuwahlen in die Académie waren, wie mich dünkt, recht vernünftig. Stark bedaure ich aber die letzte Novelle [Arsène Guillot] unseres Konfraters Mérimée. Sie offenbart wenig Talent schlecht angewendet. Unter uns, ich erinnere mich nicht, je eine üblere Frivolität gelesen zu haben. Seite 65, Zeile 6 und 7 von unten: Zoë mou, sas agapo, Kehrreim des vierstrophigen Gedichts: Maid of Athens …, geschrieben zu Athen 1810. Vgl. Works of Lord Byron, Edition Tauchnitz (1866), Bd. IV, S. 71 f.

Arsène Guillot

Übersetzt von Arthur Schurig

Erstdruck in der Revue des Deux Mondes vom 15. März 1844. Erste deutsche Übertragung


Wo Paris und Phoibos Apollon
Dich, so tapfer du bist, am skaiïschen Tore verderben.

Ilias XXII, 359 f.

In der Kirche Saint-Roch war die letzte Messe verklungen. Der Küster machte seine Runde, um die verlassenen Kapellen zu schließen. Er war im Begriff, das Gitter vor einer jener aristokratischen Andachtsstätten zuzuziehen, in denen, gesondert von den übrigen Gläubigen, zu Gott zu beten etliche fromme Frauen das erkaufte Vorrecht haben; da bemerkte er, daß eine Dame darin verblieben war, die sich in ihrem Kirchenstuhle, das Haupt zurückgelehnt, sichtlich in erbaulichen Gedanken verloren hatte.

Das ist Frau von Piennes, sagte er sich, am Eingange der Kapelle haltmachend. Frau von Piennes war dem Manne wohlbekannt. Zu jener Zeit erwarb sich eine junge reiche hübsche Dame der Gesellschaft den Ruf besondrer Frömmigkeit, wenn sie Kirchengängerin war, Altardecken stiftete und dem Pfarrer ansehnliche Almosen zur Verfügung stellte, vorausgesetzt, daß ihr Gatte nicht Regierungsbeamter war, sie selber keine Getreue der Frau Kronprinzessin, und ihr Kirchgang wirklich nur ihrem Seelenheile galt.

Der Küster wäre gern zu Tisch gegangen (Leute seines Standes essen um ein Uhr); doch wagte er die Andacht einer im Sprengel von Saint-Roch hochgeschätzten Person nicht zu stören. Also entfernte er sich, seine ausgetretenen Schuhe auf den Steinfliesen klappern lassend, nicht ohne die Hoffnung, daß er nach vollendetem Rundgange die Kapelle leer finden werde.

Er befand sich bereits auf der andern Seite des Chores, als ein junges Weib in die Kirche trat und, sich neugierig umschauend, durch eins der Seitenschiffe schritt. Schreine, Stationen, Weihwasserbecken, alle diese Dinge kamen ihr offenbar ebenso fremdartig vor wie Ihnen, gnädige Frau, etwa die Krypta und die Inschriften in einer Moschee Kairos. Sie mochte fünfundzwanzig alt sein; aber wer sie nicht aufmerksam anschaute, hielt sie für älter. Ihre wenn auch leuchtenden schwarzen Augen lagen in blaubeschatteten Gruben; ihre mattweiße Gesichtsfarbe, ebenso ihre fahlen Lippen verrieten Schmerz und Leid, während ein Schimmer von Keckheit und Frohsinn im Blick jenen Merkmalen widersprach. An ihrer Kleidung hätten Sie ein merkwürdiges Gemisch von Nachlässigkeit und Gefallsucht wahrgenommen. Ihre rosenrote Capote, geschmückt mit künstlichen Blumen, hätte eher zu einem Abendkleid im Haus gepaßt. Unter einem langen Kaschmirschal (dem scharfen Auge eines Weltkindes wäre es nicht entgangen, daß ihn nicht die erste Besitzerin trug) lugte ein abgenütztes Kleid hervor; zwanzig Sous mochte die Elle gekostet haben. Schließlich, nur ein Mann hätte es fertig bekommen, ihren zierlichen Füßen in ordinären Strümpfen und in Tuchschuhen, die den Kampf mit dem Straßenpflaster gewiß schon lange aushielten, Bewunderung zu gönnen. Sie wissen, gnädige Frau, der Asphalt ist neuerdings erfunden.

Das Mädchen, dessen gesellschaftliche Stellung Sie wohl ahnen, näherte sich der Seitenkapelle, in der Frau von Piennes noch immer weilte, und nachdem sie sie mit ängstlichem, verlegenem Blick einen Moment angeschaut hatte, sprach sie die sich zum Weggehen Erhebende an.

Können Sie mir sagen, gnädige Frau, fragte sie schüchtern lächelnd in sanftem Tone, können Sie mir sagen, an wen ich mich zu wenden habe, wenn ich eine Kerze weihen will?

Diese Worte klangen dem Ohr von Frau von Piennes allzu ungewohnt. Sie verstand sie zuerst nicht und bat um Wiederholung.

Ach, ich möchte dem heiligen Rochus eine Kerze weihen; nur weiß ich nicht, wem ich das Geld dazu gebe.

Frau von Piennes war bei all ihrer Frömmigkeit Rationalistin; den Aberglauben des Volkes kannte sie nicht. Gleichwohl ließ sie ihn gelten; hat doch jede Art Gottesverehrung, auch die niedrigste, etwas Rührendes. Im Glauben, es handle sich um ein Gelübde oder derlei, und zu großherzig als daß sie aus der Tracht (der rosenroten Capote) des jungen Weibes auf Bestimmtes geschlossen hätte (Sie würden sich kaum davor gescheut haben!), wies sie ihr den sich nähernden Küster. Die Unbekannte dankte und lief auf den Mann zu, der sie augenscheinlich ohne weiteres verstand. Während Frau von Piennes ihr Gebetbuch ergriff und ihren Schleier zurechtzupfte, sah sie, wie das Mädchen mit der Kerze eine kleine Börse aus der Tasche zog, vielem Kleingeld ein einsames Fünffrankstück entnahm und dieses dem Küster einhändigte, wobei sie ihm eine Menge Anliegen zuflüsterte, die er lächelnd anhörte.

Beide verließen die Kirche zu gleicher Zeit, aber das Mädchen mit der Kerze ging dermaßen rasch, daß Frau von Piennes, obwohl sie die nämliche Richtung einschlug, sie bald aus den Augen verlor. An der Ecke der Straße, in der sie wohnte, begegnete ihr die Unbekannte abermals. Sie bemühte sich, unter ihrem schäbigen Schal ein Vierpfundbrot zu verbergen, das sie in einem nahen Laden gekauft hatte. Wie sie Frau von Piennes wiedersah, neigte sie den Kopf, konnte nicht umhin zu lächeln und beschleunigte ihren Gang. Ihr Lächeln besagte: Was kann ich dafür? Ich bin arm. Spotten Sie meiner! Ich weiß wohl, daß man in einer rosenroten Capote und mit einem Kaschmirschal nicht Brot einholt … Dies Gemisch von falscher Scham, Schicksalsergebenheit und munterer Laune entging Frau von Piennes keineswegs. Nicht ohne Betrübnis ward ihr der Beruf des jungen Mädchens klar. Ihre Frömmigkeit, dachte sie bei sich, ist aber doch mehr wert als meine. Daß sie ein Fünffrankstück geopfert hat, fällt gewiß viel schwerer in die Wagschale als alles das, was ich den Armen aus meinem Überfluß ohne die geringste Entbehrung gebe. Die zwei Scherflein der armen Witwe fielen ihr ein, die Gott wohlgefälliger sind als das protzige Almosen des reichen Mannes. Ich tue nicht genug, sagte sie sich. Ich tue nicht alles, was ich könnte … In Gedanken über diesen gewiß unberechtigten Vorwurf kam sie nach Hause. Die Kerze, das Vierpfundbrot und vor allem das dahingegebene Fünffrankstück hatten ihr die Gestalt des Mädchens unvergeßbar gemacht; sie schwebte ihr vor wie die verkörperte Pietas.

In der Folge begegnete ihr die Unbekannte ziemlich oft, auf der Straße, in der Nähe der Kirche, doch nie beim Gottesdienst. Jedesmal wenn sie Frau von Piennes entgegenkam, neigte sie das Haupt, leise lächelnd. Dies beinahe demütige Lächeln gefiel Frau von Piennes. Gern hätte sie Gelegenheit gefunden, dem jungen Mädchen, das erst ihre Aufmerksamkeit und jetzt ihr Mitleid erregte, eine Wohltat zu erweisen, zumal es ihr auffiel, daß die rosenrote Capote ihre Farbe verloren hatte und der Kaschmirschal verschwunden war; wahrscheinlich war er zum Altwarenhändler zurückgewandert. Somit hatte der heilige Rochus das ihm dargebrachte Opfer nicht hundertfältig vergolten.

Eines Tages sah Frau von Piennes einen Sarg in die Kirche von Saint-Roch tragen; hinter ihm einen recht dürftig gekleideten Mann ohne Flor am Hut. Offenbar war er Pförtner oder dergleichen. Sie war dem Mädchen mit der Kerze mehr denn vier Wochen nicht begegnet, und der Gedanke kam ihr, es sei ihr letzter Gang, dem sie beiwohnte. Warum nicht? Sie hatte so blaß und abgemagert ausgesehen, wie Frau von Piennes ihr zuletzt begegnet war. Der Küster, an den sie sich wandte, befragte den Mann hinter dem Sarge. Der antwortete, er sei Pförtner in der Rue Louis-le-Grand. Eine der Mieterinnen im Hause sei gestorben, eine Frau Guillot; da sie weder Verwandte habe noch Freunde, nur eine Tochter, so gehe er bei dieser Person, die ihm gleichgültig sei, aus Gutmütigkeit mit zu Grabe. Sogleich bildete sich Frau von Piennes ein, ihre Unbekannte wäre im Elend gestorben mit Hinterlassung eines hilflosen kleinen Mädchens, und sie nahm sich vor, durch den Geistlichen, der ihre guten Werke zu vermitteln pflegte, nachzuforschen.

Am übernächsten Tage ward ihr Wagen auf einige Augenblicke durch einen Karren aufgehalten, der quer auf der Straße stand. Wie sie flüchtig durch den Vorhang sah, gewahrte sie das totgeglaubte Mädchen, gelehnt an einen Pfeiler. Sie erkannte sie sofort, trotzdem sie bleicher und magerer denn je war. Sie trug ein (allerdings ärmliches) Trauerkleid, ohne Handschuhe, ohne Hut. Ihr Gesichtsausdruck war sonderbar. Statt zu lächeln wie sonst, waren alle ihre Züge verzerrt. Ihre großen schwarzen Augen sahen verstört aus; sie richtete sie auf Frau von Piennes, doch ohne sie wahrzunehmen, denn sie starrten ins Leere. Aus ihrer ganzen Haltung sprach nicht Schmerz, sondern ein rasender Entschluß.

Nach Beseitigung des Hemmnisses fuhr der Wagen der Frau von Piennes in flottem Trabe weiter; aber die Gestalt des Mädchens und ihre verzweifelten Mienen blieben ihr noch stundenlang gegenwärtig. Auf der Rückfahrt bemerkte sie einen Auflauf in ihrer Straße. Die Pförtnersweiber standen an ihren Haustüren und berichteten den Nachbarinnen Dinge, die diese mit sichtlicher Anteilnahme anhörten. Besonders drängten sich die Leute vor einem Hause unweit dem von Frau von Piennes bewohnten. Aller Augen waren einem offenen Fenster im dritten Stock zugewandt. Ausgestreckte Arme wiesen da hinauf und wieder hinab zur Erde. Die Blicke der Gruppen folgten. Es mußte sich etwas Außergewöhnliches ereignet haben.

Als Frau von Piennes ihr Vorzimmer durchschritt, fand sie ihre Dienstboten in voller Aufregung. Offenbar war ein jeder erpicht, ihr das Allerneueste des Viertels mitzuteilen. Aber ehe sie eine Frage hätte tun können, brach ihre Jungfer in die Worte aus: Ach, gnädige Frau, wissen die gnädige Frau … Und in fabelhafter Eile die Tür öffnend, war sie mit ihr im Sanctum sanctorum verschwunden, im Ankleidezimmer der Herrin, das dem übrigen Personal unzugängliches Gebiet war. Ach, gnädige Frau, wiederholte die Jungfer, indem sie Frau von Piennes den Schal abnahm, das Herz steht einem still. So etwas Furchtbares habe ich mein Lebtag nicht gesehen. Das heißt, gesehen habe ich es gar nicht, obwohl ich gleich hingelaufen bin … Immerhin …

Was ist geschehen, Josephine! Sagen Sie es doch!

Also, gnädige Frau, drei Häuser weit von uns hat sich ein armes unglückliches junges Mädel aus dem Fenster gestürzt, vor kaum drei Minuten. Wenn die gnädige Frau eine Minute früher gekommen wäre, so hätte sie den Aufschlag gehört …

Mein Gott! rief Frau von Piennes aus. Die Unglückliche hat sich getötet?

Gnädige Frau, wie gräßlich! Baptist, der den Krieg mitgemacht hat, meinte, derlei habe er nie und nimmer gesehen … Vom dritten Stock …

War sie auf der Stelle tot?

Ach, gnädige Frau, sie bewegte sich noch. Sie redete sogar. Man soll mir den Rest geben, hat sie gesagt. Die Knochen waren ihr alle zerschlagen. Die gnädige Frau kann sich denken, wie sie aufgeprallt sein muß …

Hat man der Unglücklichen Hilfe geleistet? Ist nach einem Arzt geschickt? Einem Priester?

