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Revolutionstage in Prag

Ein schweres häusliches Ereignis – die plötzliche Erkrankung meiner Mutter – hatte mich in die Heimat zurückgerufen. Ich war nach Prag zurückgekehrt, nachdem ich über ein Jahr fortgewesen.

Schon in den nächsten Tagen erhielt ich eine gerichtliche Vorladung und hatte mich wegen meines »Ziska« zu verantworten. Indes, die Zeit hatte den Zorneifer der Behörden abgekühlt, ich wurde nicht in Haft genommen. In meiner Verteidigung machte ich geltend, daß ich für eine auf fremdem Gebiete geschehene Publikation, die am Druckort unbeanstandet geblieben, nicht hier zur Rechenschaft gezogen werden könne, es hieße dies im vorliegenden Falle die sächsische Presse unter österreichische Zensur stellen wollen. Diese Verteidigung, die eine Lücke im österreichischen Preßgesetze zu benutzen suchte, hatte nun freilich keine Aussicht auf schließlichen Erfolg. Meine Verurteilung konnte nicht ausbleiben; ein paar Monate unter Schloß und Riegel waren mir gewiß. Die Gefahr, meine gute Mutter zu verlieren, war jedoch vorübergegangen, und so freute ich mich der mir noch gegönnten Freiheitsfrist. An die Erlangung einer ärztlichen Praxis wurde nicht gedacht, dagegen wurden Pläne zu verschiedenen Dramen entworfen. Sie sind alle im Entwurf steckengeblieben.

Im Kaffeehause, das ich jeden Tag unmittelbar nach dem Mittagsmahl zu besuchen pflegte, war ich sicher, einen neuen Bekannten zu treffen, der mich täglich mehr und mehr interessierte. Es war ein junger Westfale, der, ich weiß nicht mehr, wie lange schon in Prag lebte, wo er in mehreren wohlhabenden Häusern Unterricht erteilte und nebenbei – wie man sich unter dem Siegel der Verschwiegenheit sagte – Korrespondent auswärtiger politischer Blätter war. Er hatte einen schöngeschnittenen Kopf von geistreichstem Ausdruck, den ein Wald dunkelbrauner Haare einrahmte. Sein Alter war sieben- oder achtundzwanzig Jahre. Seine Augen schauten so klug darein, über seiner Oberlippe stand ein feines, wohlgepflegtes Bärtchen, er lächelte immer. Doktor Schütte – dies war sein Name – hatte die außerordentlichste Suade zu eigen. Er wußte über alles so trefflichen Bescheid wie ein ausgezeichnetes Lexikon. Besonders war es die Nationalökonomie, mit der er uns in Erstaunen setzte. Er hatte die Ziffern aller Staatsschulden, aller Anleihen im Kopfe, wußte, wieviel Ballen Baumwolle die Spinnereien Englands und des Kontinents, wieviel Tonnen Kohlen die Essen aller Länder verbrauchten, wieviel Meilen Eisenbahn auf der Welt seien, was jede gekostet und tausend ähnliche Dinge mehr, über die er so glatt und ausführlich Auskunft erteilte, als ob er alles aus einem unsichtbaren, ihm vorgehaltenen Buche ablese. Sein Gedächtnis war bewunderungswürdig und sein Gespräch ein unaufhörliches Probeablegen desselben. Er hatte aber auch die Alten so gut im Kopfe wie die zeitgenössischen Dichter. Als einmal die Rede auf Sophokles':

»Vieles Gewaltige lebt, und nichts
Ist gewaltiger als der Mensch –«

kam, da wußte er die ganze Strophe und die Antistrophe dazu in solchem Flusse herzusagen, als ob die griechische Sprache seine gewöhnliche Umgangssprache sei, und das alles so natürlich, ohne jeden Prunk und Gelehrsamkeit! Wie das uns imponierte! Wie wir ihn darum beneideten!

Wir alle waren weltschmerzlich gestimmt und fanden die Zustände unerträglich, sahen aber nicht ein, wie es anders werden sollte; er dagegen nahm die Dinge leichter, Fröhlichkeit war der Grundton seines Charakters, er meinte, wir hätten am längsten gewartet, die Änderung stehe bevor; die Zensur, die Bücherverbote, die polizeiliche Bevormundung, das Spionentum rechts und links, Metternichs Regime müsse demnächst ein Ende nehmen. Seltsame Zuversicht in jenen Tagen. Es war nirgends ein Anschein dazu da. Wir schüttelten oft den Kopf darüber.

 

Um diese Zeit, während eine unbestimmte Gewitterschwüle auf allen Gemütern lag, ging die Oper eines Freundes und Landsmannes über die Bretter des Prager Theaters und erregte einen schwer zu beschreibenden Enthusiasmus. Die Oper hieß: »Die Franzosen vor Nizza«, der Kompositeur Friedrich Kittl. Das Werk im Stile Herolds oder Aubers hatte eine Fülle der reizvollsten Melodien, die im frischesten Glanze jugendlicher Erfindung funkelten. Besonders aber regte der zweite Akt das Gemüt auf und wirkte auf die Zuhörerschaft beinahe wie ein bedeutendes Ereignis. Situation und Musik trafen mit gleicher Stärke zusammen und erzeugten einen in seiner Art einzigen Eindruck. Doch um einen ungefähren Begriff von dieser Wirkung zu geben, muß ich zuvörderst etwas von der Handlung der Oper, deren Textbuch sagen. Dieses hatte keinen geringeren Verfasser als Richard Wagner. Dieser hatte sich das Libretto nach Heinrich Königs Roman »Die hohe Braut« zurechtgelegt und es, da ihm die Lust, dasselbe selbst zu komponieren, vergangen war, Friedrich Kittl überlassen.

Man befand sich beim Aufgehen des Vorhangs im Jahre 1794 düsteren Andenkens. Die französische Revolutionsarmee steht vor Nizza und droht der dortigen Lehnsherrschaft den Untergang. Zwei Liebende, einander höchst ungleich an Rang, die hochgeborene Bianca, die, von ihren stolzen Brüdern gezwungen, einem Baron zum Altare folgen soll, und der Jäger Giuseppe, treten uns entgegen, des Barons Schwester hat sich einem andern Lehnsmann, Sormano, in Liebe ergeben und diesen heimlich geheiratet. Der Bruder hat die Ehe gewaltsam getrennt, Sormano von Haus und Hof verjagt und die Schwester in einen Kerker geworfen, aus welchem sie, dem Irrsinn verfallen, entflohen ist. Als nun die Eifersucht des Barons gegen Giuseppe erwacht, steht dessen Freiheit und Leben auf dem Spiel. Da rettet ihn Sormano und bringt ihn auf einer einsamen Spitze der Seealpen in Sicherheit; er selbst ist der Häuptling einer revolutionären Schar, die es mit den Franzosen hält. Sie erwartet nur das Kanonensignal, um über ein in der Tiefe liegendes Fort, das den Schlüssel Nizzas bildet, herzufallen. Die Irrsinnige wird indes tot gefunden, Sormano schwört bei ihrer Leiche den Aristokraten Rache und dringt in Giuseppe, sich den Republikanern anzuschließen. Dieser sträubt sich lange. Da tönt von der einen Seite des Tales die Musik herauf, die Biancas Gang zur Kirche anzeigt, zugleich aber werden die Trommeln der Revolutionsarmee vernehmbar und tönen immer lauter herauf. Eine mächtige Musik dringt empor. Es ist die Marseillaise. Sein Gefühl in feurigen Liedstrophen ausströmend, eilt Giuseppe mit den übrigen in den Kampf.

Richard Wagner besitzt das spezifische Talent, eine starke sinnenfällige Wirkung dermaßen zu gipfeln, daß sie das Gemüt des Hörers mit unmittelbarer Gewalt fortreißt. Ein solches Meisterstück des Aufbaues ist die Ankunft des Schwans in »Lohengrin«; hier gab es etwas Ähnliches. Zuerst die Nacht, Sormanos Erzählung seiner Leidensgeschichte, die Ankunft der Leiche, Sormanos Racheschwur, nun der aufgehende Morgen in den Bergen, die Gruppe der Republikaner, die vom Gipfel herab auf die Bewegungen der Verbündeten lauscht, dazwischen die Hochzeitsmusik von hüben, die Feldmusik von drüben – die Marseillaise – dies alles gab ein an Gegensätzen reiches, immer voller anschwellendes Ganzes.

