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Abbé Aubain

L'Abbé Aubain

Übersetzt von Arthur Schurig

Erstdruck: im Constitutionnel vom 24. Februar 1846. In Buchform: im Bande Carmen, Paris 1846. Erste deutsche Übersetzung: von Adolf Laun, 1872.


Wie die folgenden sechs Briefe in meine Hände geraten sind, ist nebensächlich. Ich halte sie für merkwürdig, moralisch und lehrreich. Ich veröffentliche sie unverändert; nur lasse ich einige Eigennamen weg sowie etliche Stellen, die mit dem Erlebnis des Abbé Aubain nichts zu tun haben.

Erster Brief
Frau von P*** an Frau von G***

Noirmoutiers, den … November 1844.

Liebe Sophie,

ich habe Dir versprochen zu schreiben und halte mein Wort. Auch habe ich an diesen langen Abenden nichts Besseres zu tun. Mein letzter Brief hat Dir berichtet, daß ich dreißig Jahre alt geworden und zu gleicher Zeit wirtschaftlich ruiniert bin. Gegen das erste Unglück gibt es leider kein Mittel. Hinsichtlich des zweiten gibt es die Resignation, so schwer sie einem fällt. Um unser Vermögen wieder in Ordnung zu bringen, müssen wir mindestens zwei Jahre in diesem düsteren Landsitz verharren, von wo ich Dir schreibe. Ich habe mich erhaben benommen. Sowie ich unsre schlimme Lage wußte, habe ich Heinrich vorgeschlagen, auf dem Lande zu leben, um sparen zu können. Acht Tage später waren wir in Noirmoutiers.

Von der Reise ist nichts zu erzählen. Es ist lange her, daß ich für längere Zeit mit meinem Manne allein gewesen bin. Natürlich hatten wir beide schlechte Laune; aber da ich mir fest vorgenommen hatte, gute Haltung zu wahren, ist alles gut gegangen. Du kennst meine Großzügigkeit in Entschlüssen, und Du weißt, ob ich sie durchführe. Jetzt sind wir eingelebt. Was die Landschaft anbelangt, so läßt Noirmoutiers nichts zu wünschen übrig. Wälder, Felsengestade, das Meer in nächster Nähe. Unser Schloß hat vier mächtige Türme, deren Mauern fünfzehn Fuß dick sind. Ich habe mir mein Arbeitszimmer in einer Fensternische hergerichtet. Mein sechzig Fuß langer Salon hat an den Wänden Gobelins mit Tiergestalten. Er ist wirklich prachtvoll, wenn acht Kerzen ihn beleuchten; unsre Sonntagsfreude. Wenn ich nach Sonnenuntergang hindurchgehe, gruselt mich's jedesmal. Wie Du Dir denken kannst, ist das ganze Ding mangelhaft möbliert. Die Türen schließen nicht, das Holzwerk kracht, der Wind pfeift, und das Meer rauscht ganz schauerlich. Gleichwohl fange ich an, mich daran zu gewöhnen. Ich ordne, stelle her, pflanze. Vor Winter werde ich mir ein leidliches Heim geschaffen haben. Sei versichert, Dein Turm steht für Frühjahr bereit. Warum kann ich Dich nicht eher drin haben? Der Vorzug von Noirmoutiers ist der Mangel an Nachbarn. Vollständige Einsamkeit. Gott sei Dank! Unser einziger Besucher ist der Abbé Aubain. Ein sanfter junger Mann, obwohl er bogige buschige Brauen hat und große schwarze Augen wie ein Verräter in einem Melodrama. Vorigen Sonntag hat er uns eine Predigt gehalten, die für eine Dorfpredigt nicht übel war. Sie floß ihm wie Honig über die Lippen. Er sagte, das Unglück sei eine göttliche Gnade, unsre Seelen zu läutern. Meinetwegen. Schließlich müssen wir unserm Bankier ein Denkmal setzen, weil uns dieser Ehrenmann um unser Geld gebracht hat zur Läuterung unsrer Seelen.