Nach einem Priester? Das wissen die gnädige Frau doch am besten … Ich kann es auch keinem Priester verdenken. Ein Frauenzimmer, das sich soweit vergißt, daß es Selbstmord begeht … das kann keine anständige Person sein … Das ist doch klar. Man sagt, es sei eine von der Oper … Alle diese Dämchen enden so. Sie hat sich in das Fenster gestellt, ihre Röcke mit einem roten Bande zugebunden … und ratsch!

Das ist das Mädchen in Trauer! rief Frau von Piennes, als spräche sie mit sich selber.

Jawohl, gnädige Frau, die Mutter war ihr vor drei oder vier Tagen gestorben. Sie wird den Kopf verloren haben … Vielleicht hat auch ihr Liebster sie sitzen lassen … Nun war es soweit … Kein Geld … Arbeiten kann man dann nicht … Weg ist der Verstand, und die dumme Tat geschieht!

Fräulein Josephine redete eine Weile so weiter, ohne daß Frau von Piennes etwas dazu sagte. Sicherlich betrübt grübelte sie über das Vernommene nach. Plötzlich aber stellte sie die Frage: Sagen Sie, Josephine, hat die Unglückliche, was sie in ihrem Zustande braucht? Wäsche, ein richtiges Bett? Das muß unverzüglich festgestellt werden.

Ich werde hingehen, gnädige Frau, wenn die gnädige Frau einverstanden ist, rief die Jungfer aus, hingerissen von dem Gedanken, eine Frau sehen zu können, die sich hatte töten wollen. Schon aber fügte sie nachdenklich hinzu: Ich weiß zwar nicht, ob ich stark genug bin, eine Frau zu sehen, die aus dem dritten Stock gestürzt ist. Als man jüngst Baptist zur Ader gelassen hat, ist mir schlecht geworden. Es war zuviel für mich.

Gut! Beauftragen Sie Baptist! befahl Frau von Piennes. Und daß ich sofort erfahre, wie es der Unglücklichen geht!

Der Zufall fügte es, daß sich im Augenblick, wo sie diesen Auftrag gab, ihr Hausarzt, der Dr. Koreff, einstellte. Er pflegte alle Dienstage, am Tage der Italienischen Oper, ihr Tischgast zu sein.

Herr Doktor! rief sie ihm entgegen, ohne ihm Zeit zu lassen, seinen Stock abzulegen und sich seines dicken Überziehers zu entledigen. Gehen Sie rasch mit! Baptist wird Sie führen. Es ist ganz in der Nähe. Ein armes junges Mädchen hat sich soeben aus dem Fenster gestürzt. Sie ist ohne Beistand.

Aus dem Fenster? wiederholte der Arzt. Wenn es hoch war, habe ich wahrscheinlich nichts zu tun.

Der Doktor verspürte mehr Lust nach dem Mittagsmahle als nach einer Operation; aber Frau von Piennes bestand darauf, und da das Essen bis zu seiner Rückkehr verschoben ward, erklärte er sich bereit, Baptist zu folgen.

Der Diener kam nach ein paar Minuten allein zurück. Er bat um Wäsche, Kissen und so weiter. Zugleich überbrachte er das ärztliche Urteil.

Es ist weiter nichts. Das Mädchen wird davonkommen, wenn es nicht stirbt … am … Ich habe vergessen, an was sie sterben könnte … Es war was hinten mit … os.

Tetanos! rief Frau von Piennes. Starrkrampf!

Sehr wohl, gnädige Frau, sagte Baptist. Jedenfalls war es ein Glück, daß der Herr Doktor gekommen ist, denn es war schon ein andrer, schlechter Arzt da, der keine Patienten hat, derselbe, der das kleine Berthchen behandelt hat, wie sie die Masern bekam. Bei seinem dritten Besuch war sie tot …

Nach einer Stunde war der Arzt wieder da, kaum noch so gepudert, sein schönes Batistjabot zerknüllt. Die Leutchen, die Hand an sich legen, erklärte er, haben wunderbares Glück. Neulich bringt man eine Frau in meine Klinik, die sich mit einer Pistole in den Mund geschossen hatte. Das Dümmste, was sie tun konnte! Sie hatte sich drei Zähne weggeputzt und die linke Backe durchlöchert. Schön ist sie nicht mehr. Im übrigen hat es nichts nach sich. Und diese springt drei Stockwerke hinunter! Der brave arme Teufel, der aus Versehen aus dem ersten Stock fällt, schlägt sich regelrecht den Schädel ein. Dies Mädchen bricht ein Bein, schindet sich ein bißchen auf und quetscht sich zwei Rippen. Das ist alles. Ausgerechnet, wo sie hinabgestürzt ist, hat einer der Läden ein Leinwanddach. Das hat die Wucht des Sturzes aufgehoben. Der dritte gleiche Fall, seit ich wieder in Paris bin … Sie ist auf die Füße zu stehen gekommen. Schien- und Wadenbeine sind wiederherstellbar. Anders ist es mit der Kruste dieses Steinbutts, die gänzlich eingetrocknet ist. Wer weiß, was mit dem Braten geschehen ist … und der erste Akt vom Othello entgeht uns auch.

Hat das arme Ding Ihnen eingestanden, was sie dazu getrieben hat?

Derlei Historien höre ich mir nie an, gnädige Frau. Haben Sie zuvor gegessen? Dies und ähnliches frage ich, denn das ist für die Behandlung wichtig. Du mein Gott, wenn man sich das Leben nehmen will, wird man den oder jenen törichten Anlaß wohl haben. Der Liebste hat sie sitzen lassen, und die Zimmervermieterin setzt sie auf die Straße. Um ihr eins auszuwischen, springt so ein Mädel zum Fenster hinaus. Kaum fliegt sie durch die Luft, so reut sie die Geschichte …

Sie bereut, das arme Kind? Ich hoffe es.

Selbstverständlich! Selbstverständlich! Sie war in Tränen und redete auf mich ein … Übrigens, Baptist ist ein ausgezeichneter Assistent. Er hat seine Sache besser gemacht als der medizinische Grünschnabel, der sich vor mir eingestellt hatte. Er kraute sich hinterm Ohr und wußte keinen Anfang. Interessant ist die Sache insofern noch: wenn das Mädchen den Tod gefunden hätte, brauchte sie nicht an der Lungenschwindsucht zu sterben. Sie ist nämlich lungenleidend. Diese Diagnose stelle ich ihr. Die Brust abgeklopft habe ich ihr nicht, aber mein Blick täuscht mich niemals. Wie kann man es so eilig haben, wenn man nur abzuwarten braucht?

Sie werden sie morgen wieder besuchen, Doktor, nicht wahr?

Da Sie es wünschen, wird es wohl sein müssen, gnädige Frau. Daß Sie etwas für sie tun werden, habe ich ihr bereits versprochen. Das einfachste wäre, man steckte sie ins Krankenhaus. Dort würde man ihr kostenlos das Bein einschienen. Doch bei dem Worte Krankenhaus schreit sie, man solle sie gleich lieber umbringen; und alle die Klatschbasen um sie herum schreien im Chor mit. Ja, wenn man keinen roten Heller hat …

Ich werde die geringen erforderlichen Unkosten auf mich nehmen, Doktor … Wissen Sie, das Wort Krankenhaus ist mir auch schrecklich. Ich kann mir nicht helfen. Es geht mir wie den Klatschbasen, von denen Sie reden. Überdies wäre die Überführung in ein Krankenhaus bei ihrem gräßlichen Zustand ihr Tod.

Vorurteil! Reines Vorurteil der Weltkinder! Nirgends ist man so gut aufgehoben wie im Krankenhause. Wenn ich einmal ernstlich krank werden sollte, so lasse ich mich ins Krankenhaus schaffen. Von dort aus – es hat natürlich noch dreißig bis vierzig Jahre Zeit, meine Gnädigste! – will ich mich in Charons Kahn einschiffen. Meinen Corpus werde ich den Studenten vermachen … Was Ihren Schützling anbelangt, so mache ich Sie auf eins aufmerksam. Es sieht mir ganz so aus, als gehöre das Mädel zur Oper. Nur mit Ballettbeinen kann man einen solchen Sprung glücklich überstehen.

Ich habe sie in der Kirche gefunden …, und dann kennen Sie meine Schwäche. Aus einem Gesicht, einem Blick baue ich mir eine ganze Lebensgeschichte auf … Lachen Sie, soviel Sie wollen; ich täusche mich selten. Das arme Mädchen hat jüngst ein Gelübde für ihre kranke Mutter getan. Die Mutter ist gestorben … Da hat sie den Verstand verloren. Verzweiflung und Not haben sie zu dieser schrecklichen Tat getrieben.

Alle Achtung, gnädige Frau! Tatsächlich hat sie auf der Schädeldecke eine aufgetriebene Stelle, die auf Überspanntheit deutet. Was Sie mir da sagen, ist durchaus wahrscheinlich. Sie erinnern mich daran, daß ein Buchsbaumzweig über ihrem Gurtbett hängt. Ein Beweis ihrer Frömmigkeit, meinen Sie nicht?

Ein Gurtbett? Mein Gott, das arme Kind! Aber, lieber Doktor, Sie haben Ihr boshaftes, mir wohlbekanntes Lächeln. Ich spreche nicht von der Frömmigkeit, die sie hat oder auch nicht. Was mich verpflichtet, mich des Mädchens anzunehmen, ist vor allem: ich muß mir ihretwegen einen Vorwurf machen …

Einen Vorwurf? Da bin ich neugierig. Ohne Zweifel hätten Sie Matratzen auf die Straße legen lassen sollen, um sie aufzufangen.

Ja, einen Vorwurf. Ihr Zustand war mir bereits aufgefallen. Ich hätte ihr Hilfe schicken sollen, aber der gute Abbé Dubignon war bettlägerig, und …

Sie kämen mit Selbstvorwürfen nie zu Ende, gnädige Frau, wenn Sie meinen, Sie seien nicht mildtätig genug, wenn Sie, wie Sie das tun, jedweden Bettler beschenken. Ihnen zuliebe müßte man sogar die Gabe haben, die verschämten Armen zu erkennen. Genug, sprechen wir nicht weiter von dem gebrochenen Bein – oder vielmehr noch ein paar Worte darüber! Wenn Sie meiner neusten Patientin Ihre hohe Huld gewähren, so schicken Sie ihr morgen ein besseres Bett und eine Pflegerin; für heute genügen die Klatschbasen. Sodann Fleischbrühe, Krankentee und derlei. Und was nicht übel wäre: Senden Sie ihr aus Ihrer Abbéschar irgendeinen hellen Kopf, der ihr die Leviten liest und ihr die Moral kuriert wie ich ihr das Bein! Das Persönchen ist überreizt; ein Rückfall ist nicht ausgeschlossen … Wenn Sie es selber täten … Weiß Gott ja, Sie wären die beste Predigerin. Das heißt, für edlere Objekte … Das wollte ich sagen … Es ist achteinhalb Uhr. Höchste Zeit, daß Sie sich für die Oper fertigmachen! Baptist wird mir den Mokka bringen und das Journal des Débats. Ich war den ganzen Tag auf den Beinen und habe keinen Schimmer, was in der Welt los ist.

 

Etliche Tage vergingen. Es stand ein wenig besser um die Kranke. Der Arzt beklagte sich lediglich über die seelische Überreizung, die nicht nachlasse. Ich halte nicht viel von Ihren Seelsorgern, sagte er zu Frau von Piennes. Wenn es Ihnen nicht allzu wider den Strich geht, sich das Schauspiel des Menschenelends zu betrachten, und ich weiß, an Mut dazu gebricht es Ihnen nicht, so wären Sie imstande, das Gehirn dieses armen Dinges besser zu beruhigen als ein Priester von Saint-Roch, und, was mehr besagt, besser als alle Apothekerpillen.

Frau von Piennes war damit einverstanden und schlug vor, ihn ohne Verzug zu begleiten. Zusammen stiegen sie hinauf zur Kranken.

In einer Kammer, deren Mobiliar aus drei Strohstühlen nebst einem kleinen Tische bestand, lag sie ausgestreckt in einem guten Bette, das Frau von Piennes geschickt hatte. Feines Bettzeug, eine dicke Matratze, mehr breite Kissen denn nötig, alles das deutete auf barmherzige Dienste, deren Ursprung zu erraten Ihnen gewiß keine Mühe macht.

Das Mädchen sah schrecklich bleich aus; die Augen glühten ihr. Den einen Arm hatte sie über dem Bett, und das blasse Stück davon, das die Unterjacke unbedeckt ließ, hatte über und über braune und blaue Flecke und gewährte einen Rückschluß auf den übrigen Zustand ihres Körpers.

Als sie Frau von Piennes erblickte, hob sie den Kopf, und, in Trübsal leise lächelnd, sagte sie:

Ich wußte, daß Sie es sind, gnädige Frau, die Mitleid mit mir hat. Wie man mir Ihren Namen nannte, dachte ich mir gleich: Das ist die Dame, der ich in der Kirche begegnet bin.

Mich dünkt, Ihnen bereits gesagt zu haben, daß sich Frau von Piennes einbildete, die Menschen nach ihrem Gesicht zu erraten. Hocherfreut stellte sie an ihrem Schützling die gleiche Fähigkeit fest. Diese Entdeckung vermehrte ihre Teilnahme.

Sie sind hier recht schlecht untergebracht, mein liebes Kind, sagte sie, indem sie ihren Blick über die armselige Einrichtung des Stübchens gleiten ließ. Ich verstehe nicht, daß man Ihnen keine Vorhänge geschickt hat … Sie müssen die Dinge, die Sie brauchen, von Baptist verlangen.

Wie gut Sie sind, gnädige Frau … Was brauche ich weiter? Nichts … Es geht zu Ende. Ein wenig besser oder schlechter, einerlei.

Sie wandte den Kopf und begann zu weinen.

