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[V. Kapitel.
Das Moralproblem.
Fortsetzung]

[7. Das Böse. / 8. Die Moral der Überwindung. / 9. »Geschlecht und Charakter«. / 10. Das Gattenband. / 11. Die metaphysische Bedeutung des Hymen]

 

VII.
Das Böse

Im Leben der Völker gärt das Böse, bis es ausbricht in der infernalischesten Haßorgie, wie jetzt in diesem Krieg. Mystiker behaupten, daß für das, was da vorgeht, äußerliche politische Motive keine genügende Erklärung bieten, daß diese Entladung von Haßmagien einer ganzen Welt mit bestimmten Veränderungen der Erdatmosphäre und mit bestimmten Konstellationen der Gestirne zusammenhänge. Diese Hypothese ist vielleicht nicht kurzweg zu belächeln, weil es ja schon wissenschaftlich bekannte Reiz- und Wutzustände gibt, die z. B. durch das Klima erzeugt werden, wie der Tropenkoller. Jeder Haßausbruch kommt aus den Tiefen der Natur; die Gründe, die Argumente, durch die er motiviert wird, sind Täuschungen der Oberfläche. Ganz ebenso lag auch der Erotismus seit etwa 20 Jahren als schärfste Spannung in der Weltatmosphäre, besonders in der europäischen; und vieles, was da geschah, / mußte geschehen, / und auch das hängt mit dem Ausbruch des Weltkrieges zusammen …

Das Böse hat größere Macht über die Menschen als das Gute. In den meisten Menschen gären Atavismen aus den Zeiten des Anfangs, ja aus der dumpfen Tiefe der Tierheit. Diese atavistischen Instinkte der Roheit, des Hasses, der schrankenlosen Selbstsucht und Genußsucht, der kaum verhaltenen Gewalttätigkeit, Begehrlichkeit und Habsucht, die in Katastrophen, wie diesem Krieg, schließlich offen losbrechen, besonders aber die niedrigen Instinkte des Neides und insbesondere die der geilen Geschlechtsgier, sind Elemente des Bösen. Die Nötigung zu Lug und Trug, Täuschung, Roheit, Gewalt und Verrat gesellt sich ihnen zu. Insbesondere ist der hinterhältige Verrat, wie er gerade als Geschlechtsverrat sich am öftesten ausdrückt und zu den unheimlichsten Attacken auf das Leben, die Seele und die Existenz eines Menschen führt, / der Ausdruck des Bösen, und, nächst ihm, / die Ungerechtigkeit. Wer ungerecht ist, der ist auch fähig, gegebenenfalls der Verführung zu jedem Verbrechen zu unterliegen, alle Gewissensskrupel, die er vielleicht von Natur aus hat und die der einzige Wegweiser sind, im Labyrinth von Recht und Unrecht, vorsätzlich in sich zu unterdrücken.

Wer dem Unrecht gegenüber nicht leidenschaftliche, entschiedene Auflehnung aufzubringen vermag, wer es mit ansehen und es schweigend dulden kann, ja es insgeheim vielleicht tückisch billigt und fördert, der ist böse und schlecht.

Eine besondere Erscheinungsform des Bösen ist die Tücke. Die Tücke ist das verkappte Böse, das sich im geheimen versteckt, wie eine lauernde Bestie, die zu feig ist, um sich in offenem Kampf zu zeigen, die sich im Hinterhalt geduckt hält und auf den Sprung lauert, um der Beute, wenn sie in die Falle gegangen ist, die Zähne in den Nacken zu schlagen. Wie die schleichende Schlange in langwierigem, höllischen Gebrodel ihr Gift in sich erzeugt, um es, im gegebenen Moment, zischend loszuspritzen, so die böse Tücke ihre Ränke. Die widerliche Kröte kann, wie die Schlange, als ein Abbild des Bösen gelten. So wie in den Religionen und Mythologien dieser Gegensatz zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis seine Verkörperung gefunden hat, / in Ormuzd und Ahriman, in Balder, / Siegfried und Hagen, / so auch überall im Leben.