Lebe wohl, liebe Freundin! Mein Klavier kommt an und eine Menge Kisten. Ich will sehen, wie ich das alles auspacke.

 

Nachschrift. Ich öffne meinen Brief wieder, um Dir für Deine Sendung zu danken. Das ist alles viel zu schön, viel zu schön für Noirmoutiers. Die graue Haube gefällt mir. Unverkennbar Dein Geschmack! Ich will sie Sonntags zur Messe aufsetzen. Vielleicht kommt ein Commis-voyageur hier durch, der sie bewundert. Was sollen mir aber die Romane? Ich will ein ernstes Menschenkind sein; ich bin es. Wohl oder übel. Ich will mich bilden. In drei Jahren (ach, dann bin ich Dreiunddreißig!), wenn ich wieder nach Paris komme, will ich eine Philamintha sein. Eigentlich weiß ich nicht, welche Bücher ich von Dir versorgt haben möchte. Was rätst Du mir für ein Studium? Deutsche oder lateinische Literatur? Wilhelm Meister oder die Erzählungen von E. T. A. Hoffmann im Urtext zu lesen, wäre riesig nett. Noirmoutiers ist der rechte Ort für phantastische Geschichten. Doch wie soll ich ausgerechnet hier Deutsch lernen? Latein würde mir auch schon gefallen; denn ich finde es ungerecht, daß es die Männer nur für sich haben. Ich habe Lust, bei meinem Pfarrer lateinische Stunden zu nehmen.

Zweiter Brief
Frau von P*** an Frau von G***

Noirmoutiers, den … Dezember 1844.

Wundere Dich nur! Die Zeit geht rascher hin als man glaubt. Was meinen Mut aufrechterhält, ist die Schwachheit meines Herrn und Meisters. Wahrlich, die Männer sind im Vergleich zu uns recht inferior. Mein Mann ist von einer Niedergeschlagenheit, von einem avvilimento, das geradezu unglaublich ist. Er steht so spät wie möglich auf, reitet oder geht auf die Jagd, macht bei den langweiligsten Leuten Besuche, bei Notaren und Verwaltungsbeamten in der Stadt, die sechs Wegstunden entfernt liegt. Du solltest ihn an Regentagen sehen! Vor acht Tagen hat er Mauprat [der George Sand] angefangen; er ist noch immer beim ersten Bande.

