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VII. Kapitel
Erotismus und Liebe

1. Entartung durch Erotismus. / 2. Erotismus in der Mode. / 3. Geselligkeit. / 4. De Adonide. / 5. Die Bedeutung der Perversitäten. / 6. Gefährliche und gefährdete Typen in der Erotik. / 7. Judith und Manasse. 8. Eltern und Kinder. / 9. Paniximie und ihre Folgen. / 10. Ein Schlüssel. / 11. Entsühnung. / 12. Das Wesen des Erotismus. / 13. Die »Kleine Müllern«. / 14. Vom Sinn und Zweck der Ehe. / 15. »Liebeskunst«. / 16. Kundry. / 17. Von Brünhild und vom Dornröschen. / 18. Liebe.

I.
Entartung durch Erotismus

Während der Kriegszeit wurde nicht nur, / wie immer bei Kriegen, / die zunehmende Verwilderung der Jugend Über die Kriminalität der Jugendlichen hielt kürzlich Justizrat Prof. Dr. Franz v. Liszt einen Vortrag und führte aus, daß die Kriminalität der jugendlichen Personen von 12–18 Jahren, laut der seit 1882 eingeführten Statistik, ständig gestiegen ist. Während 1882 in Preußen 30 719 Jugendliche verurteilt wurden, waren es 1912 schon 54 949! Die Zahl wuchs dann während des Krieges immer weiter. konstatiert, sondern es beschäftigten auch beständig die Öffentlichkeit Prozesse über ganz besondere sexuelle Ausartungen und sexuelle Verbrechen. Die waren natürlich nicht durch den Krieg und nicht nur während des Krieges entstanden. Aber das Erschütternde daran ist, daß selbst dieses furchtbare Weltgericht nicht imstande war, die, die einigermaßen davon verschont blieben, zu einer reineren Lebensführung und einer menschlicheren Lebensauffassung zu bringen.

Ein Oberlehrer, ein Dr. phil., Ehemann und Familienvater, wurde wegen Sittlichkeitsverbrechens in der Kriegszeit verurteilt. Er erhielt nur 1½ Jahre Gefängnis, da er, nach der Ansicht des Gerichts »ein minderwertiger, willensschwacher Mensch sei, der den direkten Verlockungen der halberwachsenen Mädchen, seiner Schülerinnen, unterlegen sei«. Dieser Oberlehrer ist ein Typus. Denn gerade solche minderwertige, willensschwache, moralisch degenerierte Männer gibt es in erschreckender Überzahl. Es ist dies jener Typus, der bei keinem sexuellen Angebot, mag es von wem immer ausgehen, nein sagen kann, der gar kein Selbst- und Ehrgefühl besitzt, dabei eine krankhaft geblähte sexuelle Eitelkeit, die sich durch jede Provokation geschmeichelt fühlt. Zu weiblichen Typen, zu denen ein wirklicher Mann überhaupt niemals in Beziehungen treten könnte, kommt ein solcher Mensch in Beziehungen persönlichster, dauerhaftester Art.

Eine 18jährige Buchhalterin feierte mit 16jährigen Burschen Orgien und verpraßte mit ihnen / während der Kriegszeit! / zweitausend Mark, die sie der ihr anvertrauten Kasse entnahm.

Über die Zudringlichkeit der Frauen den Gefangenen gegenüber wurde wiederholt in der Presse geklagt. Eine bemerkenswerte Szene vor Gericht wurde erst kürzlich geschildert. Ein Angeklagter wurde im Gerichtssaal aufgefordert, sich zu entkleiden, um eine Verwundung, die er sich bei einem Diebstahl zugezogen hatte, an Ort und Stelle begutachten zu lassen. Der Vorsitzende forderte die Frauen des Publikums auf, falls diese Entkleidungsszene sie geniere, hinauszugehen / »eine Anregung, der keine der im Zuhörerraum anwesenden Frauen nachkam«.

Über die Vermehrung der Geschlechtskrankheiten während des Krieges haben Ärzte wie Geheimrat Prof. Neisser Betrachtungen angestellt. Besonders wurde hervorgehoben, daß sich nicht nur die im Felde stehenden Männer, sondern auch vielfach die zurückgebliebenen Ehefrauen, während ihre Männer im Kriege waren, infizierten. Sogar die erblindeten Soldaten, die aus den Lazaretten entlassen werden, können sich der weiblichen Geschlechtsangebote kaum erwehren!!

Es bestehen bereits, wie ich von höherer militärärztlicher Seite erfuhr, zwei Geheim-Lazarette für / schwangere Krankenschwestern.

Die brutalen Eheszenen, Gattenmorde und Selbstmorde, die sich aus Ehetragödien ergaben, / das alles füllte auch während der Kriegszeit die Rubriken der Tagesblätter.

Vor dem Kriege aber war es so weit gekommen, daß auch die augenfälligsten Ausartungen des Erotismus / gar nicht einmal beachtet wurden. Es schien, als ob Menschen, die Dinge taten, durch die, wenn auch nur ein Bruchteil davon bekannt wurde, ihre ganze Existenz und ihre Ehe sofort einstürzen mußte, sich überhaupt gar keine Gedanken darüber machten, denn sie betrieben diese Dinge mit einem schamlosen Zynismus. Andere, die darum wußten, machten wohl ihre Witze darüber, / aber auch sie waren anscheinend sich nicht darüber klar, was das eigentlich bedeute. Wozu unter solchen Verhältnissen überhaupt Ehen geschlossen wurden, ist nicht recht ersichtlich. Es sei denn, um sich das Vermögen einer Frau anzueignen.

Gerade deswegen und nur deswegen, weil die Vermögensverhältnisse oft auf eine unlösliche Art verquickt sind, weil eine Frau ihr Hab und Gut nicht mehr herausbekommen kann, weil der Mann, dem sie es in unseligem Vertrauen ausgeliefert, es längst durchgebracht und verwirtschaftet hat, / darum nimmt jedes Unglück, welches den Weiterbestand einer Ehe unmöglich macht, so katastrophale Dimensionen an, darum liest und hört man so oft von Selbstmorden solcher unglücklichen Frauen.

In der Tat: wie kann eine Frau von einem Menschen weggehen, wenn sie ihm ihren ganzen Besitz zurücklassen muß, ihn in keiner Weise von ihm herausbekommen kann und fürchten muß, daß er seinen Verpflichtungen nicht nachkommen wird. Bei einer Frau, die sich darüber klar ist, daß der Verlust des materiellen Rückhalts gleichzusetzen ist mit dem Verlust des Lebens, die sich kein X für ein U vormacht und sehr genau weiß, was das heißt, / aller Mittel entblößt, in diesem Leben dazustehen, / wird sich daraus ein Konflikt ergeben, der sehr oft mit dem Selbstmord endet. Warum diese so ganz und gar zur Ehe untauglichen Männer, die, / kaum daß die Ehe geschlossen ist, sofort mit der untersten Tiefe sich in verbrecherhafte Verbündelungen einlassen, überhaupt sich verheiraten, kann oft gar keine andere Deutung finden als die, daß es von vornherein auf das Vermögen abgesehen war. Was so ein Geselle, der sich mit Ratten der Gosse liiert, in der Ehe, während der Ehe aufführt, was für Situationen er im »ehelichen Heim« schafft, was für ein unheimlicher Kometenschweif von Sexual-Delikten seinen ganzen »Weg« markiert, das zeigt uns so mancher Blick ins Leben, z. B. in die Scheidungsakten der hilfesuchend in unsere Büros kommenden Frauen.

Eine Frau, die erst nach der Trennung den vollen Umfang der Verfehlungen ihres Mannes erfuhr, auf ganz überraschende Art, wurde, / obwohl sie ja schon aus dieser Ehe entkommen war, / vor Ekel und Entsetzen schwer krank, so wie ja auch der Reiter vom Bodensee vom Schlage gerührt wurde, als er nachträglich erfuhr, welcher Art sein Ritt gewesen war. Die Frau erkrankte an nervösem Erbrechen und konnte monatelang, wegen der Ekelvisionen, die sich im Zusammenhang mit dem Mann und seinem Treiben ergaben, keine Mahlzeit bei sich behalten. Das Vermögen der Frau hatte er verwüstet, teils mit Dirnen, die vielfach ihn / »in der Hand« hatten, teils mit ganz unsinnigen Spekulationen, in die er, / da es sich um einen ursprünglich geschäftlich tüchtigen Mann handelte, / nur durch sein Lotterleben so tief hineingeraten konnte, obwohl das Fiasko sonnenklar war. Denn er spekulierte erstens ohne Rücksicht auf Existenz und Zukunft der Frau; war er ruiniert, / nun, er konnte sich immer ernähren, und was mit ihr geschah, konnte ihm, dem Mann, den längst von dieser Frau ein Abgrund von Finsternis schied, einerlei sein. Ein Mensch, dessen intime »Freundinnen« sich aus der untersten Sphäre rekrutieren, der dadurch zum Todfeind der eigenen Frau wird, deren Moral-Fluidum ihn belästigt, der beständig mit allerhand Gelichter gegen diese Frau im Komplott ist, beständig mit ihr Zusammenstöße hat, weil er die Frau wegen dieses Gelichters »ankläfft«, der all sein Tun und Treiben verbergen und mit immer neuem Trug bedecken muß, / der verblödet und demoralisiert in jeder Hinsicht, auch sozial. Er schießt in seinem Beruf einen Bock nach dem andern, er überblickt keinen einzigen seiner Schritte mehr, er ist, mit einem Wort, vollständig in seinen geheimen Umtrieben in der niedersten Zone / verkommen.

Es gibt Situationen des vollkommenen Fehlschlags, des Ruins auf allen Linien, Situationen, aus denen man keinen Ausweg mehr sieht, der hier subjektiv möglich wäre, / in denen der Mensch am Ende seines Strebens, Wollens, Planens und Könnens ist und nichts anderes mehr tun kann, als sein Schicksal einer höheren Macht in die Hände legen.

Die Rettung liegt meist nur in der subjektiven Umwandlung der beteiligten Personen und damit ihres Verhältnisses zueinander, / wie denn schwere Heimsuchungen tatsächlich als »Prüfungen« zu betrachten sind (auch das Glück ist eine Prüfung), / deren höherer, geheimer Zweck wohl der ist, / den Charakter in bestimmten Punkten umzubilden, / zu erneuern.

Und darum muß dieser Krieg eine Änderung bringen! Darum darf es nicht so weitergehen, als ob dieser Krieg nicht gewesen wäre, darum muß sich Leben, Denken und Fühlen der Menschen, ihr Tun und Lassen, ihre Art, das Leben anzusehen, ihr Gemüt, durch ihn gewandelt haben. Bleibt die »Erneuerung« / die Metanoia! / aus, so war dieses Weltgericht zu wenig, und es wird kein Ende nehmen oder sich bald wiederholen …

II.
Erotismus in der Mode

Ich erwähnte an früherer Stelle jene Sorte Mädchen, die sich von der Straße weg ihr »Verhältnis« holen, und gab der Meinung Ausdruck, daß man sie schon an ihrer Kleidung erkenne. Diese Kleidung ist ein aufs Sexuelle gerichteter Ausputz billiger Konfektion. »Sage mir, wie du dich kleidest, und ich sage dir, wer du bist.« Eugen Diederichs, der in seiner Zeitschrift »Die Tat«, Oktober 1915, vortreffliche Worte über die organische Entstehung einer wirklich vom Ausland unabhängigen deutschen Frauentracht gefunden hat. Und ich sage dir sogar, wer und was deine Zeit ist. 1913 war eine Damenhutgarnierung modern und populär, die eine getreue imitatio membri virilis in statu erectionis darstellte. Ein solches membrum, aus Samt oder Seide, prall ausgestopft, so befestigt, daß es etwas labil blieb, ragte auf den Hüten der »Damen«. Der Phalluskult war also hier zu offenem Ausdruck gekommen. Der Humpelrock, der die Schenkelpartie aufs engste umspannte und den man sogar bei Schwangeren sah, gehört in dieselbe Kategorie. Es war bezeichnend, daß man, mit der veränderten Stimmung, die der Krieg brachte, sich plötzlich des Humpelrocks schämte und den weiten Rock wieder einführte, trotz der Stoffverschwendung. Im übrigen ist die Kleidung einer wirklich distinguierten Frau (hier gebrauche ich das Fremdwort mit Absicht) von derartigen Schwankungen vollkommen unabhängig; sie wird aber auf der Straße alles Auffallende vermeiden, daher auch die neudeutschen, idealistisch überbetonten, wallenden Gewänder, die für Dantes Beatrice paßten, als sie am Arno wandelte, aber nicht für die Frau der modernen Großstadt, die sich in die Untergrundbahn hineinzwängen muß.

Die provokante Straßenkleidung wurde u. a. auch einmal als »orientalisch« bezeichnet. Die Mode zeigte allerdings, z. B. im geschlitzten Rock, in dem immer pompöser werdenden Kopfschmuck auf Bällen, mit ragendem Gefieder usw. einen orientalischen Zug, insofern, als der Prunk und Stil des Morgenlandes, der Stil, der sich etwa bei dem Wort Babylon in unsre Vorstellung drängt, hier im Abendland, in den kläglichsten Nachahmungen, sich auszudrücken sucht. Meist in dem unmöglichsten, und, bei den Massen, dürftigsten Material und bei den unpassendsten Anlässen. Es ist gar nichts dagegen zu sagen, daß bei geeigneten Gelegenheiten, nämlich bei Festen, / bei Festen der Geselligkeit und besonders bei Festen / der Liebe, / zu Zwei'n, / Eleganz und Prunk entfaltet wird. Schmuck, kostbare, verführerische Gewandung gebührt der Frau, die diese Gewandung, diesen Schmuck zu tragen versteht.

Aber diese sexuell provokante Kleidung in allerdürftigstem Material, auf der Straße, / die ist wahrlich so unorientalisch wie möglich, schon wegen ihrer hervorragenden Geschmacklosigkeit.

Die sexuelle Provokation in der Straßenkleidung ist ausschließliches Reservat des Abendlandes und findet sich nirgends im Morgenland. Nirgends verhüllt sich das Weib mehr, als im Orient. Sogar die orientalische Prostituierte, die Odaliske, verhüllt sich, wenn sie auf die Straße geht. Ich selbst sah in der Kasbah von Algier solche Frauen auf dem Balkon ihres Hauses und sah dann, wie sie, verhüllt, auf die Straße gingen. Das größte Grauen des Muselmans ist ihm der Straßenausputz der europäischen Frau. In dem bekannten Briefwechsel eines türkischen Diplomaten mit seiner (einzigen) Frau, der in Deutschland veröffentlicht wurde, schildert es der Mann als das größte Kuriosum, daß hier die Frau sich auf der Straße kostbarer kleide, als / zu Hause, für den Mann. Die Orientalin entfaltet Prunk besonders in Hausgewändern, nicht aber auf der Straße.

Da das kleinbürgerliche Element hier das überwiegende ist, so kommt es in der Mode zu einer kitschig-billigen Überbetonung aller Modetypen, zur Ausführung gewagter Modelle, die kostbares Material erfordern, in minderen Stoffen, / mit starker Herausarbeitung des sexuell Provokanten.

Jene Sorte Mädchen, die sich nur in Berlin »Damen« nennen können, bei denen sich die wahlloseste Geschlechtsprovokation schon in der ganzen, stark ans Komische streifenden Aufmachung, im Blick und besonders im Gang ausdrückt, klappern auf der Straße auch in hohen Hackenschuhen, wie sie eine wirkliche Dame höchstens im Salon tragen würde, und auch da nur in gediegenstem Material und in vollendeter Ausführung. Was den Gang dieser Wesen betrifft, so muß man dabei an Heines Gedicht von der Gudelfeld denken.

Auch Tänze wie der Tango, qui propter pulsus in eo peractos coitum tangit, gehören hierher. Derartiges findet sich im Orient nur bei der gewerbsmäßigen Prostitution, etwa im Bauchtanz, / den das Abendland daher importieren mußte. Ich sah ihn vorgeführt auf der Rheinisch-Westfälischen Industrieausstellung in Düsseldorf in einem für anständige Familien berechneten Weinlokal Die Ausstellung habe ich geschildert in der Novelle: »Annie-Bianka, eine Rheingeschichte« (Verlag Hermann Seemann Nachf., Berlin 1903), die das Sexualproblem der »cérébrale« behandelt..

Als ein Ausdruck für Moden und Sitten der modernen Großstadt kann es auch angesehen werden, wenn ein junges Ehepaar, das während des Krieges wohlhabend wurde, beim Umzug von der bisherigen einfachen in eine pompöse Wohnung ein Kunstblatt in Folioformat als Anzeige des Wohnungswechsels verschickt, und zwar eine Radierung, darstellend einen nackten, grimmig aussehenden Mann, von stark entwickelter Geschlechtlichkeit, vor dem ein Mann und ein Weib in Anbetung im Staube liegen. Darunter steht: E. u. H. X. verzogen von – – – nach – – – Telephon –. Die ganze moderne Großstadt liegt darin, das ganze / Babel. Und dies / zur Kriegszeit!

Von erotischer Bedeutung im entgegengesetzten Sinne, im Sinne der erotischen Defensive der Frau, sind besonders zwei Symbole der weiblichen Kleidung, von denen sich das eine im Morgenland zum unentbehrlichen Requisit entwickelte, während das andere im Abendland bei entsprechenden Anlässen seine Verwendung findet. Es sind dies: Schleier und Schleppe. Weil der Orientale den heißesten Mannestypus hat, legte er um sein Weib und seine Tochter im Morgen- wie im Abendland den Schutzwall strengster Moralgebote, die im Morgen- wie im Abendland ihre Symbole gefunden haben.

Die Schrecken, zu denen hier das Geschlechtsleben entartet war, waren derart geworden, daß man den Instinkt des Orients begriff, der das Weib, das rein bleiben soll, in dichte und undurchdringliche Schleier hüllt. Nur hätten hierzulande / sich die Männer verschleiern müssen.

Einen ähnlichen Sinn, wie im Morgenlande der Schleier, hat im Abendland, / wenn man ihn zu deuten versteht, / die Schleppe. Die Schleppe ist die konkret-symbolische Übersetzung für ein sehr vorhandenes Gefühl der vornehmen Frau. Sie bedeutet: Zehn Schritt vom Leibe! Noli me tangere! Die Schleppe ist das Symbol der Unnahbarkeit einer Frau. Darum wird die Schleppe um so reicher, je größer die Distanz ist, die notwendig wird, also bei feierlichen Anlässen, und sie erreicht ihr Maximum in der Courschleppe. In der Verfilmung des Kellermannschen Romans »Der Tunnel« tritt die Darstellerin der Ethel Lloyd in der Hochzeitsszene mit einer Hermelinschleppe in Erscheinung, die den Mann, der ihr unmittelbar folgen will, MacAllan, / zurücktreten macht: er muß beiseite treten, wie ein Diener (der Dienst vor der Frau / Kayßler hat es wundervoll verstanden) und warten, bis ihm das Ende der Schleppe die Gefolgschaft gestattet …

Es gibt einen Typus Mann, mit dem man eigentlich immer nur in der Schleppe verkehren dürfte, und der wahrscheinlich auch dann auf ihr herumtreten würde, der die Intimität, / die Entkleidung oder leichtere Schürzung, / sofort mißbraucht, die Kostbarkeit einer Frauenseele mit Fäusten bearbeitet und mit der Roheit des Zuhälters auftritt, sobald auch nur das »Sie« mit dem Du vertauscht wird. Aus dem Entsetzen darüber, hier jemals eine Annäherung möglich gemacht zu haben, aus den Anstrengungen, die es kostet, sich dieses zerstörend eindringende Element vom Leibe zu halten, das »Sie« womöglich wieder herzustellen, alle die »Gebild' von Menschenhand«, die die rohen Kräfte zähmen und die »die Elemente hassen«, hier als Schutz / und Abwehr wieder aufzurichten / wird man erkennen, daß man in eine Falle des falschen Eros geraten ist, / die die Menschenwürde kosten kann, welche die Liebe in höchstem Maße gibt.

III.
Geselligkeit

Nicht nur in den Fragen des öffentlichen Lebens, sondern ganz besonders im Hinblick auf die Entwicklung einer belebenden und entlastenden Geselligkeit ist nur von einer Ergänzung der verschiedenen bestentwickelten Elemente einer Nation jemals wieder eine Blüte zu erwarten. Das Gesellschaftsleben liegt bei uns vollständig danieder. Einen Salon, wie es ihn zur Zeit der Romantik gab, dessen Mittelpunkt natürlich die höchstkultivierte Frau war, / suchen wir heute vergebens. Das Zeitalter der Maschinentechnik, des Kapitalismus, der Zeitung und der öffentlichen Versammlung hat den intim geselligen Kontakt der Menschen überflüssig, ja unmöglich gemacht. Wir haben zwar Kasten-Festlichkeiten, deren leeres Gepränge sich durch einen parvenühaften Zug kenntlich macht und von wirklich geselliger Kultur auch nicht einen Schimmer bietet, hingegen in seiner lächerlichen Luxusentfaltung manche Existenzen, die da glauben durchaus mitmachen zu müssen, ruiniert, / aber wir haben keine gesellschaftlichen Zentralstellen der inneren Kultur.

Was nun das öffentliche Vereins- und Versammlungsleben betrifft, welches sich seit der Erringung des Koalitionsrechtes in großartigstem Maße entwickelte, so wäre es töricht, seinen bildenden Wert zu verkennen; vielmehr ist hier tatsächlich Gelegenheit geboten, sich über alle Fragen des öffentlichen Lebens, über alle Interessen der Nation und über manches Bemerkenswerte aus der Kultur fremder Nationen zu unterrichten. Aber: persönlich befreiend, subjektiv entlastend / ist dieses Versammlungsleben auch nicht im geringsten. Es fehlen vollständig die psychischen Befreiungen, es fehlt die subjektive Erweiterung der Persönlichkeit, wie sie sich durch die Strömungen im intimen Kreis ergibt, wenn es sich um jene feinste Blüte der Geselligkeit handelt, wie wir sie im französischen Salon und in Deutschland nur in den Salons der Frauen der Romantik fanden.

Das nie wieder erreichte gesellschaftliche Genie war in Rahel Varnhagen verkörpert, deren Gespräch wie der Brunnen des Lebens war. Ein automatisch arbeitender Kasten- und Klassengeist trennte damals noch nicht die Schichten der geistig Hochstehenden vom Adel und von den Reichen und Mächtigen. Unter Rahels Tischgästen waren fast täglich, ebensowohl die führenden Geister als die Fürsten der Nation. Der Hochadel, der Geldadel und der Geistesadel der Zeit versammelte sich bei ihr. Und wenn ein Literat heute von der »intellektuellen Jüdin« in einem Tonfall spricht, durch den er sie verächtlich oder lächerlich machen will, / derselbe, der die Frauen der Mutterschutzbewegung beschimpft, / so braucht man nur an eine Frau wie Rahel Varnhagen von Ense geb. Levin zu denken, um die ganze Jämmerlichkeit eines solchen Standpunktes sofort zu überblicken. Sie hatte, nach den schwersten Liebeskatastrophen / sie war zuerst die Braut eines Grafen Finkenstein, dann die eines spanischen Diplomaten Urquijo, / in der Ehe mit Varnhagen das Glück der vollsten Harmonie gefunden.

Der vollständige Mangel an persönlich-rhythmischem Kontakt, an sublim-geselligem Leben, an Entlastung psychischer Bedürfnisse / verschärft die sexuellen Spannungen im Organismus und ist zu einem guten Teil mit ein Grund der zeitgemäßen Nervosität.

Hier, in einer sublimierten Geselligkeit, haben wir ein Mittel ersten Ranges, / erotische Spannungen zu lösen, sie durch geistige Befreiungen abzureagieren. Diese Befreiungen bleibt uns das öffentliche Versammlungsleben, welches rein sachliche Belehrungen und rein sachliche Gruppenzusammenschlüsse bietet, bei denen das Individuum nichts und die Gruppe alles ist, / vollständig schuldig.

Gerade der sogenannte »temperamentvolle« Mensch wird sich am ehesten gegen die Fallstricke des Erotismus wahren können, weil er sich auf lebhafte Art nach außen hin ausgibt. Seine Spannungen löst er durch sein eigenes Wesen, er tritt aus sich heraus, entlastet und befreit sich, teilt sich mit, / wenn er dazu Gelegenheit hat. Darum ist die Pflege dieser Geselligkeit mit eine wichtige Kulturaufgabe, und ein persönlich belebtes, kulturell vollendetes, rhythmisch-individuelles Gesellschaftsleben ist das beste Ventil zur Abreagierung erotischer Spannungen, »elektrischer Strömungen«, ein Mittel der harmlosen Befriedigung psychischer Bedürfnisse, der Sublimierung solcher Affekte, die, wenn sie gar keine Entladung finden, / sich jedenfalls auf die Geschlechtssphäre konzentrieren.

Ein geistvoller Mann sagte einmal: Der rein gesellige Kontakt mit einer geist- und temperamentvollen Frau biete ihm einen vollständigen Ersatz, ja weitaus mehr, als / der Geschlechtsverkehr mit einer Andersgearteten.

Die Temperamentlosen hingegen / das sind im allgemeinen die schwälenden, deren Begierden nach innen schlagen und dort beständig glimmen und beizenden Rauch entwickeln. Die Orgie findet gerade bei diesen sogenannten kalten und temperamentlosen Menschen / den besten Nährboden. Die kalte Brunst / das ist die, der das Grauen anhaftet. Es gibt öde Menschen, ganz und gar temperamentlose Gesellen, denen man jedes Wort abringen muß, / deren Geheimleben ausgefüllt ist von Orgie, Unzucht und den skrupellosesten Geschlechtsexzessen. Wollte ein Dichter, nach Dante, jemals die Hölle schildern, so müßte er für das kalte Feuer, für die obszöne Brunst der »Öden«, der Temperamentlosen, nach Ausdruck suchen. Diese Beobachtung drückt sich auch in gewissen Sprüchwörtern aus, z. B. in dem Sprüchwort: Stille Wasser sind tief, / wobei nicht etwa eine psychisch tiefe Veranlagung gemeint ist, sondern womit man diese äußerlich verhaltenen, verkapselten »stillen« Menschen als solche bezeichnen will, die einfach zu allem imstande sind, / deren Geheimleben Möglichkeiten birgt, die man kaum auszudenken wagt.

Ohne daß es durch ein besonders feuriges Temperament, durch eine üppige Rasse erklärt und gerechtfertigt werden könnte, ist es im Abendland zu Ausartungen des Erotismus gekommen / die den Bestand der Ehe bedrohen. Und zwar wandeln gerade die nordischen Städte Deutschlands, wo die kühlsten, blondesten Menschen wohnen, die großen, kapitalkräftigen Hansastädte, Hamburg, Bremen, Lübeck, nächst Berlin, mit den Ehescheidungsziffern an der Spitze. Und die Bordelle sind dort in »Blüte«. Auf tausend geschlossene Ehen kommen, laut dem neuesten Nachtrag des Statistischen Jahrbuchs in Berlin 110,3, m Neukölln bei Berlin sogar 123,6 Scheidungen; Hamburg folgt mit 93,4, Bremen mit 49 und Lübeck mit 36,4. Diese Scheidungen stehen natürlich mit dem Erotismus in seinen wildesten Formen in engstem Zusammenhange.

Jede Geselligkeit, die nicht auch eine Vermischung der führenden Stände mit sich bringt, bleibt so gut wie wertlos. Die »Intellektuellen«, die heute fast vollständig isoliert sind von den Besitzenden und Mächtigen im Staate, können sich in ihrer Isoliertheit ebensowenig fruchtbar entfalten, wie die Besitzenden aus ihren engen Standesvorurteilen und ihrem in vielen Punkten begrenzten »psychischen Gesichtsfeld« Ein Ausdruck von Prof. Ernst Mach. jemals herauskommen, wenn sie nicht mit jenen Elementen, die auf produktive Art geistige Kulturströmungen erzeugen, in geselliger Weise persönlich Fühlung nehmen. Und jede Isolierung eines hochstrebenden Germanentums vom hochstrebenden Judentum und umgekehrt / wird beiderseits Rassenmängel und Rasseneinseitigkeiten verschärfen, während die auch gesellige Fluktuation dieser Elemente, / die aber auf keiner Seite durch bösartige Hintergedanken vergiftet sein darf, / die Möglichkeit einer Erweiterung aller Lebensperspektiven bietet.

Die Trägerin einer persönlichen, hochentwickelten Geselligkeit ist die Frau.

IV.
De Adonide

Sigurd Ibsen hat der Meinung Ausdruck gegeben, daß die Menschheit des 20. Jahrhunderts »von einer fixen Idee beherrscht gewesen sei, die alle andern Gedanken verschlungen hat, nämlich von einem unermeßlichen Hang zum Geschlechtsleben«, der sich auch in der Literatur dieser Zeit widerspiegelte.

Diese Überspannung des Erotismus lag sicherlich in der Zeitatmosphäre. Aber in demselben Maße, in dem die Ausartungen und Perversitäten, die Skrupellosigkeit und die Schmutzereien des Geschlechtslebens zunahmen, / verarmte die Menschheit immer mehr und mehr an wirklichem, geschlechtlichem Glück. Dennoch blieb, zumindest in den Seelen der Frauen, dieses Bedürfnis in seiner ganzen ursprünglichen Macht bestehen. Und gerade die Unmöglichkeit, es zu verwirklichen, ergab / die sexuelle Krise. Von den Qualen dieser Sexualkrise ist mir nach Erscheinen meines Buches, welches diese Krise zuerst ins Auge faßte, ein hundertfacher Widerhall in Briefen und Zuschriften zu Ohren gekommen.

»Ich habe immer das Gefühl,« / so schrieb mir ein junges Mädchen, / »es wird an der Hauptsache vorbeigeredet … und ich denke und grüble, ob ich immer Männer finden werde, die so wankelmütig und schwach sind, als ich von ungebrochener Leidenschaft und Festigkeit … So mir selbst überlassen, verwühle ich mich in mein Erlebnis, / aber ich will mich um keinen Preis zerbrechen lassen von diesem typischen Schicksal, ich will nicht. Nur helfen soll man mir, der Verzweiflung und Verödung zu entgehen. Denn ich muß verzweifeln durch diese immer wieder sich einstellenden Enttäuschungen. An das kurze Glück, das dieses Erlebnis brachte, kann ich mich infolge der Enttäuschung, des Schmerzes und des Ekels nachher kaum besinnen … Immer tiefer war auch jeder Riß gegangen, und alle sind am Ende verschmolzen zu einer einzigen Wunde …«

Hingegen schrieb mir ein Kritiker: »Nein, es gibt keine sexuelle Krise, / die besteht nur in den Köpfen einer modischen Literaturgruppe, die Menschheit weiß nichts von ihr!«

Aus einem andern Brief einer Frau und Dichterin: »Ist es doch ein Leid, an dem wir alle kranken, ein Joch, das uns alle drückt! Dieses Buch müßte mit eisernem Hammer an das Volksgewissen klopfen, aber leider war das Gewissen der Völker immer ziemlich robust.« Lulu von Strauss und Torney.

Schon 1905 gab es, allein in Berlin, 90 000 mehr Frauen als Männer; in Charlottenburg war der Überschuß prozentual noch größer: dort ergab sich in der Regel ein Überschuß von mehr als 20 000 Frauen. Derzeit gibt es in Berlin allein rund 30 000 geschiedene Frauen.

»Nein, es gibt keine sexuelle Krise, die besteht nur in den Köpfen einer modischen Literaturgruppe.«

Es heiraten überhaupt nur 60 Prozent Männer in Deutschland. Von diesen sind viele zur Ehe untauglich, schaffen unglückliche Ehen und verderben die Existenzen der Ihrigen. Die Untauglichkeitsgründe der Verheirateten teile ich in etwa 4–5 Rubriken:

1. Die Perversen, die dennoch heiraten; sie bringen namenloses Unheil über ihre Familien.

2. Die sexuell Degenerierten:

a) Die Impotenten (zumeist als Folge von Ausschweifung, manchmal auch als Folge neurasthenischer Anlage).

b) Die Geschlechtskranken, die ihre Familien mit den furchtbarsten Seuchen infizieren.

c) Diejenigen, die an Sexualhyperästhesie (Überreizung der Libido) kranken und die sexuelle Verlotterung auch in die Familie hineintragen, sie auch während der Ehe weiter betreiben, monogam nicht leben können. Sie schaffen die größten Verheerungen, / eheliches, wirtschaftliches, soziales, gesundheitliches, moralisches, seelisches Unglück jeder Art.

3. Die sozial Unfähigen, / die eine Familie nicht erhalten können.

4. Die seelisch Unfähigen, Hysteriker, die durch ihre psychopathisch-bösartige Veranlagung jeden Familienfrieden unmöglich machen; sie sind meist identisch mit den sexuell Degenerierten, / Ausschweifenden / oder Impotenten.

5. Mischtypen aus allen diesen Gruppen.

Aus diesen fünf Gruppen rekrutiert sich die Überzahl jener Männer unter den 60 Prozent, die überhaupt heiraten! …

Der Frauenüberschuß setzt sich zusammen aus denjenigen Frauen, die überhaupt nicht heiraten, / die den 40 Prozent eheloser Männer entsprechen; dazu kommt noch der besondere Zuschlag, / den der Krieg schafft; dazu kommen ferner die Geschiedenen, und dazu gehören indirekt auch solche Frauen, die zwar verheiratet sind, aber in unglücklicher Ehe leben, die also zwar formell »einen Mann haben«, aber einen solchen, der in keiner Weise ihrem Frauenleben die natürliche Erfüllung bietet.

»Nein, / es gibt keine sexuelle Krise …«

Will man Männer sehen, die so sind, wie die Frauen sich einen »Mann« vorstellen, so muß man ins / Kino gehen. Dort sieht man sie auf der Leinwand. Darum zieht es viele Frauen / dahin.

Und die Besten, die Tauglichsten, die Kernigsten und Mannhaftesten hat der Krieg verschlungen. Ver Sacrum 1916 könnte jenes Heinesche Lied heißen, das auch er schon »Frühlingsfeier« nannte, / aus dem ein erhebliches Verständnis für den Begriff der sexuellen Krise spricht. Der Frühling des Todes ist es, in dem wir 1916 sind. Es ist der Frühling der klagenden Witwen, der Frühling der hoffnungslosen, unerlösten Bräute, der Ehelosen, der Frühling der Willis, / jener um Liebeserfüllung vergeblich zu den Göttern rufenden Frauen und Mädchen, die besonders ihn anrufen, / Adonis. – – –

Adonis war der Liebling der Aphrodite, aber auch ein Liebling der Persephoneia, die ihn, allzufrüh, ins Schattenreich hinunterzog; Aphrodite aber erwirkte beim Zeus / seine zeitweilige Rückkehr. Die Adonissage und der Adoniskult sind semitischen Ursprungs, wie schon der Name besagt, der von Adon / Adonai hergeleitet ist. Zu Zeiten des Ezechiel verehrten jüdische Frauen im Adonis / Adonai die männliche Naturkraft, die, bei den Babyloniern, brutal im Phalluskult gefeiert wurde. Der babylonische Adonis hieß Dûzi. Bei den jüdischen Frauen wurde der Kultus vergeistigt, ins Metaphysische erhoben, bei den Griechen dann wieder ins Bildhaft-Sinnliche materialisiert. Über Byblos und Cypern gelangte der Kult des Adonis, des schönen, edlen, kraftvollen Jünglings, der allzu früh dem Leben und dem Weibe entrissen wurde, zu den Griechen und war hier der Ausdruck der Trauer um den zu früh verlorenen Mann und Geliebten, / also wahrscheinlich um den im Kriege gefallenen Mann, / der Ausdruck der Klage um das ertötete, verwitwete, vereinsamte Geschlecht, des zehrenden Schmerzes um die brachliegende Naturkraft. Der Trauerfeier, die sich auf den Tod des Adonis bezog, folgten aber bei den Griechen / Freudenfeste, die der Rückkehr des Adonis zur Aphrodite galten …

Ich glaube weniger, daß es sich, wie manche Forscher annehmen Vgl. Brugsch: »Die Adonisklage und das Linoslied« (Berlin 1852), ferner Greve: »De Adonide« (Leipzig 1877)., im Adoniskult um Feiern handelte, die dem »Wechsel der Jahreszeiten« galten, sondern bin der Meinung, daß die geschlechtliche Bedeutung dieses Kultes, im Zusammenhang mit dem Totenkult, unverkennbar ist. Der Zusammenstoß des heißesten, des geschlechtlichen Lebenswillens mit dem unbarmherzigen Todeswillen drückt sich, ebenso wie in den Eleusinien (denen alle jene fernbleiben mußten, »deren Herz und Hände nicht rein waren«!), / darin aus.

FRÜHLINGSFEIER. Heine.

Das ist des Frühlings traurige Lust!
Die blühenden Mädchen, die wilde Schar,
Sie stürmen dahin mit flatterndem Haar
Und Jammergeheul und entblößter Brust: /
»Adonis! Adonis!«

Es sinkt die Nacht. Bei Fackelschein,
Sie suchen hin und her im Wald,
Der angstverwirret widerhallt
Vom Weinen und Lachen und Schluchzen und Schrein: /
»Adonis! Adonis!«

Das wunderschöne Jünglingsbild,
Es liegt am Boden blaß und tot,
Das Blut färbt alle Blumen rot,
Und Klagelaut die Luft erfüllt: /
»Adonis! Adonis!«

V.
Die Bedeutung der Perversitäten

Die wissenschaftliche Erforschung des Wesens der Perversitäten, Invertierungen und Perversionen, wie sie z. B. durch die interessanten Untersuchungen von Dr. Magnus Hirschfeld über das Wesen der Homosexualität und andre Forscher erfolgte, hat ergeben, daß es sich bei diesen Perversitäten weniger um Kulturlaster als um tief eingewurzelte Anlagen handelt. Dadurch, daß nun eine riesengroße Anzahl, besonders unter den Männern, mit solchen Anlagen belastet ist, scheidet ein riesiger Prozentsatz sozial ehefähiger Männer als Partner der Ehe aus, ist für die Ehe und Fortpflanzung so gut wie verloren. Man ersieht daraus, welche furchtbaren Dimensionen diese sexuelle Krise annimmt, besonders die der Frauen, die zum größten Teil normalere Anlagen haben, wenn auch die Not am Mann, besonders die Not an dem Mann, der nicht nur Unheil über ihr Leben bringt, auch unter den Frauen schon Neigungen zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen hervorgerufen hat, die aber weniger auf eingewurzelte Anlagen zurückzuführen, sondern vielfach das Ergebnis dieser besonderen sexuellen Not sind. Dadurch, daß so viele Frauen überhaupt gar keine Gelegenheit mehr haben, ihr natürliches Zärtlichkeitsbedürfnis irgendwie auf normalem Wege betätigen zu können, daß sie entweder vom sexuellen Leben mit dem Mann überhaupt abgeschnitten sind oder nur katastrophalen Schiffbruch dadurch erleiden, flüchten sie manchmal mit ihrem Liebesbedürfnis / zueinander und erleben dabei sicherlich weniger Enttäuschungen und weniger grobe Insulten, als mit ihrem Erlebnis am Manne. Den Mann hat eben in der Überzahl das intime Leben mit der Dirne verdorben, ihn vollständig untauglich und unfähig gemacht, einer normal veranlagten Frau ein halbwegs menschenwürdiges Geschlechts- und Eheleben zu bieten. Wir sehen also die Vereinsamung auf der einen Seite, / das Anwachsen der Geschlechtsorgie und der Perversitäten auf der andern.

Die von den Forschern nachgewiesene Naturanlage männlicher Perversität in ihren verschiedenen Spielarten, welche die Erfüllung normaler Geschlechtsbetätigung einer Riesenanzahl von Männern unmöglich macht, / hat für mich, ebenso wie das Hymen und / wie der Krieg, / auch eine metaphysische Bedeutung.

Und zwar ist es hier die Natur, welche / Auslese übt, Auslese bei der Fortpflanzung. Und nicht nur Auslese übt hier die Natur, sondern sie, die die große Verschwenderin genannt wird, deutet hier an, daß sie Sparsamkeit will, / Ökonomie in der Fortpflanzung. Sie verschwendet zwar Milliarden Keime, / aber sie läßt doch nur die wenigsten zur Entwicklung gelangen. Die strengste Ökonomie aber deutet sie, unter allen Tieren, / beim Menschen an. Hier macht sie die Erfüllung der sexuellen Vollbefriedigung und die Möglichkeit der Fortpflanzung von dem Vorhandensein makellos entwickelter Normalinstinkte abhängig, besonders die Fortpflanzung und die Aufzucht der Jungen. Und mit dieser reinen Entwicklung der generativen Anlagen ist sie, die Natur, / äußerst sparsam. Durch das komplizierte Wirtschaftssystem der Kulturmenschheit, durch die Verschärfung des sozialen Kampfes, der den rohen Extralkampf zwar abgelöst hat, aber nicht minder schwer zu bestehen ist, wie jener, / verschärft sich diese Auslese, dieses Sparprinzip der Auswahl der in jeder Hinsicht Tauglichen, / aufs äußerste. Und es gehen siegreich aus dem generativen Kampf hervor: die gleichzeitig biologisch und sozial Tauglichsten; die mit den richtigen generativen Instinkten, die körperlich und triebhaft am besten Ausgerüsteten (wozu auch das Vorhandensein starker Hemmungen, besonders in der Sexualsphäre, zu rechnen ist) und die sozial zur Fortpflanzung Willigen und Fähigen; selbst ererbte soziale Güter, / also Reichtum, ist, wenn die Nachkommenschaft ihn zu erhalten versteht, als Ausdruck der Auslese anzusehen, da die, die ihn erwarben, eben tüchtig waren. Sind die Nachkommen entartet, so werden sie den Reichtum nicht nur nicht vermehren, sondern in kürzester Zeit zunichte machen; oder sie werden, trotz des Reichtums, aussterben, weil sie in ihren Sexualinstinkten degeneriert sind, wie denn überhaupt in der Sexualdegeneration bzw. -gesundheit das ausschlaggebende Merkmal für den rassigen Auf- oder Abstieg einer Familie zu finden ist. Der »Verfall einer Familie«, wie ihn Thomas Mann in seinem gewaltigen Werk: »Die Buddenbrooks« geschildert hat, vollzieht sich dort wirtschaftlich-sozial durch / Mißheiraten. Und diese Mißheiraten bedeuten einen Verfall der generativen Instinkte. Allerdings werden sie, in unsrer Ära, durch die ganze Unnatur der sozialen Verhältnisse, besonders für die Frauen, die keine Auslese mehr haben, herbeigeführt, nicht aber in einer reichen Familie, wie Thomas Mann sie schildert, in der die Mißgriffe lediglich aus einer übermäßig gespannten Besitzgier einerseits und aus sexueller Dekadenz andrerseits herbeigeführt werden.