Sie haben wohl große Schmerzen, liebes Kind? fragte Frau von Piennes und setzte sich ans Bett.

Nein, keine großen … Nur heult mir immer der Wind im Ohr, wie ich hinabstürzte … und das Geräusch, krach, wie ich in der Straße aufschlug.

Damals waren Sie von Sinnen, liebe Freundin. Jetzt bereuen Sie es, nicht wahr?

Ja … Doch wenn man unglücklich ist, hat man nicht Gewalt über sich selber.

Es tut mir leid, daß ich nicht eher erfahren habe, wie es um Sie steht. Gleichwohl, meine Liebe, in keiner Lage des Lebens darf man sich der Verzweiflung anheimgeben.

Sie haben gut reden, gnädige Frau, warf der Arzt ein, der am Tischchen ein Rezept schrieb. Sie wissen nicht, was es heißt, wenn einem ein hübscher junger Mann durch die Lappen geht. Aber wenn man ihm nachrennt, beim Teufel ja, es muß nicht gleich durchs Fenster sein!

Schämen Sie sich, Doktor! mahnte Frau von Piennes. Das arme Kind hatte wohl andre Gründe.

Die Kranke schrie laut auf.

Ach, weiß ich denn, was mich dazu trieb? Hunderterlei! Wie meine Mutter starb, das war der erste Schlag. Dann … ich kam mir so verlassen vor … Niemand kümmerte sich um mich … Zuletzt … einer, an den ich mehr dachte als an sonstwen, gnädige Frau … der vergaß mich und sogar meinen Namen … Ja, ich heiße Arsenia Guillot: G – U – I – zwei L … Er schrieb mich mit Y!

Natürlich! rief der Doktor. Ein Treuloser! Immer die alte Geschichte … Vergessen Sie den Mann! Einer ohne Gedächtnis ist des Seinergedenkens nicht wert …

Der Arzt zog seine Uhr … Schon vier Uhr? sagte er und erhob sich. Ich komme zu spät in meine Sprechstunde. Gnädige Frau, ich bitte tausend- und aber tausendmal um Verzeihung, aber ich muß Sie verlassen. Ich habe nicht einmal die Zeit, Sie nach Hause zu geleiten … Auf Wiedersehen, mein Kind! Keine Beunruhigung! Die Sache ist nicht schlimm. Sie werden mit dem Bein da wieder genau so schön tanzen wie mit dem andern … Und Sie, gnädige Frau, begeben Sie sich, bitte, mit diesem Rezept nach der Apotheke und machen Sie alles so wie gestern!

Der Arzt und die Pflegerin waren fort; Frau von Piennes blieb allein bei der Kranken, ein wenig erregt, eine Liebesgeschichte entdecken zu sollen, wo ihr die Einbildung ganz andere Motive zurechtgelegt hatte.

Also, man hat Sie hintergangen, unglückliches Kind? begann sie nach einigem Schweigen.

Mich hintergangen? Ach nein! Ein armselig Ding wie mich? Er wollte bloß nichts mehr von mir wissen … Er hat recht. Ich bin nichts für ihn. Er war immer gut und generös. Ich habe ihm geschrieben und ihm mitgeteilt, wie es um mich steht, and ob unser Verhältnis weiterbestehen solle … Da hat er mir geschrieben … ach, Dinge, die mir sehr weh getan haben … Tags darauf, wie ich nach Hause komme, da habe ich einen Spiegel fallen lassen, ein Geschenk von ihm, einen venezianischen Spiegel, wie er ihn nannte. Der Spiegel ist entzweigegangen … Ich sagte mir: Auch das noch! Nun ist alles aus … Ich hatte nichts mehr von ihm. Die Schmucksachen hatte ich aufs Leihhaus getragen … Dann sagte ich mir, wenn ich Selbstmord beginge, würde das ihm leid tun … und ich wäre gerächt … Das Fenster stand offen und ich bin hinausgesprungen.

So unglücklich Sie auch waren, der Anlaß war ebenso leichtfertig wie die Tat böse.

Von Ihrem Standpunkt gewiß! Aber wer Herzeleid hat, überlegt nichts. Zu glücklichen Leuten kann man gut sagen: Seid vernünftig!

Ich weiß, Unglück ist ein schlechter Ratgeber. Immerhin gibt es Dinge, die man selbst in den schmerzlichsten Versuchungen nicht vergessen darf. Ich habe Sie in Saint-Roch kennengelernt, wie Sie ein frommes Werk taten. Es ist noch nicht lange her. Die Gnade des Glaubens ist Ihnen zuteil geworden. Die Religion, meine Liebe, hätte Ihnen Halt geben müssen im Augenblick, da Sie sich der Verzweiflung überließen. Sie verdanken Ihr Leben dem lieben Gott. Es gehört nicht Ihnen … Genug! Es ist nicht recht von mir, Sie jetzt zu schelten, arme Kleine! Sie bereuen, Sie leiden; Gott wird sich Ihrer erbarmen.

Arsenia senkte den Kopf; Tränen netzten ihre Lider.

Gnädige Frau, sagte sie mit einem tiefen Seufzer. Sie halten mich für besser als ich bin … Sie denken, ich sei fromm … ich bin es nicht sehr … man hat mir das nicht beigebracht … Und wenn Sie mich in der Kirche eine Kerze haben spenden sehen, so geschah dies, weil ich mir nicht mehr zu helfen wußte.

Das war ein guter Gedanke, meine Liebe! Im Unglück soll man sich stets an Gott wenden.

Man hatte mir gesagt …, wenn ich in Saint-Roch eine Kerze spendete … Doch nein, gnädige Frau, das kann ich Ihnen nicht erzählen … Eine Dame wie Sie weiß nicht, was man zu tun imstande ist, wenn man so bettelarm ist.

Vor allem muß man den lieben Gott um Mut bitten, fuhr Frau von Piennes fort.

Mit einem Wort, gnädige Frau, ich will mich nicht besser hinstellen als ich bin, und es hieße Sie bestehlen, wenn ich Nutzen zöge aus der Barmherzigkeit, die Sie mir erweisen, ohne mich zu kennen … Ich bin ein erbärmliches Ding … aber unsereiner muß sehen, wie er durch die Welt kommt … Kurz und gut, gnädige Frau, ich habe die Kerze gespendet, weil meine Mutter meinte, wenn man dem heiligen Rochus eine Kerze stifte, man unbedingt binnen acht Tagen einen Mann fände, mit dem man zusammen leben könne … Nun bin ich häßlich geworden; ich sehe aus wie eine Mumie … Keiner wird mich mögen … Also bleibt mir nichts übrig als zu sterben. Halb ist es schon geschehen.

Alles das ward jäh herausgestoßen, mit schluchzender Stimme, unter Tränen, in einem rasend erregten Ton, der Frau von Piennes in Schreck und Schauder versetzte. Unwillkürlich rückte sie ihren Stuhl vom Bett der Kranken ab. Vielleicht wäre sie aus dem Zimmer entflohen, wenn die Menschlichkeit, die stärker in ihr war als der Abscheu vor der Verlorenen, ihr nicht verboten hätte, sie in einem Moment allein zu lassen, wo sie die Beute heftigster Verzweiflung war. Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann fragte sie leise, mit niedergeschlagenen Augen:

Ihre Mutter? Unselige, das wagen Sie zu sagen?

Wieso? Meine Mutter war nicht anders als alle Mütter … als alle unsere Mütter … Sie hat ihrer Mutter den Unterhalt verdient … ich habe meiner Mutter den Unterhalt verdient … Zum Glück habe ich kein Kind … Ich sehe, gnädige Frau, Sie fürchten sich vor mir … Warum eigentlich? Sie sind wohlerzogen; Ihnen ist's nie schlecht ergangen. Wer reich ist, hat es leicht, ehrbar zu sein. Wenn ich die Mittel gehabt hätte, wäre auch ich ehrbar. Ich habe manchen Liebsten gehabt; geliebt habe ich nur einen einzigen Mann. Er hat mich sitzen lassen. Wäre ich reich, so hätten wir uns geheiratet und wir wären die Eltern ehrbarer Menschen geworden … Sehen Sie, gnädige Frau, ich rede offen und ehrlich, obgleich ich recht gut sehe, wie Sie über mich denken – und mit Recht … Sie sind die einzige anständige Frau, mit der ich in meinem Leben gesprochen habe, und Sie schauen so gütig aus, so gütig, daß ich mir von vornherein gesagt habe: selbst wenn sie alles von mir weiß, wird sie Mitleid mit mir haben. Ich werde bald sterben. Um eines nur bitte ich Sie … Lassen Sie, wenn ich tot bin, in der Kirche, in der ich Sie zum erstenmal gesehen habe, eine Messe für mich lesen. Etwas andres begehre ich nicht. Ich bin Ihnen von Herzen dankbar.

Nein, rief Frau von Piennes erschüttert, Sie dürfen nicht sterben! Gott wird Erbarmen mit Ihnen haben, Sie arme Sünderin. Sie werden Ihre Verfehlungen bereuen, und er wird Ihnen verzeihen. Wenn meine Gebete etwas für Ihr Heil vermögen, sollen sie Ihnen nicht ermangeln. Ihre Erziehung trägt mehr die Schuld als Sie. Haben Sie nur Mut und Hoffnung! Vor allem versuchen Sie, ruhiger zu werden, mein liebes Kind! Sie müssen körperlich wiederhergestellt werden; auch Ihre Seele ist krank, doch verbürge ich mich für deren Genesung.

Während sie sprach, hatte sie sich erhoben: ihre Finger spielten mit einem Papierpäckchen, das mehrere Goldstücke enthielt.

Hier, sagte sie, wenn Sie irgendeinen Wunsch haben …

Dabei schob sie das kleine Geschenk unter ihr Kopfkissen.

Nein, gnädige Frau, rief Arsenia ungestüm und reichte ihr das Päckchen zurück. Ich will nichts von Ihnen; nur das, was Sie mir versprochen haben. Leben Sie wohl! Wir werden uns nicht wiedersehen. Lassen Sie mich in ein Krankenhaus schaffen, damit ich zuletzt niemandem Ungelegenheiten bereite. Niemals werden Sie aus mir etwas Tüchtiges machen! Eine große Dame wird für mich beten. Ich bin zufrieden. Leben Sie wohl!

Sich zur Wand wendend, soweit es ihr möglich war (sie war eingeschient), verbarg sie ihren Kopf in den Kissen, um nichts mehr zu sehen.

Hören Sie, Arsenia, sagte Frau von Piennes in ernstem Tone, ich habe Pläne mit Ihnen. Ich will Sie zu einer ehrbaren Frau machen. In Ihrer Reue erblicke ich die Gewähr dafür. Ich werde häufig zu Ihnen kommen. Ich sorge für Sie. Eines Tages werden Sie mir Ihre Selbstachtung schulden …

Sie ergriff ihre Hand und drückte sie leise.

Sie haben mir die Hand gegeben; Sie haben sie mir gedrückt! rief die Kranke, und ehe Frau von Piennes die Hand zurückziehen konnte, ergriff sie sie und bedeckte sie mit Küssen.

Beruhigen Sie sich! Beruhigen Sie sich, meine Liebe! sagte Frau von Piennes. Sagen Sie mir nichts mehr! Ich weiß nun alles, und ich kenne Sie besser, als Sie sich selber kennen. Ich will der Arzt Ihrer Gedanken sein, Ihrer sündigen Gedanken. Sie müssen mir aber folgen – das verlange ich – ganz wie Ihrem andern Arzte. Ich werde einen mir befreundeten Geistlichen zu Ihnen schicken. Hören Sie auf ihn! Ich werde Ihnen gute Bücher aussuchen. Die lesen Sie! Hin und wieder werden wir zusammen plaudern, und sowie Sie wieder gesund sind, wollen wir uns Ihre Zukunft überlegen.

Die Pflegerin trat ein, mit einem Arzneifläschchen, das sie in der Apotheke bekommen hatte. Arsenia weinte noch immer. Frau von Piennes drückte ihr nochmals die Hand, legte das eingewickelte Geld auf den kleinen Tisch und ging weg, wohl noch mehr für die Sünderin eingenommen als zuvor, da sie ihr noch nicht gebeichtet hatte.

Gnädige Frau, warum hat man doch stets eine Vorliebe für Taugenichtse? Vom verlornen Sohne bis zu Ihrem Schoßhündchen, das alle Leute beißt und das boshafteste Vieh ist, das ich kenne, erregt immer der am meisten Teilnahme, der es am wenigsten verdient. Eitelkeit, pure Eitelkeit ist dies Mitgefühl, gnädige Frau, Freude an der überwundenen Schwierigkeit! Der Vater des verlornen Sohnes hat den Teufel besiegt und ihm die Beute abgejagt. Frau von Piennes war stolz darauf, die Verderbtheit einer Dirne ausgelöscht und mit ihrer Beredsamkeit die durch zwei Jahrzehnte des Lasters um eine arme verworfene Seele aufgerichteten Schranken niedergeworfen zu haben. Obendrein mischte sich in den Stolz ob dieses Sieges, in das Vergnügen ob eines guten Werkes die Neugier der tugendsamen Frau, eine Geschlechtsgenossin ganz andrer Art kennenzulernen. Wenn eine Schauspielerin einen Salon betritt, sieht man oft sonderbare Blicke auf ihr ruhen. Es sind nicht die Männer, die sie am schärfsten betrachten. Sie selber, gnädige Frau, haben kürzlich im Théâtre-Français jene Sängerin, die man Ihnen in einer Loge zeigte, recht lange mit dem Opernglase angeschaut. Wie kann man Perser sein? Wie häufig richtet man derlei Fragen nicht an sich? Kurzum, Frau von Piennes beschäftigte sich in Gedanken stark mit Fräulein Arsenia und nahm sich vor: Ich will sie retten!