Besser, man lobt sich selber, als daß man Andre schlecht macht. Das ist eine Deiner Lebensregeln. Ich lasse ihn also, um von mir zu sprechen. Die Landluft bekommt mir ausgezeichnet, und wenn ich mich im Spiegel betrachte (das Ding solltest Du sehn!), so kommt es mir vor, ich sei noch keine Dreißig alt. Ich gehe aber auch sehr viel spazieren. Gestern habe ich Heinrich dazu gebracht, mich an den Meeresstrand zu begleiten. Während er Möwen schoß, habe ich den Gesang der Piraten im Gjaur gelesen. Am Gestade, vor der brandenden See, sind diese Verse noch schöner. Unser Meer kommt dem griechischen nicht gleich, aber es ist romantisch wie jedes Meer. Weißt Du, was mich am meisten an Lord Byron berückt? Daß er die Natur schaut und versteht. Er redet nicht vom Meere, weil er gern Steinbutt und Austern ißt. Er ist Seefahrer; er hat Stürme durchgemacht. Alle seine Schilderungen sind Naturaufnahmen. Bei den französischen Dichtern ist der Reim die Hauptsache; dann, wenn noch Platz ist, kommt der Sinn. Während ich hin und her wandelte, lesend, schauend, bewundernd, begegnete mir der Abbé Aubain; ich weiß nicht, ob ich Dir von meinem Abbé erzählt habe, unserm Dorfpfarrer. Der junge Priester verkehrt viel bei uns. Er ist gut unterrichtet und weiß nett zu plaudern. Man sieht schon an seinen großen schwarzen Augen und seinem blassen melancholischen Gesicht, daß er etwas erlebt hat. Er muß es mir einmal erzählen. Wir haben geplaudert, vom Meer, von der Literatur. Was Dich an einem Dorfgeistlichen überraschen wird: er spricht gut. Dann hat er mich in die Ruinen einer alten Abtei geführt, die über den Klippen steht, und hat mir da ein großes Portal gezeigt voller Skulpturen, köstlichen Ungeheuerlichkeiten. Ach, hätte ich Geld, ich wollte das alles restaurieren lassen. Schließlich habe ich trotz Heinrichs Widerspruch (er wollte zum Essen gehn) darauf bestanden, auf einen Sprung in die Pfarre mitzugehen, um eine merkwürdige Reliquie zu besichtigen, die der Abbé bei einem Bauer entdeckt hat. Sie ist wirklich wunderschön. Ein emaillierter Schrein byzantinischer Herkunft. Als Kästchen für Schmucksachen wäre er entzückend. Aber die Pfarre! Großer Gott, und da klagt unsereiner! Denke Dir ein Kämmerlein zu ebener Erde mit schlechten Fliesen, Kalkwänden, drin ein Tisch und vier Stühle, ein Korbsessel mit einem Kissen, mit Pfirsichkernen gepolstert und mit weiß-rot kariertem Zeug überzogen. Auf dem Tisch drei oder vier griechische oder lateinische Schmöker; Kirchenväter. Darunter halbversteckt: Jocelyn [von Lamartine]. Er ist rot geworden. Übrigens machte er die Honneurs dieses elenden Loches sehr gut; er zeigte weder Stolz noch falsche Scham. Er mag eine romantische Vergangenheit haben. Ein Beweis. Im byzantinischen Schrein lag ein verwelktes Blumensträußlein, das mindestens fünf oder sechs Jahre alt ist. Eine Reliquie? fragte ich. Nein, erwiderte er, ein wenig verwirrt. Ich weiß nicht, wie das da hineingekommen ist. Dann hat er die Blumen genommen und behutsam in seinen Tischkasten eingeschlossen. Das ist doch klar!

Voll Wehmut und Mut bin ich ins Schloß zurückgekommen; voll Wehmut, weil ich so viel Armseligkeit gesehen; voll Mut, die eigne Armut ertragen zu wollen, die für ihn asiatischer Luxus wäre. Du hättest sein Erstaunen sehen sollen, als Heinrich ihm zwanzig Frank für eine Frau gab, die er uns empfohlen hatte. Ich muß ihm unbedingt ein Geschenk machen. Der Korbsessel, auf dem ich gethront habe, war zu hart. Ich will ihm einen englischen Klubsessel stiften. Besorge mir einen und schicke ihn mir umgehend!

Dritter Brief
Frau von P*** an Frau von G***

Noirmoutiers, den … Februar 1845.

Es ist entschieden nicht langweilig in Noirmoutiers. Überdies habe ich eine angenehme Beschäftigung, und die verdanke ich meinem Abbé. Er weiß in allem Bescheid. Besonders in der Botanik. Rousseaus Briefe fielen mir ein, wie er eine alte Zwiebel, die ich ihm in Ermangelung von Besserem auf den Kamin gestellt hatte, mit dem lateinischen Namen nannte. Sie sind Botaniker? fragte ich. Ein mäßiger, erwiderte er. Es langt gerade, um den Bauern die nützlichen Pflanzen zu weisen. Genug auch, um meine einsamen Wanderungen ein wenig mit Wissenschaft zu beleben. Es macht mir Spaß, unterwegs hübsche Blumen zu sammeln und sie in meinem alten Plutarch sorgfältig zu pressen.