Kittl hatte es aus begreiflichen Gründen nicht gewagt, hier nach Richard Wagners Absicht die Marseillaise einzuführen, wohl aber ein schwungvolles Marschmotiv erfunden. Ebenbürtig und mit starkem dramatischem Naturell trat zur Dichtung die Musik, alle Gemüter bezwingend und fortreißend. Von der ersten Aufführung an hatten der Marsch und Giuseppes Strophen eine ungeheure Popularität, man hörte sie überall. Wo nur Musiker aufspielten im musikliebenden Prag, verlangte man Kittls Marsch zu hören.

Aber es sollte noch anders kommen, die »Franzosen vor Nizza« sollten für Prag eine Bedeutung erlangen wie die »Stumme von Portici« für Brüssel 1830. Der Marsch sollte die Festmusik der Märzbewegung werden.

Einige Tage nach der ersten Aufführung dieser Oper, am neunundzwanzigsten Februar, sollte der Künstlerverein »Concordia« einen kostümierten Ball abhalten. Er war besonders durch die Bemühungen des Präsidenten dieses Vereins, Ferdinand Mikowec, zustande gekommen, und ganz Prag war auf das Fest gespannt wie auf etwas noch nicht Dagewesenes.

Ferdinand Mikowec war ein weit über sechs Fuß hoher jugendlicher Recke von einer Schulterbreite, die gewöhnliche Mannesarme kaum umspannen konnten. Dem starken wuchtigen Körperbau entsprach die blühende Gesichtsfarbe, das rotblonde Haar, das blaue Augenpaar. So sah er aus wie aus der Germania des Tacitus herausgetreten. Auch eine gewisse Schwerfälligkeit, körperlich wie geistig, stimmten zu diesem Bilde. Nachlässig in Gang und Tracht kam er daher, mit unbeholfenen Bewegungen setzte er sich nieder; erhob er sich, was nicht ohne Schwierigkeit geschah, so war es, als ob er sich von einer ihm lieb gewordenen Bärenhaut trenne. Aber dieser alte Germane wollte nichts anderes als ein Tscheche sein. Er arbeitete in böhmischer Geschichtsforschung und Archäologie, sammelte alle möglichen historischen Inschriften, wofern sie böhmisch waren, und war nebenbei Dichter vaterländischer Dramen. Mit diesen jedoch hatte es seine eigene Bewandtnis. Er schrieb sie heimlich deutsch, wie denn seine ganze Bildung eine deutsche war, und ließ sie dann ins Böhmische übersetzen; er selbst wäre nicht imstande gewesen, eine korrekte Übersetzung davon zu liefern.

Der langerwartete Abend kam heran, und das Kostümfest, für welches so viele Vorbereitungen getroffen worden waren, ging in Szene. Das Theater, in einen Redoutensaal verwandelt, war bis auf den letzten Galerieplatz besetzt, alles hatte sich herbeigedrängt, die mitwirkenden Maler, Architekten, Musiker, Schriftsteller in ihren Kostümen zu sehen. Man hatte alle Anzüge historisch treu anfertigen lassen und die Porträtähnlichkeit bei der Wahl nach Möglichkeit berücksichtigt. Da entrollte sich nun ein ganzes Stück Literatur- und Kunstgeschichte. Hier zogen, das Barett mit Pfauenfedern geschmückt, die zierlichen Gestalten der deutschen Minnesänger einher, Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Heinrich von Ofterdingen; zwischen sinnreich charakterisierten allegorischen Gestalten, welche die Künste und deren verschiedene Richtungen darstellten, folgten die Meister altdeutscher Kunst. Die markig derbe Gestalt eines damaligen Theaterkritikers, Bernhard Gutt, als Peter Vischer mit Hammer und Schurz trat unter ihnen besonders hervor. Jetzt erschienen italienische Dichter, darunter ein Dante, frappant ähnlich, was Gesichtsschnitt und Farbe anbelangt, ein heiterer, lorbeergekrönter Ariost, hierauf eine Schar späterer Musiker, Dichter und Maler, Pergolese und Gluck, Mozart und Beethoven, Voltaire und Rousseau, Sebastian Bach, Lessing, Goethe und Schiller wandelten, die meisten treffend charakterisiert, den Saal entlang. Nun aber erschien einer, der mächtiger als alle die Aufmerksamkeit der staunenden Menge auf sich zog. Es war der Präsident der »Concordia« Ferdinand Mikowec. Sein Riesenkörper stak in einer enganliegenden fleischfarbenen Scheide und hatte infolge der hohen Temperatur die Farbe eines zart gesottenen Seekrebses angenommen. Um seine Stirne saß ein Kranz von Lindenzweigen, seine Linke hielt ein seltsam geformtes Saiteninstrument empor, um seine Schultern hing, von einer kolossalen Stahlagraffe festgehalten, ein ungeheurer Wolfspelz.

»O weh, er ist fast in adamitischer Tracht!« flüsterte alles im gelinden Schrecken. »Wen stellt er denn vor?«

»Den Lumir!«

»Wer ist Lumir?«

»Der Gott des slawischen Gesanges.«

»Wohl heidnisch?«

»Wie könnte man darüber im Zweifel sein?«

»Aber was ist das? Riechen Sie nichts?« gingen die flüsternden Stimmen weiter. »Sehen Sie nur – vor und um ihn flüchtet alles!« Es war wirklich so. Der Wolfspelz, eigens für das Fest aus Polen bestellt und kaum einige Tage vor dem Feste ausgepackt, ein wahres Prachtstück, roch dämonisch, wie eine Menagerie von Wölfen! Den ganzen Tag über hatte sich Mikowec – seinen näheren Freunden war es nicht unbekannt – bemüht, seine kulturfeindliche Wildschur zu bändigen – umsonst! Er hatte sie mit Wacholderbeeren durchräuchern lassen, er hatte sie an die Luft gehängt, er hatte sie schließlich mit Kölner Wasser flaschenweis begossen – es half nichts. Der Pelz stank ruhig weiter und schlug jeden mit Schrecken, der die Nase in seine Nähe brachte.

Jetzt aber – es war wohl eine Wirkung der im Saale herrschenden Hitze – schien es, als ob alle in diesem mächtigen Felle kondensierten Ammoniaksalze in Empörung losgebrochen seien. Vor und um den slawischen Liedergott bildete sich eine Einöde. Nur der Hühne, der den Pelz trug, schien nicht von dem Geruche zu leiden und wandelte feierlich langsam, von dem Bewußtsein erfüllt, daß er den Sangesgott der Slawen darzustellen habe, majestätisch dahin.

Zu dreien Malen zogen die Künstler im Saale umher, zu dreien Malen wandelte Lumir in ihrer Mitte. Sein Wandeln ist dem Gedächtnis aller Nasen der Zeitgenossen und Teilnehmer am Feste als Phänomen eingeprägt geblieben. Zwei Orchester spielten im Saale. Wenn der »Künstlermarsch«, den ein begabter Prager Komponist, Veit, für diese Veranlassung gedichtet hatte, verstummt war, fiel die auf der Galerie postierte Militärkapelle ein und spielte, von lautem Applaus des Publikums begrüßt, den Marsch der »Franzosen vor Nizza«. Ich, am Zuge unbeteiligt, saß inzwischen in der Loge eines mir wohlgeneigten Bankiers, Herrn von Lämmel, sah auf das Treiben unten und auf den sich mächtig und farbig aufrollenden Zug herab und lauschte den Klängen der Musik. Da machte sich eine große Bewegung in der Loge des Statthalters auffällig bemerkbar. Mehrere Personen traten hastig ein und sprachen heftig zusammen.

»Es muß etwas Wichtiges in der Stadt vorgefallen sein!« sagte der Bankier nicht ohne eine gewisse Ängstlichkeit. Und sich an einen jungen Chemiker wendend, der neben ihm saß und in Sprache und Haltung noch den ehemaligen österreichischen Kavallerieoffizier erkennen ließ, bat er: »Herr von Görgen, wollten Sie nicht so freundlich sein, nachzufragen, was geschehen?« Zugleich flog die Türe der Loge auf, der Prokuraführer des Geschäfts stürzte mit aufgeregtem Gesicht herein. Die Post von Paris war eingetroffen und hatte zwei Briefe gebracht. Der erste lautete: »23. Februar. Abends fünf Uhr. Paris im Aufstande. Kämpfe im Quartier St. Eustache und am Carré St. Martin. Das Ministerium Guizot ist gestürzt.«

Der zweite Brief war nur eine Nachschrift zum ersten. Er lautete lakonisch also: »Louis Philippe hat abdiciert. Keine Bourbons mehr! Eine republikanische Regierung ist gebildet.«

Beim Lesen dieser Worte war mir, als habe mich die Hand eines Dämons in die Höhe gehoben und in der Luft umgedreht.