Sie schickte einen Priester zu ihr, der sie zur Reue ermahnte. Sie fiel dem armen Mädchen nicht schwer; kannte sie doch vom Leben, abgesehen von den flüchtigen Stunden grober Sinnenlust, nichts als Kummer und Elend. Sagt man einem Unglücklichen, er sei selber an allem schuld, so ist er nur allzusehr davon überzeugt. Fügt man ein paar Worte des Trostes hinzu, so segnet er einen und verspricht alles für die Zukunft. Ein Grieche, oder vielmehr sein Übersetzer, hat einmal gesagt:

Wer einen freien Mann in Ketten wirft,
Raubt ihm zugleich die Hälfte seiner Tugend.

In gemeiner Prosa besagt dieser Spruch: Unglück macht uns hammelhaft sanft und nachgiebig … Der Priester berichtete Frau von Piennes, Arsenia sei zwar ziemlich ungebildet, im Grunde aber nicht schlecht. Er hoffe ihre Seele zu retten. In der Tat hörte ihn Arsenia voller Aufmerksamkeit und Ehrfurcht an. Sie las die Bücher, die man ihr vorschlug, oder ließ sich vorlesen, und sie gehorchte Frau von Piennes ebenso gewissenhaft wie den Anordnungen des Arztes. Vollends gewann sie das Herz des biederen Priesters durch die Art, wie sie einen Teil des ihr in die Hände gegebenen Geldes verwendete; Frau von Piennes wähnte hierin bereits das Merkmal der endgültigen Bekehrung zu erkennen. Man solle für ihrer Mutter Seele in der Kirche von Saint-Roch eine Messe lesen. Zweifellos hatte Frau Pamela Guillot solche Fürbitte nötiger denn sonstwer.

 

Eines Vormittags, als Frau von Piennes beim Ankleiden war, klopfte einer ihrer Dienstboten behutsam an die Tür ihres Allerheiligsten und überreichte der Zofe eine Karte, die ein junger Herr eben abgegeben hatte.

Max in Paris! rief Frau von Piennes angesichts der Karte. Rasch, Josephine, melden Sie Herrn von Salligny, er möge mich im Salon erwarten.

Ein paar Minuten später hörte man im Salon Lachen und einen halbunterdrückten Schrei. Mit arg verschobener Haube und bedenklich gerötetem Gesicht erschien Fräulein Josephine wieder.

Was gibts, Josephine? fragte Frau von Piennes.

Ach nichts, gnädige Frau! Herr von Salligny hat nur gesagt, ich sei so dick geworden.

In der Tat durfte Salligny, der über zwei Jahre auf Reisen gewesen war, über Fräulein Josephines Körperfülle erstaunt sein. Ehedem war er Liebling der Dienerin und Verehrer der Herrin gewesen. Als Neffe einer Busenfreundin von Frau von Piennes ging er, zusammen mit seiner Tante, bei ihr ein und aus. Im übrigen mied er Häuser, wo es steif herging. Max von Salligny stand im Ruf, ein ziemlicher Taugenichts, Spieler, Raufbold, Lebemann zu sein, dabei aber ein guter Kerl. Seiner Tante, der Frau Aubrée, Sorgenkind, liebte sie ihn doch zärtlich. Mehrfach hatte sie versucht, ihn seinem leichten Leben zu entziehen; doch immer hatten seine schlechten Gewohnheiten den Sieg über ihre weisen Lehren davongetragen. Salligny war zwei Jahre älter als Frau von Piennes; sie kannten sich schon als Kinder, und ehe sie verheiratet wurde, war er offenbar verliebt in sie. Liebes Kindchen, meinte Frau Aubrée, wenn Sie wollten, würden Sie, des bin ich sicher, einen Mann wie ihn bändigen … Frau von Piennes (sie hieß damals Elise von Guiscard) hätte das Wagnis vielleicht unternommen, denn Max war so lustig, so drollig, als Gast so unterhaltsam, auf dem Balle so unermüdlich, daß er ein guter Ehemann zu werden versprach; aber Elisens Eltern waren vorsichtig. Frau Aubrée selber stand nicht so recht für ihren Neffen ein. Es ward festgestellt, daß er Schulden und eine Geliebte hatte. Hierzu kam ein aufsehenerregendes Duell, dessen wenig unschuldige Ursache eine kleine Schauspielerin war. Kurz und gut, die Heirat wurde für unmöglich erklärt. Dann stellte sich Herr von Piennes ein, ein ernster solider Edelmann, auch reich und aus guter Familie. Es ist nicht viel über ihn zu sagen; er galt als Ehrenmann und war es auch. Er sprach wenig; wenn er aber den Mund auftat, so geschah es, um irgend etwas zu sagen, gegen das nichts einzuwenden war. Auf verfängliche Fragen schwieg er sich klugerweise aus. Wenn er den Kreis, in dem er verkehrte, sicherlich nicht reizvoller machte, so war er doch auch keine Null. Man sah ihn allerorts gern, seiner Frau wegen; doch wenn er abwesend war (auf seinen Gütern, was neun Monate im Jahre der Fall war, insbesondre zur Zeit, da meine Geschichte anhebt), merkte es kein Mensch, insbesondere nicht einmal seine Frau.

Nachdem Frau von Piennes sich binnen fünf Minuten fertiggemacht hatte, verließ sie ihr Schlafzimmer, etwas bewegt, denn Sallignys Ankunft erinnerte sie an den kürzlich erfolgten Tod eines über alles geliebten Wesens. Diese Erinnerung war lebhaft genug, daß sie keinerlei Mutmaßung, die eine weniger vernünftige Seele über Fräulein Josefines verschobene Haube angestellt hätte, aufkommen ließ. Wie sie sich dem Empfangszimmer näherte, vernahm sie ein wenig befremdet eine schöne Baßstimme, die, mit Klavierbegleitung, frohgemut das schöne Lied sang:

Leb wohl, Therese,
Therese, leb wohl!
Wenn ich wiederkehr,
Heirat ich dich.

Frau von Piennes trat ein und unterbrach den Sänger, indem sie ihm die Rechte darbot.

Lieber Herr Max, wie freue ich mich, Sie wiederzusehen!

Salligny sprang auf und drückte ihr die Hand; er schaute sie betroffen an, ohne Worte zu finden.

Frau von Piennes fuhr fort: Ich habe es recht bedauert, daß ich nicht nach Rom eilen konnte, als Ihre liebe Tante krank wurde. Ich weiß, wie sorglich Sie um sie gewesen sind, und ich danke Ihnen herzlich für das Andenken an sie, das Sie mir geschickt haben.

Sallignys heiteres, um nicht zu sagen lachendes Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an.

Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen, sagte er, bis zum letzten Augenblick … Sie haben ihren Ring erhalten, wie ich sehe, und das Buch, in dem sie noch am Morgen gelesen hat …

Ja, Max. Ich danke Ihnen dafür. Als Sie mir dies traurige Geschenk sandten, vermeldeten Sie mir, daß Sie Rom verließen, gaben mir aber keine Adresse an. Ich konnte Ihnen somit nicht schreiben. Die arme Freundin! Daß sie so fern der Heimat sterben mußte! Zum Glück sind Sie sofort hingeeilt. Sie sind besser, als Sie sich den Anschein geben! Max, ich kenne Sie gut.

Meine Tante sagte mir, wie sie krank war: Wenn ich nicht mehr auf der Welt bin, ist nur noch Frau von Piennes da, dir die Leviten zu lesen … (Er vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken.) Sieh zu, daß es nicht allzuoft geschieht!

Ich hoffe, eine Sinekure innezuhaben. Man sagt, Sie hätten sich gebessert, Sie wären ordentlich und vernünftig geworden.

So ist es! Ich habe der Tante versprochen, ein braver Junge zu werden und …

Sie werden Ihr Wort halten; gewiß.

Will's versuchen. Auf der Reise war das leichter als in Paris. Trotzdem … Denken Sie sich, gnädige Frau, ich bin erst ein paar Stunden hier, und schon habe ich Versuchungen widerstanden! Auf dem Wege zu Ihnen bin ich einem alten Freunde begegnet, der mich eingeladen hat, mit ein paar Schwerenötern zu tafeln. Ich hab's abgelehnt.

Recht so!

Ich muß aber gestehen: weil ich hoffte, Sie würden mich einladen.

Schade! Ich esse in der Stadt. Aber morgen …

In diesem Falle stehe ich nicht für mich ein. Wenn ich hingehe, tragen Sie die Verantwortung.

Hören Sie, Max! Es kommt vor allem darauf an, einen Anfang zu machen. Gehen Sie nicht zu diesem Junggesellenessen! Ich bin zu Tisch bei Frau Darsenay. Kommen Sie abends hin; wir wollen plaudern!

Ja, aber Frau Darsenay ist etwas sehr langweilig. Sie wird tausend Fragen an mich richten. Ihnen könnte ich kein Wort widmen. Ich werde Unschickliches reden; und dann hat sie eine große Tochter. Ein Knochengerüst. Am Ende ist die noch nicht an den Mann gebracht …

Ein scharmantes Ding … und was Unschicklichkeiten anbelangt: von ihr so zu reden, wie Sie es eben getan, das ist eine.

Ich bin im Irrtum. Gut! Aber … heute erst angekommen, würde ich da nicht arg aufdringlich erscheinen?

Tun Sie also, was Sie wollen! Eines nur, Max … Als die Freundin Ihrer Tante habe ich das Recht, offen und ehrlich zu sprechen: vermeiden Sie Ihre früheren Bekanntschaften! Natürlicherweise sind alle diese Beziehungen eingeschlafen. Knüpfen Sie sie nicht wieder an! Wenn Sie nicht verführt werden, bin ich Ihrer sicher … In Ihrem Alter …, in unserm Alter muß man vernünftig sein. Doch genug mit Ratschlägen und Reden. Erzählen Sie mir lieber, was Sie gemacht haben, seit wir uns nicht gesehen! Sie waren in Deutschland, in Italien. Mehr weiß ich nicht. Sie haben mir zweimal geschrieben; mehr nicht. Entsinnen Sie sich! Zwei Briefe in zwei Jahren. Somit weiß ich von Ihnen nicht gerade viel.

Mein Gott, gnädige Frau. Ich bin arg schuldbewußt … aber ich bin so … ich muß es gestehen … so faul. Zwanzig Briefe an Sie habe ich angefangen … doch was sollte ich Ihnen berichten, das Sie interessiert hätte? Ich bin ein schlechter Briefschreiber. Wenn ich jedesmal, da ich Ihrer gedachte, an Sie geschrieben hätte, alles Papier Italiens hätte nicht gereicht.

Was haben Sie denn nun gemacht? Wie haben Sie Ihre Zeit ausgefüllt? Daß Sie sie nicht zum Briefeschreiben verwendet haben, weiß ich.

Ausgefüllt? Sie wissen ja, daß ich keine Beschäftigung habe. Leider. Ich habe die Augen offen gehalten und die Beine in Bewegung gesetzt. Ich wollte malen, aber der Anblick so vieler schöner Gemälde hat mich von meinem Dilettantismus geheilt. Und dann hat mich der alte Nibby fast zum Archäologen gemacht. Ja, er hat mich zu Ausgrabungen veranlaßt. Zutage befördert sind: ein zerbrochener Fuß und ich weiß nicht wie viele alte Scherben … Ferner habe ich in Neapel Gesangsstunden genommen. Viel ist dabei nicht herausgekommen … Ich habe …

Ihre musikalischen Neigungen schätze ich nicht besonders, obwohl Sie eine schöne Stimme haben und ganz nett singen. Das bringt Sie mit Leuten in Berührung von der Sorte, die schon genug um Sie herum ist …

Ich verstehe. In Neapel, wie ich dort war, hatte das keine weitere Gefahr … Die Primadonna wog einhundertfünfzig Kilo; die zweite Sängerin hatte einen Mund wie ein Scheunentor und eine Schimborasso-Nase. Kurzum, die zwei Jahre sind dahingegangen, ich weiß nicht wie. Ich habe nichts getan und nichts gelernt, habe aber zwei Jahre gelebt, ohne was davon zu merken.

Ich möchte Sie bei einer Beschäftigung wissen, möchte Sie bei einer starken Neigung zu irgend etwas Nützlichem sehen. Nichtstun ist Ihnen schädlich.

Offen gesagt, gnädige Frau, das Reisen ist insofern für mich von Vorteil gewesen, als ich bei meinem Nichtstun doch nicht ganz müßig war. Wenn man schöne Dinge sieht, langweilt man sich nicht. Wenn ich mich aber langweile, bin ich immer nahe daran, Dummheiten zu begehen. Wahrlich, ich bin recht ordentlich geworden. Ich habe mir sogar eine Anzahl Angewohnheiten, Geld zu vergeuden, abgewöhnt. Meine liebe Tante hat mir meine Schulden bezahlt. Ich habe keine mehr und will keine mehr machen. Mein Junggesellenleben ist gesichert, und da es mir nicht einfällt, reicher zu erscheinen als zu sein, so werde ich haushälterisch werden … Sie lächeln? Zweifeln Sie an meiner Umkehr? Wollen Sie Beweise? Hören Sie den guten Anfang! Famin, mein alter Freund, der mich heute eingeladen hat, hat mir sein Pferd zum Kauf angeboten. Für fünftausend Franken. Ein Prachtgaul. In der ersten Regung wollte ich ihn nehmen. Dann habe ich mir gesagt, daß ich nicht reich genug bin, um fünftausend Franken einer Laune zu opfern. Ich bleibe Fußgänger.

Welch Wunder, Max! Wissen Sie, was erforderlich ist, um auf diesem guten Wege weiterzugehen? Sie müssen sich verheiraten!