Unterrichten Sie mich in der Botanik, bat ich ihn. Er wollte es in den Frühling aufschieben, denn in der jetzigen häßlichen Jahreszeit gäbe es keine Blumen. Sie haben doch getrocknete, erwiderte ich. Ich habe welche bei Ihnen gesehen. Ich meinte natürlich den alten Blumenstrauß, den er so sorglich aufbewahrt. Du hättest seine Miene sehen sollen. Armer Junge! Ich bereute alsogleich meine indiskrete Anspielung, und um ihm darüber wegzuhelfen, fügte ich schleunigst hinzu, er müsse doch ein Herbarium haben. Er ging sofort darauf ein und brachte einen Stoß grauer Papierbogen herbei mit einer Menge schöner Pflanzen, deren jede ihr Schildchen hat. Der botanische Kursus begann. Ich habe bereits erstaunliche Kenntnisse. Völlig unbekannt war mir die Erotik der Pflanzen. Es war für den Abbé nicht so einfach, mir die Grundbegriffe davon beizubringen. Teuerste, die Pflanzen verheiraten sich nämlich ganz wie wir Menschen; nur haben die weiblichen nicht bloß einen Mann, sondern meist mehrere. Man unterscheidet Phanerogamen (wenn ich dies barbarische Wort richtig wiedergebe); das ist griechisch und heißt: die öffentlich Vermählten. Dann gibt es noch Kryptogamen, heimlich Vermählte. Die Champignons, die wir essen, das sind heimliche Liebesleute. Das ist alles sehr skandalös; aber er benahm sich dabei nicht übel, viel geschickter als ich, die ich bei den verfänglichsten Dingen ein- oder zweimal so dumm war, laut zu lachen. Doch nun bin ich klug und tue keine Fragen mehr.

Vierter Brief
Frau von P*** an Frau von G***

Noirmoutiers, den … März 1845.

Du willst durchaus die Geschichte vom Sträußlein wissen, das so sorglich aufbewahrt wird. Ich will vor Dir keine Geheimnisse haben. Ich kenne die Geschichte und will sie Dir kurz berichten. Sie ist höchst einfach.

Wie kommt es, Herr Abbé, fragte ich ihn eines Tages, daß Sie, der Sie so klug und gelehrt sind, sich mit dieser kleinen Dorfpfarre begnügen? – Trübselig lächelnd erwiderte er mir: Es ist leichter, der Hirt armer Bauern zu sein als der von Städtern. Jeder nach seinen Kräften. – Gerade darum müßten Sie eine bessere Stelle haben. – Man hat mir ehedem gesagt, Monseigneur der Bischof von N***, Ihr Oheim, gnädige Frau, habe mich im Auge, um mir die Pfarre von Sainte-Marie zu geben, die beste seiner Diözese. Da meine alte Tante, die einzige Verwandte, die mir verblieben, in N*** wohnt, so wäre das ein sehr begehrenswerter Platz. Doch es geht mir hier gut, und ich habe ohne Ärger erfahren, daß Monseigneur eine andre Wahl getroffen hat. Was fehlt mir? Bin ich in Noirmoutiers nicht glücklich? Ich tue hier ein wenig Gutes. Ich bin am rechten Ort; ich darf ihn nicht verlassen. Obendrein erinnert mich die Stadt …

Er hielt ein, Trauer und Fremdes im Blick. Dann sagte er plötzlich: Wir arbeiten nicht. Unsre botanischen Studien … Das getrocknete Zeug auf dem Tische war mir gänzlich gleichgültig, und ich stellte weitere Fragen. Wann sind Sie Geistlicher geworden? – Vor neun Jahren. – Neun Jahre! Da waren Sie also in einem Alter, wo man bereits einen Beruf hat. Ich möchte meinen, Sie haben nicht von Jugend an Priester werden wollen … – Ach, erwiderte er verschämt, ich habe meinen Beruf ziemlich spät gefunden …, weil mich ein Erlebnis zu ihm geleitet hat …, ein Erlebnis …

Vor Verlegenheit blieb er stecken. Ich war verwegen und sagte: Ich wette, ein Blumensträußlein, das ich erspäht, spielte bei Ihrer Weltabkehr eine Rolle … Kaum war mir diese Unverschämtheit entfahren, biß ich mich vor Ärger auf die Lippe. Doch es war zu spät. Sie haben recht, gnädige Frau, erwiderte er. Ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen, aber nicht heute. Es wird sogleich zum Angelus läuten.