»Glück auf! Nun ist der Bann der Erstarrung von der Welt genommen!« rief es laut in mir. »Jetzt hat die Politik des Verneinens und der Abwehr ein Ende. Der dreißig Jahre lang erstarrt gebliebene Strom kommt in Bewegung. Endlich, endlich werden wir Einrichtungen erhalten, wie sie der Geist der Zeit verlangt.« Ich bat um die Briefe, ich las und überlas sie. »Nein, es ist kein Satyrspaß, es ist kein Fastnachtsscherz, es ist Wahrheit, das Langersehnte ist gekommen. Eine Bombe ist mitten in den Karneval geflogen, aber – o Menschen! – die Tänze unten gehen ununterbrochen ihren Gang weiter. Doch wie lange noch? Eine neue Zeit setzt sich nicht ohne Kampf und Blut durch. Gleichviel, von nun an ist es eine Lust zu leben!«

So dachte ich. Nur wer da weiß, wie die bisherigen Zustände allen Lebensmut zu rauben geeignet waren, wer da weiß, wie unerträglich und entwürdigend die Formen des Metternichschen konservativen Regiments gewesen, wird ermessen können, mit welchen Gefühlen wir, die engeren Gesinnungsgenossen, die neue Zeit begrüßten, welche Hoffnungen wir auf sie setzten! Während sich die Pariser Nachrichten immer weiter verbreiteten, die Menschen je nach ihrer Parteistellung und ihren Ansichten aufgeregt in Freude oder Sorge zusammentraten, wie vom Schauer dessen, was kommen sollte, angehaucht, spielte das Orchester ungestört weiter. Der Marsch der Jakobiner von 1793 tönte drein in die Bewegung der französischen Republik von 1848.

Wir aber, eine Trias von Freunden, begaben uns jubelnd in die fürs Nachtmahl hergerichteten Räume. Als gäbe es keine Polizei mehr, toastierten wir auf die Republik, die Volksfreiheit und eine Bewegung, von der wir einen Anstoß auf die ganze übrige Welt und vor allem andern die staatliche Einheit aller Deutschen erwarteten.

Der Morgen tagte bereits, als wir den Heimweg antraten. Welthistorische Ereignisse gleichen einer Kraft, welche das ruhige Gleichgewicht einer flüssigen Masse stört: die Fortpflanzung der Bewegung bis in die entferntesten Teilchen derselben geht überraschend schnell vor sich und ist mitunter von fast komischer Wirkung. Ich hatte den großen Kostümball kaum ausgeschlafen, als ein reichgekleideter Bedienter bei mir eintrat und mir ein Billet überreichte, das mich in den schmeichelhaftesten Ausdrücken einlud, heute beim Grafen D... den Tee zu trinken.

Es ist nun immer hübsch, wenn der Mensch von sich sagen kann, er habe einen Grafen kennengelernt. Wenn man den ungeheuren Abgrund in Betracht zieht, welcher zwischen den Sprossen des wahren Adels und den Nachkommen der Hörigen gähnt, ein Abgrund, über welchen eigentlich weder Talent noch Kenntnisse noch wirkliche Verdienste eine Brücke zu schlagen vermögen, so darf man immerhin darauf stolz sein, wenn ein höheres, blaublütiges Wesen die Bekanntschaft eines einfachen Erdensohns zu machen wünscht. – Ich nahm die Einladung an.

Der Graf war aber auch eine stadtbekannte Persönlichkeit. Einem uralten Geschlechte entsprossen, Besitzer mehrerer großer Herrschaften und Güter, hätte er sich wie die übrigen seines Standes ganz von den bürgerlichen Menschenkindern isolieren können, aber er mochte das nicht, er war nun einmal, um mit Aristoteles zu sprechen, ein Griech. Wort fehlt, ein politisches Geschöpf.

Mitglied des ständischen Landtages, einer Korporation, die damals zu gewissen Zeiten mit einem roten Fracke bekleidet in einem großen Saal zu erscheinen, dort die Anträge der Regierung zu vernehmen und diese zu bejahen hatte, fühlte er den Beruf in sich, wenn jemals in Österreich außer und über den Provinzialvertretungskörpern sich eine zentrale Körperschaft, sei es nun Haus der Pairs oder Staatenhaus genannt, entwickeln sollte, eine noch höhere politische Stellung zu erringen. Als nun so merkwürdige, unerhörte Gewitterschläge von jenseits des Rheins herüberdröhnten, mit Erderschütterungen Hand in Hand gehend, die den ganzen Bestand der alten Gesellschaft in Frage stellten, hatte der Graf als ein Mann, der eine ganze Welt von Rettungsplänen in seinem Kopfe trug, das Bedürfnis gefühlt, diese Rettungsgedanken in einem größeren Kreise zum Vortrag und zur Debatte zu bringen. Diesem Drange dankte ich die Einladung. Schwarz befrackt, in gehörig feierlicher Stimmung betrat ich die vornehmen Räume.

Ich sah hier zum ersten Male den böhmischen Geschichtsschreiber Franz Palacky und den Doktor Ladislaus Rieger, zwei Männer, an Jahren ungleich, die später in Böhmen eine so große Rolle spielen sollten. Der erstere war eine hagere Gelehrtengestalt, dessen Gesicht die gelbliche Farbe der Pergamente angenommen hatte, mit denen er sich seit Jahren ausschließlich beschäftigte, der letztere ein interessanter, ja schöner junger Mann von gewinnendem Wesen, brünett, mit feurigen Augen. Ein geistvoller Advokat mit spitzer Feder, Doktor Pinkas, einige Finanzmänner, deren Blick und Bildung über den Comptoirtisch hinausreichten, vervollständigten den Kreis. Auch Moritz Hartmann, vor kurzem aus Leipzig in Prag eingetroffen, war anwesend. Schließlich fehlte es nicht an Statisten. Man sprach von der Flucht Louis Philippes, von der Einsetzung der Republik, von Lamartine und Louis Blanc. Es war klar, daß die Bewegung Frankreichs nicht ohne Einfluß auf die Nachbarländer bleiben könne.

Der Graf begann seine Ideen zu entwickeln, und wir erfuhren, wieviel Freiheit er uns gönne. Er war, wenn der Ausdruck gestattet ist, ein liberaler Hochtory, dessen Ideal England gewesen wäre, wenn es dort nicht neben dem Haus der Lords auch ein Haus der Gemeinen gäbe. Nur der Großgrundbesitz verlieh, seiner Auffassung nach, dem Sterblichen politische Rechte. Er erklärte es uns ganz deutlich, wie es sich damit verhalte. Was wir »Staat« nennen, ist ein gewisses Quantum von Quadratmeilen Bodens; natürlich kann nur derjenige Vertreter des Staats sein, der ein paar Quadratmeilen – ja nicht weniger – dieses Bodens besitzt. Daß das Volk, die Menge der vielleicht schon demnächst dem Hunger preisgegebenen Menschen, nicht regieren dürfe, war klar, aber auch der sogenannte Mittelstand war hierzu keineswegs berufen. Sollte der Besitz eines großen Hauses, einer gut eingerichteten Fabrik oder einer gefüllten, feuersicheren Kasse jemanden befähigen, an der Gesetzgebung teilzunehmen? Nimmermehr! Häuser, Fabriken und feuersichere Kassen sind nichts Ursprüngliches; Häuser brennen ab, Fabriken fallieren, Kassen schützen ihren Inhalt wohl vor Feuer und Diebshänden, nicht aber vor Entwertung, nur der Boden, die Erde selbst, ist das Ewige, Fundamentale, Unzerstörbare. Also: Wo kein Grundbesitz, keine Sicherheit, somit keine Garantie guten Verhaltens, keine ruhige Empfänglichkeit für das Große, Schöne, Bleibende. Der Wohlstand wurzelt im großen Grundbesitz, alles übrige ist Flugsand. Auch die Vaterlandsliebe ist nur beim Grundbesitzer zu finden, denn dieser besitzt ja eben Land, einen Teil des Vaterlandes. Kurz, der Grundbesitz war ihm der Acker aller großen Tugenden, in ihm wurzelte die »Gabe der Gesetzgebung« und aller Einsicht in das Wesen des Staatslebens.