Die Natur will, bei der Fortpflanzung, Sparsamkeit, und zwar gerade bei den höheren und höchstentwickelten Arten. Dort trifft sie die strengste Auslese und belädt die Aufzucht der Jungen mit den denkbarsten Schwierigkeiten, macht die Nährfrage zum kompliziertesten Problem und schlägt überdies eine Riesenzahl von Vertretern der Art mit Verbildungen jener Instinkte, die zur Fortpflanzung drängen. Auch hier haben wir also eine Wurzel der Monogamie, denn diese Auslese und Einschränkung ist ein Ausdruck / des monogamen Prinzips in der Natur.

VI.
Gefährliche und gefährdete Typen in der Erotik

Nicht zu übersehen ist ein Grund, warum der Eros so oft als Lebensvergifter wirkt. Die sogenannten problematischen Naturen, besonders unter den Männern, die Neurastheniker und Hysteriker, die, die an der Sexualhyperästhesie (Überreizung der Libido) kranken, die der weiblichen Nymphomanie entspricht, die sozial und geschlechtlich Wurzellosen und Unsteten / sind nicht selten / die gebornen Verführer. Sie wissen in der Erotik sich alle Tore zu einer andern Seele zu erschließen; sie ergehen sich in glühenden Balzgesängen; ihre im sozialen Leben durchaus unproduktive Art steigert sich / in der Erotik. Als geborne Lügner, / besonders Selbstbelüger von hysterischer Wirklichkeitsscheu, / entfalten sie, als Werbende, das Feiertagskleid ihrer Seele, / einen Regenbogen, einen Pfauenschweif aller Talente, die sie sehr oft in großer Zahl, wenn auch nur in Ansätzen, in Fragmenten und Rudimenten besitzen. Sie sehen sich selbst, in solchen Augenblicken, als reine Idealisten an und erwecken gerade durch den Zwiespalt zwischen dem persönlichen Ich, welches sie fingieren und der mißlichen sozialen Lage, in der sie meistens sind, in den weichen, liebebegierigen Frauengemütern Mitleid, Überschätzung, gefährliches Vertrauen, vage Hoffnung, zärtliche Liebe und brünstige Zärtlichkeit, bis zur höchsten magnetischen Anziehung.

Kaum aber haben sie ihr Ziel erreicht, so zerstiebt der Zauber, / wie mit einem Schlag. Selbst gegen ihren Willen. Es hieße zu viel verlangen, wenn man von diesen Typen erwarten würde, daß sie die Illusion einer Persönlichkeit, die sie vorgaukelten, aber niemals wirklich waren, durchhalten, d. h. aus dem Phantom eine Realität machen sollten. Im sichern Besitz, in familiärer Intimität zeigt sich dann, nackt und schamlos, ohne hemmende Scheu / ihr Charakter. Und der ist immer bei diesen Typen / brüchig und defekt. Bei den Prüfungen, die der alltägliche Lebenskampf stellt, versagen sie auf allen Linien. Ist ihre Brunst befriedigt, so empfinden sie jedes Band, welches sittliche Forderungen stellt, zuerst als »unbequem«, dann als schwere Last, sehnen sich nach Ungebundenheit und / neuer Buhlerei; nach einer Wiederholung der Taschenspielerkünste, der Jahrmarktsgaukeleien, die sie mit ihrem eignen Ich fortgesetzt betreiben. Diese Hochstapler und Abenteuerer der Liebe waren in der letzten Epoche in einer überwältigenden Massenhaftigkeit aufgetreten und haben ungezählte Frauenschicksale verdorben oder doch / schwer ringenden Frauen den größten Hemmschuh ihrer Entwicklung entgegengeworfen. Unzählige Zeitungsberichte, Prozesse und Lebensschicksale, die sich aus Ehe- und Liebeskatastrophen ergaben, erzählen uns von diesem dämonischen Einfluß solcher »Verführer« und ihrem zerstörenden Wirken im Leben der Frauen.

Eros ist für das im Ozean des Lebens dahintreibende Schicksalsschiff das, was der Magnetberg im wirklichen Ozean ist. Die Eisenteile des Schiffes, gerade seine solideste Materie / strebt dahin. Und wenn sich diese Eisenteile, die das Ganze zusammenhalten, lockern, / geht das Schiff aus den Fugen und / sinkt.

Es gibt unter diesen magnetischen Verführertypen geborne Liebhaber, aber fast niemals sind sie identisch mit dem Typus des charaktervollen, reifen Mannes, den man auch als den Vatertyp bezeichnen kann. Als Lebensgefährte kommt aber nicht der Liebhaber, sondern dieser andere Typus Mann in Frage. Und alle Katastrophen des sogenannten »gefährlichen Alters« (m. E. dauert es von 15 bis 65) entstehen nur, weil Sinne und Begierden eines Tages nach einem vollen, erotischen Erlebnis das unbezwingliche Verlangen haben und weil auch die Seele von dieser Seite (von der des gebornen Verführers) Verheißungen empfängt, / die sich später eben sehr schnell als Illusionen zu entpuppen pflegen. Durch den Mangel an jedweder Charakterstruktur ist dieser Typus Mann meist nicht einmal imstande, auch das erotische Erleben als solches »durchzuhalten«, / auch diese Illusion kann er nicht retten, / seine rohe, minderwertige Natur bricht immer wieder durch und zerstört daher auch die erotischen Gefühle. Die erotische Liebe erweist sich demnach zumeist nur als Blendwerk, während jenes andere Gefühl, welches man die Lebens- oder Charakterliebe nennen kann, auch die schwersten Prüfungen überdauert. Findet sie sich dort, wo auch das Geschlecht seine Befriedigung erlangt, / so ist hier die Gipfelhöhe menschlichen Glückes erreicht. Wer aber sich von der Geschlechtsliebe verführen läßt, mit Hintansetzung der »Charakterliebe«, / wird zugrunde gehen.

Und doch ist es so begreiflich, daß die Frau hier meistens wenig Widerstand zu leisten vermag.

»Das Heimatloseste auf Erden ist eine alte Jungfer. Ihre Unberührtheit klebt wie ein Makel an ihrer Person, anstatt daß ewige Jugend und Schönheit der Lohn ihres keuschen Leibes werde … Nicht rein genug!? … Ich grüble und grüble … Ich taste an mir herum und befühle meine schmerzende Seele … Tünche, Betrug, Schein … Das letzte in uns ist / Wahrheit!« Aus einer Schrift: »Keuschheit« von Leonore Pany (Anthropos-Verlag).

Und dennoch, angesichts der Erfahrungen, die in dieser letzten Epoche auf allen Linien gemacht wurden, kann man gerade den Frauen immer wieder nichts anderes anempfehlen, als äußerste Zurückhaltung, äußerste Vorsicht, äußerste Wahrung ihrer Weiblichkeit. Und wenn ein Mensch schon durch seine verblendeten Triebe zu Fall kam, so liegt seine einzige Rettung / in dem Wiedererwachen der Intelligenz, die durch diese erotischen Brände vollständig getrübt zu werden pflegt, in dem Sieg der reinen Erkenntnis über diese Triebe. Was der Dämon Eros aus einem Menschen, ja aus jedem Menschen, der ihm verfiel, machen kann, das zeigt uns z. B. / die Gretchentragödie. Was tut Gretchen, dieses so reine, unschuldvolle Kind, / was tut sie nicht alles unter dem dämonischen Zwange der Brunst! Gretchen / vergiftet ihre Mutter, / damit Faust ungestört nachts zu ihr kommen kann!

Es gibt ein Stück von dem modernen ungarischen Dichter Franz Molnár »Das Märchen vom Wolf«. Es wird im Lessing-Theater in Berlin gegeben. Mit großer Genialität wird da das mänadische Ausrasen der Triebe einer Frau im Traum dargestellt. Das Unterbewußtsein einer sanften, feinen braven und bürgerlichen, kleinen Frau, / geschürt in der erotischen Sphäre durch einen eifersuchtstollen Gatten, / erhebt sich, aus ungekannten Rätseltiefen der Seele, / im Traum. Viermal hintereinander wirft sie sich (im Traum), in erotischer Wut, dem Verführer, / dem Pseudoideal, an den Hals, und immer scheint er ihr »der Richtige«, bloß weil er die Brunst schürt und die Liebeseitelkeit aufs höchste stachelt. Ob er als Staatsmann, als Held, als Mime oder als Lakai kommt, / sie wirft sich ihm an den Hals, bereit, sich schleifen zu lassen, durch dick und dünn. Aber, / zum Glück, / ist es Traum geblieben, / es war eine Warnung aus einer Welt, nach der ihre unterbewußte Begierde beständig auslugte! … Erwachend findet sie den »Helden« als Besuch vor und wird, in wenigen Minuten, gründlich ernüchtert, / zu ihrem Glück. Und der Ausklang liegt in einer prachtvoll typischen Wiederherstellung des Familiengleichgewichts. Wir sehen den Ehemann erleichtert aufatmen und sich beruhigt an seinem Schreibtisch niederlassen, während die Frau, glückselig, daß das alles nur ein Traum blieb, / mit der Köchin abrechnet. Gerade diese Trivialität hat etwas Erquickendes und Erlösendes, wenn man an die Abgründe denkt, in welche die Steigerung gerade jener Gefühle, die für die erhabensten gehalten werden, / aber zumeist zu den tiefsten Erniedrigungen führen, / sie hätte schleifen müssen.

Zu den psychopathischen Erotomaninnen rechnet Prof. Dr. Albert Eulenburg sehr treffend auch / das Käthchen von Heilbronn.

Die Erotomanie kann sich bis zum temporären Irrsinn aus erotischen Motiven steigern, besonders aber zur Verdunkelung jedes sittlichen Gefühls, jedweder Rücksichtnahme, Verantwortlichkeit und Gewissenhaftigkeit und zum Verlust jeden Überblicks über das eigene Leben führen. Wohl noch nie hat es in einer Zeit ein so riesiges Heer erotischer Psychopathen gegeben, wie in der vergangenen Epoche. Es waren oder sind dies Menschen, die durch den Erotismus völlig aus dem Geleise zu werfen sind, während die, die gute Erbreserven haben, durch den Erotismus allerdings auch zeitweilig aus ihrer Lebensbahn gebracht werden können, aber dann doch wieder zurückfinden. Diese gesunden Erbreserven, / die eben sind das Entscheidende.

Ich kannte z. B. den Fall eines jungen Mädchens, welches überbegabt war. Sie stammte aus notorisch schlechter Familie. Die Mutter war Nymphomanin von intellektueller Art, die aber ihre Entgleisungen gar nicht im richtigen Lichte sah. Der Vater kommt nicht in Frage, da die Kinder in verschiedenen Ehebrüchen erzeugt waren. Die Mutter ließ ihren Mann im Stich und lebte mit einem verkommenen, aus dem Stand hinausgejagten Advokaten, den sie erhielt. Sie ließ vier Kinder zurück, zwei Töchter und zwei Söhne. Die eine Tochter geriet, mit 18 Jahren, an den typischen »ideologischen« Verführer, der im Grunde nur ein Halunke war. Mit wilder Brunst gab sie sich ihm hin und verherrlichte ihn in ihren nachgelassenen, übrigens sehr bedeutenden Gedichten, wie einen Gott. Als er sie geschwängert hatte und es sich herausstellte, daß auch gleichzeitig die andere Schwester von ihm schwanger war, / erschoß sich das Mädchen. Die andere heiratete er, / und das war ihre gerechte Strafe. Denn sie erlebte von diesem Mann, der mit ihr eine Reihe neurasthenischer Kinder zeugte, jeden Schimpf. Der eine Sohn hielt sich für einen »Übermenschen«, war aber natürlich ein Untermensch, der noch lange nicht auch nur das Niveau des Spießbürgers erreichte. Vollständig unfähig auf allen sozialen Gebieten, ein Lump und Taugenichts, hatte er doch besonderes Glück bei Frauen, und zwar gerade bei besseren Frauen, wußte sie zu rühren, ihre Phantasie zu entzünden, zärtliches Mitleid zu erwecken. Als schwerbelasteter Erotomane war er, von frühester Jugend an, Masturbant und begann seine ersten »Ausschweifungen« mit / dem eigenen Kindermädchen. Es folgte dann eine Doppelkette von Verhältnissen zur Prostitution einerseits und zu Mädchen aus guter Familie andererseits. Er war jederzeit und in jeder Lebenslage / sexuell beschäftigt. Während seine Studiengenossen lernten und strebten, war er immer in »Romane« teils tragischer, teils lasziver Art verwickelt.

Dieser Typus wird immer, / erwachsen, / ein Mädchen aus guter Familie verführen und damit ihre Eltern zwingen, sie mit ihm zu verheiraten. Als Ehemann wird er sich nicht genieren, irgendein vorbeikommendes Laufmädchen in ein dunkles Haustor hineinzuziehen und dort mit ihr seine Gelüste zu befriedigen. Und während seine Kollegen Karriere machen, bleibt er zeitlebens auf der untersten Stufe, lebt als Schmarotzer der Familie seiner Frau und steht, selbst im Greisenalter, noch immer / im Haustor, / sexuell beschäftigt, »einsam« oder mit einer entsprechenden Partnerin. Als Greis wird er sich jungen, armen Mädchen als Mäzen anbieten, sie in ein Zimmer locken und dann die unglaublichsten Dinge von ihnen verlangen … Um die Scheidung von der wohlhabenden Frau zu verhindern, wird er ihr ein Rudel Kinder erzeugen, die diese unheilvollen Anlagen weitergeben.

Typen dieser Art sind nicht etwa vereinzelt, / sie überschwemmen die ganze Gesellschaft. Sie zeichnen sich meist auch durch einen besonderen »Lebensmut« aus, der in Wahrheit einer frechen Herausforderung des Lebens auf allen Gebieten gleichkommt.

Nun stelle man sich aber vor, was eine Frau von der Liebe, von der Ehe erwartet und was, in Wahrheit, in unzähligen Fällen sich dann als ihr wirkliches Schicksal entpuppt. Hilflos, wie vor einem furchtbaren Rätsel, wird sie vor diesem Schicksal stehen. Denn wenn man mit einem Menschen sein ganzes persönliches und soziales Los verknüpft hat, wenn man sich ihm als Geschlechtswesen und als seelische Persönlichkeit auslieferte, wenn man seine Verhältnisse mit den seinen verband, kann man aus einer solchen Verstrickung nicht so leicht wieder herausfinden. Sie kommt durch einen derartigen Gemahl, der mit weiblichen Wesen der Tiefe aufs allerintimste »verbündet« ist, / in den Schnitzler sehen »Reigen«, physisch und psychisch; sie kommt in den Reigen mit all dem Gesindel, mit dem ihr Ehekumpan Beziehungen unterhält und nicht nur mit diesem Gesindel allein, sondern mit allem, was mit ihnen zusammenhängt, bis zum Strolch hinunter, mit dem diese Dirnen geschlafen haben, / diese Dirnen, mit denen ihr Gemahl / auch schläft! … Sein Körper und seine Seele, / seine Person, / ist das Kettenglied, durch welches die unglückselige Frau in den »Reigen« kommt mit dem Abwurf und Wegwurf des Lebens, von dessen Existenz sie nicht einmal etwas ahnt.

Unter diesen schwerdegenerierten sexuellen Missetätern gibt es die verschiedensten Typen, neben schüchternen und stillen, die aussehen, als ob sie nicht bis drei zählen könnten, die jeder für die anständigsten Menschen hält, wieder andere, die sich offenkundig als Taugenichtse erkenntlich machen, immerhin aber den Frauen gegenüber noch Haltung wahren; und schließlich die ganz brutalen, die geborenen Zuhälter, die meistens auch Maulhelden klobigster Sorte sind. Es sind dies die Leute, die immer den Mund vollnehmen, die die ganze Welt mit dem Mund einreißen und mit dem Mund wieder aufbauen, die eine phantastische Großmannsillusion von sich selbst haben, / aber zusammenklappen, wenn sie eine Kiste zunageln oder bei einem Umzug einen Korb hochheben sollen. Alle diese Typen aber sind schlechte Vererbungsmischungen. Es sind dies die Tschandalen- und Köternaturen unter den Menschen, die mit Reinrassigen nicht leben können.

Es gibt kein sichereres Merkmal reiner Rasse, als das Bedürfnis nach Reinerhaltung der erotischen Sphäre. Je höher der Mensch steht, je reiner seine Rasse ist, desto monogamer und desto monotheistischer wird er empfinden. Sogar ein Tier, das Rasse hat, der Rassehund z. B. wird, je reiner seine Rasse ist, um so mehr in seinem geschlechtlichen Begehren von seinen Artgenossen abstechen. Es wurde mir erzählt von einem Edeltier, einem Terrier, der eine bestimmte edelrassige Hündin konsequent umwarb. Man sah ihn ganz elend werden vor lauter Liebe, während er in der kühlen Jahreszeit vor ihrer Tür lag; alle »Sprünge«, die seine niederen Artgenossen machten, waren ihm gänzlich fremd, er nahm an den allgemeinen Hundeorgien nicht teil. Er suchte nur sein Terriertier und nichts anderes.

Darum muß besonders vor Mesalliancen im Rassensinne, bei denen man in »schlecht gemischte« Gesellschaft gerät, gewarnt werden. Denn es kann vorkommen, daß eine Frau, z. B. eine Jüdin, die ganz und gar, bis in jeden Nerv / Rasse / und ein Charakter ist / von irgendeinem ganz haltlosen, zerfahrenen, erblich belasteten, dunkel gearteten Menschen, dessen Vorfahren sich, vielleicht in Holland, mit Javanen, gelben Elementen, mischten und überdies Potatoren waren, ständig damit drangsaliert wird, daß er sich mit seinem »Germanentum«, welches in Wahrheit in ihm am allerwenigsten repräsentiert ist, ihr gegenüber in die Brust wirft. In einem Fall, den ich beobachtete, handelte es sich um einen solchen Menschen, der noch dazu mit Jähzorn erblich belastet und moralisch durchaus minderwertig war, / schwächlich, verzärtelt, hysterisch lügenhaft, infantil in vielen Zügen, eitel und bübisch, dabei wild, brutal und roh in seinen Umgangsformen, weil ihm die Kinderstube fehlte, immer herumbrüllend, wie ein Säufer, grenzenlos frech; dazu von einem fast unglaubhaften Egoismus, der sich auf naive Art im Kleinen und Großen ausdrückte, / alles gewalttätig an sich riß, was ihm paßte, immer nur auf seinen Kadaver bedacht war, zu jeder geregelten Arbeit unfähig, von gieriger Genußsucht, in jedem Sinne genäschig bis zur Lächerlichkeit / er hätte sich am liebsten von Delikatessen ernährt / und verbuhlt durch und durch. Dieser Mann führte, in Verbindung mit einer durchaus ernst gearteten Frau / seine »Rasse« als zweites Wort im Munde! …

Diese furchtbaren Erfahrungen in der Sexualsphäre sind überhaupt deshalb so häufig, weil der Mischlingstypus im schlechten Sinne (es gibt auch gute Mischungen), der Tschandalentypus, der immer / dem Charakter nach ein Chamäleon ist, über ganz Europa versprengt ist, wozu die vielen Kriege sicherlich ihr Teil beigetragen haben. Mit einem Menschen von wirklichem Vollblut wird man niemals erniedrigende Erfahrungen machen. Unglückliche und verfehlte Sexualbündnisse stammen meist aus dem Antagonismus zwischen rassigem Vollblut und dem Tschandalen- oder Kötertyp.

Ein Mensch von reiner Rasse wird die absolute Unfähigkeit, in der Sexualsphäre schmutzige Versudelungen und Verrätereien zu schaffen, immer, in jeder Lebenslage, deutlich empfinden. Und er wird lieber ins sichere Verderben gehen, lieber seine ganze Existenz preisgeben, ehe er ein Ehebett entweihen, ehe er im Betrug leben könnte und zwar im Betrug jeder Art, besonders aber im erotischen Betrug, in einer Mehrseitigkeit der sexuellen Beziehungen. Wenn eine Frau z. B. aus einer Ehe hinausgeht, um mit einem andern Mann zu leben, / so kann das ein verfehlter Schritt sein, es kann vielleicht auch unter Umständen als ein Fehltritt bezeichnet werden (unter Umständen aber auch als ein sehr richtiger Schritt), es kann ein Mißgriff für ihr ganzes Leben sein, es kann auch ein Stück Rücksichtslosigkeit bedeuten, aber es ist nimmermehr / ein Geschlechtsverrat, ein Ehebruch im eigentlichen Sinne, es ist kein Bruch der Monogamie, sondern, im Gegenteil, ihre äußerste Besiegelung. Denn wenn man geht und dem Andern ehrlich seine Freiheit wiedergibt, und wenn man bis dahin das Band makellos rein erhielt, so hat man niemanden getäuscht, niemanden mißbraucht, / und darauf allein kommt es an.

So wird ein reinrassiger Mensch handeln, der eine sexuelle Beziehung nicht mehr aufrechterhalten und eine andere knüpfen will, ob zu recht oder zu unrecht, kann nur nach dem einzelnen Fall beurteilt werden; zumeist wird dieser Mensch, wenn es eine Frau ist, auch bei diesem Schritt das Opfer einer Täuschung werden, weil sie zu diesem Schritt zumeist gedrängt wird durch eine / unerträgliche eheliche Atmosphäre, die der Mann, in Verbindung mit der Unterwelt, um sie herum geschaffen hat.

Das Tschandalentum unter den Menschen, das ist jene Sorte, die eine Mehrseitigkeit der sexuellen Beziehungen genau so leichthin durchführen kann, wie der Kötertypus unter den Hunden. Dieser Tschandalentypus ist es, der kein Ehebett rein erhalten kann; dieser selbe Typus hegt einen eingebornen Haß gegen die freie, stolze, wahrheitsmutige Natur. Sie auf schleichende, hinterlistige Art zu verraten, ihr den Boden zu unterwühlen, / ist sein Lebenselement. Dieser Typ kennt auch keine Wendung, keinen Umschwung, keine Strömung und Entwicklung, sondern / er beharrt, / und rennt immer tiefer in die Wirrnis, / beharrt auf die verbockteste Art. Diese Sorte Mensch, in dessen Blut die ungünstigsten Mischungen der Ahnenreihe ihr Spiel treiben, ist es auch, die am widerstandslosesten der Tiefe verfällt. Er ist immer mit der Tiefe im Komplott, er kennt besonders gegen die geschlechtliche Tiefe keinen Widerstand und verfällt am ehesten / in sexuelle Hörigkeit; während er gegen die höhere Sphäre einen bis zum Irrsinn gesteigerten, undurchbrechbaren, störrischen Widerstand leistet, ist er vollständig modellierbar in den Händen von Dirnen. Hier verfällt er jeder Suggestion, hier fühlt er sich geschmeichelt, hier fühlt er sich »erhoben«. Geistig ist für diese Art Mensch der fremdeste Affekt: jede Art von Enthusiasmus. Sie scheinen, nach außen hin, meistens vollständig temperament- und farblos; im öffentlichen Leben kennzeichnet sich dieser Typ durch ein beständiges Lavieren, sie bekennen nie Farbe, treten nie aus sich heraus, und ihnen dankt man, wenn sie zufällig in die Literatursphäre geraten, die Produktion jener Theorien, denen man nicht auf den Grund gehen darf. Sie können den Bodensatz ihres Lebens und Seins niemals enthüllen, denn sie können ihn nicht verantworten, sie müssen ihn verschleiern.

Im Eheleben ist der Konflikt mit einem solchen Menschen an der Tagesordnung. Denn sein Geheimleben erfüllt ihn durch und durch mit beständigen seelischen Gärungen, die man auch seelische Blähungen nennen könnte. Es ist dies eine seelische Verstockt- und Verstopftheit, die sich niemals entlädt und löst und der erst ein sehr kräftiger »Trank«, ein Purgiermittel vom Schicksal gebraut werden muß, ehe sie den natürlichen Ausgang findet. Die guten Instinkte und Regungen, die dieser Typus von Natur aus hat, glaubt er krampfhaft in sich unterdrücken und betäuben zu müssen. Er glaubt auf diese Art besser im Leben »vorwärts« zu kommen, wie er überhaupt beständig mit Schlichen und dummpfiffigen Listen manöveriert. Beständig umlauert er auch den Menschen, mit dem er lebt, und erhorcht dabei nur, wie der Horcher an der Wand, stets / seine eigene Schand. Denn er wird, während er den geraden und reinlichen Menschen heimtückisch umlauert und hinterhältig beschleicht, eben immer wieder nur den Kontrast zwischen dessen Natur und der seinen / erhorchen. Mit seiner »Taktik« baut er im Laufe weniger Jahre ein Riesengebilde von Lug und Trug und Verrat auf, welches eine Weile hinter den Kulissen bleibt, bis es von selbst in Bewegung gerät und alles, besonders aber sein eigenes Leben, erschlägt.

Der hervorstechendste Zug eines Menschen von solcher Art ist die Skrupellosigkeit. Dinge, von denen ein Tausendstel einen andern in einen Abgrund von Gewissensqual stürzen würde, sind bei ihm / möglich. Bei ihm ist alles möglich. Dieser Typus ist einfach zu allem imstande. Und nicht nur die Skrupellosigkeit ist sein besonderes Merkmal, sondern er ist auch mit einer psychischen Krankheit behaftet, die man die »Drehkrankheit« nennen könnte. Er »dreht« sich, / wie ein Schlangenmensch, dem der Kopf durch die Beine gezogen ist. Und nicht nur sich selbst, sondern die Dinge weiß er, als Drehwurm, so lange zu »drehen«, bis sie nach dem Gegenteil von dem aussehen, was sie sind. Ja der Wahrheit selbst dreht er / den Hals um, / daß sie das Gesicht / in den Nacken bekommt …

So verschlossen und unzugänglich er dort auftrat, wo er sich doch einst ein Schicksal aufbauen wollte, so umgänglich und zerschmelzend wird er durch jede Berührung mit der Tiefe. Jede Dirne »ohne Ansehen der Person«, von den lächerlichsten bis zu den gefährlichsten Abarten, vom groteskesten Aussehen, von ekelhaftestem körperlichen und seelischen Habitus / kann ihn haben, kann ihn »nehmen«.

Einmal aber hat auch er / geliebt; einmal im Leben hat auch er ein höheres metaphysisches Gefühl gekannt, welches nicht nur von den Geschlechtsorganen aus dirigiert wurde. Und er liebte, / einmal in seinem Leben, / eine Frau, die ihm wie ein Wesen höherer Art erschien und als solches in sein Leben trat. Wie ja Adams erste Frau auch nicht Eva, sondern / Lilith war. Jene Lilith, die im Faust flüchtig erwähnt ist.

»Betrachte sie genau:
»'s ist Lilith, Adams erste Frau!«

Nach einer modernen Dichtung Isolde Kurz: »Die Kinder der Lilith«. war Adams erste Frau ein Wesen, das zu den Gestirnen aufzusteigen vermochte und auch von ihm wollte, / daß er aufsteigen möge. Und schon lag auf dem Amboß das Flügelpaar, das er mit ihrer Hilfe geschmiedet hatte und das ihn / aufwärts tragen sollte … Da kam Eva, / aus erdiger Masse, dumpf und geil, / und Adam verfiel ihr, verjagte die Lilith und zerschmetterte, mit kannibalischem Behagen, / das Flügelpaar. Lilith entfloh. Sie hatte aber ein Kind hinterlassen. Und dieses Kind hat Nachkommen in der Welt. Da aber Lilith flüchtete, wurde Eva / die Stammutter des Menschengeschlechts … Ihre Abkömmlinge sind zahlreich, und sie trösten sich über das Vorhandensein des Lilithkindes mit den Worten: » Er ist Einer, wir sind Viele.« Isolde Kurz: »Die Kinder der Lilith«.

Lilith ist das moralische Agens des Mannes, das Prinzip des Ewig-Weiblichen, / die erste Frau. Eva, in dieser Darstellung, ist die erste Dirne, / die ihn »erfolgreich« immer tiefer ins Grobgeschlechtliche hinabzieht, auf Kosten seines Menschtums.

VII.
Judith und Manasse

Auch dieser gemischte Typus, mit unheilvollen Fluktuationen, konnte einmal in seinem Leben wahrhaft lieben, das Beste seines Vererbungskomplexes kommt für kurze Zeit zum Durchbruch. Er betet an, er verehrt; seine Liebe ist durch und durch von dem Gefühl der Ehrfurcht erfüllt, / aber er kann dies Gefühl nicht durchhalten, / er kann es nicht dauernd ertragen, nicht bewältigen, die schmutzigen Erbmassen revoltieren dagegen, / die Tücke, der hämische Beeinträchtigungswahn, die lauernde, schleichende Berechnung, die ekle Hinterhältigkeit, das Mißtrauen der kleinen Natur und vor allem die geile Sucht der Triebe / zur Tiefe. Immer mehr fühlt er, daß ein ungreifbares Etwas zwischen ihm und dieser Frau, die er liebte und verehrte, sich errichtet. Ein Etwas, das ihn verhindert, seine Ehe mit ihr ganz zu »erfüllen«, / ein Etwas wie aus dem tiefsten Schacht der Erde, / was ihm die Füße lähmt, wenn er zu ihr eilen möchte … Es geht ihm wie dem Mann der Judith, der sie unberührt lassen mußte, / der sie nicht nehmen konnte …

»Wir fühlten, daß wir zueinander gehörten, aber es war, als ob etwas zwischen uns stände, etwas Dunkles, Unbekanntes. Zuweilen ruhte sein Auge mit einem Ausdruck auf mir, der mich schaudern machte … Sein Blick bohrte wie ein Giftpfeil in mich hinein.« Hebbel, »Judith«. Das alles geschieht, bei Hebbel, als Folge jener unerfüllten Hochzeitsnacht. Schon in der ersten Nacht, da Manasse als Neuvermählter zu Judith kommt, hemmt ihn / etwas Unsagbares: »Auf einmal blieb er stehn; es war, als ob die schwarze Erde eine Hand ausgestreckt und ihn von unten damit gepackt hätte. Mir ward unheimlich; komm, komm, rief ich und schämte mich gar nicht, daß ich's tat. Ich kann ja nicht, antwortete er dumpf und bleiern. Ich kann nicht. Er schien nicht mich, / er schien etwas Fremdes, Entsetzliches zu sehen …« Hebbel, »Judith«.

Hier ist an ein so tiefes Geheimnis des Geschlechterverhältnisses zwischen bestimmten Typen gerührt, daß man den Kommentar kaum weiter zu spinnen wagt. Der arme Manasse, der seine Judith liebt, / er ist ihr Opfer, / sie ist zu stark für ihn, sie hat eine Bestimmung, die hemmend auf seine Liebe wirkt … Die hohen, reinen Gebote seiner Ahnen und seines Volkes bringen ihn aber zu der heroischen Tat, diese Frau überhaupt unberührt zu lassen, sie nicht zu entweihen, wenn er sie doch nicht als Gatte ganz nehmen kann. Und die Schrecken der Tschandalenliebe setzen erst dort ein, wo diese reinen Gebote nicht mehr gelten und der beschmutzte Mann die reine Frau dennoch zu nehmen wagt. Und wenn Manasse, der Gatte der Judith, nicht statt zu ihr, / die er nicht zu nehmen vermochte, / zu ihrer Magd sich schlich, / so geschah es nur dank dem reinen Sittengesetz seiner Väter nicht. »Mein Mann war wahnsinnig«, stöhnt Judith, als sie von ihrer jungfräulichen Witwenschaft berichtet. Denn sie kann sich sein seltsames Versagen / nicht erklären. Der Spiegel zeigte ihr ihre Schönheit, / was also war das Schreckliche, das ihn von ihr fernhielt?

Es war (im Hebbeldrama) ihre große Bestimmung, für welche ihre Jungfräulichkeit erhalten werden mußte. Ihre Persönlichkeit durfte nicht in der Mutterschaft verbraucht werden. Und es war ein letztes, rätselhaftes Etwas, eine ehrfürchtige Scheu vor ihrem höheren Weibtum, / das stärkste Hemmnis der Sexualinstinkte des Durchschnittsmannes.

Versuchen wir nun, das Drama: Judith-Manasse auf moderne, psychiatrische Art / aufzulösen.

Die Erklärung manchen Versagens oder mancher rätselhaft scheinenden Verfehlungen eines Mannes, / rätselhaft dann, wenn er die Frau geliebt hat, / findet sich in einem Seelenzustand, den man wissenschaftlich: Folie de doute Ein Terminus technicus der französischen Psychiatrie. nennt. Ein gesunder, kräftiger Mann verlobt sich. Er liebt das Mädchen, / sie regt ihn leidenschaftlich auf. Er hat das Gefühl, / sie sei zu gut für ihn, er könne ihr nicht genügen. Diese Vorstellung schlägt sofort auf seine Sexualsphäre über, / wie denn die Sexualität des Mannes der sensibelste Apparat der Welt ist. Es bildet sich in dem Manne, der einmal diese Vorstellung hat, dann, sehr oft, die ihr analoge Wahnvorstellung, / er sei impotent. Hier wirkt die sachgemäße ärztliche Behandlung durch Hypnose wahre Wunder, wie überhaupt bei allen Sexualpsychosen, Neurosen und Störungen des seelischen Gleichgewichts. Diese sachgemäße ärztliche Behandlung durch Hypnose heißt die » Methode von Nancy«, und als ihr Meister gilt in Deutschland Dr. J. Großmann in Berlin. Dies ist ein Fall, der unzähligemal vorkommt. So manche rätselhafte Flucht eines Bräutigams bzw. eines eben vermählten jungen Ehemanns, / eine Flucht von der Hochzeit weg, hat in dieser Furcht ihren Grund. So mancher verschwindet vor der ersten Nacht und kommt dann gewöhnlich nach einigen Tagen oder Wochen wieder. Folie de doute ist die männliche Zweifelhysterie. Es ist dies die Furcht, / die zu große Ehrfurcht / vor einer bestimmten Frau.

Dasselbe Motiv treibt manchen, der zwar robust genug ist, sie dennoch zu »nehmen«, / von der Frau weg, / in tiefere Regionen. Es ist das Gefühl: Ich kann ihr nicht genügen … Dort aber fühlt er, daß er / genügt … Wäre er gut, im menschlichen Sinne, gütig, herzenszärtlich, so wäre dieser Instinkt natürlich unmöglich, und er würde sie nicht deswegen, / weil er sich nicht gut genug für sie fühlt, / gewaltsam erniedrigen, er würde auf diese gräßliche Art, einen »Ausgleich« zu schaffen, / nicht verfallen, würde sie mit dem Gefühl des Glücks, der Dankbarkeit, daß sie sich ihm trotzdem gab, trotzdem er selbst sie zu gut für sich findet, lieben und ihr das Leben danach einrichten. Da dieses Gefühl aber meist in kleinlichen Naturen entsteht, so bewirkt es einen Rückschlag ins Gehässige, Hämische, eine erbärmliche Lust, das Objekt, das man als höherstehend betrachtet, eben erst recht zu erniedrigen. Sein kleinliches Ich bockt und rebelliert gegen die Vorstellung, er sei nicht »genug« und lechzt danach, »Beweise« zu empfangen, wie »viel« er sei. Die plattesten Schmeicheleien der Dirne, die ihn buhlerisch umtanzt, wirken auf seine Eitelkeit befriedigender, als die gütig vornehme Art der Frau, die ihm nicht wie die Dirne eine »Exstase« vorspiegelt.

Daß er sich nicht gut genug findet, obwohl die Frau ihn gut genug fand, sich mit ihm zu verbinden, daß er jene Folie de doute hat, das hat natürlich vor allem seinen Grund / in seinem schlechten Sexualgewissen. Denn wenn ein Mann immer mit reinem Gefühl ein Weib umarmte, also niemals Mißbrauch mit seinem Geschlechte trieb, wenn ihm das Geschlechtliche etwas Starkes und Reines und Ganzes war und ist, so wird dieses Gefühl, er sei »nicht gut genug«, er könne nicht »genügen«, gar nicht in ihm auftauchen. Wer eine reine, starke Liebe gibt und den ehrlichen Willen hat, sie rein zu erhalten, / der fühlt sich nicht gering, sondern weiß, daß er dem Andern das Kostbarste gibt, was man auf dieser Welt zu vergeben hat. Wenn er sich also nicht gut genug fühlt, so ist es deshalb, weil bedrückend das Bewußtsein auf ihm lastet: Diese Frau ist rein, / hat zu mir herzliches Vertrauen, hält mich für einen ehrlichen, klaren Menschen, / und in Wahrheit ist mir keine Schmutzerei der Gosse fremd. Dieses Gefühl, das schlechte Sexualgewissen, / wie ich es nenne, / das schafft Folie de doute. Nur eine beschmutzte Sexualität wird eine bedrückende Minderwertigkeit an sich selbst empfinden. Alle Bosheit, alle Gehässigkeit kommt dann aus dieser passiv gerichteten / geschlechtlichen Eitelkeit: »Ich genüge ihr nicht«.

Bei wirklicher Impotenz kann sich die Wut gegen die Frau bis zu Tobsuchtsszenen steigern. In allen diesen Fällen hat eine Frau für das Manko, das der Mann an sich fühlt, / zu büßen. Darum muß man / vor Mesalliancen warnen. Je geringer ein Mensch sich selbst einschätzt, je mehr er, / angesichts einer reinen Frau / sich bedrückt fühlt, / desto unerträglicher wird er dieser Frau das Leben machen. Die nächste Konsequenz, die sich aus diesem halb verbittert, halb gehässig gerichteten Gefühl »ich genüge ihr nicht«, ergibt, wird eine Herabsetzung aller Lustmomente während der Umarmung sein. Deren Folge ist: die Frigidität der Frau.

Frigidität / hier könnte man ein großes Kapitel schreiben … Nun / es gibt eine reichhaltige Literatur darüber, die indessen / am Mechanischen krankt. Frigidität / ich begnüge mich die Achseln zu zucken und / zu lächeln – – – Ein Instrument muß man zu spielen verstehen.

Wir fühlten, daß wir zusammengehörten.« Es war also, zwischen Judith und Manasse, ein deutliches Gattenband da. Ein Familienband vielleicht mehr, als ein Sexualband. Und doch, / sie konnten, sie durften zusammen nicht kommen. Er mußte sie nicht nur lieben, sondern auch / hassen. »Sein Blick bohrte wie ein Giftpfeil in mich hinein.« Hier wirkt das Weber-Fechnersche Gesetz, wonach gerade die größte Liebe / die Tendenz hat, in Haß umzuschlagen.

Ein Verhältnis, wie das zwischen Judith und Manasse, findet sich öfter im Leben vor. Nur daß es dann eben von geschlechtlichen Ausschweifungen zu Dritten, die dem Bande den Todesschnitt geben, begleitet zu sein pflegt. Auch hier sagt eine metaphysische Deutung vielleicht mehr, als eine rationalistische …

Wer den Glauben an Wiedergeburt hat, an verschiedene Lebensstadien einer Seele in verschiedenen Inkarnationen, den Glauben, daß eine Schuld aus früheren Leben in einer späteren Wiedergeburt gebüßt werden muß, daß es, zur Strafe, Wiedergeburten in niederen und niedrigsten Formen gibt, / der müßte hier, in der Ergründung des geschlechtlichen und menschlichen Unglücks von Judith und Manasse, / ein Märchen erzählen. – – –

Es waren einmal ein Bruder und eine Schwester, die hatten einander sehr lieb. Die Schwester war, wie Judith, ein stolzes, mutiges, etwas wildes Kind, der Bruder eher schüchtern und sanft. Er liebte sie sehr. Da geschah es, daß dieser Bruder / sich furchtbar schuldig machte. Draußen in der Welt geschah es, / als er von zu Hause, von seiner Familie, von seiner Schwester fort war. Vielleicht erschlug er irgendwo in der Notwehr einen Menschen, vielleicht führte ihn die Gottheit in Versuchung und er stahl. Er tat etwas sehr Böses. Und zur Strafe wurde / eine Wiedergeburt in niedrigster Gestalt über ihn verhängt, / als Schlange vielleicht, oder als Molch, als Lurch. Und nach dieser Inkarnation sollte er unmittelbar eine andere wieder erleben, in menschlicher Gestalt. Da jeder Wiedergeburt die seelischen Elemente der früheren Inkarnation anhaften, wenn sie nicht durch einen großen Läuterungsprozeß überwunden werden konnten, / so sollte er, zur Strafe, unmittelbar nach seinem Leben als Lurch wieder als Mensch geboren werden und dann, in dieser Gestalt, / nochmals seiner geliebten Schwester begegnen …

So geschah es. Er begegnete ihr als Mann; als Mann, der sie liebte, / zärtlich, brüderlich, »erkennend«, an ihr hangend und sie begehrend.

Aber / der Lurch von früher saß ihm noch im Blut, / und als solcher / mußte er an ihr handeln …

Wer einem anderen Menschen Gift ins Gemüt träufelt, / dem gebührt, sogar nach der sanftesten aller Religionen, / der Mühlstein. Es ist das Verbrechen an sich, / ein gütiges Herz / vergiften. Und der Kapitalverbrecher ist der, der nicht gutmachen will, mit allen Kräften seiner Seele, mit Hintansetzung jedes hier wahrlich verfehlten Selbstgefühls, der Verstockte, für den, nach dem Talmud, die Hölle aller Höllen, / die Hölle Scheol bestimmt ist. Diese Höhe Scheol riß sich vor der entsetzten Menschheit auf / in den unermeßlichen Schrecken des Krieges.

Diese Art Menschen, die Unbußfertigen, die Verstockten, die das Gift, welches sie in ein menschliches Gemüt brachten, nicht mit jedem Atemzug wieder von da herauszubringen suchen, werden in einer astrologischen Deutung / die Sargnägel ihrer Nächsten genannt. Ein Gelehrter hat in einer Zeitschrift ausgeführt, daß es Menschen sind, die unter bestimmten Gestirnen geboren wurden; und zwar bezeichnete er für den eben geschilderten Typus als Geburtszeit einen bestimmten Monat bzw. anderthalb, die ich hier aus Rücksicht nicht nenne. Es war eine Charakteristik der verschiedenen Spielarten Mensch gegeben, geordnet nach dem Monatsabschnitt ihrer Geburt und dem Sternbild, unter dem sie geboren sind. Nach buddhistischer Auffassung könnte man unter den Verstockten jene Menschen verstehen, die gerade eine besonders schwere Inkarnation durchzumachen haben und in dieser Inkarnation auch besonders schwer auf dem Lebensschicksal anderer lasten.