Noch ehe der erste Glockenton erklang, war er fort. Ich war auf ein erschütterndes Geständnis gefaßt. Andern Tags nahm er das unterbrochene Gespräch selber wieder auf. Er erzählte mir, daß er ein junges Mädchen aus N*** geliebt habe; aber sie besaß kein Vermögen, und er als Student hatte keine andre Hilfsquelle als seinen Geist. Er sagte zu ihr: Ich gehe nach Paris, wo ich angestellt zu werden hoffe. Wirst du mich auch nicht vergessen, wenn ich Tag und Nacht arbeiten werde, um deiner würdig zu werden? – Das junge Ding war siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Romantisch, wie sie war, gab sie ihm als Zeichen ihrer Treue das Sträußlein, das sie just trug. Ein Jahr darauf erfuhr er ihre Verheiratung mit dem Notar von N***, gerade im Augenblick, als er eine Lehrerstelle an einem Gymnasium angeboten bekam. Dieser Schlag warf ihn nieder; er lehnte ab. Er gestand mir, jahrelang habe er an nichts anders denken können; die neuliche Erinnerung an dieses schlichte Erlebnis habe ihn ergriffen wie etwas eben Geschehenes. Da zog er den Strauß aus der Tasche, warf ihn ins Feuer und sagte: Es war eine Kinderei, das aufzubewahren, vielleicht geradezu Frevel … Als die armen Blumen verkohlt waren, fuhr er ruhiger fort: Ich danke Ihnen, daß Sie mich um diese Geschichte gebeten haben. Ich schulde Ihnen Dank, daß ich mich von dieser Erinnerung erlöst habe, die zu bewahren gar nicht für mich paßte.

Doch das Herz war ihm schwer, und man sah ihm an, daß es kein leichtes Opfer war. Was für ein Leben, mein Gott, führen die Priester. Sie müssen auf alles verzichten, was die Andern glücklich macht. Sogar schlichte Erinnerungen sind ihnen verboten. Ähnlich ergeht es uns Frauen. Jedes lebhafte Gefühl ist für uns Sünde. Nur leiden dürfen wir; doch auch das soll niemand wissen.

Lebewohl! Ich tadle mich ob meiner Neugier; aber Du bist schuld daran.

Fünfter Brief
Frau von P*** an Frau von G***

Noirmoutiers, den … Mai 1845.

Liebe Sophie,

seit langem schon wollte ich Dir schreiben, aber falsche Scham hat mich immer daran gehindert. Was ich Dir zu sagen habe, ist so seltsam, so lächerlich und so traurig zugleich, daß ich nicht weiß, ob Du gerührt sein oder lachen wirst. Ich selber begreife das alles noch nicht. Ohne Umschweif zur Sache!

Ich habe Dir in meinen Briefen mehrmals vom Abbé Aubain berichtet, dem Pfarrer unsers Dorfes Noirmoutiers. Ich habe Dir auch ein Erlebnis erzählt, die Ursache, daß er Geistlicher geworden ist. In der Einsamkeit, in der ich lebe, und in der trüben Stimmung, die Du an mir kennst, war mir die Gesellschaft eines klugen, gebildeten, liebenswerten Mannes etwas Kostbares. Wahrscheinlich habe ich ihm merken lassen, daß ich in seinem Banne war, und sehr bald war er unserm Hause ein guter alter Freund. Ich gestehe, es war mir ein ungeahntes Vergnügen, mich mit einem überlegenen Manne zu unterhalten, dessen Weltunkenntnis seinen Seelenadel um so mehr hervortreten ließ. Vielleicht auch (ich muß Dir alles sagen und darf Dir keine meiner Schwächen verheimlichen) hat sich meine naive Koketterie (wie Du das nennst, was Du mir oft vorgeworfen hast) unbewußt an ihm versucht. Ich möchte den Menschen, die mir gefallen, auch gefallen und will von denen, die ich liebe, wieder geliebt werden … Ich sehe Dich, wie Du bei dieser Vorrede große Augen machst, und es ist, als hörte ich Dich rufen: Aber Julie!