So sprach der Graf; möge ihn niemand für engherzig oder egoistisch halten, weil er uns eigentlich gar nichts gönnte! Er konnte nicht anders. Sein Sinn ging ins Hohe und Große. Aber welches Vertrauen er doch zur Kraft der Wahrheit hatte! Und was traute er nicht alles seiner Beredsamkeit zu! Keiner von uns allen, an die er seine Worte richtete, war ein Großgrundbesitzer, uns allen mußte er für die Zukunft jede Wirksamkeit absprechen, und dennoch traute er es sich zu, uns zu bekehren. Er war fest überzeugt, alle, die ihn gehört, würden sagen: »Ja, wir sehen es ein, wir sind nicht berufen, ein Parlament zu bilden, denn wenn wir auch Bedürfnisse, Wünsche, Verstand, Ideen haben mögen, wir haben keinen Grundbesitz.« Und wenn dann an einem der nächsten Tage das Volk draußen zusammenträte und spräche: »Ihr habt gesprochen, während alles schwieg, Ihr habt über die Grundlagen eines vernünftigen Verfassungsbaues nachgedacht und sie, so gut ihr konntet, entwickelt, wir wählen euch zu unseren Vertretern« – wir müßten antworten: »Danke, danke, wir müssen Eure Wahl ablehnen! Was man Staat nennt, ist ein Quantum von Quadratmeilen, und keine einzige davon ist unser eigen!«

Der Graf hatte sich vom Ständehaus ein stetes Dozieren in parlamentarisch-oratorischer Form angewöhnt, er trug in dieser Art, nur zeitweise von Äußerungen des Bedenkens und kleinen Einwendungen unterbrochen, die Grundzüge seines Systems vor. Der schmetternde Ton, mit welchem er das Wort Grundbesitz! Grundbesitz! unseren Gemütern einprägte, klingt mir noch immer in den Ohren!

Als der Vortrag des Grafen über die Befähigung zur Gesetzgebung zu Ende war, löste sich die Gesellschaft in Gruppen auf. Riegers bedeutende Persönlichkeit machte auf mich den freundlichsten Eindruck. Palacky trat heran und sagte mir viel Schmeichelhaftes über meinen »Ziska«, es war kein ungewichtiges Lob, wenn dieser spezielle Kenner sagte, daß ich die historische Seite der hussitischen Bewegung mit richtigem Instinkt gezeichnet. Er habe das Gedicht daraufhin geprüft und könne sich dahin äußern, daß nirgendwo ein wesentlicher Verstoß gegen die Geschichte vorkomme. Er selbst war eben mit der Durcharbeitung der Hussitenzeit beschäftigt; es ist dieser Teil seines großen Geschichtswerkes zehn Jahre später erschienen.

Es war um diese Zeit die sogenannte soziale Frage stark an der Tagesordnung; auch auf diesem Terrain hatte der Graf seine reformatorischen Pläne. Während ein Fisch in einer vortrefflichen Mayonnaise serviert wurde, entwickelte er uns den Plan einer eigentümlichen Bank, die keine geringere Wirkung haben sollte, als rasch nach ihrer Einführung der Armut auf der Welt ein Ende zu machen. Ihre Wirkung war einem artesischen Brunnen zu vergleichen, der in einer Wüste gegraben wird. Ringsherum bildet sich ein exotischer Pflanzenwuchs, durch dessen Absterben entsteht ein üppiger Pflanzenboden, und ehe man sich's versieht, ist eine Oase da. Damit war allen Proletariern geholfen. Es wäre zu wünschen, daß andere sich gemerkt hätten, wie diese Bank organisiert gewesen, ich erinnere mich nur, daß trotz allen Respekts vor der Autorität des Vortragenden die größten Zweifel an ihrer Möglichkeit laut wurden. Nur einem einzigen, einem quieszierten Großindustriellen, waren alle Absichten des Grafen klar. Er erkannte in dieser Bank die einzige Lösung der sozialen Frage und erbot sich, wenn der Herr Graf Finanzminister geworden, ihr als Direktor vorzustehen. Dieses Gesuch wurde ihm gewährt.

Gelangweilt und den Kopf voll ganz anderer Gedanken, war ich während dieser Vorträge und indes noch allerlei Zugaben zum Tee serviert wurden, in einer Ecke des Kanapees sitzen geblieben, ich fühlte, daß mich die ganze Sache nichts anging. Ich war ja weder Grundbesitzer noch Proletarier, mir konnte nicht geholfen werden. Ich sehnte mich nach einer Zigarre. Und, als habe mein Wunsch magnetische Gewalt, schritt der Graf, der eben zu Ende gesprochen, auf ein Stufengestell zu, von dem er ein unscheinbares Kästchen herabholte, nahm es unter den Arm und begann in feierlich streng oratorischer Form und, wie er es gewohnt war, in österreichischem Kavalierdeutsch folgendermaßen:

»Wir haben uns soeben, meine Herren, ziemlich eingehend mit den Prolettariern beschäftigt« (der Graf hatte eine eigentümliche Art, die Worte hervorzustoßen und die Konsonanten, besonders die ts, fs und s zu verdoppeln, wenn nicht zu verdreifachen). Hier, meine Herren, erlaube ich mir nun, Ihnen eine Zigarre anzubieten, die, von mancher Seite heftig angefeindet und mißachtet, unter einem ungerechten Drucke seufzt und als der Prolettarier der österreichischen Zigarren bezeichnet werden kann. Meine Herren, ich rede von der Kreuzer-Zigarre und stehe keinen Augenblick an, das Vorurteil, das auf ihr lastet, als ein ungerechtfertigtes zu bezeichnen. Meine Herren, die Kreuzer-Zigarre ist besser als ihr Ruf. Unsere Regierung, von der es nicht zu leugnen ist, daß sie sich ein offenes Auge wenigstens für die matteriellen Bedürfnisse, Anliegen und Interessen ihrer Untertanen zu bewahren gewußt hat, diese Regierung, sage ich, hat es nie außer acht gelassen, uns in richtiger Erkenntnis der volkswirtschaftlichen Wichtigkeit des Gegenstandes ein in der Tat brauchbares Rauchmatterial zu liefern. Meine Herren, ich behaupte keck, daß dieser Prolettarier unserer Regie sich mit den besseren Produkten aus den Fabriken der Hansestädte messen kann!

Reif sein ist alles, sagt Hamlet, und von dieser Zigarre« – er nahm eine in die Hand, zeigte sie und ließ sie wieder fallen – »sage ich nur: Sie muß abgelagert (er wollte sagen: abgelegen) sein. Meine Herren, es gilt die Rehabilitation eines ungerecht zurückgesetzten, echt österreichischen Produktes – der Kreuzer-Zigarre! Greifen Sie zu!«

Dieser schöne, von oratorischer Wärme durchglühte Erguß des Grafen war zu eindringlich, als daß nicht viele von uns eine eingewurzelte Abneigung überwunden hätten. Selbst mehrere Zigarrenfeinschmecker machten gute Miene und versorgten sich aus dem bescheidenen Kästchen; wir taten es um so mehr, als wir gewiß waren, den Grafen uns nachfolgen zu sehen. Um so außerordentlicher war es, als dieser nach beendigter Austeilung mit größter Ruhe und wahrhaft souveräner Kaltblütigkeit in die Brusttasche griff, ein Etui herauszog, es öffnete, daraus eine Havanna, welche mit Recht den Namen einer königlichen, einer Regalia, führte, nahm und diese mit der vollendeten Ruhe eines Kavaliers an der nächsten Wachskerze anzündete.

Diese kaltblütige Tat überraschte alle, aber niemand äußerte eine Bemerkung. Von mir weiß ich nur, daß ich mit nachdauernder Bewunderung diese Havanna betrachtete, als ob etwas Ungewöhnliches an ihr sei, dann aber den verruchten Glimmstengel, den ich dem unscheinbaren Kästchen entnommen, eiligst wegwarf.

Ein paar Wochen vergingen, bis ich der erneuerten Einladung des Grafen, in seiner Soirée zu erscheinen, wieder Folge leistete. Die Geschichte mit der Zigarre ging mir nicht aus dem Kopfe. Heftigeren Gemütes als heutzutage, machte mich jene bewußte Zigarre so grimmig, daß ich den Grafen gar nicht wieder sehen mochte. Wie sehr war ich im Unrecht! War er nicht einer jener Landstände, die einen roten Frack für unentbehrlich zur Gesetzgebung hielten? War es denn nicht nur im Sinne jener »organischen Gliederung der Gesellschaft«, die er immer empfahl, gedacht, wenn er uns etwas anderes zuwies, als er selbst rauchte? Sollte er denn wirklich gar nichts vor uns voraus haben? ...