»Wenn dich ein Auge ärgert, reiß es aus und wirf es von dir«, erkennt sogar Christus, als die einzige Lösung. Darum hätte die römische Kirche niemals die Ehescheidung unmöglich machen dürfen. / Wer den astrologischen Schlüssel, der, nach dem Geburtsdatum, die Charakterdeutung gibt, besitzt, wird gewiß nicht verfehlen, ihn bei der Gattenwahl zu Rate zu ziehen. Allerdings neigt man gerade vor der beabsichtigten Vereinigung dazu / jede Warnung, jede Prüfung, jede Vorsicht beiseite zu lassen / ja jeden derartigen Hinweis, der zur Erwägung mahnt / »drum prüfe, wer sich ewig bindet« / als Belästigung zu empfinden.

Die erwähnte astrologische Deutung sagt von diesem Typus:

»Die Fische stellen im Tierkreis das Sinnbild des Phlegmatischen, Wässerigen und Durchschnittlichen dar … Unter Menschen dieses Sternbildes haben wir jene Naturen zu suchen, die mit Schiller klagen können: Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust. Licht und Schatten, beide stark ausgeprägt, liegen hier in stetem Kampfe. Dabei sind freilich die guten Seiten ihres Wesens nur schwer als solche erkennbar, denn Pisces-Menschen schämen sich fast dieses ihres besseren Ich (!). Ein großes Lesebedürfnis oder gar Literaturinteresse geht ihnen ab. Sie sind froh, wenn sie mal gerade in eine Zeitung geguckt haben … Es sind, milde gesagt, recht unerträgliche Leute, die sich und ihren Nächsten den Tod an den Hals ärgern können. Die reinen Nägel zum Sarge. / Überall wittern sie Verrat, können sich vor Rachsucht nicht lassen … Tagelang tragen sie ein mürrisches Wesen zur Schau, muckschen, sinnen auf Rache, blutige Rache. / Ihr falscher Stolz hat schon manches Heim zugrunde gerichtet, manches Menschenherz gebrochen, manches Leben zermürbt … Himmel und Hölle würden sie eher in Bewegung setzen, als ein i-Tüpfelchen von ihrer »Selbständigkeit«, wie sie gern sagen, herzugeben. Das Wort »sich selbst besiegen ist der schönste Sieg«, ist ihnen Schall und Rauch. Und wenn sie wissen, es geschieht zu ihrem eigenen Verderben / sie geben nicht nach …«

Wenn man nun die Zentralstelle eines Charakters darin erkannt hat, daß dieser Mensch nicht einlenken kann, so wird man, in einer Ehe, eben immer selbst einlenken und tausendmal seine Beleidigungen, Gehässigkeiten und Bosheiten überhören, schon weil man als Mensch von Takt und Geschmack überhaupt auf diese Dinge nicht zu reagieren wüßte. Dies wird so lange gehen, bis Ungeheuerlichkeiten von der andern Seite geschehen sind, die sich beim besten Willen nicht mehr ignorieren lassen und für die man beim besten Willen, nachdem sie an einem verübt wurden, nicht noch einlenken kann.

Eine Rettung aus dieser Krise ist daher mit solchen Leuten unmöglich, denn solche Rettungen können immer nur erfolgen, wenn der, der ein Verbrechen beging, die höchsten Seelenkräfte anwendet, um es wieder gut zu machen. Bei dieser Art Menschen ergibt sich aber das Furchtbare, daß der böse Dämon, der in ihnen steckt, wenn er einmal entfesselt ist, in seiner ganzen unheimlichen Tücke / erst recht drauflos wütet. Daß er dabei selbst mit zugrunde geht, wird ihn nicht daran behindern, und Gewissensskrupel, den Mut und die Kraft, einmal wirkliche, ehrliche Abrechnung mit sich selbst zu halten, kennt ein solcher Mensch nicht. Mit dieser Art Menschen wächst jeder Konflikt, jede Differenz ins Maßlose, ins Unheimliche, ins Märchenhafte. In der Tiefe finden sie ihre Komplemente im Sexuellen, die sie »zu nehmen« verstehen. Es sind dies die Vertreterinnen der schwarzen Magie, ausgesprochen gemeine, schlechte, böse Weiber, Verbrecherinnen / die sie um den Finger wickeln, sie am bewußten »Fädchen« bis zur Hörigkeit versklaven und eine unbegrenzte Macht über sie haben. Gerade weil ihn mit irgendeiner Verbrecherin und Dirne / Schuld, Verrat und grauenvolle Geheimnisse verbinden, wird er sich mit ihr »gut verstehen« und sich an sie gebunden fühlen, während ihn von einer reinen Frau, auch wenn er sie geliebt hat, durch sein Geheimleben ein immer größer werdender Abgrund trennt. Phantastische und grauenhafte Schrecken ergeben sich aus der Verbindung eines solchen Typs mit einer Frau von reiner Atmosphäre.

Die astrologische Deutung sagt weiter:

»Bei der außerordentlichen Stärke aller Empfindungen, die Menschen dieses Tierbildes gegeben sind, ist es nur bedauerlich, daß sie nicht die Fähigkeit des »Ballastes« besitzen; des innern Ausgleichs von Für und Wider, Vernunft und Gefühl, andernfalls könnten sie Kolossalmenschen von ungeheurem Einfluß abgeben … Die Frauen dieses Sternbildes stehen qualitativ viel höher«, / jedoch sind auch sie ziemlich schwer erträgliche Daseinsgenossinnen. »Menschenkinder der Pisces bleiben am besten unbeweibt. Wenn die Ehe mit ihnen nicht gerät, liegt natürlich alle Schuld auf seiten der Frau! … Sie leiden öfter unter Angstanfällen, Todesahnungen, krampfartigen Zuständen. Ihrem Aussehen nach wirken sie recht vorteilhaft; eigentümlich von Kopf- und Gesichtsbildung, vollwangig und mit ruhigem, vielleicht sogar leicht träumerischem oft fast schläfrigen Gesichtsausdruck. So auch die Augen, die durch schwere Augenlider sich charakterisieren, übrigens öfter ziemlich hervorstehen. Die beherrschenden Planeten der Fische sind Jupiter und Neptun.«

Ist bei dieser Art Leuten der Weg ins Schlechte einmal beschritten, so gibt es für sie kein Zurück mehr, / unter keinen Umständen. Die vollkommenste Gestaltung dieses Typus in der Literatur finden wir im Golo, in Hebbels Genoveva. Golo wird als ein ursprünglich weicher, liebevoller, knabenhafter, in gewissem Sinne rührender Mensch geschildert. Es schießt ihm nun die böse Brunst ins Blut, / die Gier nach Genoveva, die sich sofort ins Verbrecherhafte bei ihm steigert. Da er sie nicht bekommen kann, hetzt er sie, / in Verbindung mit der Hölle, die in Gestalt der Hexe an ihn herantritt, / in Schmach und Tod hinein. Er konstruiert einen Ehebruch, den sie angeblich mit einem alten, blatternarbigen Diener begangen hätte. Er läßt sie in den Turm werfen, er eilt dem zurückkehrenden Gemahl Genovevas entgegen und berichtet ihm ihre angebliche Schandtat. Im Verein mit der Hexe zeigt er ihm, in einem Zauberspiegel, wie sie mit dem alten Diener buhlt. Er schickt sie dann in den Wald mit zwei Schergen, die sie abschlachten sollen. Alles das tut dieser Golo an Genoveva / weil er sie »liebt« und weil er sie hoffnungslos begehrt. Ein Umkehren gibt's für ihn nicht mehr. Weiter, immer weiter! Erst als er hört, die Knechte hätten sie im Walde wirklich getötet, / beginnt sein Gericht über sich, er sticht sich die Augen aus und taumelt davon. / / Über diesen Menschen hat die Hölle Gewalt bekommen, und darum mußte er, wie ein Satan, gegen jenes Wesen wüten, welches er am meisten »liebte« und das er bewundern mußte, mit jedem Blick und Atemzug.

Darum sind Verbindungen zwischen allzu ungleichwertigen Typen eine wirkliche Lebensgefahr für den besser Entwickelten der beiden, weil die Sexualität des andern, in Verbindung mit einem Wesen, das er als höherstehend empfindet, in die sonderbarsten Nebenwege gleitet und in psychische Phänomene entgegengesetzter Art / alles aus unerfüllter Liebe / umschlägt.

Thersites war der widrigste Mann im griechischen Heer. Natürlich kam er wohlbehalten aus den Schlachten zurück. Riß schon dieser Umstand den Achilles zu der Klage hin / »denn Patroklus liegt begraben und Thersites kommt zurück«, / so konnte er nicht mehr an sich halten, als er hörte, dieser Thersites rühme sich einer »Waffentat« an der Amazone Penthiselea, der er mit seinem Speer die Augen ausgerissen hatte. Daraufhin erschlug ihn der Pelide / mit der Faust.

VIII.
Eltern und Kinder

Auch Männer, die in der Welt als »interessante«, ja »bedeutende« Naturen gelten, haben in dieser letzten Epoche unermeßlichen Frevel auf dem Gebiet der Erotik begangen. Sie haben Mädchen verführt, haben sich dann mit ihnen verheiraten lassen, haben ihnen Kinder erzeugt, haben das Band brutal mißachtet und als Wüstlinge gelebt, haben in ihrem Berufsleben, mit frechem Übermut, das Schicksal immer wieder herausgefordert, z. B. den Beruf fortgeworfen, aufgegeben und einen neuen gesucht, / und diese Frauen schleppten sich mit ihnen, weil sie Kinder von ihnen hatten; das Vermögen, das der Vater mit mühseliger Arbeitsqual erworben hatte, wurde in den Ehen mit solchen mehr oder minder »genialen« Taugenichtsen aufgezehrt, und erst wenn es gründlich alle war, kam es zur Scheidung. Wie stand dann eine solche Frau da?

Charakteristisch ist, daß die unseligen Eltern solcher Töchter und Söhne von diesen, die sich als Übermenschen fühlten, nicht wenig angefeindet und verhöhnt wurden, einfach deshalb, weil sie diese ganze Lumpenlaufbahn überblickten, weil sie für ihre Kinder, besonders für die Tochter ein anderes Schicksal wollten, als daß sie, aus erotischer Brunst, mit einem Mann, der nichts war und dessen wilder Charakter nichts Gutes verhieß, blind ins Leben stürmte. Und wie hat mancher dieser Gesellen mit seinem Vater, der ihn in eine anständige Laufbahn bringen wollte, gerechtet und gehadert, / wie hat er sich mit dieser für sein inneres Leben dennoch ganz wertlosen »Bildung« hocherhaben gefühlt über die Primitivität und die schlichte Moral seiner Eltern! Und wenn er ein Mädchen an sich gerissen und ihr ein paar Kinder erzeugt hatte, meist schwer belastete Neurastheniker, die als solche schon zur Welt kamen und für die kein Ernährer da war, / dann konnte sie zurück nach Hause gehn und sehen, daß der Vater sie wieder aufnahm, mitsamt ihrer degenerierten Brut, der Dividende ihrer »Liebe«. Lebte der Vater noch und hatte er noch etwas, / so tat er es gewiß. Lebte er nicht mehr und war aller Besitz durch die Erotomanie dieser hoffnungslosen Generation verloren gegangen, nun, dann mußte die Frau eben dienen gehn, und die Kinder verfielen / dem Waisenhaus.

Ist es da ein Wunder, daß die, die diese Epoche mit wissendem Sinn durchlebten, sich dieser Zeit und ihren Strömungen überließen, sich achtlos abgekehrt hatten von dem Gebot der Väter und dann Schritt für Schritt dieses Chaos durchmessen mußten, daß diese Menschen, wenn sie zu denen gehören, die die Gabe der sittlichen Selbstabrechnung haben, auf die strenge, geradlinige, primitive Moral ihrer Eltern, deren einfache Grundgebote lauteten: Arbeiten, sparen und sich in Zucht halten, / vielleicht schließlich doch mit größerem Respekt blicken, als auf die geistreichen und individualistisch gefärbten, in Wahrheit gänzlich haltlosen Theorien dieser Moderne, / daß sie an diese uferlose, seichte, verwegene Geschwätzigkeit, mit der alle diese Zügellosigkeit überdeckt wurde, nur mit Grauen denken können.

Die Eltern wußten, vor allem, daß das Geschlecht ein Heiligtum ist und daß hier die erste Entscheidung, besonders bei einem Weibe, zumeist gleichbedeutend ist mit ihrem Lebensschicksal. Dieses frivole Spiel mit der Ehe, diese leichtfertigen Entschlüsse, Ehen zu schließen, die jeder Grundlage entbehrten, diese noch leichtere Entschlossenheit zu Scheidungen, / das alles mußte der älteren Generation ein Grauen einflößen. Ihre Moral war herb, denn sie war auf die Gefahren und Schrecken des Lebens von vornherein eingerichtet, sie war auf ernste, mühsame Pflichterfüllung gegründet, sie sahen die Dinge nüchtern, wie sie sind, und sie wußten, daß das Leben / kein Spaß ist und daß man nicht damit spielt. Zumeist mit Recht sahen sie in diesen schrankenlos von ihren subjektiven Wünschen fortgerissenen Kindern / Entgleiste, deren düstere Zukunft, die sie voraussahen, ihr Herz mit Schrecken erfüllte. Die Mütter dieser älteren Generation hielten ihre Ehe durch, trotz aller Schwierigkeiten, denn sie vergaßen keinen Augenblick, daß der Mann der Ernährer war für sie und ihre Kinder. Und dieser Mann der älteren Generation war auch wirklich der Ernährer, in jeder Lebenslage, und er vergaß keinen Augenblick, daß er es sei, es war ihm selbstverständlich. Sie verlangten Sparsamkeit und äußerste Einfachheit der Lebensführung und mit Recht. Die Philosophie der Mütter bestand darin, den Mann zu halten, / in jeder Lebenslage, in jeder Gefahr. Eine Scheidung wäre die Lebenskatastrophe gewesen, und darum richtete man sich danach ein. In moderne Ehen ging man oft schon mit allen Arrangements über eine event. Scheidung hinein. Die Menschen der älteren Generation wußten, daß das Leben Schritt für Schritt ein bitter schwerer Kampf sei, daß man sich auf diesen Kampf jederzeit zu konzentrieren und sich darum fest zusammenzuschließen hatte. In ihrer Generation mußte oft ein Knabe, der 14 Jahre alt war, wenn sein Vater starb, die Sorge für die Familie übernehmen, / und er tat es, sprang ein in das Geschäft des Vaters und brachte die Familie durch Auch Menzel war mit 14 Jahren in dieser Lage.. Das nenne ich Werte, die man anzuerkennen hat und die hoch über alle dem dünkelhaften, kulturellen Tand stehen, dem sich die jüngere Generation ergab, an dem sie sich zersplitterte und durch dessen Aneignung sie sich über ihre Väter erhaben glaubte.

Gattenhaß nannte ich früher die unterste Zone des Abgrundes. Und der Stoß in den Kasten, den die Mona Lisa ihrem Mann gibt oder umgekehrt, war mir dafür ein Ausdruck. Damit ist aber die allerunterste Zone dieses Abgrundes doch noch nicht erreicht. War dieser Gattenhaß auch eine furchtbare und häufige Erscheinung geworden in dieser Epoche, / die ein Blutmeer, wie es die Welt noch nicht erlebte, / folgerichtig / abschloß, so gab es noch Häufigeres, noch Typischeres, noch Schlimmeres: die Zerstörung und Entfremdung zwischen Eltern und Kindern, als Folge der erotischen Absichten und Willensstrebungen, die diese Kinder gegen ihre Eltern verfolgten und meist in traurige Wirklichkeit umsetzten.

Kinder »kämpften« gegen ihre Eltern, wandten sich oft in ihrer ganzen Lebensrichtung von ihnen ab und konzentrierten den Brennpunkt ihres Willens auf ihre erotischen Pläne und auf die falschen, elenden Götzen, in denen sie die Verwirklichung ihrer Absichten sahen. Die Ehe- und Liebesverhältnisse, die gegen den Willen der Eltern, gegen ihre beste und nur zu richtige Einsicht von den Kindern »durchgesetzt« wurden, häuften sich in dieser Epoche.

Und dann wunderten sich diese Menschen, daß auf ihren Wegen / der Fluch lag. Sie stürzten die, die sie am zärtlichsten und treuesten liebten, in die undenklichsten Qualen und Ängste, / sie vergifteten ihr Leben und ihre Sterbestunde, / weil sie den Ruin des Kindes vor Augen sahen, / nur zu deutlich, / weil sie das verfehlte Leben dieser Kinder sahen, das zu retten in ihrer Macht nicht mehr lag.

Und in diesen wilden, erotisch wilden Ehen, die da geschlossen wurden, sahen diese Eltern oft / keine Kinder ihrer Kinder, keine Enkel, nach denen die tiefste Sehnsucht ihres Herzens stand, / weil diese Töchter, deren ehelicher Hausstand keine Grundlage hatte und nur eine dürftige Form war, um ein wildes Verhältnis zu verkleiden, / dem Moloch Erotismus / ganz wie in Babylon / ihre Erstgeburt geopfert hatten … Der Moloch und die Astarte / die Götzen Babylons / triumphierten.

Wenn der Brahmane die Kinder seiner Kinder sieht, / dann zieht er sich zurück. Er ist dann zufrieden mit dem Leben, er weiß, daß auch seinem Kinde der Erbe nicht fehlen wird, der nach seinem Tode den Manen der Familie das Opfer bringt. Er hat dann die Stufe erreicht, auf der er sich aus dem brutalen Wettkampf und Gedränge des Erwerbslebens zurückziehen kann, / zur beschaulichen Vertiefung und Verinnerlichung, zur Vorbereitung auf ein höheres Leben. Es ist dies die dritte Stufe seines Lebens, die mit dem Zeitpunkt einsetzt, wenn er die Kinder seiner Kinder sieht und sich beruhigt zurückzieht, weil er den Hausstand und die Erbfolge seiner Kinder gegründet weiß. Diese dritte Stufe heißt: Vanaprastha.

O wie oft fehlte diesen armen Eltern der heutigen »Moderne« dieser wohlverdiente und beruhigte Lebensabend / Vanaprastha … Im Gedränge, im Brotkampf mußten noch die Greise bleiben, bis der Tod sie faßte, / weil die Kinder nach ihrer Art ihr Leben eingerichtet hatten, und weil dieses Leben nicht auf Entlastung und Sicherung der alten Eltern, sondern auf eine Reihe von schreckhaften Abenteuern hinauslief, bei denen nur die grenzenlosen Opfer dieser Eltern die Kinder vor dem jähen Untergang bewahrten. Solange diese Eltern einen Atemzug im Leibe hatten, sorgten, schafften und mühten sie sich dennoch für diese Kinder, auch wenn sie / entarteten. Ihrem Ruin warfen sie sich entgegen, die Trümmer halfen sie immer wieder aufbauen, sie gaben ihr Letztes, um die Kinder wieder und wieder zu retten, solange sie konnten, / bis der Tod ihnen endlich Ruhe gab.

Die meisten von denen aus der jetzigen Generation der Moderne muß ein Schauder ergreifen, wenn sie sich besinnen, was sie an ihren Vätern, was sie an ihren Müttern verbrochen haben, um falscher, erbärmlicher Götzen willen, in welche Qualen sie sie stürzten / durch erotische Verblendung, wie sie nicht von ihnen aufgehalten werden konnten, in ihr Unglück, das sie immer wieder dämonisch und gräßlich an sich zog, / wild hineinzurennen, und wie sie die Eltern mitrissen. Und wie sie über jedes Opfer der Eltern hinwegschritten und wie diese Opfer immer wieder, / bis zum letzten, / gebracht wurden. Wahrlich, diese Generation hat einiges / gut zu machen. Das große Gericht ist gekommen, daß es an ihrem Gewissen rüttle und daß ihnen endlich über sich selbst die Augen aufgehen. Daß die innere Wandlung bei ihnen einsetze, / die Erneuerung aus den besten Elementen, / die Metanoia.

Was ist der Stoß in den Kasten, was ist all das Böse, das uns ein Mensch tat, der immerhin nicht blutsverwandt mit uns und nur einige Zeit unser geschlechtlicher Gefährte war, gegen das, was wir selbst, in der Magie des Bösen, im Banne böser Brünste, hinter welchen wir die Wonnen des Paradieses wähnten, / taten an denen, / deren ganzes Leben ein einziger Opferdienst für uns, eine einzige Hingabe an uns war. Gewiß, wir wußten nicht, daß wir Böses taten, / aber in dieser Verblendung / liegt die Schuld. Mit ihr zusammen, / gerade mit den Verbrechen des Erotismus, / geht der trotzigste Widerstand, der rücksichtsloseste und unbeeinflußbarste Lebenstrieb, / der über Leichen sein irres Ziel sucht. Das war das typische Verbrechen der Heutigen, der sogenannten »Neuen Generation«.

Das berühmteste Lied der Yvette Guilbert ist: »La glu«. Ein sexuell Besessener soll, auf Geheiß seiner Dirne, seiner Mutter das Herz herausreißen, damit sie es ihren Hunden vorwerfen könne:

»Elle lui dit:
apporte-moi demain
le coeur de ta mère
pour mon chien.«

Er tut es. Am Wege fällt er nieder, / das Herz, / das Mutterherz, / rollt ihm aus der Hand und / fragt ihn: »Tatst du dir weh, mein armes Kind?«

Und wenn dann unser Herz in den Müllkasten geworfen wurde Vgl. eine Allegorie »Das sonderbare Ding« in meinem Novellenband » Geister«, Verlag Dr. S. Rabinowitz, Leipzig., / so war es wahrlich nur höhere Gerechtigkeit, höchste metaphysische Vergeltung.

Der Dienst der Laren, die Verehrung der Manen der Abgeschiedenen, die Errichtung einer Opferstatt gerade an der Zentralstelle des Lebens, im Mittelpunkt des eigenen Heims, am heiligen, häuslichen Herd, die Heiligung dieser Stätte durch den Kult der Laren, / das war die innere religiöse Erfahrung, die die Antike dennoch hatte, / die ihre sonst so naive Mythologie ins Ungemessene vertiefte. Aus orphischen Strömungen, die aus dem Orient kamen, vornehmlich aus dem Brahmanentum, war ihr diese Vertiefung, diese Heiligung gekommen. Und das Alte Testament ist ganz und gar durchtränkt von dieser Überzeugung, / daß ohne den Segen der Eltern, / der lebenden und der toten, / die noch versöhnt werden können durch Einsicht, Abbitte, Umkehr und Reue, / kein Fußbreit Heil und Segen im Leben eines Menschen zu finden ist, / so viel und so redlich er sich sonst auch mühen mag, / daß hier der geheime, dunkle Urgrund all seines Unglücks ist …

Für seine Mutter schrieb einst Heine dies Sonett, / ein schmerzliches Bekenntnis:

»Im tollen Wahn hatt' ich dich einst verlassen,
Ich wollte gehn die ganze Welt zu Ende,
Und wollte sehn, ob ich die Liebe fände,
Um liebevoll die Liebe zu umfassen.

Die Liebe suchte ich auf allen Gassen;
Vor jeder Türe streckt' ich aus die Hände
Und bettelte um g'ringe Liebesspende, /
Doch lachend gab man mir nur kaltes Hassen.

Und immer irrte ich nach Liebe, immer
Nach Liebe, doch die Liebe fand ich nimmer.
Und kehrte um nach Hause, krank und trübe.

Doch da bist du entgegen mir gekommen,
Und ach, was da in deinem Aug' geschwommen,
Das war die süße, lang gesuchte Liebe.«

Aus derselben Stimmung sind die nachfolgenden Verse entstanden Von der Verfasserin, erschienen in »Nord und Süd«, Dezember 1912.:

DES VATERS UHR

Seitdem die eigne Uhr zerbrach,
Mechanik, die den Sinn verlor,
Holt' ich des Vaters alte Uhr
Mir zum Ersatz hervor.

Sie tickt bei Tag und tickt bei Nacht,
Viel stärker als mein Ührchen je,
Und wieder seh' ich ihn vor mir,
Und mich beschleicht es weh …

Solang' er lebte, sah ich nie
In ihm mein' Hort und Schild,
Doch wie mir seine Uhr jetzt tickt,
Seh' ich ein ander Bild.

Ich seh' ihn, wie er morgens früh
Bei seinen Akten saß
Und wie er seine karge Rast
Nach ihrem Takte maß.

Und wie er mahnte, damals schon:
Faß zu, die Zeit ist wert,
Und wie ich mich von seinem Wort
Hochmütig abgekehrt.

Solang' er war, er kannte nie
Den wohligen Verbleib
Und schaffte seiner Stunden Müh'
Auch noch mit krankem Leib.

Ich kannt' ihn nicht, er war mir fern,
Scheu mied ich seine Spur.
Nur eines wußt' ich, fühlte ich:
Des Vaters knappe Uhr.

Und wie sie tickt jetzt, Tag und Nacht,
Kommt schmerzliches Versteh'n,
Und mir ist dann, als müßt' ich ihn
Einst besser wiederseh'n.

Und wie eine Antwort, wie ein hoffnungsloses, schmerzliches »Zu spät« / wie eine Antwort aus Gräbern auf die späte Selbstanklage und Selbsterkenntnis, / klingen jene anderen Verse, die Heinrich Heine für sich selbst schrieb:

»Zuweilen dünkt es mich, als trübe
Geheime Sehnsucht deinen Blick /
Ich kenn' es wohl, dein Mißgeschick:
Verfehltes Leben, verfehlte Liebe.

Du nickst so traurig! Wiedergeben
Kann ich dir nicht die Jugendzeit, /
Unheilbar ist dein Herzeleid:
Verfehlte Liebe, verfehltes Leben!«

Diese Zeit, diese besondere Epoche, war mehr noch wie jede andere / die des verfehlten Liebens und Lebens. Und wenn auch verfehltes Leben sich sehr oft durch sozialen Dienst wieder einen Rückhalt schuf, / so war und blieb die Grundbestimmung dennoch verfehlt. Es war eine Zeit, in der die verlorenen Söhne und die verlorenen Töchter fast die Regel geworden waren, / verloren ja nicht immer im äußersten Sinne, / aber doch im Sinne der Verfehlung ihrer Lebensbahn / durch den Erotismus. Was sie erwartete, war die Strafe des Lebens, nicht selten die Sklaverei eines Lebens. Jene Art »Mut«, der die frechste Hybris ist, / die Herausforderung des Lebens, die Unterschätzung seiner Schrecken und Abgründe, / war in dieser Epoche besonders oft zu beobachten. Wo früher Scham und Sitte und Tradition hemmend gewirkt hatten, / fehlten jetzt diese Hemmungen, und man gab sich bei dem Wurf aus der Bahn auch noch einen Wurf in die Brust und dünkte sich erhaben über die, die einen von diesen unheilvollen Würfen abhalten wollten.

Goethe sprach es aus, daß »wer mit dem Leben spielt« / dem Untergang nahe kommen müsse. Goethe sprach auch das Wort: »Wer den ersten Knopf verfehlt, wird mit dem Zuknöpfen nicht fertig.« Es bleibt immer schief. Am ärgsten trifft dies im Sexualleben zu. Man sah soziale und erotische Entgleisungen mit erschreckender Häufigkeit, / man sah manchen »verlornen Sohn«, der seinen Beruf, seine Existenz hinwarf, als wäre das nichts, um sich einen »anderen« zu suchen, so aufs Geratewohl, als ob man Existenzen beliebig stürzen und beliebig aufbauen könnte; man sah manche Frau, die mit der Ehe in derselben Weise Hasard spielte. Dem Flieger Pégoud sind solche Menschen zu vergleichen, der sich mit seiner Maschine in der Luft überschlug und frivol das Schicksal herausforderte, bis es ihn zerbrach.

Das Eigentümliche an all diesen Menschen war, daß sie ihre typischen Entgleisungen nicht als etwas Typisches erkannten, sondern stets glaubten, ihr Fall sei ein ganz besonderer und könne »innerlich« erklärt und gerechtfertigt werden. / Nicht die äußeren Handlungen, nicht der Anblick, den ihr Leben bot, sei entscheidend, / in ihrem Fall handle es sich eben um etwas ganz »Besonderes«. Und dabei waren es immer die typischen, ganz gewöhnlichen Arten der Täuschung, der Selbsttäuschung, der Entgleisung, des Falles. Die Pest der »subjektiven« Bewertung, die allen Traditionen entsprungen war und dabei gar nichts auch nur annähernd Verläßliches und im Leben Brauchbares an deren Stelle zu setzen wußte, hatte diese Menschen erfaßt. In der Literatur der ganzen Epoche fand dieses Individualistische, Subjektive, Haltlose, Verworrene, im übelsten Sinne Jenseitige (jenseits der Tradition), diese Verblendung, die sich mit ihren Entgleisungen noch brüstete und in ihnen den besonderen Ausdruck der »Persönlichkeit« sah, / ihren Ausdruck. Die Wirkung war entsprechend. Allerdings besteht zwischen Literatur und Leben immer eine Wechselwirkung, denn alles, was literarisch entsteht, kann nur deshalb entstehen, weil es atmosphärisch in der Zeit liegt. Es ist der Niederschlag einer bestimmten Epoche. Anderseits greift durch die theoretische Formulierung und die besondere Schönfärberei gewisser Entgleisungen, durch ihre Rechtfertigung, welche ihr letztes Hemmnis / nämlich den letzten Rest von Scham / nimmt und den / vielleicht noch Zaudernden jenen »Mut« gibt, der sich über alles hinwegsetzt, / dieser Mut zum frivolsten Spiel mit dem Leben, immer mehr um sich, / und das Fazit ist eine übernatürlich große Anzahl von ruinierten Existenzen und verfehlten Lebensschicksalen. Nur die Besinnung, solange es noch Zeit ist, solange nicht der letzte Rest von Jugend und Lebenskraft entschwunden ist, kann hier Wandlung und Rettung schaffen. Und gerade diese Selbstbesinnung ist das Allerseltenste, denn gewöhnlich halten sich diese Art Menschen bis zum letzten Atemzug für Helden, Idealisten und Märtyrer, die von der banalen Gesellschaft eben nicht richtig »verstanden« wurden.

Wer heute, inmitten dieser unerhört schweren Bedrängnis, die die Erhaltung des Lebens und der Existenz und die Erhaltung irgendeiner verbindenden Lebensbeziehung geworden ist, / einen Beruf, in dem er Boden gewann oder eine Ehe oder ein Elternhaus / kurz irgendein Stück Heimat preisgibt, / weil ihn die Mängel daran stören oder weil ihn irgend etwas Neues lockt, / wer das tut, inmitten der kapitalistischen Welt, die alle Möglichkeiten eisern abzirkelt, alle Beziehungen von Menschen eisig formell abgrenzt, die eine namenlose Gleichgültigkeit aller für jeden geschaffen hat, deren einzige Oase die Familie ist oder sein kann, / der gleicht einem Menschen, der von seinem tragefähigen Schiff über Bord springt, / in die Wellen des Meeres, / weil ihm manches an dem Schiff nicht gefällt. Er stürzt sich also ins Meer und glaubt auf diese Art, / als in den Wellen Schwimmender, im Ozean Herumtreibender, / irgendwo einen komfortablen Salondampfer zu finden, sich diesen Dampfer kapern zu können und sich auf ihm zum unumschränkten Herrn aufzuschwingen …

Wer einen Fußbreit Boden hat, der wahre ihn, und die Mängel seines Schiffes, / die bessere er aus. Er konzentriere sein Interesse auf die richtige Instandhaltung und die bewußte Steuerung seines Schiffes. Diesen Sprung in den Ozean, / bloß weil das Schiff nicht ganz entsprach, / konnte man in unserer Zeit sehr häufig beobachten. Dieser Sprung ist das letzte, und schlimm genug, wenn man ihn tun muß, mit dem Rettungsgürtel um den Leib, weil das Schiff ein Leck bekommen hat, weil darin der sichere Tod lauert und dort in den Wellen die einzige »Zuflucht« ist, weil man dort immerhin noch die Möglichkeit hat, irgendeine Planke zu finden, an der man sich vielleicht festklammern kann, oder an irgendein Eiland getrieben zu werden, auf dem man sich vielleicht eine Zeitlang ernähren kann, in der Hoffnung, daß Seefahrer einen von hier erlösen / oder auch nicht. Wenn man ihn tun muß, den Sprung, / nun dann tue man ihn; aber vermessen ist es und wahnsinnig, ihn zu tun, wenn das Schiff irgend zu halten ist.

In Charpentiers stimmungsvoller Oper »Luise« singt klagend ein Alter, / ich glaube es ist der Lumpensammler von Paris, / in langgezogenen, schmerzlich dumpfen Rhythmen:

»Und eine Tochter in der weiten Welt
ist eine Nadel im Getreidefeld – – –«

Verfehltes Lieben, verfehltes Leben. Aus frei Gebornen werden auf diese Art / Sklavinnen. Und ich erinnere noch an zwei andere Luisen, die aus Königinnen Sklavinnen wurden, unglückliche Erotomaninnen, / Luise von Koburg und Luise von Sachsen.

Es gibt auch weiblicherseits ein Bedürfnis, / de s'encanailler.

Es gab eine auffallend große Zahl von Männern, die noch Mitte der Dreißig sich ihr Brot nicht verdienen konnten und dabei noch ihre Väter »verachteten«, die oftmals, schon als Knaben, ihre Mutter und ihre Schwestern ernährten; die auch später jederzeit, unter den schwersten Strapazen, / wie sie nur eine ungebrochene Rassenkraft bewältigen kann, / ihre Frau und ihre Kinder ernährten und sterbend nur die eine Sorge kannten, ob das, was sie ihnen hinterließen, / der Ertrag ihrer schweren Lebensmühsal, / genügen würde, um sie vor Mangel zu schützen, ob ihre Hand nicht zu schwach wäre, das Wenige zu bewahren, ob man es ihnen nicht entreißen würde … Das sind Werte der Liebe und / Werte der Rasse.

IX.
Paniximie und ihre Folgen

Das Traurigste war in dieser Epoche, daß, in einem Grade, wie wohl niemals früher, / während und weil die Unzucht ihren Kulminationspunkt erreicht hatte, / Liebesglück in der Welt fast ausgestorben schien. Man liebte also, infolge der gelockerten, ja aufgelösten, moralischen Fesseln nicht etwa mehr als in früherer Zeit, / sondern weniger, ja fast gar nicht und nirgends. Von dem Typus Mann, der der überwiegende dieser Zeit war, der immer und überall bereit und willig war, sich geschlechtlich preiszugeben und von dem immer mehr überhandnehmenden Dirnentum auf Schritt und Tritt dazu provoziert wurde, / konnte unmöglich mehr Liebesglück kommen. So umgab gerade die Frau, die sich nach einer reinen Verbindung sehnte, in der man nicht verraten und beschmutzt wurde, / immer mehr die Einsamkeit. Erotisches Glück, ja auch nur bescheidener ehelicher Friede, irgendeine Sexualverbindung, die nicht direkt in die schreckhaftesten Abgründe hineinriß, / war kaum mehr zu haben.

Und weil die Frau ihrer schweren Einsamkeit überdrüssig wurde, weil ein solcher Verzicht durchaus gegen die Natur geht, / lockerten sich schließlich auch ihre Instinkte, und sie verlor nach und nach ihr Eigentliches und Wesentliches / das defensive Sexualgefühl des Weibes. Und sie geriet dadurch in schwere Gefahren.

Vielseitigkeitskünste kann wohl das Geschlechtsorgan machen, / aber nicht das Gemüt. Und die Mehrzahl jener Männer, die ihr Geschlechtsleben dauernd »bordellieren«, wie man es nennen könnte, gehören auch nicht etwa zu den erotisch überströmenden Kraftnaturen, die unbedingt mehrere Frauen auf einmal »konsumieren« müssen und dabei doch die entscheidenden Beziehungen ihres Lebens aufrechterhalten können, bis zu ihrem Tode, / sondern die Mehrzahl dieser Männer, die in der Paniximie sind, sind nicht solche, die nehmen, / nach Herrenart, / sondern solche, die / sich nehmen lassen. Von der Tiefe. Es gibt Männer, die in jedes Paar Weiberarme, das sich ihnen öffnet, hineintaumeln und die in jeder einzelnen »Beziehung« ein Stück von ihrem Selbst verlieren. »Das Geschlechtsleben des Durchschnittsmannes zeigt Erscheinungen, die beweisen, daß man von den tief ursächlichen Zusammenhängen zwischen Geschlechtsleben und Charakterbildung noch kaum irgendwo die richtigen Vorstellungen hat. Es ist ein ungeheuerlicher Gedanke, daß wir das Idealbild der Männer, die jetzt im Kriegsdienst ihr Leben einsetzen, die wir als Helden verehren möchten, dadurch verzerren müssen, daß uns die Statistik mit vernichtender Deutlichkeit beweist, daß das Merkmal, welches unter den Frauen eben die Dirne bezeichnet, die Wahllosigkeit in der Geschlechtsvermischung, auf eine so ungeheure Anzahl von Männern anzuwenden ist»Krieg und Ehe« von der Verfasserin.

Diese Art Männer bekommen eine Chamäleonseele, sie bilden mit den Jahren nicht nur nicht, / wie es normalerweise sonst geschieht, / ihren Charakter deutlich aus, sondern im Gegenteil: sie werden immer verschwommener, / aus ihnen sprechen alle die Verbündelungen, in denen sie gelebt haben. Die moralischen Mißgeburten haben auf sie abgefärbt, und die Wesenheit eines solchen Menschen ist imprägniert von jeder einzelnen seiner Sexualbeziehungen. In ihrem Heim, in ihrer Ehe, regiert, okkult, / die Hölle.

Wohl habe ich gesagt, daß eine Frau, die ein reines Heim verläßt, weil sie nicht mehr »liebt«, meist in Nacht und Untergang hineingeht. Anders aber liegt die Berechtigung, ein Band zu sprengen, wenn sie fühlt, daß sie in keiner Weise mehr das erhält, was sie selbst gibt und was sie begehren darf. Wenn sie mit vollem Bewußtsein der Unzulänglichkeit dieser Beziehung / sie aufhebt. In dem Flugblatt, welches hier so oft erwähnt wird, weil es in programmatischer Kürze einige Grundgedanken dieses Buches ausdrückt, heißt es auch: »Fast blindlings kann man behaupten: Jede Frau, die plötzlich auf eine unerklärliche Weise aus der Ehe stürzt / hat recht gehabt. Sie hat unter dem Zwang und Druck von Instinkten gehandelt, die heller waren als ihr Bewußtsein. Aus einer Ehe, in der eine ungebrochene Liebe auf der andern Seite da war, geht eine Frau nicht weg, und keinem Verführer wird es gelingen, sie von da loszulösen.« Und in meinem Roman »Die Stimme« führte ich aus:

»Unheimliche Dinge gibt's fürwahr zwischen Himmel und Erde. Unheimlich, / was unnatürlich ist. Nichts Unnatürlicheres aber weiß ich mir denn Unfreude. Saht ihr einen Baum im Monat Mai, rosenrot beladen? Eine einzige Liebesröte? Ein einziger Riesenstrauß der Freude? Dieses ist natürlich. Denn Sonne beschien ihn, und im Holze flossen ihm Säfte, die zu ihr strebten / zur Sonne. Sie mußten heraus aus dem Holz. Und da sie jenseits des gesprengten Holzes nicht mehr fließen konnten, als Säfte, wurden sie Festes: Blüten. Festes und Frohes. Von einerlei Rosenrot und doch zweierlei: männlich und weiblich. Damit sie, rosenrot gelockt, eindringen könnten ineinander. Und ein Drittes entstehe, noch fester, noch haftender, noch dauernder: die Frucht. Natur ist dieses, dieses freudige Säftedrängen, dieses rosenrote Locken und Lieben und Werben.

Wo es anders ist zwischen männlich und weiblich, das verbunden ist, / da ist gespenstiger Spuk. Da ward etwas erschlagen, was leben wollte: freudiges Säftedrängen, rosenrotes Locken und Lieben, / Werden. Fliehet, fliehet vor Gespenstern! Verlasset ein Haus, in dem Gespenster umgehen, / und hättet ihr alles, was ihr habt und schufet, darin aufgestapelt!«

Aber verlasset es, womöglich, / allein.

Diese Gespenster / das eben sind die okkulten Einflüsse des Verrats, der geschlechtlichen Entehrung, des sexuellen Treubruchs, welcher immer (im Gegensatz zu allem, was hierüber fingiert wird) / auch ein innerer Treubruch ist und immer von Lieblosigkeiten jeder Art, / wie es ja auch natürlich ist, / begleitet ist. Hat eine Frau im Zusammenleben mit einem Mann das Bedürfnis nach einer liebevollen Gemeinschaft, so wird sie (natürlich) von einer Gemeinschaft, in der sie verraten wird, nicht befriedigt sein, auch wenn sie von dem Verrat nichts weiß.

Wenn eine Frau mit Bewußtsein geht, so ist anzunehmen, daß sie nicht / in Nacht und Nebel gehen wird. Leider fehlt dieses Licht der Bewußtheit sehr oft, sie geht meist nicht aus ihrer Ehe, sondern sie wird, eruptiv, herausgeschleudert, durch irgendeinen Anlaß, der ihren eignen Willen (der auf okkulte Weise mürbe gemacht wurde), zu einer jähen Sprengung des Bandes, die mit einer »Schuld« ihrerseits verknüpft zu sein pflegt, veranlaßt. Sie geht, ohne genau zu wissen, warum sie dieser Ehe so tief überdrüssig ist, sie weiß nur, daß ein schwerer Druck auf ihrem Lebensgefühl, besonders auf ihrem Sexualgefühl lastet, und / als Folge / ergibt sich ihre immermehr anwachsende Bereitwilligkeit, neuen Glücksmöglichkeiten zu vertrauen und / dem ersten Besten oder Schlechtesten, der ihr die Illusion eines befriedigenderen Lebens vorgaukelt, Gehör zu schenken. So geht sie denn sehr oft als die »Schuldige«, hält sich selbst dafür / und der Mann und seine Dirne, die sie auf diesen Weg gedrängt haben, / lachen sich ins Fäustchen, wenn sie dann allein als die Schuldige im Scheidungsprozeß gebrandmarkt wird. Selbstverständlich geht eine Frau, die eine dumpfe Ehe satt hat, / in aller Offenheit. Sie nimmt vor aller Welt die Schuld auf sich, sie ist, in jedem Sinn, das Opfer des unheimlichsten Betrugs geworden. Den Mann zu »betrügen«, wird meistens gar nicht in ihrer Absicht liegen, denn in ihr liegt ja schon seit langem der Wunsch, diese lastende, drückende, unbefriedigende Beziehung abzuschütteln. Will sie zurückkehren, so ist ihr gewöhnlich der Weg versperrt, / trotz aller Reue (!) und allen ehrlichen Willens, gut zu machen, / und sie weiß nicht, warum dieser Weg so beharrlich versperrt ist. Diese Rückkehr wird sie natürlich nur dann erstreben / wenn sie vom Regen in die Traufe geraten ist, und das ist meistens, bei solcher Geheimkonstellation, der Fall.