Beruhige Dich! In meinem Alter begeht man keine Torheiten mehr. Aber ich will weiterberichten. Es bildete sich zwischen uns eine Art Vertrautheit, ohne daß er je (das sei im voraus betont!) etwas gesagt oder getan hätte, das sich bei seinem geheiligten Stande nicht geziemt hätte. Es war ihm bei uns behaglich. Oft sprachen wir von seiner Jugend, und mehr denn einmal habe ich das Unrecht begangen, die Rede auf seine romantische Leidenschaft zu bringen, die ihm ein Blumensträußlein (jetzt ist's in meinem Kamin zu Asche verbrannt) und den tristen Rock, den er trägt, eingebracht hat. Bald aber bemerkte ich, daß er der Ungetreuen nicht mehr gedachte. Eines Tages war er ihr in der Stadt begegnet und hatte sogar mit ihr gesprochen. Bei seiner Heimkehr erzählte er das alles, und ohne Erregung sagte er, sie wäre glücklich und habe reizende Kinder.

Der Zufall machte ihn zum Zeugen, wie unleidlich Heinrich mitunter ist. Die Folge war, daß ich ihm einige vertrauliche Aufklärungen geben mußte, die seine Teilnahme verstärkten. Jetzt kennt er meinen Mann, als hätte er zehn Jahre lang mit ihm verkehrt. Nunmehr war er mir ein ebenso guter Ratgeber wie Du, nur unparteiischer, denn Du meinst immer, das Unrecht läge auf beiden Seiten. Er gab mir immer recht, riet mir aber, vorsichtig und diplomatisch zu sein. Mit einem Worte, er zeigte sich mir als ergebener Freund. Es ist an ihm etwas Weibliches, das mich entzückt. Sein Wesen erinnert mich an Dich. Er ist ein feuriger, fester Charakter, feinfühlig, verschlossen, fanatisch seiner Pflicht ergeben.

Ich reihe das alles aneinander und komme noch immer nicht zum springenden Punkte. Es fällt mir schwer, nichts zu verheimlichen; mir graut davor, es aufzuschreiben. Ich möchte, wir säßen beieinander am Kaminfeuer, am Stickrahmen, an dem wir gemeinsam arbeiteten …

Liebe Sophie, das große Wort muß heraus! Der Ärmste war verliebt in mich. Lachst Du oder bist Du empört? Ich wollte, ich könnte Dich in diesem Moment sehen. Wohlverstanden, er hat mir nichts gesagt, aber uns Frauen verbirgt man das nicht lange, und seine großen schwarzen Augen … Jetzt lachst Du ganz bestimmt! Solche Augen reden unbewußt.

Sowie ich den Zustand des Kranken kannte, hat sich meine boshafte Natur (ich gestehe es Dir) geradezu daran gelabt. Zunächst. Eine Eroberung in meinem Alter, eine unschuldige Eroberung dieser Art! Aber eine solche Leidenschaft, eine unmögliche Liebe, was hat das für Sinn? Pfui! Die schlimme Regung war bald verweht. Einen Ehrenmann, sagte ich mir, durch meinen Leichtsinn unglücklich machen, das wäre schrecklich! Und ich begann nachzusinnen, wie ich ihn entfernen könnte.