Das Böse ist im tiefsten Grunde ein Produkt des Neides, des Hasses niedriger Lebensformen gegen solche, die höher geartet sind. Alles unzulänglich und niedrig Gebildete haßt, ganz instinkthaft, das Erhabene und Schöne. Dieser neiderfüllte Haß eignet der niederen Natur so wesentlich, daß er, alle Dämme des Unbewußten sprengend, mit elementarer Gewalt durchbricht, selbst dort, wo das Oberbewußtsein sich einen Plan ganz anderer Art, z. B. Befreundung mit dem Guten, zurechtgelegt hatte; selbst dort, wo der Wille nach Erhöhung der eigenen Lebensform einen Pakt mit dem Guten und Schönen schließen wollte, z. B. in mancher »Freundschaft« und sogar in mancher Ehe.

Wenn man vor dem jähen Zusammenbruch mancher Ehe, die auf den ersten Blick gut und gesichert schien, wie vor einem unerklärlichen Rätsel steht, so wird man nur durch tieferes Hineinblicken in die Charaktere der beiden den Schlüssel hierfür finden. Man wird dann gewahr werden, daß, ganz plötzlich, ein elementarer Durchbruch des Unbewußten, der Urnatur des einen der beiden Ehegefährten, reißend und unaufhaltsam, hier eine Verwüstung geschaffen hat und daß der einmal befreite Haß einer schlechten Natur nicht mehr umzubiegen ist und die Katastrophe bis zur Spitze treibt. Man nehme an, daß der Haß in dem Manne lag; anderseits weiß man, daß der Mann diese Frau einmal sehr geliebt hat und daß nicht etwa diese Frau schlechter und geringer geworden ist, sondern daß, im Gegenteil, ihre Natur sich zu immer reinerer Läuterung verklärte.

Der Schlüssel ist der: die Liebe zu einer Frau ist etwas anderes, und / der Charakter eines Menschen ist auch etwas anderes.

Ein Mensch, mit ererbter Tücke und gefährlichen Trieben, kann sich dennoch, vorübergehend, in eine höhergeartete Frau »verlieben«, verlockt vielleicht durch irgendeinen Zug ihrer Weiblichkeit. Ist sie dann sein Eigentum, so wird er sie, / erst ganz unterbewußt, / instinkthaft, gerade um dieser ihrer höheren Art willen, sehr bald hassen und eine Lust darin finden, sie heimlich zu verraten, sich mit der Tiefe gegen sie zu verbünden, ihr Übles zu tun. Bei irgendeinem Anlaß wird dann, was er getan, auch offenkundig werden; und ist der Zwist zwischen diesen gegensätzlichen Naturen erst ausgebrochen, / ein tief in den Urgründen der Rasse wurzelnder Zwist, wie es der Zwist zwischen Askenasim und Sephardim ist, den beiden Rassengegensätzen im Judentum Über »Judentum, Christentum und Krieg« erscheint demnächst eine Broschüre von mir., / so wird meist aller gute Wille, alle Nachsicht, alle Hilfsbereitschaft von der gerechten Seite nicht mehr den Ruin aufhalten können. Denn wenn die Tücke des geheimen Bösen sich erst einmal entlarvt sieht, so wird die zischende Wut und die Rachsucht, bis zur Vernichtung, keine Grenzen mehr kennen.

Ein Mensch von starker Persönlichkeit wird übrigens im allgemeinen sehr viel gehaßt. Er erregt Unlustgefühle vehementester Art bei allen, die auf eine lautere Natur mit Neid und Grimm sehen. Es geht dies so weit, daß sich diese Ströme von Haß, die er erregt, sogar anscheinend in physikalische Wirkung umsetzen. Wellen des Hasses und der bösartigsten Angriffslust entwickeln sich zwischen einem solchen Menschen und bösen Menschen schon in dem Augenblick, in dem er einen Raum mit ihnen betritt, ja sogar auf die Entfernung, vom Hörensagen. Sofort kommt es zu Konflikten und Explosionen. Schmutzige, niedrige Menschen, Leute mit Gesichtern, aus denen Quallen und Polypen, Füchse, Tiger und Hyänen, Schlangen und Schweine herausblicken, reagieren sofort mit Wut, wenn der Zufall einen Menschen höherer Art in ihre Nähe bringt. Auch wenn er sich ganz passiv verhält und sie gar nicht bemerkt, wird in den nächsten fünf Minuten der Konflikt losbrechen, vielleicht ein Skandal, irgendein ganz unerwarteter Überfall, eine Entladung, in der Art von Tropenkoller, ein Wutausbruch des Bösen, gegenüber dem Guten. Hier müssen Ströme und Wellen am Werk sein, über deren Entstehung und Art die Wissenschaft noch nichts verlauten ließ.