Ich mich verheiraten? Ja, warum nicht? Wen aber? Große Ansprüche darf ich nicht machen. Nein, nein, eine Frau nach meinem Sinn finde ich nicht mehr …

Frau von Piennes errötete ein wenig. Ohne es zu bemerken, fuhr Salligny fort: … Eine, die mich möchte … Wissen Sie, gnädige Frau: wenn mich eine haben wollte, so wäre das geradezu ein Grund für mich, sie nicht haben zu wollen.

Das verstehe ich nicht!

Sagt nicht Othello einmal, ich glaube, um den Verdacht, den er gegen Desdemona hegt, vor sich selber zu rechtfertigen: Sie war nicht blind und wählte mich? Kann ich da meinerseits nicht sagen: Eine Frau, die mich will, muß blind sein?

Sie waren ein ziemlicher Tunichtgut, Max, aber wozu machen Sie sich schlechter als Sie sind? Hüten Sie sich, derart von sich selber zu reden; denn es gibt Leute, die es Ihnen aufs Wort glauben. Was mich anbelangt, so bin ich sicher, daß Sie eines Tages … Ja, wenn Sie einmal eine Frau lieben, die Sie anbeten, Sie würden ihr …

Frau von Piennes blieb in ihrer Rede stecken, und Salligny, der sie in starker Neugier scharf ansah, half ihr durchaus nicht, den ungeschickt begonnenen Satz zu vollenden.

Sie wollen sagen, hob er endlich an, wenn ich wirklich Liebe empfände, würde ich Gegenliebe finden, weil es sich dann der Mühe lohne?

Ja, dann wären Sie es wert, geliebt zu werden.

Man sollte nur lieben, um geliebt zu werden? Was Sie da sagen, gnädige Frau, das glaube ich nicht so recht … Lassen wir es auf sich beruhen! Suchen Sie mir eine mutige Frau, und ich heirate sie. Sie darf nicht allzu häßlich sein; ich bin in den besten Jahren und werde schon noch Feuer fangen … Alles andre ist Ihre Sache!

Frau von Piennes unterbrach ihn in ernstem Tone: Wo haben Sie zuletzt verweilt?

Salligny berichtete von seiner Reise ziemlich lakonisch, immerhin in einer Weise, die Zeugnis davon ablegte, daß er keiner jener Globetrotter war, von denen man sagt: Koffer eingepackt, Koffer ausgepackt! Seine knappen Bemerkungen verrieten einen gesunden Menschenverstand, der die Meinungen andrer nicht einfach zu übernehmen pflegt. Im Grunde war er gebildeter, als er sich den Anschein gab.

Er empfahl sich bald wieder, da er bemerkte, daß Frau von Piennes nach der Standuhr sah. Nicht ohne gewisse Verlegenheit versprach er, abends bei Frau Darsenay zu erscheinen. Er kam aber nicht hin, und Frau von Piennes war ein wenig ärgerlich darüber. Dafür stellte er sich am nächsten Vormittag ein und bat sie um Verzeihung. Er sei müde von der Reise gewesen und deshalb zu Hause geblieben. Er entschuldigte sich mit niedergeschlagenen Augen und in so unsicherem Tone, daß Frau von Piennes keine besondere Physiognomienkennerin zu sein brauchte, um zu merken, daß er flunkerte.

Wie er mühsam ausgeredet hatte, drohte sie mit dem Finger, ohne etwas zu erwidern.

Sie glauben mir nicht? fragte er.

Nein. Es ist Ihr Glück, daß Sie das Lügen noch nicht verstehen. Nicht weil Sie sich von der Reise ausruhen mußten, sind Sie gestern abend nicht zu Frau Darsenay gekommen. Sie waren woanders!

Eingestanden! antwortete Salligny mit erzwungenem Lächeln. Ich habe mit diesen Bummlern im Rocher-de-Cancale gegessen. Dann war ich zum Tee bei Famin. Man ließ mich nicht weg. Und dann habe ich gespielt.

Und haben verloren. Selbstverständlich.

Nein. Ich habe gewonnen.

Um so schlimmer! Mir wäre es lieber, Sie hätten verloren. Vielleicht gewöhnten Sie sich dieses dumme Laster endlich einmal ab.

Sie beugte sich über ihre Handarbeit und begann übertrieben eifrig daran zu sticheln.

Waren viel Leute bei Frau Darsenay? fragte Salligny schüchtern.

Wenige.

Keine jungen heiratsfähigen Damen?

Nein!

Wissen Sie, was Sie mir versprochen haben? Ich verlasse mich auf Sie.

Das hat Zeit.

Die Worte der Frau von Piennes klangen ungewöhnlich kühl und gezwungen. Nach einer Weile Stillschweigen fuhr Salligny in demütigem Tone fort: Sie sind unzufrieden mit mir, gnädige Frau? Warum schelten Sie mich nicht ordentlich aus, wie es meine Tante zu tun pflegte, um mir alsdann zu verzeihen? Soll ich Ihnen mein Wort geben, nicht mehr zu spielen?

Wer sein Wort gibt, muß auch die Kraft haben, es zu halten.

Was ich Ihnen verspreche, halte ich ein. Den Mut und die Kraft traue ich mir zu.

Gut, Max, sagte sie, indem sie ihm die Hand reichte. Ich nehme es an.

Ich habe elfhundert Frank gewonnen, fuhr er fort. Wollen Sie die Summe für Ihre Armen? Kann man schlechterworbenes Geld besser anwenden?

Sie zauderte einen Augenblick.

Warum nicht? sagte sie laut zu sich. Beherzigen Sie aber den Fall! Ich notiere mir also elfhundert Frank zu Ihren Lasten.

Meine Tante predigte mir immer: Alles bar bezahlen!

Er zog seine Brieftasche heraus, um ihr die Scheine zu entnehmen. In der halboffenen Brieftasche glaubte Frau von Piennes ein Damenbildnis liegen zu sehen. Salligny bemerkte ihren forschenden Blick, beeilte sich, die Brieftasche wieder zuzumachen, und reichte ihr die Scheine.

Darf man sich die Brieftasche einmal ansehen? fragte Frau von Piennes schelmisch-boshaft.

Salligny verlor seine Fassung; er stotterte ein paar unverständliche Worte und bemühte sich, ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Ihr erster Gedanke war, in der Brieftasche läge das Bild irgendeiner schönen Italienerin, doch Sallignys offensichtliche Verwirrung und die Hauptfarbe der Miniatur – mehr hatte sie nicht erblicken können – hatten dann einen andern Argwohn in ihr erweckt. Ehedem einmal hatte sie Frau Aubrée ein Porträt von sich geschenkt, und sie bildete sich ein, Max habe als einziger Erbe seiner Tante sich für berechtigt gehalten, es sich anzueignen. Dies dünkte sie ungeheuer unschicklich. Gleichwohl ließ sie sich zunächst nichts anmerken. Erst als Salligny sich verabschiedete, sagte sie zu ihm: Da fällt mir ein, Ihre Tante besaß ein Bildnis von mir, das ich gern wiederhätte.

Was war das für ein Bild? fragte Salligny mit ziemlich unsicherer Stimme. Ich weiß nichts davon … Wie sah es aus?

Diesmal war Frau von Piennes entschlossen, nicht zu verraten, daß sie ihn für einen Lügner hielt.

Suchen Sie es, bitte! sagte sie so natürlich sie konnte. Sie bereiten mir eine Freude. Nicht das Bild lag ihr am Herzen; sie war mit Sallignys Fügsamkeit zufrieden, und sie gelobte sich, noch ein verirrtes Schaf zu retten.

Anderntags hatte Max das Bild gefunden und brachte es mit ziemlich gleichgültiger Miene. Er hatte bemerkt, daß es nicht besonders gut getroffen war und daß ihr der Maler eine steife Haltung und einen strengen Gesichtsausdruck verliehen hatte; beides war unnatürlich. Fortan waren seine Besuche bei Frau von Piennes minder lang, und er zeigte in ihrer Gegenwart eine verdrossene Miene, die ihr neu an ihm war. Sie schrieb seine Verstimmung den Anstrengungen zu, die er sich fürs erste auferlegen mußte, um sein Gelöbnis zu halten und seine sündigen Neigungen zu überwinden.

 

Vierzehn Tage nach Sallignys Rückkehr suchte Frau von Piennes, was sie in regelmäßigen Abständen zu tun pflegte, ihre Schutzbefohlene Arsenia Guillot auf. Nach einigen Fragen hinsichtlich ihres Befindens und der empfangenen Unterweisungen fiel ihr auf, daß die Kranke bedrückter war als bei den vorherigen Besuchen. Damit das Sprechen sie nicht ermüde, erbot sie sich, ihr vorzulesen.

Das arme Mädchen hätte viel lieber geplaudert, statt ernste Lektüre zu hören. Wie Sie sich denken können, hatte sie nie etwas anderes gelesen als Hintertreppenromane. In der Tat griff Frau von Piennes zu einem Erbauungsbuche, und zwar zu einem, das zur Bekehrung hartgesottener Sünderinnen von irgendeinem überspannten Jüngling geschrieben war. Bei der dritten Seite war Arsenia eingeschlafen. Als Frau von Piennes dies wahrnahm, beglückwünschte sie sich ob der friedsamen Wirkung, die sie hervorgebracht hatte. Um die Kranke durch plötzliches Aufhören nicht aufzuwecken, las sie leiser und leiser. Dann legte sie das Buch hin, stand behutsam auf und schlich sich auf den Fußspitzen hinaus.

Die Wärterin war, wie gewöhnlich wenn Frau von Piennes kam, zur Pförtnerin hinuntergegangen; sie wartete also, bis sie wiederkäme. Nichtstun war ihr gräßlich, und so suchte sie für die Minuten, die sie bei der Schläferin verweilen mußte, nach einer Beschäftigung. In der kleinen Stube neben dem Alkoven stand ein Tischchen mit Papier und Tinte. Dort nahm sie Platz, um einen Brief zu schreiben. Während sie im Tischkasten nach Siegellack kramte, war jemand ungestüm eingetreten und hatte die Kranke aufgeweckt.

Mein Gott, sehe ich recht? rief Arsenia in so aufgeregtem Tone, daß Frau von Piennes erzitterte. Da erfahre ich ja schöne Dinge! Wie eine Verrückte sich aus dem Fenster zu stürzen, was Tolleres gibt es nicht.

Ich weiß nicht, ob ich die Worte genau berichte. Jedenfalls war dies der Sinn von dem, was die eingetretene Person sagte. An der Stimme erkannte Frau von Piennes sofort, daß es Max von Salligny war. Es folgten einige Ausrufe, unterdrückte Schreie Arsenias, sodann deutliche Küsse.

Schließlich fuhr Max fort: Arme Arsenia, in welchem Zustande finde ich dich wieder! Weißt du, daß ich dich nie entdeckt hätte, wenn mir Julie nicht deine letzte Wohnung gesagt hätte … Welch unbegreifliche Tat!

Max, Max, wie glücklich bin ich jetzt! Ach, ich bereue meine Tat. Nun wirst du mich nicht mehr hübsch finden. Du wirst nichts mehr von mir wissen wollen …

Wie töricht du bist! sagte Salligny. Warum hast du mir nicht geschrieben, daß du Geld brauchtest? Warum hast du dich nicht an den Rittmeister gewandt? Was ist denn aus deinem Russen geworden? Ist er abgereist, dein Kosak?

Als Frau von Piennes Maxens Stimme erkannte, war sie zunächst mindestens ebenso verwundert wie Arsenia. Die Überraschung hinderte sie, sich sofort zu zeigen. Alsbald überlegte sie sich, ob sie hineingehen solle oder nicht. Wenn man lauscht und dabei nachdenkt, kommt man nicht sogleich zum Entschlusse. So geschah es, daß sie obiges erbauliche Zwiegespräch mit anhörte. Dann aber ward ihr klar, daß sie Lauscherin bliebe, wenn sie weiter im Nebenzimmer verweilte. Sie entschied sich und betrat den andern Raum mit der ruhigen und würdevollen Haltung, die Tugendsame selten verlieren, und über die sie im Notfall gebieten.

Max, sagte sie, Sie schaden dem jungen Mädchen. Gehen Sie jetzt! Und kommen Sie in einer Stunde zu mir. Ich will mit Ihnen sprechen.

Max war beim Anblick von Frau von Piennes totenbleich geworden. Nie hätte er es für möglich gehalten, sie hier zu treffen. In seiner ersten Regung wollte er gehorchen; er tat einen Schritt zur Tür.

Du gehst? Geh nicht! schrie Arsenia, sich mit verzweifelter Anstrengung im Bett aufrichtend.

Liebes Kind, gebot Frau von Piennes, indem sie ihre Hand ergriff, seien Sie vernünftig! Hören Sie auf mich! Erinnern Sie sich an Ihr Versprechen. Sie warf Max einen ruhigen doch gebieterischen Blick zu, worauf er sich entfernte. Arsenia sank in ihr Bett zurück. Wie sie Max hinausgehen sah, war sie ohnmächtig geworden.

Frau von Piennes und die gleich darauf zurückkehrende Pflegerin standen ihr mit echt weiblicher Gewandtheit bei derlei Unfällen bei. Nach und nach kam Arsenia wieder zu sich. Zuerst schweiften ihre Blicke durch die ganze Kammer, als suchten sie den, den sie eben gesehen hatten; dann wandte sie ihre großen schwarzen Augen auf Frau von Piennes und sah sie unverwandt an.

Ist er Ihr Gatte? fragte sie.

Nein, erwiderte Frau von Piennes, leicht errötend, doch ohne Erregung in ihrer sanften Stimme. Herr von Salligny ist ein Vetter von mir. Sie glaubte sich die kleine Lüge erlauben zu dürfen, um die Macht zu erklären, die sie über ihn hatte.

So liebt er Sie, sagte Arsenia, und noch immer hingen ihre Augen, die wie zwei Fackeln glühten, an Frau von Piennes.