Indes waren die Ereignisse ungestüm vorwärtsgeschritten. Als ich mich wieder bei dem Grafen sehen ließ, fand ich diesen tief verstimmt. Er ließ die Berechtigung einer Revolution nur insofern gelten, daß sie ihm und seinen Standesgenossen zu einer lebenslänglichen Pairswürde verhelfen solle – doch nicht darüber hinaus. Er sah die Dinge im trübsten Lichte und weissagte Anarchie. Rings verlangte die Welt konstituierende Versammlungen. Was aber konnten Versammlungen leisten, bei deren Wahl eben das Moment, das einzige zur Gesetzgebung befähigende, das Moment des Grundbesitzes, nicht berücksichtigt werden sollte? Und nachdem er nun noch über einen beliebten Gegenstand, die organische Gliederung der Stände im Staate, gesprochen und insgesamt »patriotische Selbstgenügsamkeit« empfohlen hatte, welche nichts Fremdes kopiert, keinen Schwerpunkt draußen sucht, weder fremden Beifall noch fremde Hilfe beansprucht und ausschließlich auf der Basis eigenster Interessen steht, nahm er wieder das bewußte Kästchen unter den Arm und begann: »Wir haben soeben, meine Herren, von der patriotischen Selbstgenügsamkeit gesprochen. Diese patriotische Begnügsamkeit, meine Herren, betätigen wir nicht nur, wenn wir von Frankfurt nichts wissen wollen, sondern auch, indem wir, hinwegsehend von überseeischen Produkten, zu unserem einheimischen Rauchmaterial zurückgreifen usw.« Nun ging der Spruch zu Ehren der Kreuzerzigarre in ruhigem Flusse weiter.

Indessen hatte der Streich mit der echten Havanna die Gemüter so aufgerüttelt, daß jetzt, wie ich sah, nur wenige zugriffen. Palacky behauptete, daß er nicht rauche, Rieger, daß er etwas Halsweh habe, Herr v. Lämmel das Erstaunlichste: daß er selbst derlei Zigarren bei sich führe! Ich aber machte mich eines furchtbaren Vergehens schuldig, indem ich, meine Zigarrentasche hervorziehend, mit einer frevelhaften Kühnheit erwiderte, daß sich meiner Meinung nach das Recht, eine gute Zigarre zu rauchen, nicht an den Grundbesitz knüpfe. »Ich mache es«, sagte ich, »wie Sie, Herr Graf, und rauche etwas Importiertes.« Und da mir ein Blick auf die Pendeluhr eine vorgerückte Stunde wies, nahm ich von der nahen Fensternische den Hut und wandelte fort, um nicht mehr zu erscheinen.

 

Der Sturm, der in Frankreich die Julimonarchie niedergerissen, war indessen über den Rhein gegangen. Die Rufe: Deutsches Parlament, Zentralgewalt, wurden immer lauter und dringlicher. Auch in Prag steigerte sich die Aufregung. Eine schwüle, dumpfe Luft lag über der hunderttürmigen Stadt, es gärte in allen Kreisen.

Am elften März war der Aufruf zu einer Bürgerversammlung im Wenzelsbade ergangen. Ihr nächster Veranlasser war Peter Faster, seines Zeichens ein Gastwirt, ein wackerer Mann von geringem Talent, aber kräftiger Art, einer von jenen, die, wo es nottut, vorangehen, während die übrigen unentschlossen zaudern. Er trug im eigentlichen Sinne des Wortes seine Haut, die allerdings kein feiner Saffian war, zu Markte: denn eine solche Versammlung war zu jener Zeit höchst ungesetzlich; Metternich saß ja noch fest am Ruder. Wirklich fanden sich mehrere hundert Personen ein, einige energische Redner entwickelten kurz die Sachlage. Man stellte ein »Was wir wollen« auf: elf Artikel, elf Forderungen, deren weitere Entwicklung einer demnächst einzuberufenden Volksvertretung anheimgestellt werden sollte. Ein komischer Zug darf dabei nicht in Vergessenheit kommen. Da keine Druckerei sich mit der Publikation dieser elf Punkte befaßt hätte, mußte man ihre Verbreitung lediglich wie in alter Zeit durch geschriebene Zettel erzielen. Da man nun rasch viele Schreiber brauchte, eilte Dr. Johannes Spielmann, ein Genosse unseres Kreises, in die Irrenanstalt, wo er Sekundärarzt war, und ließ die Forderungen durch seine Pflegebefohlenen kopieren. So waren es Narren, welche sich um die vernünftige Klärung der Köpfe verdient machten.

Auch von Wien aus waren Reformen angekündigt, doch ohne daß man über den Umfang oder die Richtung derselben sich irgendeine klare Vorstellung hätte machen können. Da kamen die Nachrichten von den Vorgängen am denkwürdigen 13. März. An diesem Tage hatten die niederösterreichischen Landstände zusammentreten sollen. Da kam ein Zug heran von Studenten und Bürgern: die Stände sollten ein Gesuch um Preßfreiheit und Reformen aller Art dem Kaiser vortragen. Die Massenhaftigkeit des Zuges, der drohende Charakter desselben, dabei der blutige Konflikt und die gefallenen Opfer waren von einer Wirkung, die mit der Sache selbst in gar keinem Verhältnis zu stehen schien. Darauf der Sturz Metternichs – Aufhebung der Zensur – Verleihung einer Konstitution – Volksvertretung: es regnete Wunder vom politischen Himmel, zahlreicher als Sternschnuppen in einer Septembernacht.

Gewöhnlich wird behauptet, die Revolution von 1848 sei etwas ganz Unverabredetes, Ungeplantes, etwas ganz Spontanes gewesen, ein Werk der Zufälligkeit, in Paris sowohl wie anderswo. War dies wirklich so? Freilich waren die Brandstoffe allenthalben angehäuft und lagen in allen Gemütern, gab es aber nicht auch Personen, dazu ausersehen, die Lunte zur verabredeten Stunde anzulegen? Man erinnert sich vielleicht noch jenes Freundes, der kurz vor Weihnachten bei seiner Abreise nach Wien uns den Eintritt großer, das Völkergeschick umändernder Ereignisse versprochen hatte. Eben dieser, der junge Westfale Dr. Schütte, hatte die Sturmpetition vom 13. März organisiert und war ihr Führer gewesen! Hatte er vor uns gewußt, was in Paris geschehen würde? Gab es geheime Gesellschaften und war er Mitglied einer solchen? Hatte er den Posten in Wien wie ein zur Brückensprengung beorderter Soldat bezogen? Mir war es, als habe er, durch Eide gebunden, uns nicht in das Geheimnis seiner Verbindungen einweihen dürfen und es bei Andeutungen bewenden lassen.

Ich überlasse es den Forschern, hierüber etwas Licht zu verbreiten. Ein Steinchen hatte die Lawine ins Rollen gebracht, nun ging es im Sturmlauf vorwärts. Die Nachrichten verbreiteten sich blitzschnell, der Altstädter Ring bedeckte sich mit Gruppen, die Menschenmenge wogte in den Straßen. Kein Soldat, kein Polizeimann ließ sich sehen, die Behörden, klug oder voll Furcht, ließen alles gewähren. Vorerst war alles Freude, Jubel. Es freute sich jeder, dem dereinst die unwürdigen Zustände unter Metternich die Schamröte ins Gesicht getrieben; jeder, der von Hausdurchsuchungen, Denunziationen, Paßplackereien zu leiden gehabt. Die Studenten waren die glücklichsten von allen, denn sie glaubten sich als Kommilitonen der Wiener einen Teil am Umschwunge beimessen zu dürfen. Sie hatten das Schlagwort: Lehr- und Lernfreiheit. Fortan sollte ihnen der Besuch deutscher Universitäten gestattet sein, sie sollten ihre Verbindungen, ihre Mützen, ihren Komment haben. Sie beriefen eine Versammlung und verabredeten eine Totenfeier für die in Wien Gefallenen. Der Bürgermeister erschien in ihrer Mitte, und Uffo Horn, ein alter Studio und Poet, schwenkte in der ehrwürdigen Aula die alte Schwedenfahne der Prager Studenten von 1639. Es freuten sich die Wirte, denn so viele Gäste hatten ihre Lokale nie gesehen, bis tief in die Nacht hinein; es freuten sich die Buchhändler: es gab keine Zensur mehr, und alle bisher verbotenen Bücher fanden rasch ihre Käufer. Neue Zeitungen entstanden über Nacht und wurden ohne Zensur gedruckt, neue Politiker und Publizisten schossen plötzlich empor wie junge Spargel.