Eines Tages wandelten wir am Meeresgestade, zur Zeit der Ebbe. Er wagte nicht zu reden, und auch ich war in Verlegenheit. Eine Weile herrschte tödliches Schweigen zwischen uns. Um meiner Herr zu werden, sammelte ich Muscheln. Endlich fing ich an: Lieber Abbé, Sie müssen unbedingt eine bessere Stelle bekommen. Ich werde meinem Oheim, dem Bischof, schreiben. Wenn nötig, will ich ihm einen Besuch machen … – Noirmoutiers verlassen? rief er, die Hände faltend. Ich war hier doch so glücklich! Was hätte ich zu wünschen, seitdem Sie hier sind? Sie haben mich mit allem versehen, haben meine Klause zu einem Schlosse gemacht. – Ich unterbrach ihn: Mein Oheim ist betagt. Wenn ich einmal das Unglück habe, ihn zu verlieren, dann weiß ich nicht, an wen ich mich wenden sollte, um Ihnen eine passende Stelle zu verschaffen. – Ach, gnädige Frau, es wird mir schwerfallen, von diesem Dorf zu gehen … Der Pfarrer von Sainte-Marie ist gestorben … der Abbé Raton soll an seine Stelle kommen … Er ist ein sehr würdiger Priester. Ich gönne ihm die Nachfolge, denn wenn Monseigneur an mich gedacht hätte …

Der Pfarrer von Sainte-Marie ist tot? rief ich. Heute noch fahre ich nach N*** zu meinem Oheim.

Gnädige Frau, tun Sie das nicht! Der Abbé Raton ist würdiger als ich. Und ich müßte Noirmoutiers verlassen!

Herr Abbé, sagte ich in festem Tone, es muß sein!

Bei diesem Worte neigte er sein Haupt und wagte keinen weiteren Widerstand. Ich ging, ich flog ins Schloß. Er folgte mir auf den Fersen. Der Ärmste war so verwirrt, daß er keine Worte mehr fand. Er war niedergeschmettert. Ich habe keine Minute verloren. Um acht Uhr war ich bei meinem Oheim. Ich fand ihn sehr eingenommen für seinen Raton; aber ich bin sein Liebling, und ich kenne meine Macht. Nach langer Debatte erreichte ich, was ich wollte. Raton ist aus dem Felde geschlagen, und der Abbé Aubain ist Pfarrer von Sainte-Marie. Seit vorgestern ist er in der Stadt. Der arme Mann hat mein: Es muß sein! verstanden. Er hat mir würdevoll gedankt und hat nur von seiner dankbaren Ergebenheit gesprochen. Ich rechne es ihm hoch an, daß er Noirmoutiers auf der Stelle verlassen hat und zu Monseigneur geeilt ist, ihm zu danken. Vor seiner Abreise hat er mir das hübsche byzantinische Kästchen übersandt und mich gebeten, mir hin und wieder schreiben zu dürfen.

Sage, Liebste, bist Du zufrieden?

Es war für mich eine Lehre; ich werde ihrer gedenken, wenn ich in die Gesellschaft zurückkehre. Aber dann bin ich dreiunddreißig und brauche keine Angst mehr zu haben, daß man sich in mich verliebt – in dieser Weise, in dieser unmöglichen Weise.

Was hat es geschadet? Meine Torheit hat mir einen schönen Schrein und einen echten Freund hinterlassen. Wenn ich vierzig bin und Großmutter, werde ich intrigieren und meinem Abbé eine Pfarre in Paris versorgen. Du wirst ihn kennenlernen, Beste, und er wird Deine Tochter firmeln.

Sechster Brief
Der Abbé Aubain an den Abbé Bruneau, Professor der Theologie zu Sainte-A***

N***, den … Mai 1845.

Hochverehrter Lehrer,

es ist der Pfarrer zu Sainte-Marie, der Ihnen schreibt, nicht mehr der arme Vikar von Noirmoutiers. Ich habe mein Kaff verlassen und bin nun Städter, habe eine Amtswohnung in einer schönen Pfarre in der Hauptstraße von N***, bin Pfarrer einer großen, prächtigen, wohlerhaltenen Kirche, eines berühmten Bauwerks, von dem Du Abbildungen in allen Kunstgeschichten Frankreichs findest. Als ich zum ersten Male vor einem Altar aus Marmor und voller Vergoldungen die Messe las, habe ich mich gefragt, ob ich das wirklich selber bin. Es ist aber so. Mit Freuden denke ich mir aus, Sie in den nächsten Ferien als Gast hier zu haben. Sie sollen ein hübsches Zimmer und ein gutes Bett haben, dazu einen trefflichen Bordeaux (Bordeaux-Noirmoutiers nenne ich ihn), der Ihrer (ich wage es zu sagen) würdig ist.