Denn eine so drückende Situation, wie es die einer Ehe ist, in der der Verrat lebt, Verrat von seiten des Mannes, / die prädestiniert die Frau dazu, in dem brennenden Wunsch nach einer Loslösung, einer Veränderung, / dem Verführer gegenüber nicht gerade kritisch aufzutreten. Der früher geschilderte gefährliche Typus in der Erotik wird sie meistens »zu Fall« bringen. Und sie geht in eine noch schlimmere Hölle, als die, die sie verließ. Alles das kann nur geschehen, wenn einem Menschen sozusagen die Augen ausgestochen wurden, wenn er auf die schamloseste Weise geblendet und getäuscht wurde, wenn er in einer Situation war, von deren wirklicher Beschaffenheit er nichts wußte, kurz wenn er im Dunkeln tappte und, wie ein Blinder, über alles und jedes stolperte.

Ein Mann war mit einer Frau verbunden gewesen, die mit allen Kräften während der Ehe in ihrem Beruf gearbeitet hatte, alles, was sie verdiente, für den Haushalt hergab, den Mann geheiratet hatte in den allerkleinsten, unsichersten Verhältnissen, eben weil sie wußte, daß mit Hilfe ihrer Mitarbeit sie sich erhalten würden. Diese Frau wußte nicht, daß der Mann ganz tief gesunken war. Sie sprengte die Ehe, als sie ihren Druck nicht mehr zu ertragen vermochte / und unter dem Einfluß eines andern Mannes. Zu dieser Zeit war der Ehemann gerade in den Besitz eines Einkommens gelangt, das endlich ein ruhiges Leben gewährleistet hätte. Als sie zu ihm zurückkehren wollte und er sie dennoch zur Scheidung drängte, sagte er ihr unter anderm zur »Erklärung«: »Wir hätten uns nicht durchgeschlagen.« Das sagte er der Frau, die sich mit ihm durchschlug, da er ein Minimum, zeitweilig auch gar nichts hatte, / das sagte er ihr in dem Augenblick, wo er endlich ein ausreichendes Einkommen errungen hatte, welches die Dirne, in deren Klauen er war, natürlich als Operationsbasis fest im Auge hatte. Mit der Frau, mit der er hochkam in jeder Hinsicht, hätte er sich »nicht durchgeschlagen«. Ihr mußte er daher auch noch das Ihre zu entreißen suchen, ließ sie ohne alle Existenzmittel, trotzdem er ihr Vermögen noch in Händen und es ihr noch nicht zurückgegeben, auch nicht die Absicht hatte, es ihr zurückzugeben und sie fortgesetzt, durch Vortäuschung einer falschen Sachlage, betrog, wie er sie in allen Stücken betrogen hatte. Zu einem energischen gerichtlichen Vorgehen war die Frau nicht fähig, weil sie ja sich allein für die Schuldige hielt und sich furchtbar anklagte.

Aber der wackere Ehrenmann wurde hinausgetrieben, hinausgewirbelt, / in den Krieg, / er wurde ein »Held«, und kaum war er fort, so folgten, Schlag auf Schlag / die Enthüllungen. Die erste, die aufs Pflaster flog, war die Dirne. Sie verlor ihre soziale »Nebenbeschäftigung« und mußte aus ihrem früheren Geheimberuf ihren Hauptberuf machen. Ohne die Marke des »anständigen Mädchens« (sie war es ebenso, wie jener Mann, der als Musterknabe galt, ein »anständiger Mensch« war) fanden sich aber nur Detailkunden der Prostitution für sie, und ein zahlender Hauptkunde, wie sie ihn früher immer als jeweiligen »Bräutigam« besessen hatte, wollte sich nicht einfinden. Aus Angst und Not wurde sie, nachdem sie genau auf dem Punkt der völligen Subsistenzlosigkeit angelangt war, auf den sie die Frau hatte bringen wollen, indem sie den Mann zum Vermögensraub angestiftet hatte, / wahnsinnig, wozu sie schon durch ihr verlottertes Geschlechtsleben prädisponiert war. Der Rest war / die Irrenanstalt.

Wie muß einem Mann zumute sein in den Schrecken der Schlacht oder im Elend der Gefangenschaft, / der zu den 18 000 gehört, die jährlich in Deutschland geschieden werden, / dessen Scheidung gerade schwebt und der sich vielleicht sagen muß: Die Frau, die in jeder Stunde für mein Leben gezittert hätte, die keinen andern Gedanken in dieser Zeit hätte fassen können, als den an mich, deren weiches Gemüt es nie verwunden hätte, meine Gebeine hier modern zu wissen, in deren Herzen ein ewiger Kult für mich gelebt hätte, der das Andenken an mich und meinen Tod in der Schlacht das Heiligtum ihres Lebens geworden wäre, / die kann jetzt, nachdem sie in die Abgründe meines Ich, in diese Hölle von Verrat, Schlechtigkeit, Unzucht und Ruchlosigkeit hineingeblickt, / nachdem sie erfahren hat, daß während der ganzen Ehe mit ihr die / Ratten, der Reihe nach, meine Bettgenossinnen und Herzensdamen waren, mit denen ich gegen sie konspirierte und deren »Kavalier« ich war, daß ich den Makellosen spielte, um sie dann bei erster »Gelegenheit« ins Elend zu stoßen, die es erlebte, wie ich ihr alles, was sie besaß, das Letzte, mit allen Schlichen zu entreißen suchte, / die kann auch jetzt, da ich in der Schlacht bin, / nicht gerade eben einen »Helden« in mir sehen und betrauern, denn sie kennt ja mein ganzes Dasein bis in jeden Schlupfwinkel hinein, sie hat mein Diagramm entziffert, sie kennt mein Leben, als ob sie in jedem Augenblick »dabei« gewesen wäre. Sie kann nur wünschen, endlich auf die eine oder andere Art aus ihrer furchtbaren Verstrickung erlöst zu werden, und ihre einzige Sorge bei Tag und bei Nacht wird sein, wie sie aus der Verwüstung, die ich geschaffen habe, die Trümmer ihres Besitzes rettet … Und sie wird, wenn sie noch einmal in ihrem Leben einem Mann nahetreten sollte und ihm die Akten und Dokumente ihres Scheidungsprozesses zeigt, / das Grauenhafteste, was je in ihrem Leben über sie kam, bei ihm zu vergessen suchen.

Ein Mann, der während der ganzen Ehe in täglichem Verrat lebte und die Frau »entsprechend« behandelte, vielleicht eine Frau, die im kleinen Finger mehr Feuer, mehr erotisches Temperament besaß, als er ganz und gar, die aber dennoch sich makellos erhielt, weil ihr das Gegenteil überhaupt nicht einfiele und gegen ihre reine Natur ginge, / wie kann der die maßlose / Naivität besitzen, zu glauben, erstlich / daß man das alles unentdeckt und ungestraft fortbetreiben könne, zweitens daß die Frau eine solche Ehe, in der die Verödung war, in der die gehässigen Ausfälle seinerseits an der Tagesordnung waren, / mit ihrem frischen, liebebedürftigen Empfinden und Temperament / bis ans Ende ihres Lebens ertragen würde?! …

Wenn man eine Ehe mit einem bestimmten Menschen sich erhalten will, / so muß man wissen, daß man ihm die Lebensgemeinschaft zu etwas machen muß, dessen er froh wird in jeder Stunde, / und daß man das nimmermehr dann erreichen wird, wenn man ihn betrügt und verrät und gerade die Gefühle, die für die Ehe die wesentlichen sind, anderwärts hinträgt. Tut man das, so müßte man wissen, daß dadurch / auch wenn es nicht »herauskommt«, / eine schwere Unbefriedigung auf dem ganzen psycho-physischen System des andern lasten wird, weil dieses Geheimleben eben psychische Wirkungen hat und daß der andere, wenn er eine konsequent reagierende Natur ist, / die erste Gelegenheit benutzen wird, um diesen unerträglichen Druck zu sprengen. In einer Ehe wird genau / mathematisch genau /das fehlen, was anderwärts vergeudet wird.

Eine Ehe, in der ein Teil in einem ehebrecherischen Verhältnis lebt, hängt an einem Faden. Und nicht nur dann wird dieser Faden zerreißen und alles einstürzen, wenn der Verrat sich enthüllt, / sondern auch dann, wenn der andere / der bisher schuldlose Teil / den Überdruß nicht mehr ertragen kann und / entsprechend reagiert. Sofort wird das ganze Gebäude krachend zusammenbrechen, / weil es ja längst unterminiert ist, / von der andern Seite.

Niemals kann in einem Verhältnis von wirklich lautern und anständigen Menschen, die sich aus inniger Neigung gefunden haben, durch einen jähen, unbesonnenen Fehltritt des einen oder andern Teils das ganze Gebäude ihrer Gemeinschaft hoffnungslos mit einem Schlag zusammenstürzen. Das ist ganz ausgeschlossen. Denn hatte man einen Menschen wirklich lieb und war man ihm treu ergeben, so wird man das kleinste Zeichen seiner Umkehr und Reue mit dankbarem Gefühl begrüßen. Hat ein Mann oder auch eine Frau gefehlt und der andere war rein, / so wird er sich nicht aufs hohe Roß setzen, sondern wird nur den einen Wunsch haben, daß die Gnade des Himmels das Herz seines verlornen Gefährten erleuchten möge, daß er zurückkehren möge, gereinigt, bereuend, / mit dem Willen, alles gut zu machen. Ist aber der Teil, der sich für den schuldlosen ausgibt, in Wahrheit längst verdorben und verwüstet, ist er als Mann längst in den Händen von Dirnen (oder als Frau in den Händen von Liebhabern), / ja dann wird, mit der kleinsten Verfehlung des andern, alles, wie mit einem Krach, als ob es vom Erdboden verschlungen wäre, versinken. Die Frau, die gegangen ist und geglaubt hat, daß damit ein Pfeiler ihres Hauses ins Wanken kam, die zurückkehren möchte und fassungs- und verständnislos vor einem Trümmerhaufen steht, / die weiß eben nicht, daß dieses Haus längst gar keinen Pfeiler mehr hatte, als den, der sie selber war, daß alles schon benagt war von Ratten, Schlangen und Schweinen, daß es unterwühlt und unterspült war von den dunkelsten Fluten, und daß dieses ganze Gebäude, welches sie für ihre »Ehe« hielt, in Wahrheit nur an dem einen Pfeiler klebte, / der sie selbst war. Dieser Pfeiler kam ins Wanken, und somit blieb / nichts. Das Ganze versank in den trüben, jauchigen Fluten, die es längst unterspülten.

Solche »Offenbarungen« können sich ergeben, / erst nach dem Einsturz einer Ehe. Und wahrlich, es gehört viel Geisteskraft dazu, um über solche zurückgreifenden Enthüllungen und einen solchen ungeahnten Kausalzusammenhang der Ereignisse / nicht den Verstand zu verlieren. In einer Ehe, in welche, längst und andauernd, im geheimen dritte Personen eingriffen, wird der kleinste Anlaß / den völligen Ruin mit sich bringen. Ein Mann, der auf Abwegen und mit allerhand Frauenzimmern im Komplott ist, / ist immer geladen mit Gift und Angriffslust, Verdächtigungssucht und Haßgefühlen / gegen die eigene Frau, und mag er sie auch einmal sehr geliebt haben. Wenn er der Bettgenosse von Dirnen geworden ist, mußte er damit zum Todfeind der Frau werden. Der Begriff »Verrat« ist durch solche Geschehnisse in seiner ungeheuerlichsten Abgründigkeit realisiert. Die Frau wird beständig umlauert, und die Dirne, die den Mann schiebt, wartet nur darauf, daß ihrerseits sich ein / Scheidungsgrund ergibt. Die Frau aus dem Wege zu räumen, / das ist der Wille jener okkulten Zone, die hinter einer solchen Ehe wirkt. Das Furchtbarste an diesem Verrat ist, daß man damit die Frau / zu Fall bringt.

Im Dezember 1915 wurde ein Aufsehen erregender Mordprozeß in Deutschland verhandelt Der Güstrower Mordprozeß Thieß-Kallies.. Unter der Anklage, eine Künstlerin, deren Leiche aufgefunden wurde, ermordet zu haben, stand der Bruder einer Person, mit der der Mann dieser Künstlerin im Konkubinat lebte, die er als Wirtschafterin ins Haus genommen hatte, so daß die Frau schließlich das Haus verließ. Es war schon zur Scheidung gekommen, aber / den Mann zog es noch immer in die Nähe seiner früheren Frau; obwohl sie mitschuldig gesprochen worden war, hatte er ihren Lebensunterhalt sehr anständig bemessen und sichergestellt, denn sie sollte, als seine gewesene Frau, niemals in Not geraten. Es zog ihn noch immer zu ihr, und er suchte ab und zu ihre Gesellschaft. Das konnte die Person, mit der er lebte, natürlich nicht dulden. Daher stiftete sie ihren eigenen Bruder an, die Frau erst zu verführen und dann, auf einem einsamen Spaziergang, zu überfallen und zu erschlagen. Der Angeklagte, ein verlottertes Individuum, leugnete erst, gestand dann halb und halb und erhängte sich in seiner Zelle. Der Ehemann war ein besserer Mensch gewesen, / bis er diesem Gelichter in die Hände fiel. Seine Konkubine wurde wegen Anstiftung zum Mord, / worauf ebenfalls die Todesstrafe steht, / er selbst wegen / Begünstigung mit angeklagt. Nach dem Selbstmord des Hauptangeklagten wurde die Verhandlung im Dezember 1915 vertagt.

Das Furchtbarste ist, / daß dieser Mann mit dieser Frauensperson auch nach der Ermordung seiner Frau / weiter lebte, daß diese Person sich jetzt seine »Braut« und ihn ihren Verlobten und »Bräutigam« nannte, / wie denn hier diese Bezeichnung »Braut« und »Bräutigam« besonders in der kleinbürgerlichen Klasse, die auch eine Flickschusterei eine »Besohlanstalt« nennt, für jedes Verhältnis, von dem der Berliner sagt: »Er jeht mit sie«, angewendet wird. Dann ist sie seine »Braut« und er ihr »Bräutigam«. Diese Person aber hatte den Mann tatsächlich schon so weit, wo sie ihn haben wollte, nämlich bei der Heirat, die, solange die Frau lebte, ausgeschlossen schien, wahrscheinlich deshalb, weil er sich geschämt hätte, seiner Frau eine solche Nachfolgerin zu geben. Die Frau, die das Mörderpack als »Erpresserin« zu schildern suchte, war, nach den Zeugenaussagen, eine gütige, reichbegabte Natur, obwohl sie durch die okkulte Sphäre ihrer Ehe ebenfalls auf Abwege gedrängt worden war und sogar ein uneheliches Kind nach der Scheidung gebar, dem sie die zärtlichste Mutter war, was den Mann nicht hinderte, sie und das Kind zu erhalten; er wollte sie auch testamentarisch sicherstellen, / und darum mußte die Frau / aus dem Leben. Das Kind setzten die Mörder aus, und es wurde, halb verbrannt von der Sonne, nackt aufgefunden. Die Wirkung der Persönlichkeit seiner Frau auf den Mann war, nach Zeugenaussagen, eine bedeutend stärkere als die, welche seine Konkubine auf ihn ausübte; die aber beherrschte ihn / durch den Mangel an Geistigkeit, durch das grob Geschlechtliche; und, vor allem, weil sie ihn nicht locker ließ. Die Zeugen sagten aus, daß »sein Empfinden für sie lange nicht an die Empfindungen für seine Frau heranreichte«. Natürlich konnten diese Eheleute zueinander nicht mehr kommen, weil sie inzwischen beide in fremde Hände geraten waren Der Freund der Frau sprach von ihr, bei Gericht, mit anbetender Verehrung und eine Reihe anderer Zeugen mit dem Ausdruck des tiefsten Respektes. und weil, besonders der Mann, sich von der Frauensperson nicht loslösen konnte, sich zu tief mit ihr eingelassen hatte und anscheinend auch durch schuldhafte Delikte mit ihr verbunden war.

Es wurde vorgebracht, die Konkubine hätte ihn nicht gegen die Frau »beeinflußt«. Man staunt über die Naivität. Mit direkten Worten wird keine Person, die sich zwischen Gatten drängt, den Mann gegen die Frau aufhetzen, schon aus »Taktik« nicht, / wohl aber mit geschickten Suggestionen. Aber auch das ist gar nicht nötig. Genug daß sie ihn umbuhlt und er mit ihr geschlechtlich lebt. Darin liegt der »Einfluß« im buchstäblichsten und weitgehendsten Sinn. Wenn er sich mit ihr vermischt, / so fließt sie in ihn und er in sie. Wenn er mit ihr lebt, so wird er so handeln, wie es für dieses geschlechtliche Leben mit ihr »förderlich« ist. Und diese Person fand es eben am »förderlichsten« und sprach es direkt in ihren Briefen an den Bruder aus: » Die Frau muß beseitigt werden.« Und sie wurde »beseitigt«, / und der willenlos gewordene Mann lebte weiter mit dieser Frauensperson (bis zur Verhaftung), die sich nun sogar als Märtyrerin, die ihn von der Frau, der »Erpresserin« / »befreien« wollte, / in Szene setzte … Bei Gericht trat sie mit der größten Frechheit auf und »bestritt« alles, / wie es zuerst auch ihr Herr Bruder getan hatte, / bis er sich erhängte Im März d. J. wurde die Verhandlung zu Ende geführt. Olga Kallies wurde wegen Beihilfe zum Mord zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt; der Ehemann Thieß wurde freigesprochen. Das Urteil entsprach, besonders in seinem ersten Teil, dem allgemeinen Empfinden..

Dieser Fall ist nur scheinbar ein vereinzeltes Verbrechen. Gerade in der letzten Epoche haben ja ähnliche Fälle genug von sich reden gemacht, / der Fall Tarnowska, der Fall Madame Steinheil und der Fall Frau v. Schönebeck. Eine Russin, eine Französin, / eine Deutsche. Mord und Anstiftung zum Mord oder zu anderen ruchlosen Arten, einen Menschen zu »beseitigen«, wird sich in so manchem, auf Verrat und Skrupellosigkeit aufgebauten Sexualverhältnis ergeben. Eine Frau, die von einem Verführer, der aber als »höherer« Mensch sich in Szene setzte, aus ihrer Ehe fortgelockt worden war, welcher dann der Mann im Scheidungsprozeß Schwierigkeiten machte, wurde von diesem Menschen angestiftet, / den Mann niederzuschießen. Als Held durch und durch wollte er das natürlich nicht selbst besorgen, sondern / die Frau vorschicken! Von allem Furchtbaren, was diese Frau mitgemacht hatte, stand, als Schlimmstes, / noch nachträglich in ihrer Erinnerung, ebenso während des Erlebens, / das Zusammenleben, das gemeinsame Hausen mit diesem Menschen. / Als er sie zum Mord anstiftete, malte er ihr aus, wie sie sich im Prozeß zu benehmen hätte und wie ihr dann, / seiner klugen Meinung nach, / nichts geschehen würde. Erst durch dieses Gespräch gingen der Frau über diesen Kerl die Augen auf, und sie hatte von Stund an nur den Gedanken, ihn so schnell wie möglich abzuschütteln, trotzdem sie um seinetwillen alles aufgegeben und verloren hatte. Gleichzeitig verhetzte eine Dirne / ihren Mann in ähnlichem Sinn. Aber während die Frau den Abgrund, in den sie gekommen war, erkannte, / blieb der Mann dafür blind.

Alle diese Verbrechen und Ungeheuerlichkeiten sind, ebensowenig wie die Schrecknisse, die der Krieg mit sich bringt, als etwas Besonderes zu betrachten. So wenig wie man im Krieg die eine oder die andere Nation für besonders grausam halten kann, sondern sich sagen muß: das ist der Krieg! ebenso muß man bei den Schandtaten, die sich aus dem Sexualkrieg ergeben, / diesen Krieg selbst dafür verantwortlich machen. Es sind die gegeneinander wütenden Sexualinstinkte, die alle diese grauenhaften Tatsachen schaffen. Und darum ist mit dem Treubruch / jedem Verbrechen Tür und Tor geöffnet.

Wegen Anstiftung zum Mord wurde im Oktober 1914 die Bergmannswitwe Böckmann mitsamt ihrem Liebhaber, der die Mordtat an ihrem Manne ausführte, zum Tode verurteilt. Das Reichsgericht hat beide Todesurteile bestätigt. / Gatten, die gegeneinander wüten, gleichen zwei Zügen, die auf derselben Strecke mit Volldampf gegeneinander fahren. Wehe, wenn da nicht rechtzeitig beiderseits / gebremst wird.

Auch die Fälle Grete Beier und Brunhilde Wilden gehören hierher. Die Bürgermeisterstochter Grete Beier ermordete, unter dem Einfluß eines ihrer Liebhaber, ihren Verlobten, der sie liebte und ihr treu ergeben war, nachdem sie ihn vorher veranlaßt hatte, zu ihren Gunsten ein Testament zu machen, / auf die grauenhafteste Art, auf eine Art, die die Bestie im Menschen, die erotomanische Bestie, in ihrer ganzen, zähnefletschenden Ungeheuerlichkeit zeigt, / das Schrecklichste aus der Schreckenskammer der Natur. Sie sagte ihm, sie hätte ihm vom Jahrmarkt »etwas Süßes« mitgebracht. Sie wolle es ihm aber in den Mund stecken, / ohne daß er es sähe. Gutgläubig ließ sich der Unglückliche von ihr die Augen verbinden, / öffnete den Mund, und die Bestie schoß ihm mit dem Revolver hinein. / / Sie wurde hingerichtet. / Das ist der Geschlechtsverrat in seiner letzten Konsequenz.

Gegen die Todesstrafe wurde ja in der letzten Epoche viel vorgebracht. Aber denkt man, daß man den eingebornen Dämon eines Verruchten eben nicht aus diesem Menschen herausbringen kann, / daß dieser Dämon in einer bestimmten Windung des Gehirns sitzt und daher nicht exorcisiert werden kann, / so begreift man, daß man die Form, die Behausung dieses Dämons, / zerschmettern muß, um die Menschheit von derartigen Unholden zu befreien.

Brunhilde Wilden war eine an sich »harmlose« Nymphomanin, eine hysterische und von Männern mißbrauchte »höhere Tochter« in der Art des Hans v. Kahlenbergschen »Nixchens« und der Prévostschen Demie-vierge. Als sie endlich einen offiziellen Bräutigam ergattert hatte und mit aller Macht dem ehelichen Hafen zusegelte, um dann, von da aus, in bequemer, geschützter Position, auf Abenteuer ausgehen zu können, / kam ihr ein früherer Liebhaber in die Quere. Sie fürchtete Enthüllungen und / erschoß ihn. Da es sich um die Verzweiflungstat einer gehetzten Hysterikerin handelte, kam sie frei.

Das erste, was man verlangen müßte, wäre die Kastration bzw. die unblutige Sterilisierung solcher Typen (mittels Röntgen), sowohl männlicher als weiblicher. Denn was sie in die Welt setzen, sind wieder nur Verbrecher / »mindestens« Sexualverbrecher. Ich verweise hier auf das bedeutende Werk des Staatsanwalts Dr. Erich Wulffen »Der Sexualverbrecher« 1910 (Paul Langenscheidt-Berlin).

Beide Fälle / Beier und Wilden / ereigneten sich in der Provinz, / wo sich auch die Fakten des Güstrower Mordprozesses abspielten. Die sexuelle Entartung ist durchaus nicht ein Reservat der Großstadt. / Unter den Dienstmägden, die vom flachen Lande kommen, oft halbe Kinder, sind die gerissensten Dirnen zu finden. Erst kürzlich hörte ich von einem Tischlermeister, einem stattlichen Mann, daß er sich einer 15jährigen Dienstmagd, die vom Lande kam, mit Mühe erwehrt hatte. Er und seine Frau warfen sie hinaus. Es wurde dann erwiesen, daß diese 15jährige / durch und durch geschlechtskrank war.

Ermißt man die ganze Ruchlosigkeit, die allein schon in Anbetracht der Geschlechtskrankheiten dazu gehört, die körperlichen Beziehungen mit einer Frau aufrechtzuerhalten, während man mit der Gosse verkehrt, / so hat man das Gefühl, daß ein Mensch, der das tut, / die Peitsche und den Pranger verdient Schon 1909 verlangte Prof. Flesch aus Frankfurt a. M. auf d. Generalvers. d. B. f. Mutterschutz in Hamburg die Unterstellung der Geschlechtskrankheiten unter das Reichsseuchengesetz. Der Antrag wurde damals, als zu weitgehend, abgelehnt, während jetzt das Reichsversicherungsamt Beratungsstellen in diesem Sinne einzurichten plant.. Der einzige Fall, in dem sich der Ehebruch menschlich rechtfertigen läßt, / auch ohne daß ein offenes Geständnis erfolgt, / soll im Supplement untersucht werden. Es ist dies ein sehr seltener Fall, und auch dieser Fall wird keineswegs zu einem dauernden Verrat führen.

Daß die Voraussetzung jeder sexuellen Möglichkeit zwischen zwei Menschen die monogame Voraussetzung ist, ist so sonnenklar, daß die Tatsache, daß es hier eines umständlichen Beweises bedarf, / allein für sich schon ein Kuriosum ist. Dennoch bedarf unsere Zeit / dieses Beweises. Und wer dazu verurteilt oder berufen ist, ihn zu führen, der Zeit dieses ihr Fehlende zu geben, / kann wahrlich mit Hamlet sprechen:

»O Schmach und Gram,
daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam.«

In der Praxis empfindet jeder, / ausnahmslos, / daß »Toleranz« in geschlechtlichem Sinne nicht gewährt werden kann, niemals und nirgends, und diese Toleranz wird auch nirgends gewährt, außer in ganz verrotteten Untiefen. Der geringste Zweifel an die diesbezügliche Verläßlichkeit eines Menschen genügt, um jedes gute Gefühl für ihn, geschweige denn ein erotisches oder ein bindendes eheliches Gefühl, ins Gegenteil, in die eisigste Abwehr zu verwandeln. Wer mit einem Menschen kopuliert ist, dem er in diesem Punkt nicht blindlings vertrauen kann, nicht so vertrauen, daß überhaupt gar kein Gedanke an die Möglichkeit eines derartigen Verrats entsteht, / der ist in die Höllenzone des Lebens geraten. Wer kann zu Bett gehen mit einem Menschen, von dem er sich sagen muß, / / / wer weiß, wo der heute / / war? / /

Am Ende des 15. Jahrhunderts war es, als sich, durch die Kriegszüge, die Syphilis in ihrer furchtbarsten Form über ganz Europa verbreitete und seitdem nicht mehr ausgerottet werden konnte. In einem Vers in einer einschlägigen Schrift Vgl. »Das Dirnenwesen in den Heeren und seine Bekämpfung« von Dr. Haberling, Garnisonsarzt der Festung Köln (Leipzig, J. A. Barth). wird ausgedrückt, wie der Landsknecht und die Dirne schließlich eine Art »Einheit« werden.

»Wir Huren und Buben sind ein Gesind /«

Das trifft den Nagel auf den Kopf; / das wird eins, muß eins werden. Interessant ist, daß, im Gegensatz zu den Christen, die Türken als enthaltsam geschildert werden. Barbarossa ging zuerst mit Ausrottungsmaßnahmen vor, als er 1158 gegen Mailand zog und befahl, daß jedem Weib, das im Heer betroffen würde, die Nase abgeschnitten werden sollte. »Aber die Dirnen triumphierten. Mit Ausbildung des deutschen Landsknechtswesens begannen die Heere mehr aus Frauen als aus Männern zu bestehen.« Bei den Römern wurden die Dirnen mit mehr Energie dem Heere ferngehalten als bei den Griechen. Grundsätzlich und radikal ausgeschlossen war die Dirne nur / im Kriegslager der Juden In der erwähnten Schrift ausgeführt..

Daß die Dirnenverfolgungen im Mittelalter so grausame Formen annahmen, wie Spießrutenlaufen, Folterungen usw., hatte sicherlich seinen Grund darin, daß man eben die Verwüstung, die sie schufen, voll erkannte. »Die ersten sanitären Maßnahmen zur Bekämpfung der Geschlechtsseuchen hat Napoleon im Heere eingeführt … 1806 waren sämtliche Kavalleristen des Generals Wrede in Potsdam infiziert …« (Vielleicht hängt das mit der damaligen Niederlage zusammen.) »Die Dirnen, die einst unter dem »Hurenwaibel« militärisch organisiert waren, sind im Laufe des 19. Jahrhunderts aus dem Heere verschwunden.« Ebenda.

Vor einigen Jahren fand ein großer ärztlicher Kongreß in Berlin statt, dem ein Bankett im Rathaus folgte. Vor dem festlich erleuchteten Rathaus hatte sich nachts ein großes Rudel von Prostituierten angesammelt. Als die Herren zu später Nachtstunde herauskamen, bildeten sich sofort / dies wurde beobachtet / Paare, und die vom Wein animierten Kongreßmitglieder / Ärzte! / fuhren mit den Dirnen zu Zwei und Zweien in Droschken davon. Wahrscheinlich wird dieser Kongreß nicht der einzige sein, der in solcher Art ablief … Bacchus und Venus vulgivaga hatten also an dieser wissenschaftlichen Tagung / ihren Anteil: auch an den venerischen Erkrankungen, die ihr gefolgt sein mögen, an dem Rasseschaden und dem vielfachen Familienunglück.

Die leichte erotische Entzündbarkeit, die sich schon in überbetontem persönlichem Interesse für jede neu auftauchende Person des andern Geschlechts äußert, wird, bei Frauen, dazu führen, / daß sie in Strömungen geraten, die zumindest ihre Gemütsruhe arg beeinträchtigen; immerhin werden hier die Hemmungen, / sofern es sich nicht um Dirnen handelt, / das Ärgste verhüten. Bei Männern aber, die viel mehr provoziert werden als Frauen, / zumindest als anständige Frauen, / die etwa in dem Grade provoziert werden wie Dirnen, denen man die Willigkeit zu jeder beliebigen sexuellen Vermischung ansieht, / denen auf Schritt und Tritt Geschlechtsangebote gemacht werden, besonders gewissen minderwertigen Männern, deren Persönlichkeit keinen Respekt einflößt, ebensowenig wie die der Dirne, / die also von dem vorhandenen Frauenüberschuß, in dem das dirnenhafte Element prävaliert, beständig die unzweideutigste »Aufforderung zum Tanz« erhalten, / wird diese Anlage, wenn sie nicht ganz klar in ihrer wahren Wesenheit erkannt und in ihren Konsequenzen überblickt, also vorsätzlich gedämmt wird, / wenn nicht einmal ein gründlicher Chock hier antagonistische Vorstellungen geschaffen hat (z. B. Ekel, Furcht, Geschlechtskrankheit, Scham, Reue, Ruin), namenloses Unheil über sie selbst und ihre Ehe bzw. Familie bringen Ein sympathischer, kluger Mann äußerte einmal gesprächsweise: »Ich hatte das Glück, / geschlechtskrank zu werden und wurde gesund, / in jedem Sinn, / denn seit jener Zeit / bin ich kuriert.«.

Ein Mann, der sich leicht »entzündet« und diesen Brunstgefühlen nachgibt, / den jedes Weib nehmen und zwischen sich und ihm einen buhlerischen Kontakt herstellen kann, / wird der mit ihm zu ihrem Unglück verbundenen Frau ein Gegenstand des Ekels und der Verachtung werden. Sie wird sich durch die Verbindung mit ihm degradiert, beschämt, entwürdigt fühlen, wenn sie diese Anlage bemerkt hat; und sie wird heimlich auf eine nicht auszudenkende Art in der Gemeinschaft mit ihm entehrt und geschändet werden, wenn sie sie nicht bemerkt hat. Bis eines Tages die ganze Mistgrube entdeckt wird; und das Haus, das auf ihr erbaut, dessen »fester Grund« so beschaffen war, wird in dieser Höhle von Schmutz und Verrat sofort versinken. Die Eröffnungen, die sich durch solche unerwarteten Enthüllungen ergeben, sind solcher Art, daß sie, wenn sie ganz überraschend kommen, nur von einer seltenen Geistes- und Seelenkraft überhaupt ertragen und bewältigt werden können. Wenn man eine bestimmte Epoche seines Lebens, die man mit einem Menschen verbrachte, für ein Stück Leben hielt, auf dem man auf einem sauberen Wege mit Einem, der einem, wie man meinte, zumindest doch ein guter Freund war, einherschritt / und dann plötzlich die Eröffnung bekommt, daß man in jeder Stunde verkauft und verraten war, daß der skrupelloseste menschliche Abhub, den man für zu schlecht hielt, um ihn auch nur mit der Schuhsohle zu berühren, in intimster Vermischung und Verbündelung mit dem Menschen lebte, den man für seinen Gefährten hielt, / daß dieser Mensch alle die Zeit hindurch ein grauenvolles, betrügerisches Doppelleben geführt hat, dessen Partner auf der einen Seite man selbst war, während auf der andern Seite unzählige Kanäle in die Gosse führten, so daß man mit seiner eigenen Existenz mit dieser Gosse zusammenhing, / so wird man wahrscheinlich für sein ganzes Leben überhaupt an reinliche erotische Lebensmöglichkeiten nicht mehr glauben können, so wird man fürchten, daß sich auf jedem Schritt, den man weiter auf diesem Gebiete jemals tun könnte, wieder neue Falltüren und Fallgruben auftun, durch die man hinunterstürzt, in eine bodenlose Tiefe, angefüllt mit Unrat. Man glaubte also / in einer Ehe zu leben und war, in Wahrheit, / in einem / Gelaß, welches mit der Senkgrube in unmittelbarster Verbindung stand, so daß man jederzeit hätte hineinstürzen können, / man war dicht beim Kot …

X.
Ein Schlüssel

.

Aus der Linie B, aus der des Mannes, kommen Abzweigungen zu T, zur / Tiefe. Seine Linie teilt sich, splittert sich in zwei Teile. Die eine B–A, die neben der der Frau noch immerhin einherläuft, wenn sie auch nicht mehr mit ihr eins ist; die andere B–T sinkt immer stärker, rapid fallend, / zur Tiefe herab. Aus dieser zur Tiefe abfallenden Linie werden beständig Gifte und Gase zerstörendster Art ( G) gegen A, die Linie der Frau, und gegen die Ehelinie gerichtet, die sich jetzt aus B–A ergibt, d. h. kein einheitliches Ganzes mehr ist, sondern aus dem Nebeneinanderlaufen von A (der Linie der Frau) und von einem Teil von B (der Linie des Mannes) sich ergibt, der den Zusammenhang mit A durch das Danebenlaufen eines Teils seines Wesens noch zu erhalten sucht. Diese Gifte werden von dieser Linie B–A zum Teil noch abgeschwächt, abgefangen, / dringen aber dennoch durch, erzeugen Verletzungen, Unruhe und Schwankungen in der Linie der Frau, / die durch die immer hügeliger und immer unebener werdende Struktur ihrer Linie angedeutet sind, / bis die vollkommene Entgleisung oder Flucht erfolgt.

Irgendein Magnet, den ich X nenne, weil jeder xbeliebige bei solcher Geheimkonstellation als Magnet wirken kann (sogar ein bezahlter Detektiv wird die Frau in solcher Lage leicht zum Ehebruch bringen können), irgendein Magnet X wirkt auf die Linie A ein und bringt sie zu jähem Aufschnellen: A–X.

A–B drückt die Rückkehr der Frau aus / zum Manne. Da aber seinerseits eine einheitliche Ehelinie längst nicht mehr bestand und die dürftige Parallelbemühung mit dem Fortschnellen von A abbrach, so sucht die Frau den Mann / vergebens. Sie entsendet Ströme und Strahlen aller Art, ihn zu suchen (die Pfeile S). Wo ist er? Wo die Ehelinie? Wohin ist das alles plötzlich geraten, / »plötzlich« wie sie meint, schon längst / wie wir gesehen haben. Die Antwort auf ihre Ströme der Suche ( S) sind / die Gifte und Gase ( G), die, nun von nichts mehr aufgehalten, sie direkt und vehement erreichen, / die Gifte der Tiefe, die den Mann systematisch an sich zog, bis sie ihn, durch das Fortgehen der Frau, vollends verschlang.

Diese Zeichnung und ihre Bedeutung ist ein Schlüssel, der das Geheimste, Okkulteste des Geschlechtslebens berührt und die geheime Ursache, durch die so viele Ehen auf rätselhafte Art, / scheinbar plötzlich, / explosiv in die Luft fliegen und, wie durch Zauberspuk, aufgehört haben zu bestehen, / erhellt.

Auch die Art, wie in der ganzen letzten Epoche die Mystik aller Richtungen behandelt wurde, zeugte von der Verfallsepoche … Denn es wurde hier bewußt jedem geistigen Abenteuertum Tür und Tor geöffnet, die Zugänge der Dinge wurden absichtlich mystagogisch verschleiert. Das Bestreben, in die Tiefe zu dringen, in die geheimen, okkulten oder mystischen Zusammenhänge der Dinge, / muß aber bei jedem ehrlichen Forscher dahin gehen, / diese geheimen Zusammenhänge zu erhellen und sie bis an die letzten Grenzen des Erkennbaren zu deuten, »vermauerte Fenster einzustoßen« Siehe Vorwort.. Bei den »Lemuren«, wie man die Mystagogen aller Richtungen nennen kann, besteht aber kein Bedürfnis nach Klärung und Aufhellung, sondern, im Gegenteil, ein bewußter Zug nach Geheimtuerei und mystagogischer Drapierung.

Der Begründer der induktiven Metaphysik und Anbahner der experimentellen Psychologie und Psychophysik ist Gustav Theodor Fechner (1801–1887), der die Philosophie und besonders die Metaphysik über die Gaukeleien vager Spekulation emporhob und dabei erst recht ihre Tiefe offenbarte. Er war auch einer der ersten wissenschaftlich-philosophischen Deuter von Traumerscheinungen.

»Oft fürchteten seine Freunde, er werde sich ganz in das Wunderland des Geheimnisvollen, Unerklärbaren verlieren. Diese Furcht war unbegründet. Sein Denken war zu klar und das Bedürfnis seines Verstandes zu dringend, um von Phantomen befriedigt zu werden.« »Geschichte der Philosophie seit Kant«, II. Heft »Fechner« von Dr. Otto Gramzow.

Man hat immer wieder, in der ganzen Weltliteratur, davon gesprochen, daß die Ehre eines Mannes durch eine Verfehlung der Frau, ja durch einen einzigen Fehltritt ihrerseits / vernichtet ist. Wie entsetzlich entehrt, ja wie mit Grind und Aussatz bedeckt sich eine Frau durch ehrlose, schurkenhafte, lächerliche Verfehlungen eines Mannes in der Sexualsphäre fühlen kann, wurde noch nirgends erörtert.

Es gibt einen Typus Mann, der, gleich der Dirne, überhaupt kein Verhältnis zu den Dingen hat, außerhalb der Geschlechtssphäre Weininger sagte noch Weitgehenderes »der« Frau nach: sie hätte kein »Verhältnis« zu den Begriffen, / zu den Ideen, besonders nicht zu Ideen, wie Scham, Gewissen und / Moral!!!. Der also, ebensowenig wie eine Dirne, nie »allein« / eine Erholungsreise macht, nie allein der Natur nähertritt, nicht ohne sexuelle Gesellschaft ein Theater, eine Gemäldeausstellung aufsucht, nicht still für sich ein Buch genießen kann, / ja auch nicht »allein«, ganz wie die Dirne (für die das alles nur in Betracht kommt, wenn »ein Herr« dabei ist, / natürlich ein zahlender Herr,) / etwa zur Auffrischung der Stimmung ein gutes Restaurant besucht, / kurzum ein Mann, der, wie die Dirne, nie in seinem Leben auch nur acht Tage im »Zölibat« (!) gelebt hat, immer an irgendeinem noch so schmutzigen Weiberkittel kleben mußte, weil er mit sich allein, außerhalb seiner Arbeitsstätte, gar nichts anzufangen weiß. Wenn ein solcher Mann sich verheiratet, so wird er / wenn die Frau einmal aus irgendwelchen Gründen verreist und ihn daher nicht »beaufsichtigt«, oder wenn er verreisen muß, schon aus diesem Grunde, weil er mit sich allein nichts anzufangen weiß, sich sofort irgendwelche »Freundinnen« für seine Mußestunden suchen, weibliches Gelichter der obskursten Zone aufgreifen, dem er dann den »Kavalier« macht, die er vielleicht, / ihrer gesellschaftlichen Sphäre gemäß, / zum »Tanze führt« und mit denen er dann unbekümmert das / Ehebett teilt …

Man könnte fragen: wie kann eine bessere Frau an einen solchen Menschen als Ehemann geraten? Weil er, als er um sie warb, als besserer Mensch auftrat, weil sie an seine treue Liebe glaubte, und weil er ihr schlicht versicherte: »Ich weiß, was ich dir schuldig bin«. Und wenn sie auch das Gefühl hatte, ja deutlich wußte, daß seine persönliche Entwicklung der ihren nachstand, / so war das doch für sie kein Grund, anzunehmen, daß der Mann moralisch minderwertig, ja imbezil sei und die Ehe auf eine so groteske Art jemals schänden würde.

Geschähe ähnliches einem Mann von einer Frau, so wäre ein Wurf auf den Misthaufen des Lebens die einzige Antwort. Die Frau aber muß einem solchen Menschen noch mit »sachlicher Ruhe« begegnen, / damit sie ihm ihr Hab und Gut aus den Händen winden kann.

Es ist zweifellos, daß jede Art Schlechtigkeit, Verbrechen, Gemeinheit / aus einem Mangel an Bewußtsein kommt, aus dem Mangel an Gewissen. Hat jemand Gewissen nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst, / weiß er, was er sich schuldig ist, / so empfängt er von da aus Signale, / die dem Verstand gegeben werden; Skrupellosigkeit ist also mit einer gewissen Geistesdumpfheit, mit einem unternormal entwickelten Bewußtseinszustand identisch. Und der ganz Skrupellose ist / der Verbrecher und der Idiot. Am häufigsten verbreitet ist die Mittelstufe zwischen beiden, moralische Idiotie, auch moral insanity genannt.

Von dieser Schuld aus Mangel an Bewußtsein fand Sokrates, daß sie die schwerere sei als die, die mit voller Einsicht begangen wird; ihm schwebte dabei sicherlich etwas wie die Erbschuld vor, die Schuld, die es ist, weil der Vererbungsstrom verdorben wurde, die daher / eine Schuld von Generationen ist. Christus fand aber gerade hier das Moment / das die Vergebung rechtfertigt. Auch er betonte deutlich diesen Mangel an Bewußtsein, indem er sprach: Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun … Es geschieht mit ihnen. Das Moment der Aktivität wird, in dieser Auffassung, umgewandelt in jenes der Passivität. Aus den Schuldhaften heraus wirkt etwas, dem sie selbst nur Untertan sind. Irgendein infernalischer Zwang macht das aus ihnen und mit ihnen, / und die Gegenlenkung durch das eigene, klare Bewußtsein oder durch einen bewußt wirkenden Gegenwillen / fehlt. Der ausgesprochen schlechte Mensch ist aber der, der ganz genau weiß, was er tut und dennoch gemein und verbrecherhaft handelt.