Nun aber kam das Gefühl, daß alle diese Errungenschaften nur eben abgerungen seien und mit den Waffen in der Hand verteidigt werden müßten. Es bildeten sich Legionen, man zog zu den Zeughäusern, viertausend Gewehre wurden verteilt. Die Studenten traten zusammen, hielten Sitzungen über Sitzungen, alles wollte Waffen haben und sich in Waffen üben: die jungen Leute exerzierten von nun an Tag und Nacht in den weiten Höfen des Clementinums. Verwundert sahen die alten schwarzen, festungsartigen Mauern des Prager Jesuitenkollegiums auf die Scharen hinunter, die sich beim Schein der Fackeln militärisch übten.

Und wieder gab es unheimliche Tage, wo sich die Massen stumm drängten und ein besorgtes Flüstern durch die Gruppen ging. Der Vorfrühling brachte seine eiskalten Stürme, und der Himmel hing tief und schwer herab, und man sprach davon, daß sich große Militärmassen in der Umgebung Prags sammeln, so daß mancher Bauer achtzehn bis zwanzig Mann Einquartierung im Hause habe. Und die Besitzenden munkelten vom beutegierigen Proletariat und weissagten Übles. Und die Bürger, die Waffen trugen, schlossen die Stadttore und ließen nur die Seitentüren offen für die Fußgänger.

Die Studenten aber waren in einer Stimmung, daß sie am liebsten gleich gegen feindliche Batterien geführt werden wollten.

So kam das Ende des Monats heran, und warme Apriltage brachten wieder Sonnenschein und bessere Stimmung. Für den zehnten des Monats war abermals eine Bürgerversammlung im Garten des Wenzelsbades angekündigt, sie war von denselben Männern einberufen, welche die erste veranstaltet hatten. Ich schlenderte, mich nicht genau an die Eröffnungsstunde haltend, die eine ziemlich frühe war, hinaus und traf die Verhandlungen schon in vollem Gange. Eine Menge von Tausenden stand Kopf an Kopf auf dem freien Platze vor dem Gebäude. Vom Balkon desselben sprach Hawlitschek, der tüchtigste Journalist und Volksschriftsteller, den die Böhmen je gehabt. Besser als er traf keiner den populären Ton, er besaß den trockenen, kaustischen Humor, den der Böhme so sehr liebt, dabei ein wild aufloderndes Feuer. Ich konnte, was er in feierlicher Rede entwickelte, bei meiner mangelhaften Kenntnis der böhmischen Sprache nur halb und halb verstehen, soviel entnahm ich, daß eine Versammlung von Vertrauensmännern gewählt werden solle, um die im neuen Landtage vorkommenden Verfassungsgesetze zur Beschlußfassung vorzubereiten. Es müßte ein Zentralorgan gebildet werden, um Ordnung zu schaffen und die Forderungen der Nation vorbereitend durchzuführen.

Die versammelte Menge war, wie die lauten Zurufe bezeugten, damit einverstanden.

Das Wenzelsbad ist ein Haus mit Bädern, welche von einer kühlen Felsenquelle gespeist werden; an schönen Sommertagen pflegen Gartenkonzerte dort stattzufinden. Ich war den gewundenen Fußsteig entlanggegangen, hatte mich in eine Laube gesetzt, zog die Korrekturbogen eines »Märzgedichts« aus der Tasche und ging an die Durchsicht desselben. Da hörte ich den Redner die Namen jener nennen, die nach bester Überzeugung der bisherigen Leiter der Bewegung als Vertrauensmänner zu wählen seien. Es waren die Namen des seit dem 11. März bestehenden Bürgerkomitees und einige neue dabei. Unter diesen Namen hörte ich auch den meinigen. Der Zuruf der Menge gab dem Wahlantrag seine Sanktion, und so sah ich mich, der ich als Spaziergänger ins Wenzelsbad gekommen war, plötzlich in ein Mitglied des böhmischen Nationalausschusses verwandelt. Nun hieß es, hinüber auf die Kleinseite! Es galt, den Statthalter, den Oberstburggrafen Graf Stadion, von den Beschlüssen des Volkes in Kenntnis zu setzen. Die Nachricht des Vorgefallenen hatte sich indes weiter und weiter verbreitet. Als wir Gewählten aus dem Garten heraustraten, fanden wir in den Straßen ein dichtes Gedränge. Bürgergarden scharten sich um uns und gaben uns das Geleit durch die Stadt, diese fuhren, jene gingen; in einer Stunde hatten wir uns im Statthaltergebäude einzufinden.

Es war eine wunderliche Szene, als der Statthalter vor uns trat.

Er war ein hochgewachsener Aristokrat in den mittleren Jahren, eine elegante, fast geckenhafte Erscheinung von englischem Zuschnitt. Er hatte seine Toilette gemacht, auf seinem wohlgeformten Gesichtsvorsprung wiegte sich ein Nasenklemmer am breiten schwarzen Bande. Es freute ihn ungemein, uns zu sehen. Männer, die das Vertrauen des Volks genießen – ja, das wollte er betonen – es freute ihn – es war nicht zuviel gesagt, eher zuwenig – dieser Kreis – es war ein ehrenwerter Kreis tüchtiger Männer, bewährter Namen. Er – einesteils im Dienste der Regierung stehend, andererseits die Sache des Vaterlandes vor Augen –

Aber seinen rednerischen Erguß, der ihn, die Götter wissen, wohin geführt hätte, schnitt in diesem Augenblick Peter Faster mit barbarischer Derbheit ab.

»Herr Graf«, sagte er barsch, wie wenn er zu einem seiner Bräuknechte rede, »wir sind nicht hierhergekommen, Phrasen zu dreschen. Wir haben lange genug Phrasen gehört. Die Zeit der Phrasen ist vorüber. Es ist Ihnen nicht zu verdenken, wenn Sie uns zum Teufel wünschen, aber wir sind nun einmal da. Es ist kurz so: wir sind vom Volke gewählt und haben den Auftrag übernommen, die Vorlagen für eine künftige, vorn ganzen Lande gewählte Volksrepräsentation auszuarbeiten; denn es muß alles schnell gehen. Überdies werden wir Maßregeln treffen, wie sie die Zeit erheischt.«

Dem Grafen war bei dieser Anrede das Pince-nez wie schreckbetäubt von der Nase gefallen. In diesem Tone hatte ihn gewiß noch niemand angefahren. Er antwortete, mühsam nach Fassung ringend, daß er alles billige – das heißt, im Prinzip. Er habe selbst das Bedürfnis gefühlt – die schwere Verantwortlichkeit der Lage – mit andern zu teilen. – Er würde die Tatsache über die Wahl nach Wien berichten – er lade uns ein, in den Konferenzsaal zu treten – um über unser Sitzungslokal zu beraten – einen Beschluß zu fassen ...

Wir traten in ein größeres Zimmer und nahmen um einen großen, mit grünem Tuch ausgeschlagenen Tisch, auf dem viele Tintenfässer standen, Platz. Wir befanden uns im Synedrium der Statthalterbeiräte.

Der Graf, der an der Spitze des grünen Tisches Platz genommen hatte, war während der nun folgenden Debatte wie geistesabwesend. Er mochte sich seinen Mangel an Fassung vorwerfen, er mochte an Auswege denken. Was alles, während wir berieten, ihm der Zwicker zu tun gab, bleibt mir ewig unvergeßlich. Bald sah er ihn mit staatsmännischem Ernste an, bald zog er ein Foulard hervor, ihn zu reinigen, bald setzte er ihn mit gedankenvoller Würde auf, bald ließ er ihn wieder fallen. In seiner Verlegenheit hielt er ihn mehrmals geschlossen in die Nähe der Nase, eine nervöse Erregung ließ ihn einen Druck auf die Feder tun, der Nasenklemmer schnappte auf und versetzte ihm einen heftigen Nasenstüber. Und über den erlebten kleinen Schreck milde lächelnd, blickte der Graf im Kreise umher.

Es wurde festgestellt, daß wir vorderhand unsere Sitzungen im Gewerbeverein abhalten und vor allem die Verhältnisse der Grundentlastung zur Behandlung bringen sollten, da die Zustände der arbeitenden Landbevölkerung vor allem Abhilfe forderten.

Noch einmal, als der Graf Renitenz zeigte, wandte Faster das derbe Mittel gewaltsamer Einschüchterung an, dann verließen wir das Statthaltereigebäude.