Über deren Stirn zuckte ein Blitz. Einen Augenblick waren ihre Wangen in Dunkelrot getaucht. Er? Aber das Wort erstarb ihr auf den Lippen, und bald gewann sie ihre Ruhe wieder.

Sie täuschen sich, mein liebes Kind, erwiderte sie in ernstem Tone. Herr von Salligny hat begriffen, daß es nicht recht von ihm war, Erinnerungen in Ihnen wachzurufen, die Ihrem Gedächtnis zum Glück entfallen sind. Sie haben vergessen …

Vergessen? schrie Arsenia, grell auflachend.

Gewiß, Arsenia. Sie haben auf alle törichten Gedanken verzichtet aus jener Zeit, die abgetan sein soll. Bedenken Sie, liebes Kind, daß dieses sträfliche Verhältnis die Ursache all Ihres Unglücks ist. Bedenken Sie …

Er liebt Sie nicht? unterbrach Arsenia Frau von Piennes. Er liebt Sie nicht und versteht einen einzigen Blick? Ich habe Ihre und seine Augen beobachtet. Ich täusche mich nicht. Übrigens … es ist recht so. Sie sind schön, jung, strahlend … ich verkrüppelt, entstellt … zu sterben bereit …

Sie kam nicht zu Ende. Schluchzen erstickte ihre Stimme, so starker und schmerzlicher Art, daß die Pflegerin riet, sie wolle den Arzt holen, denn er habe gesagt, nichts sei gefährlicher für die Kranke als derartige Anfälle, die ihr bei Wiederholungen den Rest geben würden.

Allmählich verlor sich die Kraft, die Arsenia im Sturm ihres Schmerzes gefunden hatte, in dumpfer Ermattung. Frau von Piennes glaubte, sie habe sich beruhigt; von neuem machte sie ihr Vorhaltungen; aber Arsenia vernahm alle die schönen und trefflichen Gründe nicht, aus denen sie der himmlischen Liebe den Vorzug vor der irdischen geben sollte. Ihre Augen waren trocken, ihre Zähne krampfhaft aufeinander gepreßt. Während ihre Gönnerin zu ihr vom Himmel und von der Zukunft sprach, grübelte sie über die Gegenwart. Maxens plötzliche Wiederkehr hatte ihr einen Augenblick närrische Traumbilder vorgezaubert; freilich der Blick der Frau von Piennes hatte sie rascher verscheucht als sie aufgetaucht waren. Nach so flüchtigem Glück hatte Arsenia nichts als die trübselige Wirklichkeit, hundertmal gräßlicher denn zuvor.

Ihr Arzt, gnädige Frau, kann Ihnen bestätigen, daß Schiffbrüchige, die in rasendem Hunger vom Schlaf überwältigt werden, sich im Traum an üppigster Tafel laben. Beim Erwachen sind sie um so hungriger und verwünschen ihren Schlummer. Arsenia erlitt ähnliche Qualen. Einstmals hatte sie Max geliebt, soweit dies Liebe war. Mit ihm ging sie gern ins Theater; mit ihm machte ihr ein Ausflug aufs Land Spaß; von ihm plauderte sie immerfort mit ihren Freundinnen. Als Max wegging, vergoß sie manche Träne; doch bald nahm sie die Huldigungen eines jungen Russen an, den als seinen Nachfolger zu wissen Max entzückt war, weil er ihm als anständiger, das heißt freigebiger Mann erschien. Solange sie das tolle Leben der Frauen ihrer Art führen konnte, war ihr ihre Liebschaft mit Max nichts als eine nette Erinnerung, die ihr zuweilen einen Seufzer entlockte. Sie gedachte seiner, wie man an die Vergnügungen der Kindertage denkt, die sich doch niemand zurückersehnt. Aber als Arsenia keine Liebhaber mehr hatte, als sie sich verlassen sah und nur noch die Last des Elends und der Schande fühlte, da verklärte sich ihre Liebe zu Max gewissermaßen, weil das die einzige Erinnerung war, die ihr weder Bedauern noch Reue verursachte. Ja, er wuchs in ihren Augen, und je mehr sie ihre eigene Niedrigkeit empfand, um so höher stieg Max in ihrer Einbildung. Ich war seine Geliebte, frohlockte sie, wenn sie sich voll Ekel ihr Dirnendasein vergegenwärtigte.

In den Sümpfen von Minturnä schöpfte Marius neuen Mut, indem er sich seiner Siege über die Kimbern erinnerte. Das ausgehaltene Mädchen – ach, sie war keins mehr! – erwehrte sich der Schmach und Verzweiflung nur durch die Erinnerung: Max war mein Liebster! Er ist es noch immer … Einen Augenblick hatte sie dies wirklich denken dürfen; nun aber wollte man ihr sogar die Erinnerung entreißen, das einzige, was sie in der Welt besaß.

Während sich Arsenia ihren trüben Gedanken überließ, legte ihr Frau von Piennes voller Eifer die Notwendigkeit dar, für immer auf das verzichten zu müssen, was sie ihre sträflichen Fehltritte nannte. Feste Überzeugung macht geradezu gefühllos; und wie ein Arzt Eisen und Feuer auf eine Wunde drückt, ohne die Schreie des Patienten zu hören, so beharrte Frau von Piennes erbarmungslos bei ihrem Vorhaben. Sie sagte, die vergangene Zeit des Glückes, in der die arme Arsenia ihre Zuflucht suchte, um vor sich selber zu fliehen, wäre eine Zeit der Sünde und der Schande gewesen, für die sie jetzt büße. Dieses Trugbild müsse sie verabscheuen und aus ihrem Herzen verbannen. Der Mann, zu dem sie wie zu ihrem Beschützer, ja zu ihrem Schutzgeiste aufsah, dürfe in ihren Augen nicht mehr sein als ein verderblicher Mitschuldiger, ein Verführer, den sie auf immerdar fliehen müsse.

Das Wort Verführer, dessen Lächerlichkeit Frau von Piennes nicht empfinden konnte, brachte Arsenia inmitten ihrer Tränen zu leisem Lächeln; aber ihre würdige Beschützerin merkte es nicht. Sie ließ sich in ihrer Predigt nicht stören und hörte mit einem Satze auf, der das Herzeleid des armen Mädchens verdoppelte, nämlich mit den Worten: Sie werden ihn nicht wiedersehen!

Der eintretende Arzt und der völlige Zusammenbruch der Kranken mahnten Frau von Piennes, daß sie genug getan habe. Sie drückte Arsenia die Hand und sagte im Fortgehen: Mut, liebes Kind! Gott wird Sie nicht verlassen!

Eine Pflicht hatte sie erfüllt; eine zweite, schwierigere blieb ihr. Es gab noch einen andern Schuldigen, dessen Seele sie der Reue erweichen mußte; und trotz dem Vertrauen, das ihrem frommen Eifer entquoll, trotz dem Bewußtsein ihrer bereits erprobten Macht über Salligny, mit einem Worte trotz der guten Meinung, die sie im Grunde ihres Herzens von dem leichtsinnigen Freund hegte, spürte sie eine seltsame Angst vor dem Kampfe, den sie aufgenommen hatte. Vor diesem ihr schrecklichen Beginnen wollte sie ihre Kräfte sammeln. Sie trat in eine Kirche und flehte zu Gott, daß er sie zur Führung seiner Sache erleuchte.

Als sie nach Hause kam, meldete man ihr, Herr von Salligny sei im Empfangszimmer und warte seit langem auf sie. Sie fand ihn blaß, erregt, voller Unruhe. Sie setzten sich. Max wagte den Mund nicht aufzutun; und Frau von Piennes, die selber bewegt war, ohne recht zu wissen warum, blieb eine Weile schweigsam und sah ihn nur verstohlen an. Endlich begann sie:

Max, ich will Ihnen keine Vorwürfe machen …

Er hob den Kopf beinahe hochmütig. Ihre Blicke begegneten sich, aber er schlug die Augen sogleich nieder.

Sie fuhr fort: Ihr gutes Herz sagt Ihnen in diesem Augenblicke mehr als ich es vermöchte. Die Vorsehung hat Ihnen eine Lehre erteilen wollen. Ich hege die Hoffnung, die Überzeugung …, es war nicht vergebens …

Gnädige Frau, unterbrach sie Max, ich weiß kaum, was geschehen ist. Dies unglückliche Mädchen hat sich aus dem Fenster gestürzt. Das hat man mir berichtet. Aber ich bin nicht so eitel … oder so sentimental … zu glauben, daß die Beziehungen, die wir einmal gehabt haben, der Anlaß zu dieser törichten Tat waren.

Max, sagen Sie lieber, daß Sie die Folgen Ihres schlechten Tuns nicht vorausgesehen haben. Als Sie dies Mädchen auf den Abweg führten, da haben Sie nicht geahnt, daß es eines Tages in den Tod gehen werde …

Gnädige Frau, rief Salligny heftig, erlauben Sie mir zu sagen, daß Arsenia Guillot durchaus nicht von mir verführt worden ist. Als ich sie kennenlernte, war sie völlig verdorben. Sie ist meine Geliebte gewesen; das leugne ich nicht. Ich gestehe sogar, ich habe sie liebgehabt … wie man ein Weib dieser Art liebhat. Ich glaube, sie hatte mich mehr in ihr Herz geschlossen als sonstwen. Doch alle unsere Beziehungen haben längst aufgehört, ohne daß sie die Trennung besonders bedauert hätte. Wie ich die letzte Nachricht von ihr erhielt, habe ich ihr Geld überwiesen. Sie wirtschaftet schlecht. Sie hat sich geschämt, mich nochmals anzugehen, stolz wie sie ist … Die Not hat sie zu jenem schrecklichen Entschluß getrieben. Ich bin untröstlich darüber. Doch ich wiederhole Ihnen, gnädige Frau, ich habe mir hierüber nicht den geringsten Vorwurf zu machen.

Frau von Piennes zerknüllte ein Deckchen, das über dem Tische lag. Dann fuhr sie fort: Gewiß, nach der Meinung der Gesellschaft sind Sie schuldlos. Sie tragen keine Verantwortung. Aber es gibt eine höhere Sittenlehre als die der großen Welt, und nach deren Gesetzen möchte ich Ihr Leben geführt wissen … Zur Zeit sind Sie vielleicht nicht imstande mich zu verstehen. Warten wir! Heute bitte ich Sie um etwas, was Sie mir nicht abschlagen werden, des bin ich sicher, um ein Versprechen. Die Unglückliche ist reuevoll in sich gegangen. Die Ratschläge eines ehrwürdigen Geistlichen, der sie aufgesucht hat, haben Eindruck auf sie gemacht. Wir haben allen Anlaß, unsre Hoffnung auf sie zu setzen. Sie aber, Sie dürfen sie nicht wiedersehen, denn ihr Herz schwankt noch zwischen Gut und Böse, und leider haben Sie weder den Willen noch wohl auch die Kraft, ihr nützlich zu sein. Wenn Sie sie wieder aufsuchen, können Sie ihr viel Schaden antun. Darum bitte ich Sie um Ihr Wort, sie nicht wiederzusehen.

Salligny machte eine Geste der Überraschung.

Sie werden mich nicht abweisen, Max! Wenn Ihre Tante noch lebte, würde sie diese Bitte tun. Nehmen Sie an, sie spräche zu Ihnen!

Du mein Gott, gnädige Frau, erwiderte er, was verlangen Sie von mir? Ich soll ein armes Mädchen schlecht behandeln? Wäre es im Gegenteil nicht meine Pflicht, da ich sie in ihren leichtsinnigen Tagen kennengelernt habe, mich um sie zu kümmern, jetzt wo sie krank und, soviel ich weiß, gefährlich krank ist?

Das ist die landläufige Ansicht, aber nicht die meine, erwiderte Frau von Piennes. Je schwerer ihre Krankheit ist, um so wichtiger ist es, daß Sie sich fernhalten.

Wollen Sie doch bedenken, gnädige Frau, daß angesichts ihres Zustandes sogar die Prüderie beruhigt sein kann. Hören Sie! Wenn ich einen todkranken Hund habe und ich weiß, daß mein Anblick ihm ein wenig Freude bereitet, wäre es gemein, wenn ich ihn einsam sterben ließe. Unmöglich können Sie anders denken, Sie, die Sie so gut und so barmherzig sind. Überlegen Sie sich das! Ich wäre grausam.

Eben habe ich Sie gebeten, mir dies Versprechen im Angedenken Ihrer guten Tante zu geben … zu Ehren der Freundschaft, die Sie zu mir hegen. Jetzt fordere ich es im Namen des unglücklichen Mädchens. Wenn Sie sie einmal liebgehabt haben …

Gnädige Frau, ich bitte Sie, mengen Sie nicht Dinge, die unvermischbar sind! Glauben Sie mir, es ist mir sehr schmerzlich, Ihnen, sei es, was es sei, abschlagen zu müssen. Hier gebietet es mir meine Ehre … Das Wort mißfällt Ihnen? Vergessen Sie es! Nur lassen Sie mich Sie meinerseits beschwören aus Mitleid mit der Unglücklichen … und auch ein wenig aus Mitleid mit mir! Wenn ich unrecht getan habe … wenn ich mitschuldig daran bin, daß sie auf Abwegen geblieben ist … so muß ich mich jetzt um sie kümmern. Es wäre abscheulich, wenn ich sie im Stiche ließe. Das würde ich mir nie verzeihen. Nein, ich kann sie nicht verlassen. Das werden Sie nicht verlangen …

Es soll ihr an Fürsorge von andrer Seite nicht fehlen. Aber sagen Sie mir, Max, lieben Sie Arsenia?