Gegen die Erbschuld / Erbsünde / gibt es nur eins: das Bewußtsein der Menschen für Gut und Böse stärken und klären, durch Belichtung aller seiner Zusammenhänge. Die Seele des Verbrechers ist allerdings ein Kosmos für sich, der seinen eigenen zwingenden Gesetzen gehorcht, fast unbeeinflußbar ist durch alles und jedes, mit Ausnahme: seiner eigenen Pein, die daher im Übermaß über ihn kommen muß (daher der Begriff der Strafe, des Gerichts), ehe ein normales Bewußtsein, eine leise Dämmerung dessen, was er andern antat, über ihn kommt. Vor allem ist er ein Mensch, der falsch / nämlich böse / denkt.

Es ist seltsam, daß auch die schwersten Kränkungen mit der Zeit vor einem philosophischen Blick / den Stachel verlieren, daß bei einem Menschen, der gewohnt ist, die Dinge forschenden Auges zu betrachten, jede Empörung über noch so krasse Schandtaten, die an ihm begangen wurden, schließlich herabsinkt und einer gelassenen, forschenden, ja sogar nachsichtigen Art der Anschauung Raum gibt. Das Bedürfnis, die Zusammenhänge rätselhafter Verfehlungen zu finden, überwiegt die dunklen Anstürme des Gefühls. Einen geifernden, nachtragenden Groll, der die kleine Natur so deutlich charakterisiert, kennt ein solcher Mensch überhaupt nicht. Aber sein Schmerz, seine Empörung wird in hohen Wogen fluten, solange er nicht alle ursächlichen Zusammenhänge aufgefunden hat. Je mehr er sie findet, desto mehr befreit er sich von den Qualen, von dem würgenden Gefühl des Grolls.

In seinen »Toten Seelen« sagt Gogol: »Dreimal weise ist, wer überhaupt keinen Charakter verabscheut, sondern prüfend seinen Blick auf ihn heftet und ihn begreifen lernt in seinen innersten Triebfedern; wie schnell wandelt sich alles im Menschen: ehe man sich's versieht, hat sich im Innern ein furchtbarer Wurm eingenistet, der wächst und wächst und alle Lebenskräfte herrisch in sich aufsaugt.« Der furchtbarste Wurm ist der / der Skrupellosigkeit. Von dem Menschen, der mit verheerenden Leidenschaften behaftet ist, sagt er: »Sie werden mit ihm geboren, und keine Kraft ward ihm gegeben, sie weit von sich zu stoßen.« Und von jenen andern, die durch fremde Missetaten in tiefe Finsternis gerieten, erkennt er, daß auch hierin ein großes Schicksal sich an ihnen vollzog: »Sie kamen, um das den Menschen unbekannte Gute zu erfüllen.«

XI.
Entsühnung

Ein Hauptmoment, das die Versöhnung bei Ehekatastrophen verhindert, / ist die Scham. Und nicht nur die Scham des Gefallenen vor dem andern, nicht nur die Scham des andern, sich wieder zu jenem zu bekennen, / sondern die Scham des Reinen und Ehrlichen vor dem, der betrog und verriet und die Ehe und sich selbst beschmutzte. Man schämt sich, als der betroffene Teil, vor dem, der das tat. Man kann ihn, solange diese Vorstellungen überwiegen, nicht ansehen, / geschweige denn daß man irgendwelche Annäherungen von ihm ertragen könnte. Die Vision, / wo er war, was sich zwischen ihm und gewissen Wesen begab, körperlich und seelisch, besonders aber / körperlich, verhindert das.

Es muß ein übermächtiger Eindruck kommen, um diese Vorstellungen zurücktreten zu machen, diese Visionen zu bannen, den langsamen Aufstieg des alten Gefühls vielleicht zu ermöglichen. Die Idiosynkrasie, die durch diese Untaten erzeugt wurde, kann nur durch antagonistische Vorstellungen stärkster Art vielleicht überwunden werden.

Das Kriegserlebnis des Mannes ist ein solches Erlebnis. Es entsühnt ihn vor der Frau, es schafft antagonistische Vorstellungen, es befestigt in ihr die Überzeugung, daß ein Mann, der das mitmachte und dessen Bewußtsein durch die schwerste Katastrophe seines Lebens, / die Katastrophe seiner Ehe, / aufgerüttelt wurde, unmöglich in derselben Dumpfheit wiederkehren kann, in der er gegangen ist. Die Vorstellung der Kriegseindrücke des Mannes läßt in einer Frau zeitweilig die Erinnerung an die Untaten verblassen. Sie hat das Gefühl, als ob die Erlebnisse, die ihn jetzt umgeben, größer seien, als die Verfehlungen / schmutzig waren. Und diese Vorstellung drängt zeitweilig diese Erbärmlichkeiten zurück und ermöglicht, / wenn sich die Charaktererneuerung mit ihm vollzogen hat, / die Versöhnung.

Ermißt man, was durch den Geschlechtsverrat zerstört wird, so muß sich wahrlich selbst der, der über sein eigenes Treiben beharrlich die Augen schloß, fragen: Lohnte das?

Nur eine Quarantäne unermeßlicher Leiden kann einen Menschen, der der Verderbnis verfallen war, zur Entsühnung bringen. Diese Quarantäne hat in vielen Fällen der Krieg geschaffen. In viele schwebende Scheidungen hat diese Tatsache das Moment der Versöhnung hineingetragen, auch wenn sie vorher unmöglich und für alle Zeiten ausgeschlossen schien. Eine Frau, die mit ihrem Manne in Scheidung gewesen war, hatte vorher, wenn sie ihm, bei Gericht etwa, begegnen mußte, das Bedürfnis, sich dicht zu verschleiern (!), so sehr schämte sie sich, ihn anzusehen, im Bewußtsein dessen, was er alles / getan hatte.

Ob sich in einer Ehe, die einmal verwüstet wurde, jemals wieder Vertrauen und Unbefangenheit herstellen läßt, hängt ganz und gar von dem Grade ab, in dem sich die Umwandlung bei dem, der ihrer bedurfte, vollzogen hat. Unbefangenheit ist jenes herzliche Gefühl, welches aus dem fraglosen Vertrauen, aus der sicheren Überzeugung, daß man hier behütet und geborgen sei, sich ergibt. Gibt es etwas Furchtbareres, als diese gute Unbefangenheit, die eine Fülle von Erlebensmöglichkeiten, die noch zwischen zwei Menschen liegen, in sich birgt, auf eine so grauenhafte Art zu vernichten? Es ist überhaupt seltsam, daß die Menschen so beflissen scheinen, wenn sie in dieser eisigen Welt irgendwo das Kostbarste errungen haben, was es in ihr gibt, ein warmes Herz, / daß sie bemüht sind, mit Knitteln und Keulen diese Gefühle totzuschlagen, / Taten zu setzen, Dinge zu tun, die nie wieder aus der Welt geschafft werden können, ihrer Person als etwas Unlösliches anhaften und die guten Gefühle, die man für sie hatte, mit aller Gewalt erschlagen.

In Newyork ist beim Gerichtshof für Familienangelegenheiten (Domestic Relations Court) neuestens ein »Versöhnungsabend« für streitende Eheleute eingerichtet worden. Jeden Montag Abend hält sich der Richter in Bereitschaft, Klagen über Ehezwistigkeiten entgegenzunehmen, mit der ausgesprochenen Tendenz, eine Versöhnung herbeizuführen. Die Bemühung geht so weit, daß man mit dieser Einrichtung eine Arbeitsvermittelungsstelle verbunden hat, weil es sich nämlich herausstellte, daß der Grund des Zerwürfnisses sehr oft in wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu suchen war.

In Goethes »Wahlverwandtschaften« reist ein »Mittler« von einem Ort zum andern, angerufen von Familien, um zu vermitteln, zu schlichten, Verständigung anzubahnen, Verborgenes zu ergründen, / zu versöhnen. Ohne diese Gabe, den meist geheim gehaltenen, wahren Grund, der oft den Entfremdeten selber nicht bewußt wird, zu entdecken, könnte er seine Mission als Mittelsmann niemals erfüllen. Er muß instinktiver Psychologe sein, um zu erfassen oder zu ahnen, was Menschen, die im tiefsten Grunde dennoch verkettet sind, die ihr Leben auf Gemeinschaft gegründet haben, die die gute Absicht hatten, im engsten Bunde zu bleiben, / zerklüftet und scheidet. Die Argumente der Oberfläche sind meist nur Vorwand und zwar ein solcher, den sich das getäuschte, dumpfhörige Oberbewußtsein des Menschen selbst vorspiegelt. Die tiefsten Strömungen der Entfremdung kommen aus den tiefsten, verborgensten Quellen des Charakters, der vielleicht niedergezwungenen Anlagen geheimer, böser Triebe, die dämonisch in dem Organismus wüten und sich in aggressiven Ausfällen nach außen hin entladen. Der Grundsatz dieses »Mittlers« ist: »Wer was Besseres will, als er hat, der ist ganz starblind«. Goethe »Die Wahlverwandtschaften«. Gewöhnlich wollen die Menschen in der sexuellen Sphäre aber nicht »was Besseres«, sondern sie haschen gierig nach Schlechterem und Schlechtestem, / nach »Wegwurf«. Hamlet.

Auch in einem spanischen Drama, welches auf die deutsche Bühne kam, in »Galeotto«, wird von dem »Mittelsmann« gesprochen, und es bleibt uns unvergeßlich, wie Kainz, mit seiner wunderbaren Stimme, die die Harmonie der Sphären zu umschließen schien, die Verse von dem »freundlichen Mittelsmann« sprach; diese Rezitation ist für ewige Zeiten bewahrt und erhalten / im Phonographen.

Natürlich wird eine vermittelnde Mission bei einer Ehe, die am Rande des Abgrundes steht, nur wirken, wenn sie von einem wirklich wohlwollenden Menschen aus erfolgt, der nicht etwa ein verkappter Feind ist, wie dies meistens bei solchen, die sich zu dem Vermittelungsamt etwa erbieten und insgeheim die eigensüchtigsten Absichten verfolgen, vorzukommen pflegt. Ferner muß der vermittelnde Dritte vor allem Psychologe sein, um das herauszufinden, was in Wahrheit verborgen wird / oft vor sich selbst / und einen verirrten Willen, von da aus, wieder in die rechte Bahn zu bringen.

Charakteristisch ist es, daß sich in der immer mehr zunehmenden Vereisung des modernen Lebens überhaupt kaum je ein solcher wahrer Vermittler und Versöhner finden wird, daß ein ganzer, großer, sogenannter »Freundeskreis« sich »reserviert« verhalten wird, wie es sich für »Kulturmenschen«(!) schickt und daß, wenn sich einer angeblich zum Vermittler erbietet, er sehr oft in Wahrheit die Zerstörung durch Suggestionen herabsetzender Art noch schüren wird. Charakteristisch für den Verfall ist es auch, daß, wenn in solchen »aufgeklärten« Kreisen, ein Mensch, der sich Freund eines andern nennt, durch Zufall erfährt, daß der Ehegefährte dieses Freundes / im tiefsten, unheimlichsten Geschlechtssumpfe steckt, mit der Tiefe Dauerbeziehungen unterhält, daß der Freund oder die Freundin also ahnungslos in einer Pestbaracke lebt, / er diese sogenannte Freundin nicht einmal warnen wird; / mag sie doch die Syphilis davontragen … Er wird auch nicht etwa, im stillen und mit dem nötigen Ernst, den verbrecherischen Ehegefährten des Freundes zur Rede stellen, sondern als »taktvoller« Mensch darüber »hinweggehen«, / als sei das gar nichts!! Er wird sein Wissen höchstens zu schmutzigem Klatsch benutzen, nicht aber zu heilsamem Eingreifen.

So sah vielfach die Ehe, so sah die Liebe, und so sah die Freundschaft aus, / in dieser letzten Epoche.

So stark auch das Gattenband zwischen zwei Menschen sein und wirken mag, / selbst gegen ihren Willen, / so hält auch dieses Band nicht ewig. Durch ein Übermaß von Schrecken, in die das eigene Leben durch die Verbrechen eines andern geriet, wird auch dieses Band zerstört. Das Kriegserlebnis schafft zwar, wie kein zweites, antagonistische Vorstellungen, besonders deshalb, weil in der zurückbleibenden Frau alles, was in ihr selbst Wille zum Leben war, / nahezu gebrochen ist. Und dennoch genügen diese Vorstellungen nicht, um die reinen Gefühle des Schmerzes, der Angst, welche sonst eine Frau für ihren Mann, den sie in ständiger Todesgefahr weiß, empfindet, / auszulösen. Je länger die Trennung dauert, desto mehr scheint ihr dieser Mann / einer längst versunkenen, schemenhaften Vergangenheit anzugehören. Die Trennung, an der sie so schwer trug, als sie durch die Katastrophe der Ehe herbeigeführt wurde, / ist ihr immer gewohnter geworden, sie hat ihre tiefe Einsamkeit lieben gelernt, und wenn sie das Stübchen betritt, das sie mit dem komfortabeln Heim vertauschte, / so atmet sie auf und denkt: Gottlob! hier verrät mich niemand, / hier ist reine Luft, / hier ist gut sein. Ein neuerliches Leben mit diesem Manne kann sie sich immer weniger vorstellen und kann sich kein Bild davon machen, in welcher Weise es verlaufen sollte, / kann sich nicht ausmalen, daß sie je wieder in harmloser Vertraulichkeit mit ihm sprechen, mit ihm zusammen etwa eine Mahlzeit einnehmen könnte, / geschweige denn – – – alles andere. Eine Frau, die das ganze Grauen des Geschlechts-Bösen erlebte, hat überhaupt nur noch einen einzigen Wunsch: Für sich und die Ihren den Lebensunterhalt zu finden, ihre wirtschaftliche Existenz wieder herzustellen, vor Not bewahrt zu bleiben. Andere Wünsche kennt ihr Herz nicht mehr, wohl aber eine deutliche Angst vor der neuerlichen Möglichkeit des furchtbarsten Mißbrauchs ihres Lebens. Malt ihr Herz sich ein Glück aus, so ist es dies: wieder einmal ein eigen Heim zu besitzen, aber / ohne einen Todfeind darin / und eine dicke, dicke Mauer rings umher, die jedem den Eingang verwehrt.

Diese Vision / von der Mauer / kann zur beherrschenden werden … Und denkt sie insbesondere an ihren Mann und malt sie sich aus, daß er je wieder vor ihr stehen könnte, / so wünscht sie, daß, wie auf ein Zauberwort, die Mauer zwischen ihm und ihr sofort aus der Erde wachsen würde, / undurchdringlich. Alle die notwendigen Vereinbarungen und Unterhandlungen, die sie noch mit ihm haben wird, erscheinen ihr als eine Kette von Foltern, die sie aber über sich ergehen lassen muß, um nicht gänzlich verarmt dazustehen und ihrem Leben nicht selbst ein Ende setzen zu müssen.

Die schwarzen Medeagedanken wallen immer wieder in ihr auf, / trotz der ungeheuren Schrecken des Krieges. Zu andern Zeiten aber versinken diese Gefühle, und es kommt das Mitleid, welches im Herzen einer Frau niemals ganz zu ertöten ist. Und sie weiß dann, / daß dieser Mann da draußen in einer ungeheuren Gefahr ist, in einer ganz besonderen Gefahr, weil er hinausgegangen ist, / verfolgt von Flüchen, weil nirgends die Liebe / für ihn betet. Weil tiefste Finsternis in seiner Seele war und / vielleicht noch ist. Und sie bringt es fertig in solchen Stunden / für ihn zu beten.

»Drohe nicht, Hirn,
Das Herz hat Flügel,
Beuge dich, Menschenstirn,
Vor himmlischem Zügel!« »Lied aus Deutschen Herzen.«

Herbert Eulenberg gibt in seinem Schauspiel »Alles um Liebe« die folgende Szene. Ein Mann kommt aus der weiten Welt zurück, zu seiner Frau, und bringt, verborgen unter seinem Mantel, / ein Kind mit.

Lenore:

Das hättest du getan, und mir getan,
Das ist ein Märchen, Lucian, erfunden
– – – – Ich glaub' es nicht.
– – – – – – – – –
Ein Kind kommt doch nicht ohne Kuß zur Welt, (!)
Nicht ohne zwei. Drum lügst du, mußt du lügen.
Denn sonst steht alles um mich auf dem Kopf.
– – – – – – – – –

Lucian:

Ich mag dir nichts versprechen, denn dem Dieb,
Der seinen Raub gesteht, nein, Räuberein,
Glaubt man nicht viel. – – – – – – – –
Doch blick' mich nicht wie einen Fremdling an,
Denn glaube mir, glaub' mir dies eine nur:
Ich hab' in meinem ganzen Leben nicht
Dich so geliebt wie jetzt in dieser Stunde.

Lenore:

Wem soll ich glauben, jenem Lucian,
Der gestern vor mir war, ein fremder Mensch,
Mit andrer Sprache, anderm Gang und Antlitz,
Dem ich mit Grauen nur begegnet wäre!

Lucian:

Nein, glaub dem Lucian, der vor dir steht,
Der dein ist, wie das Leben, das du hast.
– – – – Wenn du jetzt von mir gingest,
So tränk ich mich zu Tode, wie mein Vater
Und ließ die Worte auf den Grabstein meißeln:
»Lenore war mein Leben und mein Tod.«

Die nächste Folge des Treubruches und des Verrates, / besonders wenn er sich unter den schmählichsten Formen abgespielt hat, / ist, / daß sich diesem Menschen gegenüber, den man sich im Sexualakt mit bestimmten Wesen denken muß, / Sexual-Anästhesie entwickelt. Man möchte sich oftmals vielleicht gern mit ihm »versöhnen«, aber man ist in der Geschlechtszone ihm gegenüber gelähmt. Es müßten Wunder des Gefühles erblühen, um diese Vorstellungen zurückzudrängen, was nur möglich ist, wenn sie durch Erkenntnis ihrer tiefsten, fatalistischen, ja karmatischen Zusammenhänge / überwunden werden.

Ein Mann, der so wiederkommt, wie Lucian, bekennend, dem draußen in der Welt bei langjähriger Trennung ein Treubruch »geschah«, den er selbst als den größten Schmerz seines Lebens empfindet, den kann man sicherlich, mitsamt der Frucht seines Fehltritts, / mit offenen Armen willkommen heißen. In der Dichtung entbehren solche Katastrophen nicht einer gewissen Stilisierung, die sie aus dem Schmählichen ins Leidenschaftsverschönte emporhebt. Die Forschung muß aber ihren Blick auf die Wirklichkeit heften, und da zeigt sich, daß der Geschlechtsverrat begleitet zu sein pflegt von den ungeheuerlichsten Missetaten aus der gemeinsten und niedrigsten Zone.

Irrelevant sind / in ihrer Wirkung / Verfehlungen und Entgleisungen einer Frau, verglichen mit den Folgen des Sinkens eines Mannes in der Geschlechtssphäre. Denn taugt die Frau nichts, / so löst man sich von ihr, / und der Schrecken ist zu Ende. Taugt aber der Mann nichts, ist er vom Geschlechtsteufel erfaßt und verdorben, / so wachsen die Familienkatastrophen ins Unermeßliche, / denn mit ihm ist alles / der Rückhalt der Familie / verloren.

Keinerlei verbrecherhafte Anlage ruiniert so unbedingt sicher das Schicksal einer Familie, wie die Anlage zum Sexualverbrecher, worunter ich die Skrupellosigkeit in der Sexualsphäre im weitesten Sinne verstehe. Selbst die Trunksucht führt nicht zu einem so vollständigen Ruin. Denn kein Verbrechen schafft eine solche Zerklüftung zwischen Ehegatten, wie dieses. Mag ein Mann im Lebenskampf straucheln, mag er in die Irre kommen, auf welche Art sonst, mag er selbst Namen und Ehre verlieren, / die Frau, der er ein guter Mann war, wird dennoch bei ihm aushalten. Ja manche hochherzige Frau hält selbst bei einem Manne aus, der nicht gut zu ihr war, / einfach weil diese Dinge nicht vorlagen, diese Schmutzereien und Verrätereien in der Geschlechtssphäre. Bei Sexualdelikten, und nicht nur bei solchen, die strafrechtlich gefaßt werden, sondern bei Sexualverbrechen, durch die die Ehe und die innerste Beziehung zweier Menschen zugrunde ging, / wird kaum eine Frau ausharren, zumindest nicht, ohne die schwerste Krise ihres Lebens zu erleben.

Jedes andere Verbrechen, das ein Mann beging, hat er vielleicht gerade für sie begangen. Hat er gestohlen, so war's vielleicht, um ihr Brot zu schaffen. Diese Untaten aber, die er am Geschlecht vollführte, die hat er gegen sie begangen. Hier war er ihr bewußter Feind / von Anfang an. Darum wird sie das Gefühl haben, wenn sich das alles enthüllt, / in einer Mördergrube bei diesem Manne gewesen zu sein, / in der furchtbarsten Zone der Schrecken, und sie wird versteinern, so wie es im Märchen geschildert wird, wo nach und nach ein Mensch zu Stein wird, bis schließlich auch das Herz versteint. Während aber das Herz einer Frau noch sehr lange zuckend bluten kann und sich krümmen wird unter dem, was ihr geschehen ist, wird sie auf jeden Fall versteint sein / vom Gürtel abwärts.

Man denke an ein Schicksal wie das Oskar Wildes. Aus einer glänzenden Bahn geworfen, die er allerdings durch herausfordernden Übermut schon immer gefährdete, / weil er geschlechtlichen Lastern verfiel. Er verlor, mit einem Schlage, so viel, als ein Mensch nur verlieren kann, / alles. Sein schönes Weib, seine Kinder, sein Heim, seine Stellung in der Welt, alle seine Einkünfte. Als Sexualverbrecher im Zuchthaus, erlebte er zwar dort, was ihm am meisten nottat, / die Buße, / aber als ein gebrochener Mann kam er heraus / ein Bettler. So tief heruntergedrückt wie er war und so schuldbeladen wie er sich fühlte, / war es auch zu Ende mit seiner dichterischen Kraft, die nur aus einem geschlossenen, heilen Selbst kommen kann und für immer dahin ist, wenn ein unheilbarer Riß durch die Seele geht.

Während man im allgemeinen mit jemandem, den man als schlecht erkannt, relativ sehr schnell fertig wird, / wird man über die vernichtenden Enthüllungen, die sich über einen Menschen ergaben, mit dem man sich verbunden fühlte, überhaupt nicht hinauskommen. Dieser Schnitt / geht ans Leben. Der Schmerz, daß das alles mit diesem Menschen geschehen, daß sein ursprünglich Gutes so verwüstet werden konnte, daß die Entwicklung seines Charakters diese entsetzliche Wendung nahm, diese Biegung nach unten, in den Abgrund des Amoralischen, daß die schwarze Magie über ihn Gewalt bekam, wird zehrender, brennender sein, wie jeder Groll.

Das psychologisch Merkwürdige ist, daß in diesem wogenden Gefühlskomplex gerade jenes Gefühl fehlt, welches man bei Sexualkatastrophen für das naheliegendste hält: die Eifersucht. Die Eifersucht ist ein Fieber des Blutes, ein Gefühlsphänomen des Erotismus, eine Revolution der Brunst. Sie setzt voraus / sinnliche Liebe. Wo jede Spur der Geschlechtsliebe verschüttet und begraben ist, ist nicht die Eifersucht, sondern das Grauen das vorherrschende Gefühl. Eifersucht kann meines Erachtens bei besser entwickelten Menschen nur bestehen, solange man sich mit jemandem geschlechtlich verbunden fühlt. Die mögliche Eifersucht gilt dann / einer Eventualität. Ist aber durch den tatsächlich erfolgten Verrat das geschlechtliche Band zerrissen, / so hat man aufgehört, »eifersüchtig« zu sein und hat nur das Bedürfnis / sich in Sicherheit zu bringen, meilenweit zu fliehen. Auf Abirrungen grotesker Art wird keine Frau eifersüchtig sein. Sie sieht den Menschen, mit dem sie verbunden war, plötzlich in einem Hexensabbath, sieht ihn hin- und hergewirbelt von den Ausgeburten der Tiefe. Das ist der eine Fall. Oder sie sieht einen zerfahrenen, lüsternen Windbeutel, der jedem Weib, das ihn haben will, gehört, / eine Dirne im Frack oder im Cutaway. Weder in dem einen noch in dem anderen Fall wird sie »eifersüchtig« sein, sondern nur, wie vor etwas Unfaßbarem, vor der Tatsache stehen, daß sie selbst jemals hier in eine Verbindung geraten konnte.

Im ersten Falle sieht sie in dem Manne ein Opfer des Passiv-Dämonischen, sie sieht ihn gesunken, ja verloren, und ein Schmerz ist da, darüber, daß eine Gemeinschaft, die einst etwas Wertvolles in sich barg, die ein tiefinnerer Lebenszusammenhang hätte werden können, / durch alles das, was da geschah, für immer vernichtet ist, eingerissen, wie von wütenden Elementen, die diese Gemeinschaft, dieses Heim, bis zum letzten Stück Besitz / demolierten, / daß das alles ausgetilgt werden mußte, wie mit Feuer und Schwefel.

Diese Wunde ist wie die des Amfortas; sie schließt sich durch nichts / als durch Entsühnung. Den chaotischen Massen des Grolles und des Grauens, der Erbitterung und Empörung / stehen gegenüber die des Schmerzes und des Mitleids. Diese Doppelgefühle gelten / der Doppelnatur. Von der Doppelgeschlechtlichkeit, der Bisexualität der Lebewesen, hat man in den letzten Jahren wissenschaftlich viel gesprochen, von der Doppelpersönlichkeit in manchem Menschen noch sehr wenig und von dem Antagonismus zwischen einem persönlich-metaphysischen Ich und einem ererbten atavistischen Ich / noch fast gar nichts. Eine Ausnahme macht der jüngst veröffentlichte Roman von Hans Land »Friedrich Werders Sendung«, in dem dieses Problem psychologisch und kriminalistisch durchgeführt ist. Es geschieht dies, auf sexuellem Gebiet, hier zum erstenmal. In einem an sich guten und liebenswürdigen Menschen steckte / ein »Anderer«. Und all das rätselhaft Böse, das man von ihm erlebte, / muß man diesem anderen Menschen in ihm zuschreiben. Dieser »Andere« mißgönnte sogar sich selbst, d. h. dem besseren Menschen in ihm / das Weib seiner Liebe und suchte ihn von diesem Weibe loszureißen. Hat man dieses Geheimnis enträtselt, so wird man die Untaten nicht mehr einzeln, als eine Kette von Greueln, ins Auge fassen, / wobei man Gefahr läuft, wahnsinnig zu werden, / sondern sie summarisch nehmen: / Ausbrüche des Atavismus, herausgetrieben durch den Dämon des Geschlechtes.

Genesung und Erlösung kann nur erfolgen durch einen gewaltigen Prozeß der Wiedergeburt, der inneren Reinigung, der sich in diesem, von einem zweiten Ich besessenen Menschen vollzieht, durch den vollkommenen Sieg des Guten in ihm, über sein angestammtes Böses, durch eine furchtbare Krise der Qualen, aber auch der Rettung, die er besteht. Wenn er die Kraft findet, dieses andere Ich in sich selbst anzusehen, es zu erfassen, es aus sich herauszustoßen und das Ungeheuer zu erwürgen, / so ist er gerettet.

Dieses furchtbare Sinken eines Mannes, dieser Verrat am Heiligtum, dieser rapide Sturz in die tiefste Tiefe, dieses unaufhaltsame Weiterrollen bis an den Boden des Abgrundes, diese Wandlung, aus einem zärtlichen und hingebenden Liebenden und Gatten in einen von Hexen gestachelten Todfeind, / ist nur durch den okkulten Schlüssel, durch die Lüftung der letzten Geheimnisse der Sexualmystik zu erklären, / sonst durch nichts.

Es paßt auf diese furchtbaren Vorgänge eine Definition, die ein tiefschürfender, produktiver Kritiker zweimal für den letzten Schlüssel des Tragischen überhaupt gefunden hat. In seiner Macbeth-Besprechung sagt Fritz Engel, daß der Darsteller die Gestalt des Macbeth mit der Absicht in sich aufnahm, »den Verfall einer brüchigen Natur darzustellen … Dieser Macbeth ist ein Mann, der von außen bestimmt wird. Nicht in seiner Brust sind seines Schicksals Sterne, sie wirken vielmehr aus der Umwelt auf ihn ein. Auch die prophezeienden Hexen sind nur bildliche Mittel, um ihn so zu charakterisieren, und Lady Macbeth, diese Hexe in Zivil (!), ist der eigentliche Motor für sein immer auf Anstoß wartendes Naturell.«

Und von den Menschen in Franz Dülbergs Drama »Karinta von Orrelanden« sagt derselbe Kritiker: »Sie sind die Träger widersprechendster Empfindungen, an denen sie sich, im steten Kampf mit sich selber, das Herz blutig reißen. / Man kann, wie bei Hebbel, sagen, daß es sich um die Katastrophe von guten Menschen handelt, die gegen ihren Willen Böses tun.« Beide Besprechungen erschienen im »Berliner Tageblatt«.

Die Okkupation des Willens von einem fremden Willen erfolgt nirgends, auf keinem Gebiete, so restlos, wie in der geschlechtlichen Vermischung. Man kann hier das Schauspiel erleben, daß aus einem Menschen, durch eine ganze, lange Zeit hindurch, ein fremder Wille herauswirkt und daß man ihm deshalb natürlich, von keiner Seite »beikommen« kann, solange er in diesem schwarzen Banne ist. Erst wenn der »Hypnotiseur« selbst den Todesstoß bekommen hat, / wird er frei / und erwacht. Solange dies nicht geschehen ist, hat er, wie die nordische Mystik es nennt, das »verkehrte Gesicht«.

Wie Bakterien und Mikroben liegen die Magien des Bösen, zu Myriaden, gerade in der Atmosphäre des Geschlechtes. Auf einem gesunden Organismus können sie nicht gedeihen, er stößt sie, mit Vehemenz, von sich. Darum ist das Leben eines Menschen von gesundem, defensivem, moralischem Organismus / ein einziger Kampf / gegen all den Unrat, der von allen Seiten angeflogen kommt, sich auf ihm »niederlassen« und ihn verwüsten will. Der moralisch kranke, wenig widerstandsfähige Organismus hingegen ist zum Ansiedelungsherd für diese Fäulniserreger, von Geburt an, prädisponiert. Hier, auf ihm, können sie sich »entwickeln«, / bis er ihnen / erliegt.

Als die weitverbreitetste Krankheit der vergangenen Epoche habe ich »sexuelle Hörigkeit« bezeichnet. Das ist vielleicht insofern nicht ganz richtig, als diese Krankheit, ebenso wie »geile Sucht« und ähnliches nur eine Folge ist, nur das Symptom einer anderen Krankheit, die, in dieser letzten Epoche, die unheimliche Verbreitung einer Epidemie, einer Seuche hatte. Diese Krankheit ist: moral insanity.

Hier gibt es aber Grade und Unterschiede. Man fühlt ganz genau, ob einer unrettbar moralisch verseucht ist / sozusagen mit moralischer Syphilis geboren / oder ob in ihm Böses und Gutes im Kampfe waren und er unterlag, / vielleicht weil ihm die richtige, lenkende Liebe eines Weibes fehlte, / ihre tiefste innerste Treue und Zugehörigkeit. Erwacht und erstarkt dieses Gefühl in ihr / und die Überzeugung davon in ihm, die Sicherheit, / daß er bei ihr geborgen ist, wie nirgends sonst in der Welt, / so sind beide / gerettet … Auch der Sturz eines Mannes, an der Seite einer schuldlosen Frau, hat vielleicht / okkulte Gründe …

»Das Subjektivste von allem kann nicht objektiviert werden und darf es nicht. Es ist sakrosankt und darf nicht mit Worten ausgesprochen werden, wie der Name J. H. V. H. Es ist Lästerung, wenn man es doch tut, und wird mit dem Tode bestraft.« Strindberg, »Das Buch der Liebe«. Georg Müller, München.

Die Wiedergeburt / kann sich vollzogen haben / durch das große Leid, das über die Menschheit kam. »Wir sehen die uns auf kurze Zeit Geschenkten, nun zur Front Zurückkehrenden mit ganz anderen Augen, sehen sie, wie wir sie bisher niemals gesehen haben … Mit einemmal ist eine Kluft zwischen uns und ihnen aufgetan, eine ganz große, gar nicht zu überbrückende … Wir weben etwas um ihre Gestalt, ihr Haupt / nein, es ist nicht der Tod, der zwischen uns und ihnen steht, wenn wir von ihnen Abschied nehmen … Es ist etwas Größeres: der Atem der Ewigkeit.« »Die Wiedergeburt der Religion und ihr Woher« von Arthur Brausewetter im »Tag« vom 16. 9. 1915.

Dieses Etwas, das um sie webt, um die, die von da draußen kommen, von jenen Stätten, auf denen sich vollzieht, was man nicht ausdenken kann und was eine Kluft auftut zwischen uns und ihnen, / ist noch etwas anderes, / es ist die Entsühnung. Sie sind entsühnt, / die da draußen waren. Und sie kommen anders wieder, / als sie gegangen sind. Seltsamerweise finden sich der religiöse Denker und der rationalistische Pazifist / hier zusammen. Brausewetter spricht von der Wiedergeburt des Christentums durch den Krieg, weil das Leid wieder zum Erzieher über die Menschheit gesetzt ward: »Das Leid in dreifacher Gestaltung: die freiwillige Übernahme des Leides, die positive Wertung des Leides, die Erlösungsfähigkeit aus dem Leid. Mit einem Wort: die Opferidee.« Und hier sagt der Pazifist und Rationalist / dasselbe: »Die Hauptfaktoren der Entwicklung sind die Liebe und der Tod.« J. Novicow.

Wir erlebten die Wiedergeburt des Heroentums bei denen, deren Aufgabe in dieser Zeit der Kampf war. Wir erlebten die Wiedergeburt des Christentums bei denen, deren Aufgabe in dieser Zeit die Liebe war und das Leid. »Stark wie der Tod ist die Liebe.« Tod und Liebe, / nie waren sie so nahe beisammen, wie jetzt. Wir erlebten, durch das große Gericht, das über uns verhängt ward, / die »innere Wandlung«, die Wiedergeburt der Seele und des Charakters, sowohl des Einzelnen als des ganzen wehrhaften und liebenden Volkes, / Erneuerung. Wir erlebten durch dieses Gericht / die Metanoia des deutschen Volkes, und / wir erleben vielleicht auch noch / die Metanoia der Liebe.

Hoffnungsvoll / dem Aufbau neuen Lebens entgegen zu sehen, / das ist es, was wir wollen und müssen. Unsere Lebenskraft, die schon verschüttet war unter den Trümmern, muß ihre Gruft sprengen und auferstehen. Wie ein Symbol mag uns die Verheerung erscheinen, die von feindlichen Scharen der Osten des Deutschen Reiches erlitt. Und so wie der Feind von da hinausgejagt wurde und man aus den Ruinen neues Leben rief, / so muß auch die Seele an jede Möglichkeit der Rettung, der heroischen Befreiung und des neuen fruchtbaren Aufbaues denken. Ein inniges Gedicht von Bruno Frank mag hier, wo von aufbauender Liebe die Rede ist, seinen Platz finden:

OSTPREUSSEN.

»Zum Hammer wird das Schwert und wird zur Kelle,
Deutschland ist reich an Helfergeist und Stein,
Und über neuer Häuser blanke Schwelle
Zieht Dank und Mut und neue Hoffnung ein.

Denn ob nun auch dies Volk zu hassen lernte,
Beim Haß verweilen, wär' ihm viel zu klein;
Und aller schwarzen Saaten lichte Ernte
Wird neuer Bund und neue Liebe sein

XII.
Das Wesen des Erotismus

Der Trieb nach geschlechtlichem Glück ist die gefährlichste Klippe der Menschheit. Denn ein Niederzwingen dieses Triebes, mit aller sittlichen Macht, gelingt nicht immer. Und wenn es gelingt, wenn man auf erotische Befriedigung verzichtet, ja sogar auf jeden erotischen Anreiz (wozu die Erfahrungen oftmals zwingen), so lastet dieser Druck auf einem lebensvollen Organismus. Sucht man aber diesem Trieb zu geben, was er verlangt, so gerät man in dieser Welt, / wie sie nun einmal ist, / in die furchtbarsten Konflikte und in Situationen, die das ganze Dasein zerstören können. Glück und Stern ist über denen, die hier Erfüllung finden, / ohne vom sittlichen Wege abweichen zu müssen. Im Eros sehen wir die große Naturmacht, das stärkste aller Elemente und das Instrument der okkulten Mächte kat exochén.

Von der Wissenschaft sagt ein Gelehrter Prof. Gustav Friedrich »Der Krieg / das Erlebnis«, Neue Hamburger Zeitung, 14. 2. 1915.: »Nur unsre Kenntnis ist groß; aber unsere Erkenntnis ist noch da, wo sie vor dreitausend Jahren war. Wir haben unsre Unkenntnis nur besser / formuliert.« / »Die Naturgesetze erklären nicht, warum die Dinge sich so verhalten, sondern sagen nur die allgemeine Formel, daß sie sich so verhalten. Sie sind das Rätsel selbst.« Paulsen, zitiert ebenda.

Am stärksten trifft diese Definition beim Geschlechtsproblem zu. Je mehr man davon erfährt, desto rätselhafter wird es im Grunde. Wer in diesen Abgrund, wo die Mütter, zusammen mit den Dämonen, hausen, in diesen Abgrund des Geschlechts, hineingeblickt hat, müßte folgerichtig / die Sprache verlieren, / als ein Stummer von da wiederkehren; / nichts mehr zu sagen haben … In der Schreckenskammer eines Panoptikums sieht man nichts Furchtbareres, / als da …

Trotzdem das Sexualproblem in der letzten Epoche so vielseitig behandelt wurde, ergab sich oft der Eindruck, daß viele, die es berührten, keine rechte Vorstellung davon haben, was das ist: das Geschlechtliche. Sie sehen z. B. nicht das Weltprinzip des geschlechtlich Bösen, nicht das geschlechtlich Verheerende-Wütende, sie wissen nicht, was das ist: die Dirne, sie ahnen nichts von der Macht Astartes, / kurzum, sie behandeln das Sexualproblem mit einer rührenden Ahnungslosigkeit. Aus dieser naiven »Unschuld« kommen alle diese literarischen und schöngeistigen Theorien, bei denen man an ein Kind denken muß, das ahnungslos mit einem Rasiermesser spielt … Die Gewalt der astartischen und phallischen Mächte ist ihnen unbekannt, sie sehen nicht das Reißende, durch und durch Dämonische der Sexualität. Sie meinen, daß man mit guten Vorsätzen und naiven Idealen, jenseits aller Grenzen, die aus dem tiefsten Schacht jahrtausendealter Erfahrungen stammen, auf romantische, ungefährliche Art »umwerten« könne.

Schon Platons Symposion zeigt uns, daß die weisesten Männer Griechenlands sich bewußt waren, hier, im Problem der Sexualität, das Problem der Sphinx zu sehen. Und als sie sich gar keinen Rat wußten, die weisesten Männer Griechenlands, / da wurde Sokrates beauftragt, bei der Diotima, der Priesterin, um Rat zu fragen. Diotima aber entschied: Eros ist kein Gott / er ist ein Dämon.

In der letzten Epoche hat man sich bemüht, auch den Begriff der Liebe zu analysieren. Man hat sowohl die »Naturgesetze der Liebe« Dr. Magnus Hirschfeld, »Eine gemeinverständliche Untersuchung über den Liebeseindruck, Liebesdrang und Liebesausdruck.« Verlag von Max Spohr, Leipzig. Vgl. ferner Justizrat Dr. Max Rosenthal, »Die Liebe, ihr Wesen und ihr Wert.« Verlag von Preuß & Jünger, Breslau. als ihren besonderen Wert als Kulturfaktor zu erforschen gesucht. In seiner Schrift über die Liebe gelangt Dr. Max Rosenthal zu dem »nüchternen Ergebnis«, daß der Kulturwert der Liebe / überschätzt wird. Zu diesem ernüchternden Ergebnis gelangte der Verfasser jedenfalls infolge eines an sich durchaus berechtigten Abwehrinstinktes gegen eine ideologisch überschraubte Liebesromantik und Liebesverherrlichung, die etwas Hohles an sich hat, weil sie blind ist oder sich blind stellt, / gegen die Schrecken der Geschlechtlichkeit. Hat man aber diesen Schrecken ins Auge gesehen und das Wesen der Geschlechtlichkeit in seiner ganzen Abgründigkeit ermessen, dann liegt kein Grund vor, / die Wonnen und die Erhebungen der durch das höchste Gefühl geadelten Geschlechtlichkeit, die Werte des reinen, zärtlichen Empfindens überhaupt, nicht ebensohoch einzuschätzen, als man die Erniedrigung und den Mißbrauch der Sexualität verachten muß. Auch Rosenthal anerkennt den sittlichen und kulturellen Wert der Liebe vornehmlich in jenen Momenten, die / »als ein starkes Motiv zum Widerstand gegen den polygamischen Trieb / auch seitens des Mannes« führen. Er sieht den höchsten Wert der Liebe darin, »daß sie die Neigung zur Beschränkung des Liebestriebes auf ein Objekt stärkt«. Es wird also damit zugegeben, daß Liebe / Monogamie ist.

Das dirnenhafte Element der Welt ist jenes, in dem das animalisch Geschlechtliche ungemischt verkörpert ist und darum eine magisch-magnetische Anziehung auf die riesengroße Überzahl jener Männer ausübt, deren vorwiegende Bedürfnisse nicht psychischer Art sind, auch nicht psychisch-erotischer Art, sondern deren Sexualität auf die geschlechtlichen Organe lokalisiert ist. Beim höher entwickelten Menschen ist die Sexualität ein Etwas, das über seinen ganzen Organismus verbreitet ist, seine physischen, fast noch mehr aber seine psychischen Bedürfnisse bestimmen seine erotischen Instinkte weitaus am stärksten, während der grobgeartete Durchschnittsmensch eben eine psychische Erotik überhaupt nicht hat und seine Sexualität durchaus auf die Keimdrüsen und alle Reize, die auf diese Zone ausgeübt werden, beschränkt bleibt und sich hier übermäßig stark geltend macht.