Sie werden mich fragen: Wie kommen Sie von Noirmoutiers nach der Sainte-Marie?

O Meliboe, deus nobis haec otia fecit.

Hochverehrter Lehrer, die Vorsehung hatte eine große Dame nach Noirmoutiers geführt. Unglücksfälle, die unsereinem niemals widerfahren können, sind schuld, daß sie zur Zeit mit zehntausend Talern im Jahre auskommen muß. Sie ist eine liebenswürdige, gütige Frau, die leider Gottes durch frivole Bücher und mondänen Verkehr ein wenig gelitten hat. Sich zu Tode langweilend mit einem Ehemann, mit dem sie wenig zufrieden ist, hat sie mir ihre Gunst und Gnade geschenkt. Es gab fortwährend Geschenke und Einladungen, und dann tagtäglich einen neuen Plan, wobei ich unentbehrlich war. Abbé, ich will Latein lernen! Abbé, ich möchte botanischen Unterricht! – Horresco referens, hat sie doch sogar verlangt, ich solle ihr die Theologie beibringen. Da wären Sie am Platze gewesen. Kurzum, diesen Wissensdurst hätte das gesamte Lehrerkollegium von Saint-A*** nicht befriedigen können. Zum Glück waren ihre Liebhabereien nie von langer Dauer, und selten überlebte ein Fach die dritte Stunde. Wie ich ihr dozierte, die Rose heiße im Lateinischen Rosa, da rief sie aus: Abbé, Sie sind ein Ausbund an Gelehrsamkeit! Wie konnten Sie sich in Noirmoutiers begraben lassen! – Die schlimmen Bücher, die man heutzutage fabriziert, hatten ihr wunderliche Ideen in den Kopf gesetzt. Eines Tages lieh sie mir ein Werk, das sie eben aus Paris erhalten hatte und das sie begeisterte: Abälard von Rémusat. Sie kennen es sicher und haben die gelehrten Untersuchungen bewundert; leider herrscht ein übler Geist darin vor. Ich habe den zweiten Band, die Philosophie Abälards, zuerst gelesen, mit großem Interesse, und dann erst den ersten Band, das Leben des großen Ketzers. Meine hohe Gönnerin las natürlich nur diesen. Das öffnete mir die Augen. Ich erkannte die Gefahr des Verkehrs mit einer schönen Dame, die derart in die Wissenschaften verliebt ist. In puncto Schwärmerei stand sie der Heloise nicht nach. Die neue Lage brachte mich in die höchste Verlegenheit, als sie urplötzlich zu mir sagte: Abbé, Sie sollen Pfarrer zu Sainte-Marie werden! – Unverzüglich läßt sie den Wagen anspannen, macht Monseigneur einen Besuch, und einige Tage darauf war ich Pfarrer zu Sainte-Marie, ein wenig verschämt, dies Amt weiblicher Gönnerschaft zu verdanken, aber doch froh, fern den Klauen einer Pariser Löwin zu sein. Wie sagt Äschylos?

Zeus, was für Weiber hast du uns geschenkt! Der Abbé Aubain und sein Lehrmeister, der Abbé Bruneau, sind spaßige Leute.

Sollte ich das Glück zurückstoßen, um der Gefahr zu trotzen? Ich wäre ein Tor gewesen. Hat der heilige Thomas von Canterbury nicht die Schlösser Heinrichs II. angenommen?

Leben Sie wohl, hochverehrter Lehrer. Ich hoffe, in einigen Monaten philosophieren wir zusammen, jeder in einem bequemen Ledersessel, vor einer feisten Poularde und einer Flasche Bordeaux, more philosophorum.

Vale et ama me!


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