Ich liebe sie … ja … nein … ich liebe sie nicht. Dies Wort paßt nicht hierher. Lieben? Ach nein! Ich habe bei ihr Ablenkung gesucht von einer ernsteren Leidenschaft, die ich bekämpfen mußte. Das ist Ihnen wohl lächerlich, unbegreiflich? Ihre reine Seele begreift nicht, daß man solch ein Heilmittel versuchen kann. Glauben Sie mir, das ist nicht die schlechteste Tat meines Lebens. Wenn wir Männer nicht zuzeiten Mittel hätten, unsere Leidenschaften abzuleiten … jetzt zum Beispiel … wer weiß, ob ich mich nicht zum Fenster hinausstürzte … aber ich weiß nicht, was ich sage, und Sie können mich nicht verstehen … begreife ich mich doch selber nicht.

Ich habe Sie gefragt, ob Sie Arsenia lieben, erwiderte Frau von Piennes mit niedergeschlagenen Augen und mit einigem Zaudern, weil, wenn Sie … Freundschaft für sie hegten, Sie sicherlich den Mut fänden, ihr ein wenig weh zu tun, um ihr alsdann eine große Wohltat zu erweisen. Gewiß wird sie den Schmerz, Sie nicht mehr zu sehen, kaum ertragen; aber was ist er gegen das viel schwerere Leid, wenn sie sich von dem Wege wieder abgedrängt sieht, den sie geradezu durch ein Wunder betreten hat? Max, es handelt sich um ihr Seelenheil. Sie muß jene Zeit, an die Ihre Gegenwart sie allzu lebhaft erinnert, gänzlich vergessen.

Salligny schüttelte den Kopf, erwiderte aber nichts. Er war kein Frömmling, und das Wort Seelenheil, das über Frau von Piennes so viel Gewalt besaß, hatte seiner Seele nichts zu sagen. Es kam ihm nicht zu, über derlei mit ihr zu streiten. Er vermied es grundsätzlich, ihr seine Zweifel zu offenbaren. So schwieg er auch diesmal, wenngleich es ihm anzusehen war, daß er ganz anders dachte.

Frau von Piennes fuhr fort: Ich will die Sprache der Weltkinder mit Ihnen reden, da sie leider die einzige ist, die Sie verstehen. Es ist mathematisch klar, Ihr Anblick bringt ihr keinen Gewinn und großen Schaden. Jetzt wählen Sie!

Gnädige Frau, sagte Max mit bewegter Stimme, ich hoffe, Sie zweifeln nicht mehr, daß ich für Arsenia nichts weiter empfinde als rein menschliche Anteilnahme. Ist das irgendwie gefährlich? Nicht im geringsten. Zweifeln Sie an mir? Meinen Sie, ich wolle Ihren Bekehrungsversuch vereiteln? Glauben Sie, daß ich, der ich traurige Schauspiele verabscheue, sie mit Schaudern fliehe, den Anblick einer Sterbenden mit sträflichen Absichten suche? Ich wiederhole Ihnen, gnädige Frau, für mich ist die Idee der Pflicht eine Sühne, eine Strafe, wenn Sie wollen, die ich bei Arsenia suche …

Bei dem Worte Sühne richtete sich Frau von Piennes hoch auf und schaute ihn mit einer übersinnlichen Miene an, die ihrem ganzen Gesicht einen erhabenen Ausdruck verlieh.

Eine Sühne, eine Strafe, sagen Sie? Ja, ja. Unbewußt gehorchen Sie da vielleicht einer Eingebung von oben und Sie widersetzen sich mir mit Recht. Gut. Ich bin einverstanden. Sehen Sie Arsenia! Möge sie das Werkzeug Ihrer Rettung werden, wie Sie das Werkzeug zu ihrem Verderben sein mußten.

Vermutlich begriff Salligny nicht so gut wie Sie, gnädige Frau, was eine Eingebung von oben ist. Der plötzliche Willenswechsel verwunderte ihn; er wußte nicht, wem er ihn zuschreiben sollte; er wußte nicht, ob er Frau von Piennes für ihr schließliches Nachgeben zu danken hatte. Gern aber hätte er erraten, ob er die Frau, der er in keinem Falle mißfallen wollte, durch seine Hartnäckigkeit ermüdet oder überzeugt hatte.

Sie fuhr fort: Um eines bitte ich Sie oder vielmehr eines fordere ich von Ihnen …

Sie hielt einen Augenblick inne, während Salligny nickte, zum Zeichen, daß er sich allem unterwerfe.

Ich verlange, daß Sie Arsenia nur in meiner Gegenwart besuchen.

Er machte eine Gebärde des Erstaunens, beeilte sich aber zu erklären, daß er sich füge. Sie streckte ihm die Hand dar, und es ward vereinbart, daß Salligny am kommenden Vormittag Arsenia besuchen, Frau von Piennes aber früher hingehen und sie darauf vorbereiten solle.

Frau von Piennes fand ihre Schutzbefohlene recht schwach und niedergeschlagen, immerhin aber ruhiger und gefaßter, als sie gedacht hatte. Abermals sprach sie von Salligny, jedoch mit mehr Rücksicht als am Tage vordem. Arsenia müsse unbedingt auf ihn verzichten; sie dürfe seiner höchstens gedenken, um ihre gemeinsame Verblendung zu beklagen. Sie müsse ihre Reue (und das sei ein Bestandteil ihrer Buße) dem Mitschuldigen zeigen, ihm in ihrer Wandlung ein Vorbild sein und ihm den Seelenfrieden verheißen, dessen sie sich bereits erfreue.

Solchen christlichen Ermunterungen versäumte Frau von Piennes nicht, etliche weltliche Beweisgründe beizufügen. So sagte sie: wenn Arsenia Herrn von Salligny wirklich liebe, so müsse sie sein Wohl über alles setzen und sich durch ihre gewandelte Aufführung seine Hochschätzung erwerben, die ihr bisher nicht zuteil geworden wäre.

Als Frau von Piennes ihr zuletzt mitteilte, Max werde kommen und sie werde ihn wiedersehen, da war die ernste und trübselige Wirkung ihrer Rede mit einem Schlage verflogen. Das plötzliche lebhafte Rot auf Arsenias schmerzensbleichen Wangen und der ungewöhnliche Glanz ihrer Augen hätten Frau von Piennes beinahe bewogen, ihre Einwilligung zur erneuten Zusammenkunft zu bereuen; aber zu einem Entschlußwechsel war keine Zeit mehr. Die wenigen Minuten bis zu Sallignys Ankunft verwandte sie zu eindringlichen frommen Ermahnungen, denen Arsenia zerstreut zuhörte, nur damit beschäftigt, ihr Haar und das zerdrückte Band ihrer Haube zu ordnen.

Endlich kam Salligny. Er gab sich alle Mühe, heiter und natürlich zu erscheinen. Er fragte, wie es ihr gehe, in einem Tone, der ungezwungen klingen sollte, aber nichts weniger als das war. Arsenia ihrerseits hatte alle Sicherheit verloren. Sie stammelte einzelne Worte, wobei sie die Hand der Frau von Piennes ergriff und an ihre Lippen führte, wie um ihr zu danken. Man unterhielt sich eine Viertelstunde lang, verlegen, ohne sich etwas zu sagen. Nur Frau von Piennes wahrte ihre gewöhnliche Ruhe; das heißt, sie vermochte sich mehr zu beherrschen, da sie mehr vorbereitet war. Mehrfach antwortete sie für Arsenia, allerdings sehr wenig in deren Sinne.

Das Gespräch ward immer kärglicher, und da Frau von Piennes wahrnahm, daß die Kranke viel hustete, erinnerte sie daran, daß der Arzt das Sprechen verboten habe. Zu Max gewandt, meinte sie, es wäre besser, wenn er der Kranken etwas vorläse als sie mit seinen Fragen zu ermüden. Sofort nahm Salligny ein Buch und setzte sich ans Fenster, denn die Kammer war ziemlich dunkel. Er las, ohne zu wissen was; Arsenia erging es kaum anders, doch tat sie als höre sie eifrigst zu. Frau von Piennes stichelte an einer mitgebrachten Handarbeit; die Pflegerin kämpfte mit dem Schlaf. Unaufhörlich wanderten Frau von Piennes' Blicke vom Bett zum Fenster, gestrengere Wacht haltend als der hundertäugige Argus.

Nach etlichen Minuten beugte sie sich zu Arsenias Ohr. Wie gut er liest! flüsterte sie ihr zu. Arsenia antwortete mit einem Blicke, der dem Lächeln um ihren Mund seltsam widersprach. O ja! lispelte sie. Dann schloß sie die Augen, und ohne daß man es beachtete, entquollen ihnen von Minute zu Minute dicke Tränen, die von den Wimpern langsam die Wangen hinabrollten. Nicht ein einziges Mal hob Max den Kopf.

Wie er einige Seiten gelesen hatte, sagte Frau von Piennes zu Arsenia: Jetzt werden wir Sie schlafen lassen, liebes Kind. Ich fürchte, wir haben Sie müde gemacht. Wir kommen bald wieder.

Sie erhob sich; Max tat desgleichen, als wäre er ihr Schatten. Arsenia sagte ihm Lebewohl, fast ohne ihn anzuschauen.

Max, ich bin mit Ihnen zufrieden, erklärte Frau von Piennes, wie sie die Tür durchschritten. Und mit Arsenia noch mehr. Das arme Ding ist die leibhafte Entsagung. Nehmen Sie sich an ihr ein Beispiel!

Leiden und Schweigen, gnädige Frau; man lernt auch das!

Vor allem muß man lernen, sein Herz sündhaften Gedanken zu verschließen.

Max grüßte und machte sich rasch von dannen.

Als Frau von Piennes am folgenden Vormittag Arsenia abermals besuchte, fand sie sie versunken in den Anblick eines erlesenen Blumenstraußes, der auf dem Tischchen an ihrem Bette stand.

Herr von Salligny hat mir diese Blumen geschickt. Er hat fragen lassen, wie ich mich befände. Selber ist er nicht heraufgekommen.

Schöne Blumen! meinte Frau von Piennes etwas spitzig.

Dereinst, sagte die Kranke seufzend, da hatte ich die Blumen so sehr gern, und er verwöhnte mich hierin … Herr von Salligny verwöhnte mich hierin. Er schenkte mir die allerschönsten, die er finden konnte … Jetzt machen sie mir keine Freude mehr … Sie riechen mir zu stark … Gnädige Frau, nehmen Sie den Strauß mit! Es wird ihn nicht weiter ärgern, wenn ich sie Ihnen schenke.

Nein, Beste, erwiderte Frau von Piennes in gütigerem Tone; der wehmütige Klang der Worte Arsenias hatte sie gerührt. Diese Blumen sollen Sie erfreuen. Ich will nur die starkduftenden nehmen. Die Kamelien behalten Sie.

Nein, ich mag Kamelien nicht. Die erinnern mich an den einzigen Zwist, den wir miteinander hatten.

Vergessen Sie diese Torheiten, liebes Kind!

Eines Tages, fuhr Arsenia fort, indem sie Frau von Piennes scharf ansah, eines Tages fand ich bei ihm eine schöne rote Kamelie in einem Wasserglase. Ich wollte sie mir anstecken; er erlaubte es nicht. Ich durfte sie nicht einmal anfassen. Ich ließ nicht nach. Ich sagte dummes Zeug. Da nahm er die Kamelie, schloß sie in seinen Bücherschrank und steckte den Schlüssel in die Tasche. Ich raste. Zerbrach ihm eine ihm liebe, schöne Porzellanvase. Es half alles nichts. Offenbar war die Kamelie das Geschenk einer vornehmen Dame; mehr weiß ich nicht.

Während sie dies erzählte, blieb Arsenias beinahe böser Blick fest auf Frau von Piennes gerichtet.

Unwillkürlich schlug diese die Augen nieder. Langes Schweigen folgte, nur unterbrochen vom keuchenden Atem der Kranken. Unklar erinnerte sich Frau von Piennes eines Vorfalls mit einer Kamelie. Es war bei einem Abendessen bei Frau Aubrée. Max sagte zu ihr, seine Tante habe ihm eben zu seinem Geburtstage Glück gewünscht, und bat sie, ihm eine Blume zu schenken. Lachend hatte sie eine Kamelie aus ihrem Haar gelöst und ihm gereicht. Merkwürdig, daß er der belanglosen Gabe Wert beigelegt hatte! Frau von Piennes begriff das nicht. Fast war sie darob erschrocken.

Die leichte Erregung war kaum überwunden, als Max eintrat. Sie fühlte, daß sie errötete.

Dank für Ihre Blumen! sagte Arsenia. Aber ihr Duft tut mir weh. Doch sollen sie nicht umsonst verblühen. Ich habe sie der gnädigen Frau geschenkt. Ich soll nicht sprechen. Wollen Sie wieder vorlesen?

Max setzte sich und begann. Niemand hörte darauf; beide Frauen hingen Grübeleien nach.

Als Frau von Piennes aufstand, um zu gehen, ließ sie die Blumen stehen, aber Arsenia erinnerte sie daran. Da nahm sie den Strauß, ärgerlich, daß sie sich geziert und die kleine Gabe nicht sofort angenommen hatte. Was ist dabei? fragte sie sich. Schlimm schon, daß sie sich diese Frage stellte.

Unaufgefordert begleitete Max Frau von Piennes in ihr Heim. Sie setzten sich, schwiegen aber, ohne sich anzuschauen, so lange, daß sie verlegen wurden. Endlich hob Frau von Piennes an: Das arme Mädchen tut mir in der Seele leid. Ich glaube, es gibt keine Hoffnung mehr.

Haben Sie den Arzt gesprochen? fragte Salligny. Was sagt er?

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Tage hienieden sind gezählt. Heute früh hat sie das letzte Abendmahl bekommen.

Ihr Anblick tut einem weh, sagte Max, indem er sich erhob und an eins der Fenster trat, wohl um seine innere Erregung zu verbergen.