Bemerkenswert ist, daß die Eugenik, welche die Sterilisierung der Minderwertigen verlangt, auch die Sexualhyperästhetiker mit einbezieht. Auf einem Kongreß der »Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« in Leipzig im Juni 1914 wies Dr. med. Rohleder in der Diskussion darauf hin, daß bei nymphomanischen Prostituierten die Sterilisierung angebracht sei. Der Redner hatte die Sterilisierungsmethode durch Röntgenbestrahlung Die auch zu Heilzwecken erfolgreichst verwendet wird, z. B. in der frauenärztlichen Behandlung von Myomen, / hier ist Dr. Karl Abel in Berlin zu nennen., also die sogenannte unblutige Methode, die überdies auch nur von zeitweiliger Wirkung und nicht mit der Kastration und der Vasektomie resp. Tubektomie / den chirurgischen Methoden der Unfruchtbarmachung / identisch ist, im Auge. Er führte aus, daß nymphomanisch veranlagte Dirnen als rein psychopathische Elemente zu betrachten sind, welche eine zum schweren Verbrechertum prädisponierte Nachkommenschaft in die Welt setzen. Auch Lombroso und Ferri sprechen von der geborenen Dirne und Verbrecherin.

»Von den nordamerikanischen Staaten ist Iowa am weitesten gegangen. Dort werden nicht nur die von mir für die eugenischen Bestrebungen als geeignet bezeichneten obigen Klassen der körperlich und geistig Minderwertigen, sondern selbst die Syphilitiker und Dirnen sterilisiert … Sollen wir die jugendlichen, psychisch (und wie oft auch körperlich) so minderwertigen Prostituierten mit Schwangerschaften und Wochenbetten belasten, wenn wir die fast absolute Gewißheit haben, daß wir nur Prostituierte, Geisteskranke, Verbrecher usw. als Resultat gewinnen? …« Die Eugenik (Rassenhygiene) und ihre Bedeutung fürs weibliche Geschlecht von Dr. Rohleder, Leipzig in »Die neue Generation« Nr. 10/11, 1915.

In der Tat gehören Menschen mit krankem Sexualsinne, Menschen, die an einer chronischen Überreizung des Geschlechtstriebes leiden, der sie bis zur völligen Verdunklung aller sittlichen Hemmungen führt, unter den Frauen sowohl wie unter den Männern, zu den schwer Degenerierten, deren Fortpflanzung verhindert werden soll. Während man aber diesen Typus im weiblichen, als Dirne, relativ leicht erfassen kann, ist der sexuell degenerierte Mann natürlich als solcher schwerer zu erfassen. Gerade diese sexuellen Entartungstypen verderben die Fortpflanzung und bewirken die Überladung der Gesellschaft mit minderwertigen, zumindest stark antipathischen Elementen.

Mehr noch, als auf dem Golde, liegt auf dem Trieb zum Eros / ein Fluch. Die sich ihm verschreiben, mit ungehemmtem Willen zu ihm, die nach ihm begehren, mit allen Fasern, stürzen in Schlünde der grausigsten Tiefe. Und seltsam ist es, daß nichts so sehr anzieht, wie jener Eros / der die Heimstätten einreißt, während jener andere, der sie aufbaut, / der hymnische Cupido, nur bei ganz selten bewußten Gemütern seine reine Tempelstätte findet. Nirgends so sehr wie im Erotischen, findet sich ein Höllengebräu, / verkleidet in die glühendsten Verheißungen, die nach Paradieseswonnen aussehen. Das Getriebe des Inferno ist es, wenn nicht im Einklang mit den höchsten Sphären des Gefühls; auf der einen Seite / die Walpurgisnacht, / auf der anderen / Sphären überirdischer Art.

Die Geschlechtsteile liegen beim Menschen relativ verborgen, sie sind grotesk in ihrem Bau und Aussehen, sie haben etwas Obszönes, in ihrer sonderlichen Anatomie. Auch hier liegt eine metaphysische Andeutung … Am verborgensten liegen sie beim Weibe von höherer Rasse. Während z. B. bei den Weibern wilder Stämme die Schamlippen und die Schamfuge sich über den halben Leib hinaufziehen und klaffen, / ist das Weib der weißen Rasse und der höheren Abstammung eigentlich niemals / nackt. Bei der Venus von Medici sieht man von ihren Geschlechtsteilen nichts, als die sanfte Schwellung des sogenannten Venusberges. Sicherlich eignet ihr nicht / die Magie des Obszönen, die dem Botokudenweib nicht fehlen dürfte …

Fechner spricht in seinem »Leben nach dem Tode« von bösen und guten Geistern, die sich des Menschen bemächtigen. Der Volksmund, die tägliche Umgangssprache sagt dasselbe. Es ist aber mehr als eine Redensart, auch mehr als ein Symbol, / es ist das, was Fechner darunter verstand. Immaterielle Strömungen sind es, die da sind und in den Menschen hineinfahren Über Fechners Philosophie unterrichtet in vorzüglicher Weise, als Einführung in seine Werke, das II. Heft des Serienwerkes »Geschichte der Philosophie seit Kant« von Doz. Dr. Otto Gramzow. Georg Bürkners Verlag, Charlottenburg..

Ganz besonders ist im Neuen Testament der Dämonenglaube ausgebildet. Die Predigten Christi und die der Evangelisten fußen darauf, daß es etwas gibt, das sie »böse Geister« nennen, / ein metaphysisches Etwas, welches als loslösbar und losgelöst vom menschlichen Ich betrachtet werden muß, aber von diesem, seinem persönlichen Ich, Besitz ergreift und mit ihm sein Spiel treibt. Das Austreiben des Teufels, der Exorzismus des Mittelalters, der fast ganz dieselben Formen bei der jüdischen Sekte der Chassidim angenommen hat, wo ein heiliger Rabbi die Austreibung des bösen Geistes, unter bestimmten Zeremonien, die von seltsamen Effekten begleitet sind, besorgt, / alles das fußt auf der Überzeugung, daß eine Macht des Bösen, ein dämonisches Etwas, aus dem Weltenraum in die menschliche Person, in ein abgesondertes Ich hineinfahre bzw. auch wieder hinaus.

»Und er trieb einen Teufel aus, der war stumm. Und es geschah, da der Teufel ausfuhr, da redete der Stumme, und das Volk verwunderte sich … Wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausfährt, so durchwandelt er dürre Stätten, sucht Ruhe und findet ihrer nicht; so spricht er: Ich will wieder umkehren in mein Haus, daraus ich gegangen bin. Und wenn er kommt, so findet er es mit Besemen gekehret und geschmücket. Dann geht er hin und nimmt sieben Geister zu sich, die ärger sind, denn er selbst, und wenn sie hineinkommen, wohnen sie da, und wird hernach mit demselbigen Menschen ärger denn vorhin« (Lukas).

Alles das spielt sich vor unseren Augen ab, und wir verstehen es nicht zu deuten. Wir erleben das grauenhafte Schauspiel, daß ein Mensch von einem bösen Trieb erfaßt wird und daß es immer ärger und ärger mit ihm wird, so daß man ihm von keiner Seite mehr beikommen kann; daß er Untat auf Untat setzt und sich benimmt, / wie ein Rasender, der immer mehr Unheil über sich und die Seinen bringt. Dieser Mensch ist von bösen Geistern besessen. Ein böser Geist, den er hinaustrieb, hat sieben andere zurückgebracht, die in ihn hineingekommen sind und in ihm wohnen und hausen, rumoren und wüten; sein Unglück war, daß er, in seiner Person, das Haus für diese »Geister« darstellte, daß er die / Behausung dafür war / durch die Magie der Vererbung. Jahrhundertealte geheime Missetaten seiner Väter haben Zoll auf Zoll dieses »Hauses« gefügt. Er kam vielleicht als ein guter, liebebereiter, harmloser Mensch zur Welt. Sein persönliches Ich war gut, aber das Haus war von Geburt an prädestiniert zum Tummelplatz für böse Geister / Dämonen. Und das Eingangstor dieser bösen Geister ist / das Geschlecht.

Und gerade das hat die moderne Vererbungsforschung / bisher übersehen. Sie forschte nach der Genealogie in allen Einzelheiten, sie forschte danach, welche Haarfarbe und Zahnbeschaffenheit die Urahnen hatten, ob dieser oder jener kriminell wurde, ob hier östliches oder slawisches oder jüdisches Blut mit germanischem zusammenfloß. Kurzum, sie erforschte den ganzen Mikrokosmos der Vererbung, / aber sie hat nicht beachtet, daß im Geschlecht die Vererbungspeitsche liegt, daß von hier aus die uralten Atavismen wieder lebendig werden und Gestalt annehmen, daß die bösen Geister der Degeneration hier, an dieser Stelle, / herein- und herausfahren; daß der Hexentrank der schlechten geschlechtlichen Vermischung der wahre Wiederbelebungstrank ist für alles Böse in einer Ahnenreihe.

»Und sie kamen jenseits des Meeres in die Gegend der Gadarener. Und als Er aus dem Schiff trat, / lief ihm alsbald entgegen aus den Gräbern / ein besessener Mensch mit einem unsaubern Geist, der seine Wohnung in den Gräbern hatte. Und niemand konnte ihn binden, auch nicht mit Ketten« (wie interessant für die Psychiater; bekanntlich haben Besessene ein übernormales Maß von Kraft; um einen Irrsinnigen zu bändigen, sind oft vier starke Männer nötig); »denn er war oft mit Ketten und Fesseln gebunden gewesen und hatte die Ketten abgerissen und die Fesseln zerrieben; und niemand konnte ihn zähmen.« (Woher dem Wahnsinn eine solche übernatürliche Kraft kommt, ist bisher unerforscht.) »Und er war allezeit, bei Tag und Nacht, auf den Bergen und in den Gräbern, schrie und schlug sich mit Steinen. Da er aber Jesu sahe von ferne, lief er zu und fiel vor ihm nieder, schrie laut und sprach: ›Was habe ich mit dir zu tun, o Jesu, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten! Ich beschwöre dich bei Gott, daß du mich nicht quälest!‹ (Welch unendlich tiefer Sinn: Das vom Bösen besessene Ich fühlt sich gequält durch die Annäherung des Reinen.) »Denn er sprach zu ihm: Fahre aus, du unsauberer Geist von dem Menschen. Und er fragte ihn: Wie heißest du?

Und er antwortete und sprach: Legion heiße ich; denn unser ist viel … (!)

Und es war daselbst an den Bergen eine große Herde Säue auf der Weide. Und die Teufel baten ihn alle: Laß uns in die Säue fahren! Und alsbald erlaubte es ihnen Jesus. Und fuhren die unsauberen Geister aus und fuhren in die Säue; und die Herde stürzte sich von dem Abhang ins Meer (ihrer waren aber bei zweitausend) und ersoffen im Meer.«

Dieser Besessene hatte also zweitausend unsaubere Geister in sich. »Und sie gingen hinaus zu sehen, was da geschehen war; und kamen zu Jesu und sahen den, so von dem Teufel besessen war, daß er saß und war bekleidet und vernünftig.« (Markus.)

Da zweitausend Geister ein einziges Ich besaßen, / was wundert man sich dann, daß siebenmal siebenfältige Vergebung für all das Böse, welches diese unsauberen Geister in dem Menschen anrichten und aus ihm herauspeitschen, / nötig ist? …

Und wenn auch die Evangelisten und Propheten den Zusammenhang zwischen der Besessenheit und der Sexualität nicht deutlich aufzeigten, so haben sie ihn doch sicherlich geahnt, weil ja jedes zweite Wort des Neuen und besonders des Alten Testaments dem Abscheu vor der Hurerei und Unzucht Ausdruck gibt. Sie wußten also, daß hier das Eingangstor des Bösen war; daß es die Regenerationsstätte längst überwundener totgeglaubter Erbmassen ist, zeigen uns moderne, psychiatrische, genaue Beobachtungen an Menschen, die vom Geschlechtsteufel in seiner unsaubersten und schrecklichsten Gestalt besessen sind. Der jähe Charakterwechsel, der rapide Umsturz, der sich mit dem persönlich Guten in ihm vollzieht, die Verwandlung, vor unseren Augen, in einen bösartigen, unheimlich grauenhaften Dämon / das alles gibt hier den Schlüssel. Wir glauben von einem sehr tiefen Geheimnis des Vererbungsproblems, im Zusammenhang mit dem Sexualproblem, hier einige Schleier gelüftet zu haben.

Eros / und in seinem Gefolge das Erhabene, Gute und Reine, / das ist das Glücksideal dieses Lebens. Es ist so selten verkörpert anzutreffen, wie jedes erhabene Ideal. Vielmehr umhüllt das Blendwerk des Eros, der falsche Eros, zumeist allerhand Unrat mit den verlockendsten Farben und Schleiern, / bis das schreckliche Erwachen dem Verirrten zeigt, in welche Trughölle er geriet.

Die durch das Geschlecht Verführten werden in ihre verhängnisvollen Vermischungen mit jäher Hast hineingeschleudert. Die, deren Seelen sich lieben, nähern sich, im Gegensatz zu jenen, / langsam der letzten Vereinigung, und ihre wirkliche Gemeinsamkeit überdauert die härtesten Prüfungen. Ihre Geschlechtshingabe aneinander ist dann / die Krone des Lebens. Dort aber, wo die Seele betrogen wurde, / wird sie in alle Zonen der Unterwelt geschleift. Bisher teilte man die »Liebe« immer »ein« in die sogenannte himmlische und in die sogenannte irdische Liebe. In Wahrheit gibt es noch eine dritte: die infernalische, / die Geilheit, die Gier nach dem Obszönen, nach den Organen / daher der Ausdruck Orgie / dieser Trieb, der die »Macht der Finsternis« ist. Der Mensch, der sich dieser Macht verschreibt, der diesem Triebe nachgibt, / liegt in einem Verlies versperrt. Sein Eigentliches, sein Gutes, sein Bestes / ist in diesem Verlies. Er selbst drückt es da hinein und errichtet Wälle der Abwehr um alles Menschliche in höherem Sinne, das in ihm ist.

Der falsche Eros, das Höllengeschwäle der Brunst, / das ist gleichzusetzen mit dem Bösen an sich. Die Liebe in einem tieferen Sinne, / die das unlösliche, treue, duldsame, ausharrende, alle Prüfungen überdauernde Heimatgefühl gibt, / das ist die Liebe zum Guten.

»Du fragst mich, Kind, was Liebe ist?
Ein Stern in einem Haufen Mist.« Heine.

Im Grunde liebt jeder nur das Gute, solange er nicht jede Urteilskraft seiner Seele selbst verbannt hat, solange er sich nicht die Augen dafür selbst verbindet, weil er dem Bösen verfiel. Ein Mensch von entwickelter Urteilskraft und von einigermaßen normalem, sittlichen Gefühl wird auf die Dauer nicht an einem unwürdigen Charakter hängen bleiben können, er wird sich von ihm losreißen, auch wenn der ihn durch die Sinne oder sonst eine Magie in Banden hält. Darum liegt hier das letzte Kriterium über die moralische Qualifikation eines Menschen: Ist er ein Verworfener, so wird er am Unwürdigen und Gemeinen hängen bleiben, es wird seine Brünste einfangen, auch wenn er es durchblickte, wenn ihm die Augen darüber aufgingen oder aufgehen mußten; ist aber seine Natur zu Besserem geartet, so wird er sich mit Schaudern davon abwenden, / auch wenn er einer wüstenhaften Einsamkeit gegenübersteht.

Wenn alle Herzenskräfte, die in Buhlereien vergeudet werden, auf den Menschen gerichtet würden, der uns gut ist in seinem Herzen und der uns hier eine sichere Heimat bot, / so würden weniger Schicksale unter Katastrophen schwerster Art zusammenbrechen. Nicht omne animal post coitum est triste / sondern nur, wenn es sich um eine Vermischung handelte, die von dem höheren Gefühl nicht beseelt war, dann allerdings stellt sich nach diesem Akt intimster Vermischung die tiefste Niedergeschlagenheit ein: / Die Antwort des intellegiblen Ich.

Knut Hamsun hat ein Stück geschrieben, das ich im Original nicht kenne. Es heißt: »Vom Teufel geholt«. Gemeint ist der Geschlechtsteufel, der eine ganze Reihe von Leuten in immer tiefere Verlotterung zieht. Zum Schluß geht eine Frau mit diesem »Teufel« / in Gestalt eines Negers / zu ihrem / letzten / Abenteuer.

Es ist ein ungeheuerer Unterschied zwischen der Erotik eines leidenschaftlichen und feurigen Temperamentes, das eine reine Flamme hat, und der stummen, verschlagenen schwälenden Brunst und Gier, die sich meist bei unfreien, verkapselten Naturen findet. Dieses Brunstfeuer wärmt nicht, lodert nicht, glüht nicht, flammt nicht, sondern schwält nach innen. Dieser Typus ist / der Wüstling. Die »Impulsiven« / das sind die Flammenden in der Erotik. Die Duckmäuser / das sind die brenzlich Brodelnden, Schwälenden, / die Wüstlinghaften. Dabei sind sie von ihren unlauteren Impulsen viel mehr zu verknechten, wie die sogenannten »Impulsiven«, d. h. die starken Temperamente, die zwar vehemente, aber meist sehr richtige Impulse haben.

Erotik / ein Zauberwort, hinter dem sich die polarsten Gegensätze verbergen. Hier ist entweder der stinkendste Sumpf, der die Schöpfung verpestet oder / ihr wonnigster Rosengarten.

Erotik / Feuerzauber des Blutes, Oriflamme / oder / Zentralheizung der Hexenküche.

Eine einzige Überrumpelung kann in abschüssige Gassen führen, die da unten münden, / in der Hexenküche. Charakteristisch für die Beschaffenheit des Menschen ist, ob er / den Höllengestank schnell riecht, / oder nicht, / ob er geschlechtshörig wird oder / diese Hörigkeit bricht.

Die geile Sucht nannte ich die weitverbreitetste Männerkrankheit. Ein Mann, der von dieser dumpfen Geschlechtsbegierde dirigiert wird, ist verächtlicher als eine Dirne. Das geile Grinsen einer Dirne, das einem stumpf dahinlebenden Menschen genügt, sich geschlechtlich » reizen« zu lassen, / wird dem bewußten Mann Ekel einflößen / ja vielleicht auf denselben Mann, auf verschiedenen Bewußtseinsstufen seines Lebens, auch verschieden wirken. Die furchtbarste Vorstellung für eine Frau, über die gewisse Enthüllungen aus dem Geheimleben eines Mannes, mit dem sie verbunden war, hereinbrachen, ist, daß sie, / zu ihrem Schauder, / nun überall, auf Schritt und Tritt, / auf der Straße, in der Bahn, / wo immer sie diese Typen dirnenhafter Weiblichkeit erblickt, an denen ihr Auge früher achtlos vorbeiglitt, deren Natur und Wesen sie nicht verstand, / die sie gar nicht bemerkte, / sich nun sagen muß: das also »wirkte« auf /diesen Mann. Das hat ihn »gereizt«, / dieser hochgeschnürte Busen, diese gemein geschürzten Lippen, dieses alberne Lachen, dieser plumpe Fuß, dieser schamlose Blick. – – – Das also waren die Wesen, die es vermochten, daß er ihnen / sich selbst gab, / daß er den skrupellosesten Verrat fortdauernd vollbrachte.

Partielle Faszinationen lassen sich brechen, beim Manne sowohl wie beim Weibe, wenn das Bewußtsein dafür erwacht und der Wille einen anderen Kurs nimmt.

Diesen schweifenden, wilden Gewalten des Eros freie Bahn zu lassen, / das geht so wenig an, als ob man dem Feuer oder Wasser ungedämmt freien Lauf ließe. Wenn irgendwo, so sind Bindungen ganz besonders hier nötig. Und so wie in der Kunst nur durch Bindungen und Gesetze / Form entsteht, so auch / in der Erotik. Auch hier ist alles / die Gestaltung, / nach bewußten Gesetzen und nach heilen Instinkten.

Um eines erotisch vollerfüllten Glückes willen alles zu mißachten, / würde sich / lohnen, da hier tatsächlich der höchste Lebenswert gegeben ist. Es würde sich lohnen, alle Traditionen, Hemmungen und Gesetze zu mißachten und frei seinen eigenen Weg zu gehen, zumal man die Nebenmenschen im allgemeinen dadurch nicht belästigt, / wenn man damit dieses Glück erreichen und festhalten könnte. Das Gegenteil ist der Fall: mit jedem Schritt der Preisgabe anderer Lebensgüter (der sozialen Achtung, Geborgenheit, Selbständigkeit usw.) vernichtet man auch dieses Glück mehr und mehr. Denn es liegt in der Natur dieser Sache, / deren Wesen die Freudigkeit, die Sorglosigkeit, das heitere Gewissen ist, / daß sich alles dieses nicht erhält, wenn schwere Mißhelligkeiten daraus entstehen. Und wenn auch die Frau durchhalten möchte, weil sie weitaus stärkere generative und kräftigere erotische Instinkte hat, / so tut es doch der Mann nicht. Fast niemals hält er durch, sondern er wendet sich mehr und mehr von diesem Erlebnis ab, / je mehr er an dem Ruin der Frau schuld ist und wird. Dazu kommt, daß Menschen nichts fester verbindet, als zusammen eine gedeihliche Bahn zu haben. Und daß sie die wieder am ehesten dann finden, / wenn sie in ununterbrochener Treue zusammenhalten. Weil dann jeder in seinen Kämpfen mit der Außenwelt bei seinem mit ihm strebenden Gefährten einen Rückhalt findet, auf den er sich unbedingt verlassen kann. Darum führt die Treue, wenn es sich um halbwegs tüchtige Menschen handelt, unbedingt zum sozialen Aufstieg. Nur durch Treue wird der Bund zweier Menschen zum Segen. Hingegen setzt das Strohfeuer der Erotik Häuser in Brand, zerstört alles das, was auf Dauer und Gemeinschaft gegründet wurde, / vernichtet die gute Lebensbahn.

Besonders in der griechischen Mythe ist die Verhüllung des wahren Wesens der Geschlechtlichkeit angedeutet. Der Gott kommt dort immer / verkleidet, verhüllt; er kommt als eine Wolke, / die Wolke der Sinnlichkeit. Er fällt als Goldregen (!) der brünstigen Danae in den Schoß. In einer feinen modernen Novelle »Jupiter in der Wolke« Ludwig Hirschfeld. heißt es: »Man liebt immer nur eine Wolke und glaubt, es sei ein wirklicher Mensch gewesen. Küßt man einen Gott oder ein Tier / man weiß es nicht, man ahnt es nur dumpf, und es bleibt einem nichts als / ein Gefühl des Schmerzes. Alle nähern sich so in einer schmeichlerischen und betäubenden Wolke. Keinen kennt und sieht man genau, von keinem weiß man, ob er gut oder böse ist, ein Held oder ein feiger Lump oder beides in einem(!). In der großen Dunkelheit der Sinnenliebe gibt's kein Sehen und kein Verstehen.«

Wer sich dem Eros blindlings verschreibt, wer seine Gottheit aus ihm macht, der mache sich gefaßt, daß er über Stock und Stein, an den Haaren, durch alle Schrecknisse und Abgründe des Lebens geschleift wird.

XIII.
Die »kleine Müllern«

Im Anfang des Jahres 1914 stand vor den Geschworenen in Berlin eine weibliche Erscheinung, wie sie selbst in unserer Zeit, die so manche Mischformen von Amoureusen mit psychopathischem Einschlag produziert, nicht allzu häufig sein wird. Anna Müller, die der junge Bursche, dessen Verhängnis sie wurde, in seinen Briefen mit »kleine Müllern« ansprach, ist in jeder Beziehung ein außerordentliches Mädchen. Nach allem, was man von ihr und über sie hörte, repräsentiert sie in höchster und seltenster Erscheinungsform den Typus eines innerlich unabhängigen Weibes. Wenn man glaubt, daß im Zeitalter der Frauenemanzipation dieser Typus etwa ein häufiger sei, so ist man vollkommen auf dem Holzweg. Die vollweibliche Natur begehrt die Liebe und gerät daher normalerweise in »Abhängigkeit« von dem, der sie in ihr erweckt. Freilich wird es der Persönlichkeit, wenn es sich um eine Vollweibnatur handelt, gelingen, sich aus einer unwürdigen Knechtschaft, aus einem Mißbrauch ihrer Liebe frei zu machen, / aber nicht ohne die tiefsten seelischen Qualen. Wirklich frei und dabei doch in höchstem Grade befähigt, Liebe zu gewähren und, vor allem, zu erwecken, war nur die kleine Müllern, die damals ganze zwanzig Jahre zählte.

Und hier liegt das Fabelhafte dieser Erscheinung. Ein reizendes, junges Mädchen, von hoher Begabung und feinstem Kulturgefühl, das sich über die soziale Sphäre, die ihr durch ihre Armut bestimmt schien, durch ihre Persönlichkeit aufgeschwungen hat, sprach vor den Geschwornen mit einer solchen Treffsicherheit und Erkenntnis gerade der schwierigsten Fragen des Liebeslebens, / daß man vor diesem überreifen Intellekt sich fast beschämt fühlte. Sie ist dabei nichts weniger als eine Hetärennatur, wie schnell urteilende Bürger vielleicht anzunehmen geneigt sind. Dagegen spricht schon der eine sichere Adel, der bisher ihr Leben auszeichnete: der Adel der Arbeit. Mit den kleinsten Beträgen (ihre verschiedenen Gehälter waren angegeben) hat sie mit ihrer Mutter gelebt, und, ohne im geringsten zu straucheln, diese Situation »durchgehalten«. Für 10 M. monatlich mehr übernimmt sie noch weitere Nebenarbeit. Ihre Garderobe stellen ihre geschickten Feenhände fast aus nichts her. Und dabei besuchte sie noch in den Abendstunden eine Handelsschule, und baut sich ihre Treppe, in ehrlicher Arbeit und bewundernswürdiger Ausdauer, langsam höher. Daß es Leute gibt, die solche Gehälter wie die, welche da aufgeführt wurden, auszahlen, ist eine soziale Erscheinung für sich, / die keines Kommentars bedarf.

Sie ist nie von »Liebessehnen belastet« worden, die Wunderbare, die heute zweiundzwanzig Jahre alt ist, aber lustig, wild, und übermütig war sie gern. Über alle Anfechtungen, sofern es überhaupt welche für sie gab, wachte ihr Stolz, der nichts Schlimmeres kannte, als die Scheu, irgendeinem Menschen etwa »auf die Nerven zu fallen«. Wieviel können all die Frauen, die nach Freiheit streben und auch jene, die die Liebe in Theorie und Praxis zu meistern suchen, aus diesen Worten lernen. Allerdings waren diese Herren, die sie »geckig« nennt, keine Versuchung. Endlich aber führt sie der Zufall mit einem anscheinend vornehmen Mann zusammen, und es entwickelt sich, wenn die Schilderungen, die ihre Memoiren und die Aussagen des Mannes übereinstimmend ergaben, richtig sind, ein Verhältnis von einer wahrlich nicht alltäglichen Art. Seiner ersten Annäherung wich sie aus, wohl aus der Erkenntnis, daß es keine Werbung ist, zu der ihn ein innerliches Müssen drängt. Aber als sie der Zufall später wieder zusammenführt, nähern sich die beiden Naturen, die offenbar beide über der Leidenschaft stehen, auf langsame und zarte Weise. Bevor es eine Brücke intimer Art zwischen ihnen geben kann, muß sie erst manches von ihm lernen. Sie tut es gern und dankt es ihm durch eine harmlose und anmutige Art der Gesellschaft. Endlich aber, / denn sie waren »gesund und erwachsen«, wie sie sagte, / erobern sie sich in dem Verhältnis die letzte Vertraulichkeit.

Und nun gibt das kleine Fräulein eine Schilderung, die, wenn sie den Tatsachen entspricht und nicht bloß aus der Theorie stammt, die uns andern ja auch geläufig ist, sie zur wahren Liebeskünstlerin erhebt: »Trotzdem auch hierbei mir das Herz nicht mit dem Verstande durchging, indem ich mich nicht ganz in Liebesfesseln einwühlte, ließ ich manches, was ihm nicht behagte, und da ich merkte, daß es zu meinem Vorteil, gab ich vielfach meine Freiheitsbestrebungen auf, schloß mich ihm wohl auch an, ließ aber immer eine Schranke zwischen uns, die es uns in jedem Augenblick ermöglichen sollte, ohne jeden Mißklang einander freizugeben. Ich machte mich in keiner Beziehung von ihm abhängig und kam ihm auch nie mit irgendwelchen Misèren, deren ich so reichlich zu verzeichnen hatte. Ich kannte seine große Nervosität und seine starke Abneigung gegen Tratsch und Gewäsch, daß ich ihn hätte nie belästigen mögen. Ich war stets aufrichtig bemüht, ihm, so gut ich konnte, angenehme Gesellschafterin und Unterhaltung zu sein.

Unser Verkehr war uns beiden das naturgemäße Empfinden zweier Menschen, die, gesund und erwachsen, sich recht lieb haben. Er entbehrte jeder niederen Gesinnung zu irgendwelchen gemeinen Handlungen. Es war ein nicht alltägliches ›Verhältnis‹, sondern ein freies, sich gegenseitig Gutes und Liebes tun und stets aufeinander Rücksicht nehmen.«

Sie wahrte also ihre vollkommene innere Freiheit, war bereit, den Geliebten »ohne jeden Mißklang frei zu geben«, und genoß doch, mit aller Anmut, alles Schöne, was diese Liebe mit sich brachte. Eine Künstlerin der Liebe kann man bewundernd dazu sagen oder auch / etwas ironisch / eine Gemütsathletin. Sie gab und nahm in diesem Verhältnis mit vollendeter Anmut. Und sie wäre jedenfalls die Künstlerin geblieben, / wenn sie sich nicht auf dem Gebiet, das sie souverän zu beherrschen glaubte, einmal auf das niedere Niveau der Exzentric herabgelassen hätte.

Da sie mit so geschickten Händen Edles und Feines zu handhaben wußte, dachte sie mit derselben Unverwundbarkeit und gefeit gegen Beschmutzung davon zu kommen, auch wenn sie sich wildere Rechte nahm. Nicht im Ernst natürlich, nur / zum Zeitvertreib. Das Nietzschewort »Denn alle Lust will Ewigkeit« hatte sie nicht an sich erfahren; sie bedurfte keiner Ewigkeitsperspektiven, um glücklich zu sein, sie war die Meisterin der Stunde, überließ es anderen, weitere Stunden herbeizuführen, sie wollte überhaupt nichts, und damit war sie souverän und glücklich.

Da kam ihr der gute Junge in den Weg, der aus jener Sphäre stammte, über die sie, die begabte Frau, sich hatte erheben können, welcher er aber, der arme Bursche, der trotz Begabung nicht hatte lernen können, in dieser vortrefflich eingerichteten Gesellschaft unrettbar verfallen war. Diesem Jungen gegenüber fühlte sie offenbar, daß sie sich nicht zu genieren brauchte, wildere Triebe mit ihm und an ihm zu befriedigen. Hier waren keine kulturellen Rücksichten nötig. Dieser ergebene Junge, als Hausdiener neben ihr, der Expedientin, im Buchhandel beschäftigt, war nett, behend, willig, harmlos und / ein Proletarier. Sie tändelt erst damit, ihn zu einem »Mittelding zwischen Kavalier und Pagen« zu erziehen, nimmt sich seiner anfangs auch in intellektuellem Sinne an, konfisziert ihm schmutzige Bücher und macht ihn endlich / ja es ist nicht anders zu sagen / zu ihrem Lustknaben. Neben dem feinkultivierten Dr. S., wo die Liebe mit Glacéhandschuhen behandelt werden mußte, begehrte das Dumpf-Elementarische ihrer Natur nach den »Freuden«, die sonst nur dem Mann als Reservat für sein Geheimleben jenseits der Gesellschaft zugestanden werden.

Indessen wurde das Abenteuer bald unbequem, da sich herausstellte, daß das behende Bürschchen / ein Herz hatte und mit diesem Herzen in die ärgsten Brände geriet. Ein kluger Junge muß er gewesen sein; denn jeder Satz des Briefes an sie, der bekannt wurde, ist seelischer Extrakt, trotz der Unbeholfenheit des Ausdrucks. Er hält ihr vor, daß er sich gesträubt habe, / »weil ich immer gedacht habe, du bist keine Dirne«. Er findet im richtigen Moment das Heinesche Zitat vom Tor, der immer willig ist, wenn eine Törin will. Und er nennt sie »kleine Hulde«. Ob sie ihm vom Huldenvolk, von diesen göttlichen Wesen niederen Ranges, von den Elbinnen, die so große Gewalt über die Jünglinge hatten, etwas erzählte / (was sie ihrerseits wieder von Dr. S. erfahren haben dürfte)? Aber er fühlt sich in ihren »Krallen« und kann und will nicht mehr heraus. Mit brutalem Erpressertum drangsaliert er sie und verrät schließlich dem vornehmeren Nebenbuhler, daß sie sich ihm »wie eine Dirne hingegeben«. Mit vollkommenem Stolz trägt sie auch noch diese Situation. Sie bestreitet nichts, denn es ist wahr. Vornehm und begreifend steht ihr der Freund zur Seite; er will sie aus Berlin wegbringen.

Über die bis dahin so Freie aber kommen nun die bedrängenden Gewalten der Scham und der Verzweiflung. Für wen ihre Kugel bestimmt war, / ob für den lästigen Zeugen ihrer Schande, den armen mißbrauchten Jungen, / der ihr Opfer wurde, / oder für sich selbst, / darüber wagen wir keine Mutmaßung. Aber selbst wenn der schlimmste Fall angenommen wird, so sprechen doch für dieses Mädchen Momente, die ihre Tat, wenn sie in dunkler Verwirrung vollbracht wurde, tiefmenschlich verstehen lassen. Sie wollte sich allzu souverän über die dämonischen Mächte des Geschlechts, die andere, oft stärkere und größere Frauennaturen, in Fesseln schlagen, / erheben. Die Müllerin, die kleine, wagte sich, wie die kleine Fischerin in der Operette, allzu kühn »im Sturmgebraus, in das wilde Meer hinaus«. In das Meer der Leidenschaften, aus dem man, wenn man einmal in seinen Aufruhr geraten ist, nicht so leicht wieder zum Hafen des Friedens findet.

XIV.
Vom Sinn und Zweck der Ehe

Es wäre ein törichter Anspruch an die Ehe, von ihr zu erwarten, daß sie die Gipfelhöhe der Erotik und der Lustgefühle überhaupt erreiche oder gar sich ständig auf diesem Gipfel behaupten solle. Und die Entgleisungen durch den Erotismus in dieser letzten Epoche sind im Grunde nichts anderes, als die Wirkung der Triebrichtung von Menschen, die aus dem Leben ein einziges Fest machen wollen. Ihre Väter und Mütter wußten, daß das Leben der arbeitsame Alltag ist, welchen Feste nur als seltene Unterbrechungen beleben können. Der Trieb, den erotischen Rausch zum Dauerzustand zu erheben, also die höchste Lust gehäuft zu genießen, drückt sich in diesen sich über alles hinwegsetzenden erotischen Begierden aus. In der hier schon einmal erwähnten Oper Charpentiers »Luise« wird das Wesen des Erotismus deutlich getroffen, indem das Lustgewoge der Pariser Bohème, einer Scheinwelt, verknüpft ist mit der Person des Helden Julien, dem Luise zutaumelt, um dessentwillen sie die strenge, ehrbare Arbeitsatmosphäre des Elternhauses wie einen Kerker empfindet. Diese Montmartrefeste hält sie / für das wahre Leben … Und die Schlußworte des alten Arbeiters, dem die Tochter entflattert ist, sind der schmerzlich gestöhnte Ausruf / mit geballter Faust: »O Paris!« / Paris ist aber in diesem Fall nur ein Symbol.

Auf Gipfeln ist Wanderern und Bergsteigern immer nur ein kurzer Aufenthalt gegönnt. Der Tourist kann froh sein, wenn er / ohne Absturz / wieder ins Tal kommt. Heimstätten für Menschen kann man da oben auf spitzem Grat nicht erbauen; im Tal und in der milden Luft der mittleren Höhen ist die Stätte der menschlichen Ansiedlung und des menschlichen Wirkens. Daß sie eine makellos reine und in allen Lebenslagen verläßliche Heimstätte biete, soll man von der Ehe verlangen / sonst nichts. Und da wirkliche Heimstätten ohne die wärmsten und gütigsten Gefühle nicht möglich sind, so ist die ethische Abgrenzung, die sowohl der Natur wie der Kultur dieser Sache entspricht, / mit dieser Formulierung durchaus gegeben. Lusterlebnisse der höchsten Potenz, Rauschdelirien kann man von der Ehe nicht verlangen, / man hat die Wahl zwischen Erlebnissen solcher Art, die meist mit dem elendesten Kater enden, / oder aber zwischen dem aufbauenden und fruchtbaren Wirken eines Lebens zu Zweien, in der gemäßigten Zone der Gefühle. Hier, in dieser Zone, / die richtige, gute, willige, verläßliche und unverbrüchlich treue Gefährtenschaft zu haben, / ist ein Glück, das auch die reichste Persönlichkeit zu schätzen wissen soll, denn für sie ist es noch viel schwerer, wie für jeden andern Menschen, diese Gefährtenschaft fürs Leben überhaupt zu finden. Allerdings muß man bei jedem sexuellen Bündnis damit rechnen, daß ein Tag kommt, / wo der innerste Kern der beiden Naturen bloßliegt und wo diese Kerne entweder restlos eins werden oder aber, / wie von zentrifugalen Mächten geschleudert, / immer weiter auseinander geraten. Es gibt eine Grenze, / zu der die Charakterverschiedenheit hindrängt, / an der jeder weitere Kompromiß unmöglich wird, wo jede Bescheidung ein Ende hat.

Der vornehmste Sinn und Zweck jeder geschlechtlichen Hingabe soll sein: der Aufbau zweier Leben zu einem einzigen organischen Gebilde. Die Zeugung eines neuen Menschen fügt sich in diesen Zweck ein, der aber auch ohne Zeugung erreicht werden kann. Darum ist der Unterschied zwischen einer Dirne und einer reinen Frau (auch wenn ihr Leben sie, nacheinander, in seinen verschiedenen Epochen mit mehreren Männern in Berührung führte), der: die reine Frau gab sich immer nur hin / in Sehnsucht und Hoffnung nach diesem einen und einzigen »Zweck« der Liebe, dem Instinkte Zweier zur Gattenschaft in höchstem Sinne (der Wunsch nach Dauer ist darin implizite eingeschlossen), unberührt von jedem Nebeninteresse. Wurde sie enttäuscht oder gar mißbraucht, / so mußte das Band gesprengt werden; sie vermochte es von dem Augenblick an nicht mehr zu halten, wo sie erkannte, daß der Mann ihr nicht der Gefährte sein konnte, daß für ihr Herz hier keine sichere Heimat war … Mit vollem Recht entsagte sie noch nicht und verschloß sich nicht der Möglichkeit, ihr Schicksal dennoch zu finden. Dies konnte sie tun, solange sie nicht ein unlösliches Band empfand. Empfand sie dieses Band, so wurde es das entscheidende Schicksal.

Die geborne Dirne hingegen gibt sich hin / um eines »Genusses« willen, den ihr fast jeder Mann vermitteln kann und um von ihm auch sonst so viel Vorteile als möglich zu haben. Ein inneres Band zu irgend jemandem gibt es für sie nicht, obwohl sie es jedem einzelnen vortäuschen wird, und obwohl sie natürlich an einem Menschen, der ihr nicht unsympathisch ist, in gewissem Sinne auch »hängt«, besonders wenn ein Ersatz nicht prompt zur Stelle ist. Sie kann aber den Sexualakt selbst, ihrer Natur nach, heute mit dem, morgen mit jenem vollziehn, auch mit beiden am selben Tag, / sie reagiert immer und auf jeden. Der Geschlechtstrieb des Durchschnittsmannes macht ihn der Dirne ähnlich. Je bewußter sein Menschtum wird, desto mehr wird es ihm widerstreben, diesen Vorgang der geschlechtlichen Vermischung zu mißbrauchen, er wird dann in einem höheren Grade wissen, was er sich selbst schuldig ist.

Der Geschlechtsakt um des Geschlechtsaktes willen geübt, / das l'art pour l'art in der »Liebe« / ist der Weg zum Niedergang. Um eine höhere metaphysische Einheit zwischen Zweien herzustellen, soll dieser Akt vollzogen werden, / sonst aus keinem Grunde.

Hier hat die Natur die größte Versuchung, die raffiniertesten Fallstricke geschaffen, hier ist die Stelle, auf die der größte Ansturm unternommen wird und die gleichzeitig nur selten einer uneinnehmbaren Festung gleicht, vielmehr zur Kapitulation meist durchaus geneigt ist. Tatsache ist, daß fast jede geschlechtliche Annäherung das Lebensgefühl lustbetont steigert, aufpeitscht, angenehme Reizgefühle hervorruft, / vor denen sich nur die höchste Bewußtheit, die reinsten Instinkte und die herbsten Erfahrungen / zu hüten wissen werden. Natürlich liegt das entscheidende Kriterium darin, daß diese Lustgefühle bei einem höher entwickelten Menschen nur von Seiten eines selbst wieder höher bewerteten Objekts hervorgerufen werden können, / während der Begriff »gemein« sich nirgends so deutlich macht wie gerade hier, dann nämlich, wenn ein Mensch männlichen oder weiblichen Geschlechts eben durch jedes Objekt, auch in seiner niedrigsten Gestalt »lustbetonte« Eindrücke empfangen kann, die im gleichen Falle, bei einem besser gearteten Menschen nur Ekel und Abwehr hervorrufen würden.

Der höher entwickelte Mensch wird auch sein Liebes- und Geschlechtsleben als ein unteilbares einziges Ganzes empfinden, ja auch sein soziales und äußeres Leben wird er instinktiv damit verknüpfen wollen; der andere hingegen packt die erotischen Sensationen der verschiedensten Art in sich hinein, unterdrückt sein Bestes: die Skrupel, die Ekelgefühle, die Zweifel, die Gewissensstimme und sucht die Schuldgefühle von sich abzuwälzen. Auf diese Art macht er aus seiner Seele eine Müllgrube.