Als wir auf die Straße hinaustraten, sahen wir alle Straßen und Plätze mit Menschen bedeckt. Zurufe schollen uns entgegen, aus unzähligen Fenstern wurden weiße Tüchlein geschwenkt, die Bürgerwehr fiel mit Kittls Marschmusik ein. Jetzt erst kam mir in den Sinn, daß ich seit der Frühe nichts gegessen, daß es jetzt etwa fünf Uhr nachmittags sei und daß es geraten wäre, nach Hause zu gehen.

 

Der Nationalausschuß war zusammengetreten und hielt zuerst im Gewerbeverein auf der Altstadt, sodann im Kameralzahlamt auf der Kleinseite seine Sitzungen. Sie waren endlos. Der Himmel hatte den Mund mehrerer Mitglieder mit unendlicher Redegabe gesegnet, und was gab es, worüber nicht verhandelt worden wäre! Vor allem schienen die Ansprüche des Landvolks auf Abstellung der Robot und Aufhebung der bäuerlichen Lasten dringend, denn Stürme drohten auf dem flachen Lande. Aber noch, ehe es zur Debatte kam, interpellierte der oder jener den Präsidenten, was man denn zur Durchführung der im Prinzip angenommenen Volksbewaffnung zu tun gesonnen sei; ein zweiter hielt den Entwurf einer Kommunalverfassung für Stadt- und Landgemeinden für dringender als alles übrige; ein dritter verlor sich in einer Abhandlung über die Notwendigkeit verantwortlicher Minister. Es brach ein Schwall von Dingen über uns herein; die Sitzungen, die morgens 8 Uhr begannen, waren noch bei dunkelndem Abend nicht zu Ende; und wenn sie vorüber, sollte noch in den einzelnen Sektionen gearbeitet werden.

Indessen organisierte die engere tschechische Partei sich rasch und bildete eine Legion, welche sich altböhmisch kostümierte und ein böhmisches Kommando bei sich einführte. Ein kleines putziges Männchen mit einem wilden Gesicht, das ein riesiger Schnauzbart in zwei Hälften teilte, Baron Villani, war Chef dieser Schar; auch unser Freund Lumir, dem Leser vom Maskenball her in Erinnerung, spielte dabei eine Rolle.

Die Sprachenfrage hatte uns bisher eigentlich noch nicht gestört. Sie war nur insoweit ventiliert worden, als man die Gleichstellung der beiden Landessprachen in Schule und Amt verlangte, was billig erschien. Im übrigen war der Spalt zwischen deutscher und slawischer Nationalität bisher verdeckt und unausgesprochen verblieben.

Aber so sollte es nicht lange dauern. Die Deutschen sahen in Frankfurt Anstalten im Werden zum Aufbau eines neuen deutschen Reiches und wollten diesem angehören. Nicht am Erz- und Fichtelgebirge sollte die Grenze ihrer Heimat sein. Nachdem sie so lange von der höheren Kultur und Freiheit Deutschlands durch unerbittliche Schranken getrennt gewesen, ersehnten sie doppelt den Anschluß an Deutschland. Die Wechselwirkung mit Deutschland schien ihnen ein Bedürfnis. Die Böhmen dagegen perhorreszierten die Unterordnung irgendeines österreichischen Staatsteils unter einer deutschen Zentralgewalt und hofften sogar, wenn Österreich sich aus dem absolutistisch regierten Bundesstaat, der er stets gewesen, in einem mehr zentralisierten verwandle, die Suprematie in diesem neuen Staate zu gewinnen.

Allen diesen Gedanken gab Palacky einen herben und scharfen Ausdruck, als der Fünfzigerausschuß auf den sonderbaren Gedanken kam, ihn aufzufordern, der Versammlung deutscher Verfassungsfreunde beizutreten, welche ein deutsches Parlament vorbereiten wollten. Er antwortete in verletzendem Tone, das Verlangen, daß sich das böhmische Volk mit dem deutschen verbinde, sei eine jeder historischen Basis ermangelnde Zumutung. Böhmen trete einer Versammlung nicht bei, welche Projekte in Ausführung bringen wollte, darauf berechnet, Österreich zu schwächen, übrigens sei eine Reorganisation Deutschlands auf dem eingeschlagenen Wege unausführbar.

Dieser Brief machte das größte Aufsehen und wurde das Manifest einer Partei.

Es schien mir nötig, daß aus Prag selbst eine deutsche Antwort auf diesen Brief erfolge, und so ungeschult meine Feder auch auf solchem Gebiete war, ich hatte schon am andern Tage eine Antwort. Das »Constitutionelle Blatt für Böhmen«, eine neugegründete Zeitung im großen Stile, das Organ der Deutschen, erwies mir die Ehre, diese Replik an hervorragender Stelle zu drucken.

Indes spitzten sich die Meinungen auf beiden Seiten zu, die Stellung der Parteien wurde kriegerisch. Die Wahlen für Frankfurt waren ausgeschrieben worden, man dachte in Wien, es stehe eine Kaiserkrone für Österreich in Aussicht, und gab den Kreisämtern die Ordre, die Wahlen vollziehen zu lassen. Der Nationalausschuß brachte die Sache zur Erörterung; eine übergroße Majorität verwarf jeden Gedanken an Frankfurt, Graf Stadion mußte die von Wien aus erlassene Kundmachung unterdrücken. Indes begaben sich zwei Deputationen nach Wien, eine deutsche, die Wahlen zu verlangen, eine böhmische, die Wahlen untersagen zu lassen. Sie trafen sich zur selben Stunde im Vorzimmer des Ministers Pillersdorf und sagten sich gegenseitig die bittersten Dinge. Die schließliche ministerielle Antwort konnte nicht unlauterer sein, als sie war: die Beschlüsse des deutschen Parlaments, hieß es, würden gewiß weder der Nationalität noch den Interessen der einzelnen Reiche der österreichischen Monarchie nahetreten. Die österreichische Regierung habe die Pflicht, diese Interessen zu schützen. Österreich habe aber auch als Mitglied des Bundes die bestehenden Verträge zu vollziehen. Es werde kein Staatsbürger gezwungen, sich an den Wahlen zu beteiligen, aber es dürften auch keinem die Mittel entzogen werden, an den Frankfurter Verhandlungen teilzunehmen. In dieser Form, die dem gesunden Menschenverstände Hohn sprach und die Wahlen zur völligen Bedeutungslosigkeit herabdrückte, ging der Erlaß des Ministers an die Kreisämter. Die meisten deutschen Bezirke wählten ohne Verzug, aber wenige Tage darauf kam an jedes Kreisamt ein Paket Schriften, die den Wahlmännern vorgelesen werden sollten: es waren die Akten des Nationalausschusses, in welchen vor dem Anschluß an Deutschland wie vor dem Pakt mit dem Teufel gewarnt und das Abschicken von Deputierten nach Frankfurt Landesverrat genannt wurde. Aus diesen Papieren, die die Statthalterei dem unschuldigen Landvolk zusandte, sollte es erfahren, an welchem Abgrunde es stehe. Indes wurde deutschen Redakteuren gedroht, das Volk werde ihre Pressen zerstören, wenn sie Artikel für den Anschluß brächten. Die Folgen wurden bald sichtbar. Selbst deutsche Kreise wurden irre und verzögerten die Wahl. Anonyme Briefe liefen aus Prag an alle deutschen Wahlkomitees ein: sie wurden von »deutscher Seite« beschworen, harmlose Menschen nicht zu Landesverrätern zu machen. Andere anonyme Zirkulare rieten zu einem »ehrenvollen Rückzug« und Rücknahme der Wahlen, weil durch letztere notwendig Krieg und Anarchie ins Land kommen müsse. Halbtschechische Städte wie Pilsen hatten es auf eine große Demonstration gegen die Wahlen abgesehen: sie ließen diese zuerst in aller Formalität vom Kreisamt ausschreiben und sorgten nun dafür, daß niemand bei den Wahlen erschien. Das war ein großer Triumph, und alle tschechischen Journale rieben sich darob die Hände.

Ich war nach den letzterwähnten Vorgängen aus dem Nationalausschuß ausgetreten. Nun hatte ich Ruhe. Ich saß am Abend des vorletzten April auf meinem Zimmer, als drei Herren bei mir eintraten. Es waren zwei Abgeordnete des Frankfurter Vorparlaments, die Herren Kanzler von Wächter und Dr. Schilling; ein Badearzt aus Franzensbad begleitete sie. Die beiden Herren wünschten Auskunft üben den Stand der Dinge in Böhmen. Sie kamen aus einem ruhigen Lande und wollten mir kaum Glauben schenken, als ich die Dinge in dunklen Farben malte. So bereiteten wir uns vor, in den Konviktsaal zu gehen, wo das Prager Komitee für die Frankfurter Wahlen eine Sitzung halten sollte.