Gewiß, es ist schrecklich, so jung sterben zu müssen, begann Frau von Piennes von neuem in ernstem Tone. Doch wenn sie länger leben bliebe, wer weiß, ob das nicht ein Unglück für sie wäre … Indem die Vorsehung sie vor dem Tode aus Verzweiflung bewahrte, wollte sie ihr Zeit zur Reue gewähren … Das war eine Gnade des Himmels. Sie weiß es wohl. Abbé Dubignon ist sehr zufrieden mit ihr. Man darf sie nicht allzusehr beklagen, Max!

Ich weiß nicht, erwiderte er mit harter Stimme, ob die Menschen zu beklagen sind, die in ihrer Jugend dahingehen. Ich möchte jung sterben. Mich betrübt nur eines: sie so leiden zu sehen.

Leibliches Leid ist oft seelischer Nutzen, warf Frau von Piennes ein.

Ohne Antwort zu geben, ließ sich Salligny in einer dunklen Ecke des Zimmers nieder, halbverdeckt durch einen schweren Vorhang. Frau von Piennes arbeitete an einer Stickerei oder tat so. Sie hatte die Empfindung, als ob Maxens Blick schwer auf ihr ruhe. Diesen Blick, den sie mied, fühlte sie auf ihren Händen, auf ihren Schultern, auf ihrer Stirn. Es kam ihr vor, als taste er auf ihrem Fuß, und sie verbarg ihn rasch unterm Kleide … Sie wissen, gnädige Frau, daß man von unsichtbaren Strahlungen spricht; es gibt derlei.

Kennen Sie den Admiral von Rigny? fragte Salligny unvermittelt.

Flüchtig!

Ich werde Sie unter Umständen um eine Gefälligkeit bei ihm bitten, gnädige Frau. Um einen Empfehlungsbrief.

Wozu?

Seit ein paar Tagen trage ich mich mit einem Plane, erklärte er in erzwungener Gelassenheit. Ich will in mich gehn, will mich bekehren, will ein gutes Werk vollbringen, weiß aber nicht, wie ichs zustande bringe …

Frau von Piennes warf ihm einen strengen Blick zu.

Die Sache liegt so, fuhr Salligny fort. Leider bin ich kein Soldat. Es läßt sich lernen. Kurz und gut, ich habe große Lust, nach Griechenland zu gehen, am Befreiungskampfe gegen die Türken teilzunehmen …

Nach Griechenland? rief Frau von Piennes und ließ ihr Garn fallen.

Nach Griechenland, wiederholte Salligny. Hier bin ich zu nichts nütze. Ich langweile mich. Ich leiste nichts. Ich vollbringe nichts. Niemandem auf der Welt bin ich dienlich. Warum soll ich nicht Rühmliches tun? Für eine gute Sache das Leben lassen? Einen andern Weg, etwas zu werden, habe ich nicht. Denken Sie sich, gnädige Frau, Sie lesen eines Tages in der Zeitung: Max von Salligny, ein junger Philhellene, der zu den höchsten Hoffnungen berechtigt war, ist ein Opfer seiner Begeisterung und seines Heldentums geworden … Wäre das nicht ehrenvoll?

Ist es Ihr Ernst, Max? Sie wollen nach Griechenland?

Im Ernst, gnädige Frau! beteuerte er. Nur mit meinem Nekrolog habe ich es nicht eilig.

Ich zweifle nicht, daß Sie ein tüchtiger Soldat werden …

Gebe ich nicht einen prächtigen Grenadier ab? rief er, aufspringend und sich aufreckend. Mich mit meinen fünf Fuß und sechs Zoll, mich werden die Griechen nicht abweisen … Scherz beiseite, gnädige Frau … (er sank nieder in seinen Lehnstuhl) … ich glaube, etwas Besseres kann ich nicht tun. Paris ist mir verleidet. Ich bin unglücklich. Ich habe zu nichts Kraft … Ich gehe nicht gleich; aber ich gehe bestimmt … Wir sprechen des weiteren davon … Es muß sein. Ich habe es mir geschworen … Sonst begehe ich wer weiß was für Torheiten … Ich habe bereits griechische Stunden … Zoë mou, sas agapo … Klingt das nicht wunderbar?

Frau von Piennes hat Lord Byron gelesen. Sie erinnerte sich dieses Verses, des Kehrreims eines seiner Gelegenheitsgedichte. Doch hütete sie sich, nach dem Sinn der griechischen Worte zu fragen. Salligny hatte sich an den Flügel gesetzt; er schlug ein paar Akkorde an, die sich zu einer Elegie verbanden. Dann ergriff er plötzlich seinen Hut, fragte Frau von Piennes, ob sie abends zu Frau Darsenay zu gehen gedächte, und als sie ihm erwiderte: Ich denke, ja, drückte er ihr die Hand und eilte hinweg. In einer Erregung, die sie noch nie gespürt hatte, blieb sie zurück. Ihre verwirrten Gedanken überstürzten sich; keinen vermochte sie festzuhalten. Sie glichen der wechselnden Aussicht vor einem Eisenbahnfenster; kaum aufgetaucht, waren sie bereits wieder entschwunden. Von der Landschaft erfaßt man da nur das Wesentliche; keine Einzelheiten. Im Chaos ihrer stürmischen Gedanken empfand Frau von Piennes nur das Eine; voller Entsetzen sah sie sich vor einem furchtbaren Abhang. Kein Zweifel: Max liebte sie!

Diese Liebe (Zuneigung nannte sie es) ging weit zurück, aber Unruhe hatte sie ihr bisher nie bereitet. Zwischen ihr, der frommen Dame, und einem Freidenker wie Max von Salligny hatte eine Schranke bestanden, die ihr volle Sicherheit gewährte. Daß sie dem Weltmann ernstlich gefiel, hatte sie mit Behagen, ja nicht ohne Eitelkeit hingenommen, daß er eines Tages aber ihre Ruhe gefährden könne, hatte sie nie und nimmer gedacht. Jetzt, wo der Taugenichts in sich ging, verfiel sie der Furcht. Seine Umkehr, die sie sich zuschrieb, bedrohte sie wie ihn mit Leid und Qual. Auf Augenblicke versuchte sie sich einzureden, die Gefahren, die sie unklar vor sich sah, seien unbegründet. Die urplötzlich beschlossene Reise, der Wandel in Sallignys Wesen waren vielleicht Nachwirkungen seiner Liebelei mit Arsenia. Aber seltsam, diese Deutung war ihr unerträglicher denn jede andere, und sie fühlte sich geradezu erleichtert, wenn sie sich ihre Unwahrscheinlichkeit vorhielt.

Den ganzen Abend brachte Frau von Piennes damit hin, sich Phantome zu schaffen, sie zu zerstören und wieder aufzurichten. Sie war nicht imstande, zu Frau Darsenay zu fahren; um sich selber zu schützen, erlaubte sie ihrem Kutscher auszugehen und beschloß, zeitig schlafen zu gehen. Sowie sie aber diesen großen Entschluß gefaßt hatte und ihn nicht rückgängig machen konnte, war sie sich klar, daß er eine ihr unwürdige Schwäche war, und bereute ihn. Insbesondere fürchtete sie, Salligny könne die Ursache ahnen; und da sie das wahre Motiv ihres Zuhausebleibens vor sich selber nicht verbergen konnte, begann sie sich bereits für schuldig zu halten. Ihre Befangenheit Max gegenüber dünkte sie sündhaft. Sie betete lange, fand aber keine Erleichterung. Erst spät schlief sie ein. Beim Erwachen waren ihre Gedanken genau so wirr wie am Abend zuvor. Sich irgendwie zu entschließen, war ihr unmöglich.

Während sie beim Frühstück saß – das versagt man sich nie, zumal wenn man kaum zu Abend gegessen hat – las sie in der Zeitung, daß irgendein Pascha eine griechische Stadt geplündert hatte. Weiber und Kinder waren totgeschlagen worden, und etliche Philhellenen waren auf gräßliche Weise umgekommen. Diese Nachricht war wenig geeignet, die Leserin für Sallignys griechische Reise zu begeistern. Trübsinnig saß sie da, als man ihr einen Brief von ihm brachte. Er hatte sich abends bei Frau Darsenay tüchtig gelangweilt. Daß Frau von Piennes nicht gekommen war, beunruhigte ihn. Er fragte an, um welche Zeit sie zu Fräulein Guillot gehen werde.

Frau von Piennes hatte nicht den Mut, ihm schriftlich zu antworten. Sie ließ ihm sagen, es geschähe zur gewohnten Stunde. Dann kam ihr der Gedanke, sofort hinzugehen, um ihm nicht zu begegnen. Wie sie aber nachsann, fand sie, das sei eine kindische feige Lüge, schlimmer als ihre Schwäche gestern abend. Sie wappnete sich also mit Mut, betete inbrünstig, machte sich zur rechten Zeit auf und stieg festen Schrittes hinauf zu Arsenias Stübchen.

 

Sie fand das arme Mädchen in erbarmungswürdigem Zustande. Auf den ersten Blick sah man: ihre letzte Stunde war nahe. Seit gestern hatte sich ihr Leiden schrecklich verschlimmert. Ihr Atem war nur noch schmerzvolles Röcheln, und Frau von Piennes erfuhr, diesen Morgen habe die Kranke verschiedene Male im Delirium gelegen; der Arzt glaube nicht, daß sie den nächsten Tag erleben werde. Gleichwohl erkannte Arsenia ihre Gönnerin und dankte ihr für ihr Kommen.

Nun werden Sie nicht mehr meine Treppe steigen müssen, sagte sie mit erlöschender Stimme.

Reden kostete ihr sichtlich entsetzliche Anstrengung; es nahm ihr die letzten Kräfte. Man mußte sich über ihr Bett beugen, um sie zu verstehen. Frau von Piennes hatte ihre Hand ergriffen; sie war bereits kalt und wie leblos.

Bald darauf kam Max und trat schweigsam an das Bett der Sterbenden. Sie machte ihm ein Zeichen mit dem Kopfe, und als sie sah, daß er ein eingeschlagenes Buch in der Hand hatte, flüsterte sie: Heute werden Sie nicht lesen.

Frau von Piennes warf einen Blick auf das angebliche Buch; es war eine aufgezogene Karte von Griechenland, die er unterwegs gekauft hatte.

Seit dem Morgen war Abbé Dubignon bei der Kranken. Als er bemerkte, wie rasch ihre Kräfte abnahmen, wollte er die wenigen Augenblicke, die ihr blieben, für ihr Seelenheil ausnutzen. Er bat Max und Frau von Piennes, beiseite zu treten, beugte sich über das Schmerzenslager und richtete an das junge Mädchen die ernsten und tröstlichen Worte, die die Religion für die letzte Stunde bereit hat. In einer Ecke der Kammer kniete Frau von Piennes im Gebet; neben ihr stand Max unbeweglich wie eine Säule.

Vergeben Sie all Ihren Schuldigern, meine Tochter? fragte der Priester mit bewegter Stimme.

Ja! Mögen sie glücklich sein, antwortete die Sterbende, sich mühend, vernehmbar zu sprechen.

Vertrauen Sie Gottes Barmherzigkeit, meine Tochter! Reue öffnet des Himmels Tor.

Noch einige Minuten setzte der Abbé seine Ermahnungen fort. Dann schwieg er, da er nicht wußte, ob er schon einen Leichnam vor sich hatte. Frau von Piennes erhob sich leise. Jedweder sah eine Weile schweigend und besorgt auf Arsenias fahles Antlitz. Ihre Augen waren geschlossen. Man hielt den Atem an, um durch nichts den schrecklichen Schlaf zu stören, der vielleicht schon über sie gekommen war. Nur die Taschenuhr auf dem Nachttische tickte leise durch die Kammer.

Sie ist verschieden, das arme Fräulein! sagte schließlich die Pflegerin, nachdem sie ihre Tabaksdose an Arsenias Lippen gehalten hatte. Sehen Sie, das Glas ist nicht angelaufen. Sie ist tot.

Armes Kind! rief Max, aus seiner Betäubung erwachend. War ihr je Glück beschieden?

Wie von seiner Stimme belebt, schlug Arsenia plötzlich die Augen auf. Ich habe geliebt, flüsterte sie tonlos. Sie bewegte die Finger, als wolle sie die Hände darreichen. Max und Frau von Piennes traten an das Bett, und jeder von ihnen ergriff eine ihrer Hände.

Ich habe geliebt …, wiederholte sie mit traurigem Lächeln.

Das waren ihre letzten Worte. Lange noch hielten Max und Frau von Piennes ihre erkalteten Hände. Sie wagten nicht aufzusehen …

 

Sie sagen, gnädige Frau, meine Geschichte sei zu Ende. Sie mögen nichts mehr davon hören. Ich hätte geglaubt, Sie würden noch gern wissen wollen, ob Herr von Salligny seine griechische Reise unternommen hat, oder ob sie unterblieb. Ob … Aber es ist spät geworden. Sie sind müde. Gut! Hüten Sie sich wenigstens vor voreiligem Urteil. Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß ich nichts gesagt habe, was Sie dazu berechtigen könnte. Vor allem, meine Geschichte ist wahr. Bezweifeln Sie es nicht! Wie? Sie tun es doch? Gehen Sie auf den Père Lachaise. Zwanzig Schritte links vom Grabe des Generals Foy werden Sie einen schlichten Grabstein finden, inmitten sorgsam gepflegter Blumen. Darauf können Sie den Namen meiner Heldin in großen Buchstaben lesen: ARSENIA GUILLOT. Und wenn Sie sich über den Stein beugen, werden Sie in ganz feiner Schrift eine Bleistiftzeile entdecken, es sei denn, der Regen habe sie verwischt:

Arme Arsenia, bete für uns!


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