»Lahme Herzen« heißt ein Band Novellen Der Name des Autors ist mir augenblicklich nicht erinnerlich.. Wo die Sinne erschöpft sind von der Ausschweifung, müssen die Herzen lahm werden. Von der Pompadour sagt ein Autor in einem einschlägigen Artikel: »Mit der unerbittlichen Beharrlichkeit, die ein Hauptzug ihres Charakters war, versuchte sie immer wieder aus diesem toten Herzen den Funken zu schlagen, der die Stunde des Genusses überdauern sollte.«

Vollkommen »passend«, immer und zu allen Zeiten, können zwei Menschen schon deshalb für einander nicht werden, weil jeder Mensch eine Entwicklung und kein Mensch ganz genau die Entwicklung des andern hat. Hier muß ein liebevolles Grundgefühl Anpassungen ermöglichen, / anstatt die Gegensätze schroff herauszukehren. Nur auf diese Art, mit dem guten Willen zu gegenseitiger Anpassung, mit dem Willen, von einander anzunehmen, / im guten Sinne, / und vor allem: durch den Ausschluß fremder Sexualeinflüsse! wird jemals aus zweien eins. Sein wirkliches und vollendetes »Komplement« wird man in der Realität kaum finden. Zur Erhaltung jeder Gemeinschaft, geschweige denn einer Ehe, gehört Kultur, instinktive Kultur, gehören gute Sitten, gehört ein zielbewußter gütiger Wille, der sich für die Verbindung und das gute Einvernehmen mit diesem andern Menschen einsetzt.

Und darum ist der geheime Treubruch der niedrigste, bösartigste Verrat, / weil man, wenn man seine »Sexualfreuden« insgeheim anderwärts hat, gar kein Bestreben mehr hat, das gute Einvernehmen mit diesem Menschen zu erhalten, und alle seine guten Bemühungen lahmlegen wird durch Gleichgültigkeit und Gehässigkeit; darum wird ein solches Benehmen, das aus dem Geheimverrat kommt, / bei konsequent reagierenden Naturen zur Lösung des Bandes drängen. Man bemüht sich nicht um die gute Gesinnung eines Menschen, den man betrügt, denn man ist ja auf Harmonie mit ihm nicht angewiesen, man hat seine fragwürdigen Freuden anderwärts, / und dieser Mensch, dem man Treue versprach, wirkt im Gegenteil eher als ein Vorwurf und ein Druck.

Die offizielle Polygamie des Morgenlandes und ihr Gegensatz zu dem, was im Abendland hier schönfärberisch Polygamie genannt wird, soll im Supplement untersucht werden. Es soll auch dargetan werden, warum die offizielle Polygamie im Abendland niemals möglich wäre. Vor allem aber ist die offizielle Polygamie noch etwas ganz anderes, als der Geschlechtsverrat und die Paniximie. Wer offiziell, entsprechend den Sitten seines Landes, eine zweite Frau nimmt, der täuscht niemanden. Wenn es der ersten Frau nicht paßt, so kann sie sich scheiden lassen, und man schuldet ihr / im Orient / recht gute Versorgung. Hier sei nur noch als Wichtigstes erwähnt, daß bessere Familien ihre Töchter im Orient längst nur noch mit Kontrakten verheiraten, wonach die Aufnahme einer zweiten Frau ausgeschlossen ist. Mit dem Schlagwort »polygam« ist die Demoralisierung, die sich aus einem verräterischen und verschmutzten Geschlechtsleben ergibt, nicht genügend bezeichnet. Weder deckt dieses Fremdwort die Sexualvorgänge, die gewöhnlich damit verbunden sind, noch den Rattenkönig von Verrat, Täuschung, Zynismus, Schamlosigkeit, der damit in Verbindung steht. Dieses Wort soll quasi deckend wirken, / es soll eine angeblich natürliche Triebrichtung und auch ein soziales Faktum »wissenschaftlich« bezeichnen. Aber dieses Wort umfaßt nicht im entferntesten die komplizierten Entartungsphänomene, die sich in Wahrheit dahinter verbergen.

XV.
»Liebeskunst«

Die unermeßliche Fülle von Thesen über »Liebeskunst«, die in der letzten Epoche in Europa und auch in Indien (Kama Sutram / eine Art ars amandi) aufgetaucht sind, kann man ebenfalls als Erscheinungen einer Verfallsepoche betrachten, / wie die ars amandi des Ovid, diese Sammlung von Buhlrezepten, es war. Es gibt nur eine einzige wirkliche Liebeskunst, die sogar das größte Hemmnis der Monogamie / die Frigidität / zu überwinden vermag. Und das ist die: beiderseits mit reinem Gewissen und voller Hingabe, Wärme und Zärtlichkeit den Geschlechtsakt vollziehen. Alle anderen physiologischen »Künste« sind vollständig überflüssig, wenn diese Bedingung erfüllt ist. Diese Wärme und volle Hingabe kommt / vorausgesetzt, daß man sie a priori für jemand hatte / aus dem reinen Sexualgewissen. Es gibt eine Feigheit / der Sexualität. Und nicht nur dem Feigen der Schlacht, sondern auch dem Feigen des Geschlechts / »erwacht« keine Braut …

»Brünhild gewinnt,
die Braut erweckt
ein Feiger nie …«

Dem reinen Helden wird die Braut »erwachen«, / im physiologischen Sinne, in dem Sinne, der bedeutet: die Aufhebung der Frigidität. Dem Feigen / das ist dem geschlechtlich beschmutzten und bedrückten Mann / nimmermehr. Diese überhandnehmende Frigidität der Ehefrauen Vgl. das hervorragende Werk von Dr. Otto Adler: »Die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes«, Berlin 1911., über die so viel geklagt wird, war nichts anderes, als eine Art unterbewußter / Zurückhaltung der Rassenkraft des Weibes, / eine sexuelle Kapitalreserve, die ihrer Verzinsung harrt. Alle diese Kräfte, deren Manko empfunden wurde, / waren da, / aber sie wurden nicht ausgelöst.

Sexualgewissen / das ist die feinste Sublimierung des Gewissens überhaupt.

»Nur mit einem guten Gewissen vermag der Mensch etwas zu leisten, nur dies macht ihn fruchtbar, schöpferisch, zeigt ihm die Ziele, zugleich die Grenzen seiner Kraft, macht seine Arbeit ersprießlich … Kämpfen bis aufs Blut mit dem schlechten Gewissen ist die einzige Möglichkeit, zu einem guten zu gelangen.« Aus einem Artikel: »Ein weises Herz, ernste Gedanken zum Bußtag und Totenfest 1915, von Arthur Brausewetter im »Tag«.

Es ist ein Unterschied zwischen Erotismus und Erotik. Immer entspringt das erotische Bedürfnis einem Lebensgefühl, das ein normal veranlagter Mensch nur mit schwerer Einbuße an Lebenskraft und Lebenslust gänzlich unerfüllt lassen wird. Aber es gibt den gefährlichen, mörderischen, sozusagen hinterhältigen Eros und den andern, / den lebenspendenden, hymnischen Kupido. So stark die dämonische Geschlechtsanziehung zwischen bestimmten, meist sehr ähnlichen Naturen sein mag, / so ist doch jede Leidenschaft, die nicht zu einem beruhigenden Ausgleich der Kräfte führt, / ein böses, todbringendes Gift. Es gibt eine erotische Anziehung und Willensrichtung, die alle schlechten Instinkte, alle obskuren Leidenschaften aufwirbelt, maßlose Affekte entfesselt, zu Rücksichtslosigkeit, Roheit und Fahrlässigkeit jeder Art verleitet Ich verweise auf die Schrift »Illusionen, Irrtümer und Fahrlässigkeiten im Liebesleben der Menschen« von Prof. Dr. R. Kafemann. Louis Markus, Berlin., zu gänzlich unfruchtbaren Reibereien und Kämpfen / gewöhnlich auch dieser beiden Menschen untereinander / führt, zu einer Vergeudung der besten Kräfte. Dagegen der müde Kupido bleibt zwar manchmal die letzten Exstasen schuldig, gibt uns aber, was wir im Leben am wenigsten entbehren können: / warmen, vollen Besitz unseres eignen Seins, gute, gesegnete Zugehörigkeit zu einem andern. Wenn man das Glück hat, diese Liebe zu finden, / so kann man mit seinem Schicksal zufrieden sein.

Daß Liebe »Kampf« sei, wird gewöhnlich behauptet. Ich kann mir aber sehr wohl eine Liebe denken, die nicht einer gegenseitigen Bekämpfung gleicht. Wenn aber dieser Kampf geführt wird, so ist es richtig, daß »der stärkere Charakter es ist, der, unter sonst gleichen Bedingungen, als Sieger hervorzugehen berufen ist«. »Konflikte der Liebe« von Justizrat Dr. Max Rosenthal. Es ist aber anzunehmen, daß bei derartigen Konflikten der stärkere Charakter, gerade weil er es ist, Haßgefühle in dem andern erregen wird und somit das Bündnis überhaupt sich nicht halten kann; darum ist es gerade für einen Menschen von Charakter am allerschwersten, ein sexuelles Bündnis zu erhalten. Denn ein Mensch von Charakter kommt immer, / ob er will oder nicht, / den Dingen und Menschen auf den Grund, ja sogar ohne daß er viel dazu tut. Die Menschen reagieren auf ihn, den Charakter, in einer Weise, durch die ihr Geheimstes und Innerstes nach und nach herauskommt; er wirkt überall / wie ein Reagenzpapier auf Chemikalien wirkt; was in Berührung mit einem solchen Menschen gerät, muß eben, ob es will oder nicht, / Farbe und Art bekennen, / es geht immer auf den Grund.

Und darum ergeben sich gerade in Berührung mit einem solchen Menschen die unwahrscheinlichsten Konflikte, die ihn selbst nicht wenig überraschen. Jeder reagiert ihm gegenüber so, daß er ihn erkennen muß, / wo er für andere wohltuend verhüllt blieb.

Ein chemikalisches Gesetz heißt: Reagiert ein chemischer Körper auf einen andern, so wandelt er ihn chemisch um. / Psychologisch-sexuell geschieht dasselbe. Und was nicht »umgewandelt« sein will, wird nicht reagieren oder Gegenreaktionen entsenden, und daraus ergibt sich, wenn es sich um unvereinbare Elemente handelt, / eine Kette von zermürbenden Kämpfen und schließlich / der Bruch.

Die sexuelle Krise besteht nicht nur in dem Zahlenmißverhältnis der Geschlechter, in dem immer mehr anwachsenden Frauenüberschuß, / sondern noch weit mehr darin, daß der Durchschnittsmann seit etwa 100 Jahren, etwa von der Zeit der Napoleonkriege und der Romantik angefangen, in seinem Sexualgefühl auffallend entartete. Während die Frau gerade in diesen 100 Jahren sich immer freier und besser entwickelte, sich immer mehr ihrer menschlichen und weiblichen Rechte bewußt wurde. Auf diese Art mußten sie immer weniger zueinander taugen, ja sie wuchsen direkt auseinander. Früher gab es weniger »Individualitäten« und mehr Typen, die aufeinander zugeschnitten waren.

Die tapfere militärische Haltung des Mannes beweist nicht, daß diese sexuelle Dekadenz, die Entartung der geschlechtlichen Moralinstinkte, / nicht stattgefunden hätte.

Ob ein Mann eine Frau liebt, / dafür ist ausschlaggebend ein einziges Faktum: wie er mit dieser Frau, die er vorgibt zu lieben, umgeht und wie er ihr das Leben einrichtet. Alles andere sind leere Redensarten oder noch Schlimmeres. Und wesentlich ist es, ob man in einem Menschen nur die Liebe liebt oder ob man / ihn selbst liebt; ob man ihn küßt, um zu küssen / oder weil es dieser bestimmte Mensch ist. Welche Frau ein Mann geliebt hat, wird er daran erkennen können, daß, / wenn er sich später fragt, warum er diese oder jene küßte, ob um der Brunst willen oder ob deshalb, weil sie es war, / ihm hier in seinem Gefühl die deutliche Antwort wird.

Es gibt ein Märchen der Brüder Grimm: »Die zwei Brüder«. Der eine, obwohl er eine geliebte, heiß begehrte und eifersüchtig von ihm bewachte Frau hat, die Königstochter des Reiches, folgt dennoch einem »Wild«, einer Hirschkuh, in den tiefen, undurchdringlichen Wald, / aus dem keiner mehr herausfindet … (Dieser Wald / ist das Dickicht der Geschlechtlichkeit.) Als er aber »tief in den Wald hineingeritten war«, sieht er sich nach dem »schönen Wild« um und entdeckt es / in Gestalt einer scheusäligen alten Hexe, die auf einem Baum sitzt und ihn und die andern, die vor ihm da waren, zu Steinen verwandelt (wie Kirke die Männer in / Schweine). Endlich aber kommt auch der andre Bruder zu dem »Wald«, auch er folgt der verführerischen Hirschkuh, / aber mit Plan und Absicht zum Erlösungswerk. Auch ihm verwandelt sich die lockende, weiße Hirschkuh, bei näherer Bekanntschaft, in das Scheusal, das er »alte Meerkatze« tituliert. Er zwingt sie, alle die Steine um sie herum zurückzuverwandeln, und / »sein Bruder und viele andere standen auf, / Kaufleute, Handwerker, Hirten … Dann griffen sie die Hexe, banden sie und legten sie ins Feuer. Und als sie verbrannt war, da / tat sich der Wald von selbst auf, und es war licht und hell, und man konnte das königliche Schloß auf drei Stunden Weges sehen …«

Das heißt: Als die Dirne beseitigt war, da tat sich der Wald / das Dickicht des Geschlechts / von selbst auf, und es war licht und hell, und man konnte das königliche Schloß / der Ehe / wieder sehen …

Es gibt eine Exstase, die den Menschen »außer sich« bringt, wie es im Worte Ex-stase liegt, die am stärksten dann ein wirkliches Außersichsein bedeutet, / wenn das Geschlecht seine flatternden Fahnen hißt. Nicht umsonst sagt dann die Sprache »entzückt / entrückt«. Die höchste Inspiration kann sowohl aus der bewußten Askese als aus dem Jauchzen der erlösten Natur quellen Diesen Gedanken drückt mein Buch »Die Stimme« aus. Roman in Blättern. Dr. Wedekind & Co., Berlin S 14. … Der Balzgesang des Vogels, das begeisterte Schaffen des Künstlers und Forschers kann ebensowohl das brausendste Liebeserleben als die einsamste Verinnerlichung, als Inspirationsmomente, hinter sich haben.

Aber hier, im Geschlechtserleben, liegt auch die größte Gefahr. Besser klösterliche Einsamkeit, als mißbrauchte Geschlechtshörigkeit. Was man verloren hat, / verlieren konnte, / hat man zu recht verloren. Der Leichnam einer toten Liebe wird zum verwesenden Aas, wenn man ihm kein ehrliches Begräbnis gönnt, an dem Kadaver herumzerrt, trotzdem schon Gewürm aller Art daraus kriecht und der Verwesungsprozeß die Luft verpestet. Man verscharre die Leiche und lasse sie in Ruh.

»Die Höhe der ganzen Sittlichkeit eines Volkes hing immer davon ab, wie hoch die Reinheit des Mannes im Kurse stand … Wie tief in der Männerkultur das Herz der Frau noch Atem zu schöpfen vermochte … Wie sehr der Mann geliebt wurde … Nein, niemals ist wohl der Mann weniger geliebt worden als gerade heute.« Marie Vaerting: »Max Theermanns erste Liebe« (Verlag Albert Langen, München).

Was die erotische Annäherung für eine Frau zum belebenden Faktor macht, das ist die Tatsache, daß diese Annäherung eben als ein Ausdruck der Sympathie zu betrachten ist. In dieser aggressiven, eisigkalten, feindseligen und gehässigen Welt empfindet man es als ein Labsal, wenn ein Mensch gut und freundlich zu einem ist. Wenn er sein Wohlgefallen nun dadurch ausdrückt, daß er einer Frau, die ihm offenbar sympathisch ist, noch in anderm Sinne näherzukommen sucht, so wird man sich nur schwer dazu entschließen können, ihn durch eine direkte Zurückweisung in dieselbe frostige Gleichgültigkeit, in der alle Welt einem gegenübersteht, zurückzudrängen. Es ist der furchtbare Mangel an Wärme überhaupt, der die erotische Wärme zu einem fast unwiderstehlichen Zauber macht. Unbedingt wappnen gegen solche Möglichkeiten und alle die Gefahren, die in ihnen liegen, / kann nur die Zärtlichkeit, Güte, Liebe, die man von einem bestimmten andern Menschen empfängt, / von dem Menschen, mit dem man sich verbunden hat. Und tritt nun dieser Mensch, von dem man die meiste Liebe erwartet, / auch als Feind auf, wirkt er durch sein Benehmen verletzend, anstatt das Herz mit Wärme und Freude zu erfüllen, / ja dann gibt es auch für eine noch so rein denkende Frau keine Ursache mehr, ihr Gefühlsleben für ihn allein aufzusparen.

Das Bedürfnis, Treue zu halten, wird diesem Menschen gegenüber nicht mehr bestehen. Vorwiegend dieses Bedürfnis ist es, welches eine Frau, die den Reiz der Erotik als die stärkste Influenz, die die Lebensstimmung zu heben vermag, / sehr wohl kennt und schätzt / und die, mit einem Blick, / einer Miene, / sich derartige Freuden von sehr hochgewerteten Typen verschaffen könnte, / zu absoluter Unnahbarkeit veranlaßt. Was eine solche Frau davon abhält, irgend jemanden an sich herankommen zu lassen, ist vor allem der Gedanke: dieser Mann, der sein Schicksal mit mir verbunden hat, ist mir treu ergeben, und darum könnte ich ihn niemals verraten. Kommt aber von seiner Seite keine Wärme mehr, / ein Symptom, daß die Treue gebrochen ist, /so wird sich auch ihre Defensive verlieren. Sie wird höchstens dann / aus allgemeinem Lebensüberdruß und aus bestimmten Überzeugungen heraus erotische Annäherungen ablehnen.

Zum Griechentum, zur Hingabe an sinnlich-erotisches Glück / wird man zurückkehren können, wenn die Menschen danach sein werden. Solange dies aber nicht der Fall ist, / muß man sein Kostbarstes / seine Wollust / für sich behalten / begraben.

»Wollust: Dem Gesindel das langsame Feuer, auf dem es verbrannt wird; allem wurmichten Holze, allen stinkenden Lumpen der bereite Brunst- und Brodelofen.

Wollust: Für die freien Herzen unschuldig und frei, das Gartenglück der Erde, aller Zukunft Dankesüberschwang an das Jetzt …

Wollust: Nur dem Welken ein süßlich Gift, für die Löwenwilligen aber die große Herzstärkung und der ehrfürchtig geschonte Wein der Weine.

Wollust: Das große Gleichnis – Glück für höheres Glück und höchste Hoffnung.« Nietzsche.

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Begrabene Wollust / O – – – Adonis / Adonis!

XVI.
Kundry Diese Analyse »Kundry« erschien, als Essay für sich, im August 1914 in der Zeitschrift »Die Tat«, Verlag E. Diederichs, Jena, in etwas veränderter Fassung.

Mythe und Dichtung aller Zeiten leben vom Rätsel des Weibes. Von der Sphinx, mit dem unergründlichen, leblos-kalten Antlitz, dem schwellenden, mütterlichen Busen und den erbarmungslos vernichtenden Pranken bis zu den »Heldinnen« der Moderne ist es immer wieder dasselbe heiße Bemühen, das Naturhafte des Ewig-Weiblichen in den Gesetzen seines Seins und Wirkens zu erkennen oder zu erfühlen. Und kaum eine Zeit hat es gegeben, die auf ihren psychologischen Spürsinn so ungeheuer stolz ist, wie gerade die unserige, die insbesondere sich des »Weiblichen« in einer, wie sie meint, sehr originellen Weise bemächtigt zu haben glaubt. Es ist den größten Dichtern unserer Tage und ihren weniger großen, weil weniger wurzelstarken Epigonen gelungen, ihre Auffassung vom Weibe als von der zerstörenden Naturmacht an sich, von der grausamen Siegerin im Zeichen des Geschlechts, der Welt aufzudrängen, fast könnte man sagen aufzubinden. Ungeheuer »tief« glaubt man mit dieser Auffassung gedrungen zu sein, und insbesondere galt es für eine raffiniert neue Note, zu zeigen, wie anbetungswürdig alle diese Lulus, Erdgeister oder Delilas eigentlich sind, wie gerade ihnen die heißeste Sehnsucht des Mannes gilt.

Niemals ist die Dichtung auf einem seichteren Gewässer eingefahren, als gerade hier. Niemals war sie der Ahnung vom Wesen der elementarischen Weibnatur ferner, als mit dieser wahrlich billigen Version. Ja, wenn »das« Weibliche einzig und allein identisch wäre mit dem männermarksaugenden, hetärisch naiven oder hetärisch raffinierten Weibervolk, das wir heutzutage über die Bühne und durch die Dichtung gaukeln sehen, / wahrlich das Rätsel Weib wäre so einfach, daß es in der Rätselecke einer Familienzeitschrift seine Löser finden könnte. »Das« Strindbergsche Weib ist das Verhängnis des Dichters geworden; denn er kam über diesen einzigen Typ, den er in monomanischer Verblendung überall zu sehen glaubte, niemals hinaus. Hart an der Grenze des Mysteriums zerschellt des Dichters Kraft an der von vornherein in seinem Spiel unentbehrlichen Puppe. Die Tragödie »Wetterleuchten«, die wir mit ehrfürchtigem Schauer erleben durften, / sie versagt dennoch in ihrer letzten Wirkung, weil in ihrem Mittelpunkt wieder nur dieser einzige Strindbergsche Frauentypus steht, / dieses Weib, das aus einer reinen Atmosphäre in ein wildes Leben stürzt, und, obwohl mißhandelt, unbußfertig bleibt bis zum äußersten. Verroht und halb verkommen an der Seite eines tiefgesunkenen Menschen, bleibt sie dennoch ungerührt, unerweicht, trotzig frech auf sich selbst beharrend, auch als sie Schutz suchend zu dem früheren, von ihr verlassenen und reinen Heim wiederkehrt. Die Art, wie sie da »aufbegehrt«, wie sie mit unverschämter Herrinnenpose sich in diesem Raum bewegt, wie sie den Mann, dessen Leben sie zerstört hat, noch mit albernen Vorwürfen plagt (warum hast du mich geheiratet usw.), wie sie nach allem begehrt, nur nicht nach Beugung und Selbsterkenntnis / das alles ist wohl eine treffende Inkarnation einer Welt jenseits der Sittlichkeit / nimmermehr aber die des wirklich elementaren Weibes.

Weitaus näher ist diesem Geheimnis Ibsen auf die Spur gekommen. In seiner »Rebekka« kämpfen schon zwei Welten um die Oberhand; die eine, die mit naturhaft wildem Wollen begehrt, die andere, die sich vor höheren Gesetzen beugt; die »Frau vom Meer« steht hart an der Grenze der Entscheidung, wandelt auf diesem schmalen First wie eine Nachtwandlerin und wird vor dem Sprung in die bodenlose Tiefe bewahrt durch das erleuchtende Wort des Gatten, der ihr die zerstörende Tat freistellt, aber / »unter eigener Verantwortlichkeit«. »Hedda Gabler«, die verirrte Närrin, findet die Reinigung nur in der Selbstvernichtung, und »Nora« stürmt zwar fort aus dem Gehege ihrer Pflichten, aber nur, um sich für deren bessere Erfüllung zu bereiten.

Gewaltiger als jemals europäischem Wissen und Können ist es der indischen Weltweisheit gelungen, Wesen und Weben der Weibnatur zu erfassen. Und kein größeres Symbol des Weiblichen ward in unseren Tagen uns vor Augen gestellt, als die Gestalt der Kundry, wie wir ihr jetzt neuerdings in Wagners »Parsifal« begegnen und wie wir sie schon immer im Sagenkreis des reinen Toren finden konnten. Von Ananda, dem Jünger des Buddha, stammt die Legende von dem »wilden Weibe«, Pakritis genannt. Das Christentum übernahm die Gestalt und machte sie schuldig, weil sie den Heiland auf dem Wege zum Tode verlachte. Überflüssige Roheit. Denn auch ohne dieses christliche Schuldmotiv bleibt Gundryggia-Kundry die Elementarische, Namenlose, die das wahre Dämonium in sich trägt, weil sie die »Mittlerin« ist zu den Welten des Ormuzd sowohl wie des Ahriman, des Guten und des Bösen. Ungefährlich, / an ihr gemessen, / ist die läppische Hetäre des modernen Ästhetenideals. Denn jeder Typ, der von so stupender Einheitlichkeit ist, ist leicht in seine Elemente aufzulösen und zu überwinden. Eine Lulu ist in ihrer Art ebenso unkompliziert wie die sichere Güte der einfachen Frau, der bevorzugten Hüterin des Herdes. Aber eine schier unermeßliche Welt von Leiden und Erhebungen, ungeheueren Gefahren des Verfalles sowie ungeahnten Sphären der Erlösung birgt nur die eine / Kundry.

Herodias war sie einst, wird von ihr in der modernen Bearbeitung gesagt. Wohl ihr, da sie es war. Denn als Herodias war sie ganz einheitlich in ihrem Wollen, ihrem bösen Wollen. Zur tragischen Gestalt aber wird sie erst, als sie mit dem Fluche der Zwiespältigkeit geschlagen wird. Wilde Urtriebe sind es, die sie zur Zerstörung treiben. Der indische Mythos spricht von einer Schuld in einem vergangenen Leben, / für die sie auf diese Weise büßen muß, / ins moderne Bewußtsein übersetzt ist dieses vergangene Leben nichts anderes als der atavistische Trieb an sich, vererbt von längst vergangenen Ahnen.

Und neben diesem zerstörenden Müssen wirkt und zwingt ein anderes in ihr: zu dienen, zu helfen, zu büßen, sich zu läutern und zu erlösen. Hier, einzig in dieser Gestalt, ist das unbegreifliche Dämonium des Weibes erfaßt. Der Wille zum Guten ist ebenso gewaltig, wie der wildeste Lebenstrieb, der unersättlich begehrt. Dennoch ist / Wirkung allen ihren guten Taten versagt und verzweifelt klagt sie sich an: »Nie tue ich Gutes … ich helfe nie.« Gurnemanz hebt noch einen andern Zug ihres starken Seins hervor: »Nie lügt Kundry.« So widerspruchsvoll sie scheint, ja ein Doppelwesen, / ist sie doch immer restlos wahr / sie selbst. Der Beschwörung des Dämons in Klingsors Gestalt muß sie folgen. Noch während sie sich sträubt und wehklagt, ob des verruchten Zwanges, der buhlerischen Liebe dienen zu müssen, ist sie schneller schon am Werk, als selbst ihr Herr und Meister erwartet! Noch während er die Schönheit des Jünglings schildert, um sie willig zu machen, / ist sie schon verschwunden.

»Wie? Schon am Werk?
Haha! Den Zauber wußt ich wohl,
der immer dich wieder
zum Dienst mir gesellt!«

Tief an das letzte Geheimnis rührt die Art, in der die Verführung in Wagners Textbuch gestaltet wurde. Geschmückt und gerüstet, wie die große Hure von Babel, erwartet sie ihn auf dem Lotterlager, auf dem so viele zu hehrer Tat bestimmte Ritter »Mannesmark und Herzensreinheit« verloren haben. Aber / da es Parsifal ist, den sie hier erwartet, und da sie Kundry ist, die Zwiespältige, mit dem glühenden Willen zum Guten, geschieht es, daß sie durch die eigentümliche Art, in der sie die Verführung beginnt, zwar das Vertrauen des Knaben wachrufen, zugleich aber die wahre Macht der Teufelei einbüßen muß. Denn wie lockt sie? Geschieht es durch den prahlerischen Hinweis auf ihre Reize? Nichts davon! Es erklingt im Orchester das Schmerzmotiv der Herzeleide. Mit dem Namen ruft sie ihn, mit dem ihn nur die Mutter rief. Wo bleibt Herodias? Es scheint, als ob Kundrys Dienen und Büßen bei denen, die das Heil suchen, den Rittern des Grals, Herodias schon getötet hätte. Es ist die Stimme und die Weise der Mutter, die den Jüngling ruft.

»Ich sah das Kind an seiner Mutter Brust,
sein erstes Lallen lacht mir noch im Ohr;
das Leid im Herzen,
wie lachte da auch Herzeleide.«

Das ist die hehre Liebe, nicht die satanische, das ist mütterliche Zärtlichkeit, die immer in jeder echten, großen Frauenliebe liegt und vor der der Mann, vertrauend und beseligt, sein Knie beugt. Und auf diese Liebe beruft sich Kundry in dem Augenblick, in dem sie ihr Werk höllischer Verführung begehen soll.

» Die Liebe lerne kennen,
die Gamuret umschloß,
als Herzeleids Entbrennen
ihn sengend überfloß!
Die Leib und Leben
einst dir gegeben,
der Tod und Torheit weichen muß,
sie beut dir heut'
als Muttersegen letzten Gruß
der Liebe / ersten Kuß!«

Das ist die Liebe, die von keiner »Askese« betroffen wird. Und darum ist der Vorwurf, daß man in Wagners Parsifal eine fanatische Verherrlichung lebenshassender Askese zu erblicken habe, nicht ganz richtig. Allerdings liegen in den Motiven des Dramas die Symbole letzter Entsagung, daß davon aber die Liebe, »der Tod und Torheit weichen muß«, nicht betroffen wird, daß es ein »Entbrennen« gibt, dem die Sonne der Gnade lacht, das beweisen uns die vielfachen Versionen des Mythos, wonach die Ritter, besonders aber der König, auch der Minne und der Liebe dienen durften. In der Dichtung Wagners ist allerdings die strenge Entsagung Motiv geworden. Aber um ein Symbol ganz stark und deutlich vor aller Augen zu stellen, ist die schärfste Zuspitzung notwendig und erlaubt. Man kann in gewissem Sinne eine Tat der »Entsagung« leisten, auch wenn man durchaus nicht ein mönchisches Leben führt. Einfach schon dadurch, daß man die moralische Grenze dort erblickt und respektiert, wo ihre Überschreitung mit zerstörenden Taten verbunden ist, wo man dem höheren Sinn planmäßig sozialen, »dienenden« Lebensaufbaues gewisse Wünsche und Taten opfert, zu denen einen die frohe Bejahung der eigenen Instinkte vielleicht drängt.

Erst als Kundrys Lippen auf seinem Munde brennen, fühlt der reine Tor, daß in diesem Kusse Verderben wohnt. Erst mit diesem Kusse erwacht in ihr, die ihn bisher nur mit reinster Zärtlichkeit zu sich rief, das »wilde Weib«, das jedes Heil, und sei es auch den Gral, zu verraten bereit ist für eine Stunde der Wonne. Und wenn der thumbe Knabe das Mysterium in der Gralsburg und die blutende Qual des Amfortas, deren Zeuge er wurde, nicht verstand, / so versteht er sie jetzt, wo die höllischen Mächte unhehrer, wilder, zweckloser Wollust, / jener, die nicht der innersten Erschließung und Vermählung dient, / auf ihn eindringen. Und als sie ihm ihren Fluch und ihr Leid offenbart, erkennt er die Quelle der Erlösung auch für sie:

»Die Labung, die dein Leiden endet,
beut nicht der Quell, aus dem es fließt;
das Heil wird nimmer dir gespendet,
eh jener Quell sich dir nicht schließt

»Jener Quell« /das sind die brünstigen, unterjochenden Begierden des Geschlechtes.

Um zu erkennen, wie schöpferisch Wagner die Gestalt der Kundry formte, ist es notwendig, die Quellen zu vergleichen. Daraus erkennen wir, daß der große Zug seines Parsifaldramas, eben die Zwiespältigkeit der Kundry, mit ihrer gleichzeitigen Versklavung dem Bösen gegenüber und ihrem tragisch ergreifenden Trieb, der sie hin zum Guten, zur Buße und Läuterung zieht, sein eigenes Werk ist. In dem Gedichte Wolfram von Eschenbachs ist die Herrin in Klingsors Zauberland eine andere, die schöne Herzogin Orgeluse. Auch sie sucht durch ihre Schönheit alle Ritter, die des Weges daherkommen, zu verführen, allerdings nicht durch buhlerisches Locken, sondern durch äußerste Sprödigkeit. Sie hetzt die Ritter dann zu Taten, die ihnen den Tod bringen, da sie der Übermacht von Ungeheuern aller Art, die sie zu bekämpfen haben, erliegen. Nur Gawan besteht die Kämpfe und erringt Orgeluse. Ein einziger aber hat auf den Dank / verzichtet; er sprach, / so heißt es in der neuen Bearbeitung von Wilhelm Hertz:

»Ich habe ein schöneres Weib,
Und die mir lieber ist als ihr.«

»Ich selber heiße Parsifal
Und frage nichts nach eurer Minne,
Liegt doch der Gral mir schwer im Sinn.«

Die Kundry selbst wird in dem alten Heldenlied und in seinen neueren Bearbeitungen nur in einer Gestalt geschildert, und zwar in einer solchen, in der man sich in der deutschen Presse am liebsten eine Suffragette vorstellt.

Alle Sprachen sprach sie rein,
Französisch, Heidnisch und Latein.
Sie war gelehrt: Geometrie
Und Dialektik kannte sie
Und der Gestirne Heimlichkeit.
Kundry hieß die weise Maid,
Auch La Surzière zubenannt,
Von rascher Zunge, wortgewandt.
Doch war sie auch an Wissen reich,
So sah sie denen wenig gleich,
Die man um ihre Schönheit nennt.

Bis auf das Maultier schwankt ihr Zopf,
Schwarz, hart und alles Glanzes bar,
Lind, wie des Schweines Rückenhaar.
Die Nase war geborgt vom Hund;
Es krümmten sich aus ihrem Mund
Zwei spannenlange Eberzähne,
Und jede Wimper starrt als Strähne,
Sie hatte Ohren gleich dem Bären;
Zu rauh für zärtliches Begehren
War ihr Gesicht.

Die Hand des schmucken Liebchens war
Wie eine Affenhaut zu schaun,
Die Nägel braun wie Löwenklaun.
Um ihre Minne brachen Ritter
Selten ihren Speer in Splitter.

Es wird uns auch noch von einem Bruder berichtet, Malcreatüre, der ihr von Wuchs und Antlitz glich, und es wird uns von einer sehr schlechten, verdorbenen Rasse erzählt, die in Indien am Ganges horstet und dadurch entstanden war, daß schwangere Menschenfrauen gewisse Kräuter, die sie ängstlich meiden sollten,

Da sie des Menschen Art verkehren,
Und schnöde sein Geschlecht entehren

dennoch genossen hatten. Die Nachkommen dieser Unseligen waren auf diese Art

Sträflich aus der Menschheit Orden
Durch Weibesgier geschieden worden.

Von tiefer Bedeutung ist es, daß Kundry bei Wagner als büßend Dienende in so verwilderter Gestalt einhergeht, daß niemand / ihre Schönheit erkennt, die nur dann in vollem Prangen sich darbietet, wenn sie ihren üppigsten Trieben folgt. So sehr sie sich sträubt, den Befehlen Klingsors zu gehorchen, so rasch verwandelt sie sich selbst, als sie dennoch am Werke ist. Als Parsifal ihrer Verführung Widerstand leistet, beginnt sie zu rasen, ihre Glut und ihr Begehren schlagen in wilden Flammen aus ihr, und sie erreicht, wie Penthesilea, jene furchtbaren Grenzen des Gefühls, die ich »Liebeshaß« nannte, als ich den Kampf der Penthesilea mit dem Achill belauschte »Die Sexuelle Krise«, S. 149–156..

Alles weiche Sehnen ist vergessen, alle Bereitschaft nach läuterndem Dienst versunken, es bleibt nur noch ein verschmähtes Weib, das den Mann, der ihr das tat, dem sie ihre glühende Leidenschaft bot, mit allen Übeln der Hölle schlagen will. Ein Kritiker der Erstaufführung des Parsifal in London fand diese Weherufe der Kundry unästhetisch, und dieses »Schreien, Wüten, Toben, Rasen« nannte er Naturlaute, »die ihn an einen der Vivisektion unterzogenen Hund,« erinnerten. Auch an dem wilden Rasen der Penthesilea, die, als sie sich verraten glaubt, nur noch die Begier kennt, den Geliebten zu zerfleischen, haben sich Kritiker in derselben Art gestoßen. Und dennoch liegt hier ein Stück ewiger Wahrheit, das im wirklichen Leben wohl vielleicht nach außen hin nicht so vernehmbar wird, im Innern aber dasselbe Höllengetriebe entfacht. Die Kunst aber muß die Vorgänge des Innern nach außen projizieren, um sie überhaupt erkennbar zu machen. Kundry, dieses furchtbare Doppelwesen, ist als verschmähte Verführerin ganz und gar mänadenhaften Trieben verfallen. An dem bösen Brand, der auch auf ihn hinüberschlägt, an dem gierigen Sehnen, das alle seine Sinne zu erfassen droht, erkennt der reine Tor, daß es die Verdammnis ist, die ihm hier droht und nicht die Liebe, die seinen Vater und seine Mutter umschloß. Mit einemmal weiß er, daß es dies war, woran Amfortas schuldig wurde, daß er hier seine Kraft und Reinheit verlor, daß hier ihm der heilige Speer entrissen und die tödliche Wunde, die nie verheilende, ihm geschlagen wurde.

Es ist bezeichnend, daß man die Erweckung des Dämons in der modernen Mona Lisa schon weitaus besser verstand.

Noch eine andere tiefste Weisheit liegt, wenn auch unausgesprochen, auf dem Grund der Parsifalsage. Man fragt sich, warum denn gerade ein Reiner, einer der zu der Welt des Guten gehört, wenn er einmal fällt, so sehr viel härter geschlagen wird als der, der ständig im Dienste des Bösen ist. War Amfortas böser als Klingsor, daß jener ihm den Speer entreißen und ihn damit verwunden konnte? Nein. Hier sehen wir eine Erscheinung, der wir jederzeit auch im Leben begegnen können. Wir sehen, daß Menschen, deren Lebensdienst dem Prinzip des Guten verschrieben ist, auf die furchtbarste Art gestraft werden, wenn sie je einen Schritt davon abweichen. Jede Verfehlung, die sie begehen, rächt sich an ihnen aufs schwerste, / während gleichzeitig die von vornherein hartgesottenen und robusten Sünder, deren Leben eine einzige Skrupellosigkeit ist, gewöhnlich erfolgreich weiter und weiter schreiten und die sind, die in dieser Welt die Macht in die Hand bekommen und siegreich auf dem Kampfplatz bleiben. Es scheint, als ob das Böse unter dem besonderen Schutz gewaltiger Mächte stünde, eben jener, die die Sagen und Religionen aller Völker als die Vertreter des Bösen kennt. Der Gute steht ursprünglich unter dem Schutze lichter Mächte, die ihm hohe Aufgaben stellen; strauchelt er und beleidigt jene Mächte, so ist er vollständig schutzlos, denn auch die Mächte des Bösen stellen sich nicht helfend über ihn. Wenn man mit diesem Gedanken so manche Lebensschicksale vergleicht, so kommt man zu der zuerst aus einem mystischen Gefühl gewonnenen, dann empirisch bestätigten Überzeugung, daß böse Taten zu begehen nur ein Vorrecht einiger von vornherein moralisch nicht vollwertiger Naturen ist, während die sittlich Strebenden jeden Fehltritt aufs bitterste büßen müssen. Das Böse kennt keinen Wankelmut, keine Zwiespältigkeit, was immer es tut, es tut es skrupellos, es kennt keine Reue, kein Innehalten, kein Zurückblicken, kein Zaudern, keinen moralischen Kampf. Es folgt blind und sicher seinen Gesetzen und geht darum auch seinen bösen Weg sehr oft mit Erfolg, während der Mensch, der die Triebfeder aller Sittlichkeit, das Gewissen und die Gabe der sittlichen Selbstabrechnung in sich trägt, solche Taten, die vor diesem inneren moralischen Gesetz in ihm nicht dauernd bestehen können, nur zu seinem schweren Unheil begehen wird.

Klingsor ist in Wahrheit, ehe er sich ganz und gar dem Bösen verschreibt, der sittlich ringende Charakter kat exochén. Mit heißer Sehnsucht strebt er nach dem Gral, und um die Sünde in sich zu ertöten, brachte er selbst seine Mannheit zum Opfer. Aber der Hüter des Grals, Titurel, stieß ihn voll Verachtung hinweg, denn er freilich brauchte keine solchen Gewalttaten, um sündiger Gelüste Herr zu werden. Durch die Opferung seiner Mannheit war Klingsor nichts anderes geworden, als ein ohnmächtiger Sklave seiner eignen, noch ebenso wilden Triebe. Dennoch liegt in diesem Kampf eine gewaltige Tragik, und es läßt sich denken, daß der ringende Charakter vor einem höheren Forum mehr Gnade gefunden hätte, als die von Anfang an zahme Seele, die nicht erst besonderer Kämpfe bedarf, um nicht zu sündigen. Schiller und Kant haben über die Höherwertigkeit dieser Typen ihre Kämpfe ausgefochten. Nach Kant war es der nach Sittlichkeit ringende Charakter, der der höherwertige sei, nach Schiller die schöne Seele, die im Gleichgewicht geboren ist und keines besonderen Opfers bedarf, um sich darin zu erhalten. Ganz gewiß ist Klingsor ein Prototyp jenes nach Sittlichkeit ringenden Charakters, wenn er auch freilich, als er zurückgestoßen wird, sich dauernd den bösen Mächten verschreibt. Durch seine Selbstentmannung, eine radikale Tat, wie sie der Kirchenvater Origines beging, ist er der einzige, der der Verführung Kundrys zu widerstehen vermag, widerstehen muß, und gerade dadurch wird er ihr Herr.

Die brünstigen Kräfte der Natur / waren in Sage und Dichtung immer mit dem Wesen des Urweiblichen und mit dem innersten Geheimnis der Erde selbst verbunden. Faust sucht die letzte Wahrheit bei den Müttern, tief im Innern der Erde und kann und darf nicht von ihnen sprechen. Gleich Wotans Erda so wird auch Kundry, bei Wagner, durch Klingsors Beschwörung, aus der Tiefe heraufgerufen, sie steigt wie aus einem Abgrund empor, wie aus tiefem Schlaf erwachend, mit einem durchdringenden Schrei. Und so wie dieses geheimnisvoll Tiefe, in die Erde Gebannte ihr vom Dichter gegeben wurde, so auch jener andere Zug, den seine Liebe schon in den Brünhildenmythos gelegt hat. Wie Brünhilde kannte sie den Geliebten noch ungeboren, sie war schon da, als er noch nicht war, sie ist die mit Urzeiten Verhängte, / Erlösung hieße für sie: Auflösung. Sie selbst findet noch in der ersten, weichen Zärtlichkeit, mit der sie mütterlich den Helden lockt, die Worte:

» Bekenntnis
Wird Schuld und Reue enden,
Erkenntnis
In Sinn die Torheit wenden.
«

Und als sie dann später in ihr wildes Rasen verfällt und Parsifal sie erkennt als die Dienerin, die ihm in der Nähe des Grals in ganz anderer Gestalt begegnete, beklagt er ihre Verblendung.