Am Knopfloch des Franzensbaders fiel mir ein violettes Bändchen auf. Man sah damals österreichische und böhmische Bänder, deutsche und slawische Trikoloren, aber ein solches Band von sanfter Veilchenfarbe hatte ich noch nie gesehen, ich fragte nach dessen Bedeutung. Der Badearzt antwortete nicht ohne Wunde: »Der Egerkreis sendet demnächst eine Adresse an den Kaiser, worin die Trennung des Egerlandes von den übrigen böhmischen Landen verlangt wird. Der Bezirk erscheint nicht in den böhmischen Landesbüchern als Kreis angeführt. Das gibt uns ein volles Recht, unsere Selbständigkeit zu verlangen, mit Anschluß an den deutschen Bund. Dies Violett ist die Landesfarbe des Egerkreises.«

Bald darauf traten wir in den Konviktsaal. Die ohnehin düstern Räume boten heute ein noch finstereres Aussehen: das kundigere Auge erkannte leicht, daß in dieser Versammlung der Deutschgesinnten eine mindestens gleiche Anzahl Tschechen eingedrungen sei. Grimm und Hohn lag auf ihren Gesichtern. In einer der mittleren Bankreihen saß Hawlitschek, von einer entschlossenen Garde umgeben. Und kaum hatte der Frankfurter Delegat sich in seiner Ansprache zu einer heißspornigen Äußerung hinreißen lassen, als der Spektakel losging. Hunderte von Pfeifern gellten bald aus dieser, bald aus jener Ecke, bald aus der Höhe, bald aus dem Hintergrunde, einzelne knüttelbewaffnete Gesellen sprangen auf die Bänke und verlangten die Beendigung der Debatte. In weniger als drei Minuten bot der ganze Saal das Bild eines wüsten Handgemenges.

Am anderen Tag waren die Frankfurter Abgesandten abgereist, bestürzt, fassungslos darüber, die Dinge soviel schlimmer angetroffen zu haben, als sie sich gedacht. Sie gestanden, daß sich in bezug auf die böhmischen Kreise nichts machen ließe und daß auch die halbdeutschen übel genug daran seien. Sie klagten uns nicht mehr der Halbheit oder der Schwäche an.

Indes verwandelte sich Prag immer mehr und mehr. Die stehengebliebene Uhr, welche auf eine längst vergangene Stunde wies, wurde jetzt gewaltsam zurückgerichtet, so daß ein durchreisender Fremder sich gar nicht mehr zurechtgefunden und auf jedem Schritte endlos hätte erstaunen müssen. Wer durch die von Menschen wogenden Straßen wanderte, hörte kaum mehr ein deutsches Wort. Elegante Damen in feinster Toilette, die sich vom Lakai das Gebetbuch nachtragen ließen, radebrechten jetzt böhmisch und hatten doch diese Sprache ihr ganzes Leben lang nur mit ihren Köchinnen gesprochen, welche ihresteils, sooft sie ihren Putz anlegten, deutsch zu radebrechen versucht hatten. Tschechische Proklamationen waren an der Ecke zu lesen, tschechische Schilder wurden über den Kaufgewölben aufgehängt. Und welches Aussehen hatten die Leute! Man hätte sich nach Venedig versetzt glauben können, und zwar in das Venedig der allerbesten Zeit, in den venetianischen Karneval mit schrankenloser Maskenfreiheit. Da zogen Männer in weißen, rotbeschnürten Röcken, ein rotes Kreuz als Abzeichen am Arm, einen silbernen Löwen auf der Brust, und schwitzten geduldig unter grauen Lammfellmützen.

Kreuz, Lammfellmütze und Schleppsäbel kennzeichneten sie als Mitglieder der »Swornost«; dort wieder, noch fabelhafter anzusehen, wandelten Repräsentanten ferner, außer aller Verbindung mit der Kulturwelt stehender, aber, wie man es damals nannte, »stammverwandter« Länder. Die einen trugen die Tracht der Drahtbinder, jedoch weiß und bunt verziert, die anderen Röcke von schwarzem Samt und weite Pumphosen; das Streben nach dem Absonderlichen und Antieuropäischen hatte kolossale Dimensionen angenommen. Eine wahrhaft bedauernswerte Figur spielte Peter Faster, den sein plötzliches Berühmtgewordensein schier um den Verstand gebracht hatte; er ging in einem Herzogsmantel von violettem Samt mit einem Hermelinkragen umher.

Und während nun die Tschechen behaupteten, der Anschluß an Deutschland gefährde die Souveränität des Kaisers von Österreich, für dessen Machtstellung sie jetzt die zärtlichste Sorge empfanden, gingen sie selber an die Vorbereitung eines sogenannten slawischen Vorparlaments. Zwei Aristokraten mit deutschen Namen, ein Graf Mathias Thun und ein Herr von Neuperg, leiteten die darauf bezüglichen Vorarbeiten.

Eins noch machte Prag in diesen Tagen häßlich und unheimlich. Ein recht mittelalterlicher Judenhaß organisierte fast täglich kleinere oder größere Raubzüge gegen die harmlosen Bewohner der Judenstadt. Meine Erinnerung bewahrt als eines der unheimlichsten und widrigsten Bilder eine Judenhetze, der ich am ersten Tage des »Wonnemonats« beiwohnte. Man denke sich die krummen, engen, elenden Gassen des Prager Ghetto mit den schwarzen schmalen Häusern, die Nacht ist beinahe angebrochen, ein eisiger Wind geht stoßweise und peitscht den feinen, aber durchdringenden Regen. Eine wilde Menge staut sich brüllend in der Gasse, es sind meist Buben und betrunkene Kerle, leider sind auch Weiber darunter. Der Pöbel ist in zwei Häuser eingebrochen, die Fenster sind aufgerissen, Möbel und Eigentum wird in die Gasse hinuntergeworfen, und die Menge johlt. Ein Schein von einer schräg gegenüber brennenden Straßenlaterne beleuchtet das Bild. Einer der Plünderer hat sich aufs Fenster gesetzt und reißt seine Witze, die der Pöbel bejubelt. Jetzt schwimmen Millionen Flocken durch die Luft, als gäb's ein Schneegestöber, der Kerl hat Betten aufgeschnitten, die Flaumen wirbeln und tanzen. Was das für ein Spaß ist! Das Gelächter und Gebrüll der Menge durchtönt ein herzzerschneidendes Jammergeschrei. Ist es nur das Jammern um die verlorene Habe? Ist's mehr? Wird auch zum Spaß ein bißchen gemordet? Doch schon gibt's wieder neuen Ulk! Ein Mensch wird aus der Mitte des Getümmels wie ein Kreisel herausgewirbelt. Er wollte sich mit einer gestohlenen Gans unter dem Rocke still davonmachen, und jetzt fallen seine Kameraden mit Knütteln über ihn her. Noch immer das gleichmäßige Wehen der Flocken, das künstliche Schneegestöber, bald aus einem Fenster, bald aus dem anderen, das Gebrüll in der Gasse, das Geschrei im Hause und die Erwartung, bald den roten Hahn auf dem Dache zu sehen. Ziehst Du Dich aus dem Getümmel zurück? Versuchst Du es? Jetzt aus dieser, jetzt aus jener Seitengasse stürzt einer, den man verhöhnt und geneckt, bis er zu laufen angefangen hat, herbei, seine Verfolger hinter ihm, und sucht sich im Gewirr zu salvieren. Wo ist er? Man drängt, man stößt sich, ein Unrechter wird beschuldigt und wehrt sich seiner Haut. – Da vernimmt man Trommelwirbel – es kömmt näher – Militär rückt heran – werden sie schießen?

Indes waren die Wahlen für das deutsche Parlament in den deutschen Kreisen vollzogen worden. Die Deputierten, etwa zehn an der Zahl, waren abgereist, und mit eigentümlicher Besorgnis blickte ihnen die deutschgesinnte Bevölkerung nach. In welcher Eigenschaft eigentlich gingen sie ab? Sie waren von einer Minorität im Lande gewählt und wurden von der herrschenden, ungleich zahlreicheren Partei laut verleugnet und verketzert! Würden sie vom Parlament selbst nur als eine berichtende Körperschaft angesehen werden? Wahrlich, sie konnten von den Schwierigkeiten berichten, mit denen sie zu kämpfen gehabt, berichten von der Zweideutigkeit der Regierung, dem Terrorismus, von der Verräterei im eigenen Lager. Wie man aus einer überrumpelten Stadt noch Boten um Rettung ausschickt, so waren sie gegangen!


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