»O Elend, aller Rettung Flucht,
O Weltenwahns Umnachten:
In höchsten Heiles heißer Sucht,
Nach der Verdammnis Quell zu schmachten.
«

Dieses »höchste Heil« kann ebensowohl, symbolisch, der Gral sein, als auch eine edle, aufbauende Geschlechtsgemeinschaft, wie sie in der reinen Idee der Ehe, in der Realisierung ihres Prinzips, gegeben ist. Auch von hier treibt es die von den wilden Süchten des Erotismus Befallenen dazu, /im »höchsten Heile« voll »heißer Sucht / nach der Verdammnis Quell zu schmachten« und sich dieser Verdammnis zu ergeben.

Der Vers in Wagners Textbuch scheint mir dort das Opfer eines von den Herausgebern übersehenen Druckfehlers. Richtig, im Sinne der Dichtung, soll es m. E. heißen:

»O Elend, aller Rettung Flucht!
O Weltenwahns Umnachten:
In höchstem Heile / heißer Sucht
Nach der Verdammnis Quell zu schmachten!
«

In diesem Zusammenhang muß man an jene die Triebrichtung der Unzucht bezeichnenden Worte Shakespeares denken, / die der Geist von Hamlets Vater spricht:

»O Hamlet, welch ein Abfall!
Von mir, des Liebe von der Echtheit war,
Daß Hand in Hand sie mit dem Schwure ging,
Den ich bei der Vermählung tat; erniedert
Zu einem Sünder, von Natur durchaus
Armselig gegen mich!
Allein wie Tugend nie sich reizen läßt,
Buhlt Unzucht auch um sie in Himmelsbildung:
So, Lust, gepaart mit einem lichten Engel,
Wird dennoch eines Götterbettes satt /
Und hascht nach Wegwurf.«

Diese Verse besagen dasselbe wie: »In höchstem Heile / heißer Sucht, nach der Verdammnis Quell zu schmachten«; nur ist in ihnen auch noch zweierlei darüber hinaus berührt.

Nämlich die merkwürdige, aber typische Tatsache, daß sich der Trieb der Unzucht auch vom höchstwertigsten Typus zum geringwertigsten hinwendet, also, unter Umständen, / wie dies bei der Königin, Hamlets Mutter, der Fall ist, / von einem Manne von ambrosischer Gestalt und olympischer Gesinnung zu irgendeinem reptilartigen Menschengebilde. »Lust« im Sinne von Unzucht, wird eben / »dennoch eines Götterbettes satt / und hascht nach Wegwurf« / Abwurf, Auswurf. Im Leben ist es eine Beobachtung, die man auf Schritt und Tritt machen kann, daß Menschen ihr ganzes Leben in Betrug, Lüge und in der Gefahr des vollständigen sofortigen Einsturzes verbringen, / nicht weil irgendein Objekt, welches es wert ist, sie dazu reizt, sondern weil sie für jedes »Geschlechtsverhältnis« zu haben sind. Es gibt Menschen, die einfach auf kein sexuelles Angebot nein sagen, mag es von wem immer ausgehen, / Dirnennaturen beiderlei Geschlechtes, die nur den Trieb haben, jede geschlechtliche »Gelegenheit« zu benützen und, sooft wie möglich und mit so vielfachen »Objekten« wie möglich, / den Geschlechtsakt zu vollziehen. Das ist dann ihr »Liebesleben« …

In den Worten des Geistes von Hamlets Vater wird ferner die Bedeutung des Schwures berührt: »Des Liebe von der Echtheit war, daß Hand in Hand sie mit dem Schwure ging.« Echte Liebe umschließt immer den Begriff der Monogamie, / deren feierlicher Ausdruck der Schwur der Treue, bei der Eheschließung ist. Sexuelle Ausschließlichkeit ist von der echten Liebe nicht wegzudenken.

Daß der Schwur, der feierliche Schwur der Treue, sowie religiöse Feierlichkeit überhaupt bei der modernen, bevorzugten, standesamtlichen Zeremonie, deren Nüchternheit für das ganze Zeitalter charakteristisch ist, abhanden kam, ist sehr bezeichnend. Sie schwören nicht mehr / Treue. Weder vor Gott / noch in ihren Herzen. Die Eheschließung ist für sie eine »Formalität«, die man »der Leute wegen« auf sich nimmt. Von der wahren Bedeutung dieses Aktes und dem Unterschied zwischen der Ehe und jeder andern Geschlechtsbeziehung / ahnen sie nichts mehr.

Trotzdem in Eschenbachs Dichtung der Parsifalsage die Minne wahrlich nicht zu kurz kommt und ihr Preis und Lob in allen Tönen gesungen wird, geht auch hier die Keuschheit als Leitmotiv durch die Sage. Hier wird Parsifal zwar nicht durch die absolut mönchische Askese, wohl aber durch die höchste Treue in der ehelichen Liebe entsühnt. Seine vielfachen Irrtümer und Verfehlungen werden ihm verziehen, das Heil, das er sucht, der Gral, wird ihm erschlossen, weil er die Gattentreue in reinster Vollendung bewahrt hat; während der galante Gawan von einer Episode zur andern taumelt, läßt er alle Lockungen, die ihm von Frauengunst allüberall allzu reichlich geboten werden, völlig unbeachtet und bewahrt sein glühendes Herz und seine junge Mannesreinheit einzig für sein Gemahl Kondwiramur, deren Name darauf hindeutet, daß sie in der Liebe zu führen verstand. Während ständig vielfache Hochzeitsfeste um ihn herum gefeiert werden und allen Frauen Leids geschieht, die nach seiner Minne schmachten, ohne daß er sie erhört, liegt er / allein in seinem Zelt.

»Ein anderes Weib mit Dienst zu grüßen,
Um ungetreue Lust zu büßen,
Vor solcher falschen Sinnesart,
Hat ihn sein männlich Herz bewahrt.«

Erst als er endlich zu seiner Herrin zurückkehrt, nachdem er fünf Jahre von ihr getrennt war, findet er seinen köstlichen Lohn.

»Dafür / es war auf dieser Flur /
Gab ihm Ersatz Kondwiramur.
An keinem Ort sonst nahm er je
Minnetrost für Minnenot,
Den manches Weib ihm liebend bot.«

Und diese Gattentreue ist es, durch die er auch vor den Augen des Einsiedlers Trevrezint, der über seine Fehltaten klagt, Entsühnung findet und den Gral gewinnt.

Im Liede Eschenbachs hat der Gral eine sonderbare, profane Nebenbedeutung. Er ist nicht nur die Quelle steter Jugend und feuriger Kraft, sondern die Schale, in der das Blut des Gekreuzigten aufgefangen wurde, hat merkwürdigerweise die Wunderbegabung eines Tischleindeckdich. Sie bedeutet eine regelrechte Pfründe für alles, was es an guten Dingen zu essen und zu trinken auf Erden gibt, und so sehen wir hier vielleicht eine Anspielung darauf, was Kirche und Mönchtum aus der Verwaltung der Heiligtümer gemacht haben.

Die reine Quelle des Seelenheils, schon hienieden, ist der Gral in der Dichtung Wagners. Brot und Wein bei seinem Anblick genossen, wandeln sich zu

»Lebensfeurigem Blute«, zu der Kraft /
»froh im Verein
Brüdergetreu
zu kämpfen mit seligem Mute.«

Das ist nicht lebenertötende Askese, sondern die feurige Sammlung aller befreienden Kräfte, / durch den Verzicht / auf die zerstörenden Bündnisse des Erotismus.

Der Gral bleibt ein ewiges Symbol, auch jenseits der Askese. Er ist das Seelenheil / hienieden zu gewinnen durch Taten der Liebe, der Güte, des helfenden Wissens, durch Auswirkung aller Kräfte, die dem Menschen das höchste Gefühl seiner inneren Freiheit gewähren. Als ein tragisches Mißverständnis muß es betrachtet werden, daß es um der Parsifaldichtung willen zwischen Nietzsche und Wagner zum Bruche kam. Wagner ist Freidenker geblieben, auch nach der Beendigung des Parsifal, sein Grab trägt kein Kreuz und er ist dem katholischen Ritus niemals nahegetreten. (Das wurde erst kürzlich von Peladan hervorgehoben.) Nietzsche aber hat dasselbe Lied der Bezwingung gesungen, wenn auch mit ganz anderem Ton. Als er den Menschen mahnt, daran zu denken, ob er wohl der sei, der, indem er sich fortpflanzt, sich auch hinaufzupflanzen vermag, hat er ein Gebot der strengen Selbsteinkehr, des unermüdlichen Strebens nach Vervollkommnung gegeben, das weit entfernt davon ist, etwa einem Recht auf Auswirkung aller ungebändigten Instinkte das Wort zu sprechen. Nicht die Verherrlichung der Askese, der Brechung aller frohen Lebensgefühle brauchen wir in Wagners Parsifal zu erblicken, wohl aber ein Symbol für die strenge Forderung der inneren Läuterung, ohne die dem Edelgeborenen, da er nicht unter dem besonderen Schutze des Bösen steht, kein dauerndes Heil beschieden ist.

XVII.
Von Brünhild und vom Dornröschen

Der Glücks- und Lebenshunger ist der gefährlichste Begleiter im Labyrinth des Daseins, besonders für die Frau, aber auch für den Mann. In dem Bedürfnis, besonders nach Liebesglück, in der Sehnsucht nach erotischen Freuden, in der Liebe zur Liebe / um jeden Preis, / verführt dieser Glücks- und Lebenshunger zu den gefährlichsten Kompromissen, zu jedem Mangel an Vorsicht in der Objektwahl, / zu einer Preisgabe dessen, was die Frau nur als die Krone des Lebens verschenken soll.

Warte, möchte ich zur Frau sagen, auf den / richtigen Königssohn. Und auch wenn er kommen sollte, / so eile ihm nicht entgegen … Und solte er nicht kommen, so bleibe / lieber allein. Aber wenn du in Hangen und Bangen, Sehnsüchten und Süchten wartest, / so wirst du überhaupt nicht warten können. Warte / in vollkommenster Gelassenheit. Das Geschlecht, das in dir stürmt, wird ruhig werden, wenn du dein Augenmerk nicht darauf konzentrierst. Dann kann es ruhig, statt deiner, / die Gesellschaft tun. Es ist besser, sie tut es, als du tust es an dir selbst. Der psychische Auto-Erotismus schafft fast noch mehr Unheil als der physische.

Warte, Frau, auf den Königssohn, aber warte so gelassen, / wie die Prinzessinnen des Märchens, die noch »Auslese« zu üben in der Lage waren. Und warte sogar / in Defensive, wie es der natürliche Kampf der Geschlechter, in dem der Mann das Weib umwerben und erringen soll, und nicht umgekehrt, verlangt. Glaube, so wahr wie an dein Glück, daß, wenn dein Prinz dir bestimmt ist, er dich finden und alles durchschreiten wird, was dich von ihm trennt, sei es eine wabernde Lohe oder / eine Dornenhecke. Er wird das Feuer und die Dornen durchdringen und dich wachküssen / aus deinem Schlaf …

In den beiden germanischen Sagen, im Mythos von der Walküre, die, zum Weibe gewandelt, von Wotan in freisliches Feuer gebannt wird, das nur der durchdringt, der das Fürchten nicht gelernt, / und im keuschen, deutschen Märchen, diesem quellenden Jugendborn, im Märchen von Dornröschen, / (dem dritten, das ich hier analysiere), liegt das gleiche, tiefe Symbol der Werbung des Mannes um das Weib. In beiden wird die Jungfrau in Schlaf versenkt, / um diese Zeit des Wartens zu überdauern. Dieser Schlaf ist / ein Symbol. Es ist der Schlaf der Sinne. Und erweckt aus diesem Schlaf wird die Walküre und die Märchenprinzessin nur durch den Kuß des Mannes, der die Gefahren der Werbung und der Brünste besteht.

Um die hochgemute Frau, die Amazone, wabert eine glühende Lohe. Und um das wonnige Prinzeßchen des deutschen Märchens wächst eine Dornenhecke, / das Symbol der sich wehrenden Jungfräulichkeit, die, bei der Amazone, zur wabernden Lohe wird … Eine Dornenhecke muß um die Prinzessin herumwachsen, sie vor dem unrichtigen Königssohn zu behüten, / so will es die dreizehnte Fee, / die Zauberin Natur.

Sie will der Befruchtung des kostbaren Weibes einen Widerstand entgegensetzen, sie will eine Tauglichkeitsprobe der Mannheit, physisch und psychisch, ehe das Hymen gesprengt werden und in den Schoß eines reinen Weibes, in dieses Tabernakel der Schöpfung, in diesen heiligen Gral der Rasse / die Saat gestreut werden darf, zu neuem Leben.

Dornröschen erwacht, gleich Brünhild, dem »Unrichtigen« nimmer, und er scheitert kläglich schon auf dem Wege zu ihr; ja, er muß es sogar mit dem Leben büßen, wenn er an sie heranzustürmen wagt, ohne der »Richtige« zu sein …

»Es ging aber die Sage in dem Land von dem schönen, schlafenden Dornröschen … Also, daß von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in das Schloß dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich, denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen und starben eines jämmerlichen Todes …«

Wenn aber der Richtige kommt, der den Schlaf von ihr nehmen darf, dann heben die großen Wunder an, und wo für die anderen die stachligste Hecke war, in der sie eines jämmerlichen Todes starben, / da wächst für ihn eine Hecke von Blumen, die er mühelos durchdringt.

»Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen und der Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter große, schöne Blumen, die taten sich von selbst auseinander und ließen ihn unbeschädigt hindurch und hinter ihm / taten sie sich wieder als eine Hecke zusammen. (!) … Da ging er / noch weiter, / und alles war so still, daß einer seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem Turm und öffnete die Türe zu der kleinen Stube / in welcher Dornröschen schlief

Ist es notwendig, das Symbol, das diese Zeilen des Märchens erkennen lassen, deutlich zu bezeichnen, auszusprechen, was mit der großen Stille, in der einer seinen Atem hören konnte, was mit dem geheimnisvollen Turm und endlich mit dem Öffnen der Türe zu jener kleinen Stube / gemeint ist? …

»Da lag es und war so schön, daß er die Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm / einen Kuß« … Die Märchen der Brüder Grimm. Eugen Diederichs Verlag in Jena.

Siegfried, der kindliche Held, ist für Brünhild / der Richtige.

»Dort, wo die Brünste brennen,
Zu Brünhild will ich hin.«

Warum die Amazone gerade den knabenhaft-kindlichen, naiv-heroischen Mann liebt und sich ihm gibt, / ist den Psychologen kein Rätsel. Die echtesten Elemente der Frauenliebe, Mütterlichkeit und Zärtlichkeit, können hier, / wenn er es ist, / Wurzel schlagen; dazu kommt die Komplementierung der Gegensätze. Siegfried ist also für Brünhild der / Richtige. Aber die Schwarzalben, die Neidlinge aus Nifelheim / geben ihm ein Gift zu trinken, durch das er Brünhild / vergißt. Und nicht nur vergißt, sondern verrät, mißhandelt und entehrt. Wie kann gerade er, Siegfried, dieses ungeheuerlichen Verrates fähig sein? Ich verweise hier auf alles das, was ich über den Siegfried-Brünhild-Mythos, über das Dämonium der Liebe im 1. Teil der Untersuchung gesagt habe. »Die Sexuelle Krise«, S. 141–143 u. S. 240–241. Eugen Diederichs Verlag, Jena.

Was ist es, das Siegfried so gewandelt hat, daß er, der so sehr liebte, der treu alle Verträge hielt, dennoch alle Eide, alle Verträge brach und alle treueste Liebe / trog? Was ist es mit jenem Trank, den ihm die Schwarzalben durch Gudruns Hand reichen und der ihn / verwandelt, so vollständig, daß er alles, alles was mit Brünhild zusammenhängt, / vergißt? »Brünhilde trinkt er den Trank, aber da er ihn absetzt, hat er Brünhilde vergessen. Mit Wunderkünsten hat ihn ein anderes Weib gebunden. Dunkel nur dämmert es noch in ihm:

»Auf Felsen hoch ihr Sitz;
ein Feuer umbrennt den Saal …?«
– – – – – – – – –
»Nur wer das Feuer durchbricht …?«
– – – – – – – – –
»– – darf Brünhildes Freier sein.«

Vergessen hat er, vergessen, was sich dort begab! Um Gudrune zu erringen, hat er Brünhilde nicht nur vergessen, nein, er durchstürmt noch einmal das Feuer, raubt ihr den Ring, den er ihr gegeben und zwingt sie in die Arme eines andern. Was ist geschehen?« »Die Sexuelle Krise«, S. 142.

Ich habe sieben Jahre nachgedacht, um über diesen »Trank« mehr sagen zu können.

Dieser vergiftete, verzauberte Trank, den die Schwarzalben aus Nifelheim dem Siegfried kredenzen, um ihm Brünhild und den Ring zu entreißen, / es ist derselbe Trank, / den Mephisto dem Faust reichte, / der Trank der unbeseelten Brunst, der gebraut ist / in der Hexenküche der Natur. Dieser Trank macht jeden Verrat möglich. Er wandelt den Lautersten und Reinsten in einen teuflischen Dämon. Siegfried verrät sein Weib, verkuppelt sie an Gunther, entreißt ihr den Ring und zwingt sie dem Gunther in die Arme, und hält sie, im alten Nibelungenlied Auch bei Hebbel., sogar noch fest, damit jener, während sie sich gegen ihn wehrt, sie nehmen kann, / er hilft ihm, in der Tarnkappe, in der Hochzeitsnacht, / Brünhilde zu bezwingen. Alles das geschieht, weil er jenen Trank aus der Hexenküche getrunken hat, durch den ihn ein anderes Weib, ja jedes Weib, zum Verräter und Brecher aller Eide machen kann: diesem Trank aus der Hexenküche der Natur, den die Schwarzalben immer wieder dem Manne reichen, hat Mephisto, als er ihn dem Faust kredenzte, sein Sprüchlein mit auf den Weg gegeben:

»Du siehst mit diesem Trank im Leibe,
Bald Helenen in jedem Weibe.«

Der Mann, der auch nur ein einziges Mal seinen »Durst« aus der Hexenküche, aus den Tümpeln der Tiefe stillte, / der sieht von Stund an / »bald Helenen in jedem Weibe« … Der wird zum Verräter, ehe er es weiß und ahnt. Die Tiefe hat über ihn, von Stund an, Gewalt, und er verfällt ihr immer wehrloser, er sinkt / immer tiefer, / so tief, wie eine Frau nur ganz selten sinken kann. Und alles das / wirkte der Trunk von jenem Gebräu der Hexen, des Teufels, / dieser Trank der Walpurgisnacht und aus Nifelheim, / der Trunk von der geschlechtlichen Brunst / ohne Defensive, ohne Sublimierung und ohne / monogame, auf Ausschließlichkeit gerichtete Beseelung, / dieser Trunk, der den Mann vergiftet, zum Bösen verwandelt, verhext / die Orgie.

Um das wonnige Prinzeßchen des deutschen Märchens wächst eine Dornenhecke; und die Walküre, als sie ein Menschenweib ward, erbat sich von Wotan die wabernde Lohe, / in Worten, die alles das ausdrücken, was im Weibe Defensive ist.

Brünhilde:

Auf dein Gebot
entbrenne ein Feuer;
Den Felsen umglühe
lodernde Glut:
es leck' ihre Zunge,
es fresse ihr Zahn
den Zagen, der frech es wagte
dem freislichen Felsen zu nahn!

Wotan:

Leb' wohl, du kühnes
herrliches Kind!
Du meines Herzens
heiligster Stolz,
– – – – – – – – –
Flammende Glut
umglühe den Fels;
Mit zehrenden Schrecken
scheuch es den Zagen,
der Feige fliehe
Brünhildes Fels. /

Und er umgibt sie / mit den freislichen Flammen / weiblicher Wehr.

Loge, hör'!
lausche hierher!
Wie zuerst ich dich fand
als feurige Glut,
wie dann einst du mir schwandest
als schweifende Lohe:
wie ich dich band,
bann' ich dich heut!
Herauf wabernde Lohe,
Umlodre mir feurig den Fels
!
Loge! Loge! Hieher!

In Brünhildens wabernder Lohe ist das Symbol der Dornenhecke, der Jungfräulichkeit, erweitert / zum Symbol der Persönlichkeit. Die echte, wirkliche weibliche Persönlichkeit ist immer der Ausdruck eines stark defensiven weiblichen Sexualgefühls, Dornenhecke und wabernde Lohe sind also im Grunde eins / mit dem Natursymbol, das sich im Hymen ausdrückt.

Dieses defensive Sexualgefühl ist das Merkmal des kostbaren Weibes überhaupt, auch des schlichten aber wonnigen Mägdeleins / des Rösleins auf der Heiden.

»Knabe sprach: ich breche dich,
Röslein sprach: ich steche dich.
– – – – – – – – –
Doch der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Heiden.
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh' und Ach,
Mußt' es eben leiden …«
– – – – – – – – –

Auch das Röslein ist also in diesem Punkt / Amazone / Persönlichkeit. Dornröschen ist / Brünhild, und die Amazone ist in ihrer Weiblichkeit / ein Röslein. Brünhilde ist / Dornröschen. Dornenhecke und wabernde Lohe / sind eins.

Wotan macht sich selbst zum Hüter von Brünhildens wabernder Lohe. Hier ist das Schutzmoment ausgedrückt, das dem Weibe, sogar der Amazone, vom Manne kommt und kommen muß, von dem Mann, / der sich für sie verantwortlich fühlt. In diesem Verantwortlichkeitsgefühl liegt / Liebe. Darum liebt kein Mann, der dieses Verantwortlichkeitsgefühl für ein Weib / sei es seine Tochter, seine Schwester, seine Frau oder sein Schützling in einem anderen Sinne nicht besitzt, empfindet und zum Ausdruck bringt, / der das freisliche Feuer des wabernden, weiblichen Volltemperamentes nicht mit seinem eigenen Speer behütet und überwacht, / auf daß keiner an sie herandringen könne, ihr etwas anzutun, im Bösen oder im »Guten« / gegen seinen Willen. Dieser Schutzinstinkt ist das Kostbarste, was dem Weibe vom Manne kommen kann, und die »Amazone«, die sich von ihm emanzipiert, / ist noch kein Weib. Sie ist noch die wilde Walkyrie, die in den Wolken reitet und sich auf Schlachtfeldern tummelt, / aber sie ist noch nicht Weib geworden, / wie Brünhild es wird / durch ihre Schuld.

Durch ihr eigenmächtiges Beschützen der Liebe hat sie gegen Wotans / äußeren Willen gehandelt, den ihm ein erzwungener Eid aufdrängte. Sein innerster Wille und Wunsch aber ist sie, / Brünhild, die Wunschmaid, das Kind, das ihm die allweise Urmutter, die Wala gebar. Sie, Brünhilde, ist / sein geheimer Wille, / sein Unterbewußtes, das, als es heraufdrängt, elementarisch hervorbricht und seine Bedächtigkeit überstürmt, / sein furchtbarster Zorn verfolgt / dafür: daß es Bewußtes wurde / nun auch ihm.

Wotan:

»Wo ist Brünhild?
Wo die Verbrecherin?
Wagt ihr die Böse
Vor mir zu bergen?
– – – – – – – – –

Wotan straft Brünhilde und muß sie strafen, weil ein Eid ihn bindet. Aber er straft in ihr / seinen innersten Willen. Und bevor er sie dem Manne überläßt, der sie aus dem Schlaf erwecken soll, umgibt er sie mit der wabernden Lohe. Und er macht sich selbst zu ihrem Hüter.

In der unterbewußt-erotischen Relation, die Richard Wagner in die »Beziehung« Wotans zu Brünhild hinein legte, hat er an das Moment der unterbewußten, aber mit stark aggressiven Elementen gemischten Neigung des reifen, väterlich schützenden, bedächtigen Mannes / zum feurigen, elementarischen, amazonenhaft-kindhaften Weib gerührt. Diese fast feindselig aggressiven Elemente sind die Reaktion des männlichen Selbstgefühls / gegen die Gefangennahme durch ein weibliches Ich von sehr starker Persönlichkeit.

Als Goethe Frau von Staël kennen lernte, konnte er, wie er in den Gesprächen mit Eckermann berichtet, sich nicht genug tun, sie anzugreifen, sie zu »chikanieren«, wie er selbst erzählt. Sie aber besiegte und entwaffnete ihn / wie er selbst erzählt / durch ihre vollendete Kultur und Weiblichkeit und durch die Sanftmut, mit der sie auf ihn einging. Er sagt von ihr Annalen 1804, Absatz 2, S. 92.: »Ihre Gegenwart hatte, wie im geistigen so im körperlichen Sinne, etwas Reizendes, und sie schien es nicht übel zu nehmen, wenn man auch von dieser Seite nicht unempfindlich war. Wie oft mochte sie Geselligkeit, Wohlwollen, Neigung und Leidenschaft zusammengeschmolzen haben! … Durch alles dieses war der böse Genius in mir aufgeregt, daß ich nicht anders als widersprechend, dialektisch und problematisch alles Vorkommende behandelte und sie durch hartnäckige Gegensätze oft zur Verzweiflung brachte, wo sie aber erst recht liebenswürdig war und ihre Gewandtheit im Denken und Erwidern auf die glänzendste Weise dartat.« Er hat dann alles getan, ihr und ihrem Werk »De L'Allemagne« zu dem gebührenden Ruhm zu verhelfen, setzte sich mit persönlichstem Nachdruck in Deutschland dafür ein und nannte es die größte Tat, die zwischen Deutschland und Frankreich zu tun war.

In diesem Sichsträuben des Mannes, in dieser herrisch-trotzigen Defensive gegen eine dennoch sehr stark auf ihn wirkende weibliche Natur, liegt / seine Dornenhecke. Und auch hierin ist eine Schutzvorrichtung der dreizehnten Fee, der Natur, zu sehen Vergl. die Ausführungen über Shakespeares »Sommernachtstraum«, über die Magie und die Angst vor der Liebe und besonders über Liebeshaß im I. Teil »Die sexuelle Krise«, S. 131, 141, 144, 149–156, 240, 330, 339..

Nicht nur in Siegfried, dem Knaben, komplementiert sich Brünhilde, sondern auch in Wotan / dem Mann. Denn sie, das elementarste Weib, die Tochter der Wala, der Erda, der Naturkraft, die in der innersten Tiefe des Lebens webt, / ist mütterlich-weise und kindhaft-wild zugleich. Sie umschließt, gleich Kundry, / eine Welt von Gegensätzen. Siegfried komplementiert, als Gegensatz, das mütterlich-weise, schicksalsverwobene Element in ihr, / Wotan, als Gegensatz, das amazonenhaft-wilde, stürmende, / den Walkyrienruf ihres Blutes:

»Hojotoho! Hojotoho!
Heiaha! Heiaha!
Hahei, Hahei! Heiaho!«
– – – – – – – – –

Wotans Zorn gegen Brünhilde könnte nimmermehr so zur Raserei entbrennen, wenn die Notwendigkeit, sie für ihren Ungehorsam strafen zu müssen, / nicht in Kollision käme mit seinem, ihm selbst geheimsten, unterbewußten Wunsch / sie zu besitzen.

Ist schon Kundry eine Synthese scheinbar extremer Gegensätze des Weibtums, nämlich die Synthese von Elisabeth und Venus / (und Kundry ist, ebenso wie Brünhild, ein Lebenstypus), so ist Brünhilde, die dämonische Tochter der Erda, / des »ewigen Weibes«, das in »wissendem Schlafe« liegt, bis Wotan die »Allwissende und Urweltsweise« heraufbeschwört, / sie, Brünhilde, der Wala weise Tochter und Wotans wildes, heroisches Kind, seine ahnende und rebellische Wunschmaid, / ist der Hort aller Geheimnisse des Ewig-Weiblichen, die Synthese fast aller seiner typischen Elemente: sie ist die Schlachtenjungfrau, die Wal-Küre, die die wirklichen und echten Helden auf der Walstatt des Kampfes und der Ehre erkieset und die geringen zurückweist, / und dabei ist sie / Sigelindes Beschützerin Vgl. einen Artikel von Dr. Helene Stöcker: »Mutterschutz vor zweitausend Jahren«, erschienen in der Sammlung »Die Liebe und die Frauen«., der Mutterschaft Hüterin und, / zum Weibe geworden, / Verteidigerin ihres eigenen ehelichen Ringes, / ihres Bandes zu Siegfried.

Sie ist also, in einer Gestalt, Walküre und / Fricka, dann / durch ihre und Siegfrieds Schuld, / Büßerin Kundry und Verzichterin Elisabeth und immer / in ihrer defensiven Lohe, in der doch die Brünste brennen, / ein dämonisches Dornröschen und eine durch sich selbst gebändigte / »sublimierte« / Frau Venus …

Je stärker das defensive Sexualgefühl einer Frau entwickelt ist, die vornehme, niemals betonte aber dennoch fühlbare, rein instinkthafte Defensive ihrer Weiblichkeit, / um so geliebter wird sie sein. Und zwar wird sie dann von / sehr vielen Seiten geliebt werden, zumeist ohne es zu wissen, ja oft, ohne es auch nur zu ahnen, ohne überhaupt bei ihren gesellschaftlichen, beruflichen und freundschaftlichen Beziehungen zu Männern jemals einen Gedanken daran zu verschwenden. Die Wirkung dieser geheimen, erotischen Sympathie, die sie erregt, die zumeist auch beim Manne im Unterbewußtsein bleibt, eben weil die instinktive Defensive der Frau sie vor jeder Vergröberung behütet, wird nicht ausbleiben. Und zwar wird diese Wirkung für das Leben der Frau die denkbar günstigste sein; denn für diese Behütung des Zartesten in der psychischen Erotik vor der Vergröberung ist der Mann der Frau dankbar, und sein unterbewußt-erotisches Begehren wird dadurch die aggressiven Elemente, die in der Begierde stets enthalten sind, verlieren, wird sich, als Reaktion auf ihre Defensive, wandeln, läutern, sublimieren: zu Wohlwollen und Schutz.

Wotan wird nicht / Brünhildes Geliebter, wohl aber / Brünhildes Beschützer:

»Wer meines Speeres
Spitze fürchtet,
durchschreite das Feuer nie.«

Die wabernde Lohe sowohl wie die Dornenhecke, sind Symbole / des Hymens in seiner metaphysischen Bedeutung. Und das Hymen selbst ist ein Symbol, dessen sich die Natur bediente, als sie den Körper des Weibes erschuf. Es ist ein Symbol für die Bestimmung des Weibes, Auslese zu üben, und Auslese üben heißt / Zurückhaltung üben. Denn in dieser Zurückhaltung liegt / die Auslese. Wabernde Lohe und Dornenhecke sind Symbole der abwehrenden, defensiven Keuschheit des Weibes.

Und auch jenes Weib, das nicht mehr Jungfrau ist, möge nicht vergessen, daß sie es einmal war und daß die Natur etwas bezweckte, als sie ihrem Körper ein solches Symbol mit auf den Weg gab, wie es das Hymen ist. Auch das Weib, das sein Hymen verloren hat, bewahre sein freisliches Feuer, wie ja auch die Dornenhecke, die sich nur dem Richtigen in Blumen wandelt, kaum daß er sie durchschritten hat, / wieder nachwächst und anderen den Eingang verwehrt … Die dreizehnte Fee im Märchen, die die böse Fee genannt wird, aber nur so böse ist, wie es den Absichten einer höheren Macht entspricht, diese Fee, die Zauberin Natur, hätte niemals dem Weib ein so geheimnisvolles Angebinde seiner Körperlichkeit gegeben, wenn nicht in der Seele des reinen Weibes das bestände, was an ihrem Körper sich durch das Hymen ausdrückt: die Abwehr, die Keuschheit. Und die seelische Jungfräulichkeit sei dem reinen Weibe ein Heiligtum, ein Gral, von dem nur der Wissende trinken darf. Vielleicht darf ich hier ein paar Verse von mir einfügen, ein Sonett, das einstens aus der »Stimme« aufsprang:

» Evoë!

Wie ein geweihter Kelch, wie eine Vase,
In der die Blume deiner Liebe blüht,
Scheint mir mein eigner Leib, durchglüht
Von dieser irdisch heiligen Exstase.

Wie Kelch gewordner weißer Stein von Laase,
Wenn ihm der Gott einhauchte sein Gemüt,
Daß er Gefäß sei seinem Schöpferlied,
Damit er becherlos ihm nicht im Busen rase.

Geheimnisvoller Becher, der beim Mahle
Auf Mont Salvatsch sich frommen Lippen bot
Und sie entsühnt von allem Fluch der Erde!

Wie jener rätselvolle Trunk vom Grale
Den, der ihn wissend tat, entwunden aller Not,
So dir der Trunk von diesem Kelche werde!«

Und du, Jungfrau und Frau, die du nicht 100 Jahre schlafen kannst, bis der Richtige kommt, / beschäftige dich! Sublimiere dich! Dann wirst du gar nicht merken, wie schnell die 100 Jahre vergehen, in denen dein Königssohn dennoch kommt, / weil er bis dahin / geboren sein wird.

XVIII.
Liebe

Der Akt der Geschlechtshingabe / des Mannes / ist die stärkste organische Kraftausgabe, die die Natur kennt, / eine stärkere als das heißeste Waffengefecht. Was der Mann in der Bewältigung aller Kämpfe und Mühen des Lebens leistet, / ist, als Kraft- und Energieausgabe in gedrängtester Konzentrierung, / nichts gegen das, / was er im Schoße des Weibes leistet. Hier lösen sich alle seine Kräfte auf, bis zum letzten Rest. Und während sein Organismus / sein Kronjuwel darbringt, / die reinsten Eiweißstoffe, / die das Leben selbst sind, / entringt sich aus dem hier zum höchsten Grade gesteigerten, in der Opferung dieser Eiweißstoffe kulminierenden Lebenswillen / das, / was kein Waffenkampf, solange er unverwundet ist, was keine Arbeitsmühsal dem Mann entringen konnte, / / / ein Stöhnen, / ein Röcheln, / / diese wonnigste Musik eines Frauenohrs, / dieser einzige Triumphlaut ihrer Naturmacht, / der, / im Dunkel der Nacht, / in der Brunst der Umarmung, / ein Mona Lisa-Lächeln auf ihre Lippen zaubert …

Und dieser Akt, / dessen natur- und gottgewollte Folge die Fruchtbarkeit, die Erzeugung neuen Lebens ist, / dieser Akt / soll geschehen dürfen, / ohne daß, ebenso wie der Organismus, auch die Seele ihr Letztes gibt?

Liebe ist / die willige und zärtliche Anerkennung des Gebotes: Du sollst keine andern Götter haben neben mir. / Liebe ist nur ein anderer Ausdruck für das höchste Konzentrations- und Sublimierungsgefühl, das, auf religiösem Gebiet, / im Monotheismus seinen Ausdruck fand, während die Zersplitterung dieses Gefühls dem Polytheismus entspricht. Der Götzendienst der Geschlechtlichkeit / und der Monotheismus der Liebe / stehen einander, als Gegensätze, gegenüber. Liebe ist, ebenso wie Monotheismus, / die Ablehnung eines rohen Kultes, der sich an viele, selbsterschaffene, rohgezimmerte Götzen wendet, / es ist die Anbetung von etwas Unsichtbarem / in der eigenen Seele, mit der Willensrichtung, dieses metaphysische Gefühl auf ein menschliches Wesen zu übertragen, zu dem dann dieses Gefühl, wie zu einem Symbol, seine Zuflucht nehmen kann.

Hier war es, wo Mann und Weib sich lange nicht »verstanden«, wo sie nicht dasselbe wollten, wo ihr ewiges »Mißverständnis« lag, / die vieltausendjährige sexuelle Krise der Geschlechter. Der Mann, zumindest der Mann von gröberer Art, wollte vorwiegend / den Götzendienst der Geschlechtlichkeit; und die Frau wollte und will / die Religion der Liebe. Wenn sich die Geschlechter jemals finden und jemals in einem höheren Sinne vereinigen sollen, / so muß einer von ihnen / »nachgeben«. Wer wird nun / zu dem Bekenntnis, / zu der Religion des andern übergehen? Wer wird »nachgeben«?

Ich glaube / der Mann. Und zwar aus einem einzigen, kleinen Grunde: Das prinzipielle »Nachgeben« der Frau in diesem Punkt / würde / diese Welt zum Zusammensturz bringen. Es wäre / ihr Jüngster Tag.

Das Geheimnis der Sphinx ist das Geheimnis des Geschlechtes. Und ließe die Frau ab von ihrer / Religion, so / »fiele diese Welt in Trümmer«.

Und ein besonderes Geheimnis der Sphinx ist es, / daß der Mann schon längst dasselbe will, wie das Weib, daß er längst ihr »Prinzip«, ihre Religion anerkannt hat und daß er dieses in seinem Sittengesetz ausdrückte. In dem Gesetz der Sitte, die er sich selbst erschuf, hat er sich ihrem Prinzip / gebeugt … Heimlich aber zog es ihn dorthin, wo auch »die Brünste brennen«, / aber ohne sittliche Forderung, ohne höhere menschliche Einheit zwischen Zweien, ohne Beseelung. Aus dem Tempel einer erhabenen Gottheit schlich er, immer wieder, auf nächtlich heimlichen Wegen zum verborgenen Kultus / der Unterwelt, / der Orgie … Was in jenen Tempeln geschah, die dem Kult des Dionysos oder in jenen andern, die dem der Astarte errichtet wurden, was in der klassischen sowohl wie in der mittelalterlichen Walpurgisnacht vor sich ging, / es geschieht noch heute. Aber, / und das ist ein bedeutender Fortschritt, / man schämt sich schon dieses Götzendienstes; während man ihn früher unverhohlen trieb, treibt man ihn heute nur noch heimlich und normiert für sein Leben als Mitglied der Gesellschaft / ein sittliches Ideal.

Der Mann will dieses Ideal, / sonst hätte er die Dirne zur Göttin erhoben, ihr öffentlich gehuldigt, sie an seine Seite gesetzt und sein Schicksal mit dem ihren verbunden. Der Genius der Gattung bewahrte ihn davor. Wenn er den »Kult« mit ihr / vollzogen hat, / wendet er sich von ihr ab und schleicht von ihr weg, / traurig und / sich schämend und überläßt sie ihrem in einem höheren Sinn gerechten Schicksal.

Die Scham ist eines der kostbarsten Kulturgüter.

Der Mann will / das reine Weib. Bei ihr nur wird er froh, bei ihr nur ist sein Heim. Und wenn er dieses reine Weib ganz besitzen will, / wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als mit ihr nicht nur ein Fleisch, sondern auch ein Geist zu werden und sich zu ihrer Religion, auch in seinem Herzen, zu bekennen.

Siegfried, der germanische Held, der das Fürchten nicht gelernt, ist hinausgezogen zu hehren Taten. Er hat der tückischen Feinde Übermacht gefällt.

Machte er Rast im Walde, der Wälsung? Und während er unter der Linde liegt, vom Waffenkampf erschöpft, rastend, sehnend, brünstig, / horch / da hört er das Waldvöglein:

»Lustig im Leid
Sing' ich von Liebe;
Wonnig aus Weh
Web' ich mein Lied.
Nur Sehnende kennen den Sinn …«

»Schmerzlich bewegt« blickt er auf und klagt seine bange Sehnsucht in die Zweige hinauf:

»Freundliches Vöglein,
Dich frage ich nun,
Gönntest du mir
Wohl ein gut Gesell?«

Und die Stimme des Waldvögleins singt ihm die Antwort:

»Hei, Siegfried erschlug nun
Den schlimmen Zwerg!
Jetzt wüßt' ich ihm noch
Das herrlichste Weib.«

Jung-Siegfried wird bei diesen Worten an das herrliche Weib seiner deutschen Heimat, besonders an das deutsche Mädchen denken.

»Noch einmal sage mir,
Holder Sänger:
Werd' ich das Feuer durchbrechen,
Kann ich erwecken die Braut?«

Und da tönt die Antwort:

» Nur wer das Fürchten nicht kennt« – – –
– – – – – – – –
Das Fürchten / des Geschlechtes.«

Siegfried kennt das Fürchten nicht, / als Mann und Krieger. Aber er muß auch noch das andere Fürchten verlernen, nicht die Ehrfurcht / sondern die Furcht / welche aus dem mißbrauchten Geschlechte stammt. Das Fürchten in der Umarmung wird er erst überwinden, verlernen, / wenn diese Umarmung rein ist, wenn nicht ein dunkles Geheimleben sie bedrückt, welches aus dem Helden / in der Liebe / einen Feigling machen muß. Nur der, der das böse Bangen, das aus der Vermischung mit der Tiefe stammt, nicht kennt, der das Fürchten nicht gelernt, in diesem Sinn, / nur der erweckt aus dem Schlaf / der Sinne / die Braut.

Es mußten hier, wie im Lied von der Glocke, in der Untersuchung des Wesens der gewaltigsten und reißendsten Elementarmacht, der Geschlechtlichkeit, die stärksten Begierden und Gefahren des Menschenlebens, seine verlockendsten Idole und zermalmendsten Leiden, seine tiefsten Bestimmungen und Schickungen und seine nächsten und fernsten Sehnsuchts- und Erlösungsziele beleuchtet werden. Und darüber hinaus und damit aufs engste verbunden: die Lebensquellen und Lebensziele der Gesellschaft.

Wir haben unser Ziel erkannt. Es heißt: Genesung des Geschlechtsgefühls, Genesung von den Fäulniserregern der Zivilisation und damit auch Genesung und Erstarkung des sozialen Gefühls; und dadurch / Eintracht zwischen Mann und Weib, Individuum und Gesellschaft, Volk und Volk.

Hunger und Liebe und / hungernde Liebe / und der Kampf zwischen der lichten und der dunklen Zone, / das war der Stoff dieses Buches.

Die Glocke, die wir in Bewegung setzten, hat einen herben, mahnenden Klang, / mußten doch der Legierung die schärfsten Salze beigemengt werden, damit ihr Metall die richtige Tönung bekam. Ist es uns geglückt, diese Glocke aus ihrer Verschalung zu lösen, daß sie frei schwebt und klingt / »Hoch über niederm Erdenleben« / und hörbar wird, selbst in dem Waffengetöse unserer Tage, / so sei sie gesegnet mit dem Spruch des Meisters und

»Dem Schicksal leihe sie die Zunge.«
– – – – – – – – – – – –
»Sehet! Wie ein goldner Stern
Aus der Hülse, blank und eben,
Schält sich der metallne Kern.
– – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – –
Gesellen alle, schließt den Reihen,
Daß wir die Glocke taufend weihen!
Konkordia soll ihr Name sein.
– – – – – – – – – – – –
Ziehet, ziehet, hebt!
Sie bewegt sich, schwebt!
Freude dieser Stadt bedeute,
Friede sei ihr erst Geläute!«

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig

 


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