Aus dem Bösen kommt auch jede Art von Rassen- und Klassen- und besonders der verhängnisvollste Haß, der Geschlechtshaß, die alle drei auf Neid beruhen, wie meistens auch der individuell persönliche Haß. Man bekommt dies z. B. zu fühlen, wenn man, als gebildeter Mensch, besonders aber als Frau, in enge Wohn- oder andere Gemeinschaft zu gewissen kleinbürgerlichen Klassen gerät. Die Augen, mit denen der Kleinbürger z. B. eine Dame ansieht, die, allein und ruhig, in einem Restaurant sitzt, sind allein für sich schon ein Stück Haß. In diesem Blick liegt auch eine sexuelle Feindschaft, / die instinktive Auflehnung einer nicht frei entwickelten Menschlichkeit gegen eine höhere Art von Lebensstil, die sich in der Person der ruhig und einwandfrei ihr Abendbrot in einem öffentlichen Lokal verzehrenden Dame ausdrücken mag. Hier, in der Kleinbürgerei, im Unterbewußtsein einer bestimmten Menschenschicht, haben wir sehr viele der komplizierten Wurzelfasern der typischen, ja alltäglichen Moral-, Sexual- und Sozialkonflikte zu suchen, worüber indes diese Andeutungen genügen mögen. Es ist der Haß gegen den größeren und freieren Lebensstil, und wehe, wenn das Objekt, das ihn erregt, in wirtschaftlich gefährdeter Lage ist!

Dieser Kleinbürger fühlt, daß diese ruhig und abweisend dasitzende Dame für ihn / unerreichbar ist; daher seine Blicke sie nicht etwa umwerben, sondern gehässig anfunkeln und er sie am liebsten damit aus dem Lokal verjagen würde. Natürlich spielen sich derartige starke Aggressionen durchaus im Unterbewußtsein ab, werden in ihrer Wirkung aber doch deutlich fühlbar und schaffen eine bedrohende Atmosphäre. Handelt es sich um eine Frau, die, auch in bedrängter Wirtschaftslage, den Stil ihrer Persönlichkeit nicht verleugnen kann, so werden sie aus allen möglichen sichtbaren und unsichtbaren Zonen Wellen des Übelwollens und der Mißgunst treffen, die sich, in gesicherten Verhältnissen, niemals an sie heranwagen würden, ja gar nicht in ihr Bereich kämen. Das Böse ist eine aggressive Kraft.

Daß die »Mißgunst« einen Menschen trifft, dessen Lebenslage in keiner Weise beneidenswert ist, klingt wie ein erstaunliches Paradoxon, ist aber dennoch wahr. Denn gerade daß dieser Mensch, / besonders wenn es sich um eine Frau handelt, / auch in einer Lebenslage, die jeden andern in den tiefsten Staub drücken würde, noch seine aufrechte Haltung behält, erregt den Haß, die Wut und insbesondere den Neid der Wesen von niedriger organischer und kultureller Art.

Am stärksten wogt auch der spezifische Geschlechtshaß, von seiten des degenerierten, von der Dirne verdorbenen Mannes und des degeneriert Geborenen gegen die durchgeistigte, beseelte, wissende und reine Frau. Dies drückt sich vielfach in der Literatur aus, z. B. auch im Fall Weininger. Seinem gänzlich haltlosen, in den wildesten Spekulationen jonglierenden, in seiner eklektischen »Wissenschaftlichkeit« stark plagiatorischen Werk jubelte die Décadence zu und rief ihn aus als »Genie«. Der Geschlechtshaß der Degenerierten hatte hier seine Philosophie gefunden Ich verweise hier auf meine Broschüre von 1904 » Weiberhaß und Weiberverachtung«, eine Erwiderung auf Weiningers »Geschlecht und Charakter«, Verlag der »Wage«, Wien, für den Buchhandel durch die Hofbuchhandlung Moriz Perles, Wien, I. Seilergasse 4..

Wie schützt sich ein Mensch, in bedrohter Lebenslage, gegen das feindliche Böse? Durch Isolierung und Heiligkeit. Die Isolierung wird, unter Umständen, in besonders gefährlichen Lagen, zur Lebensbedingung. Die höchste Vorsicht im Verkehr mit Menschen, der sofortige Abbruch, wenn sich aggressive Absichten bemerkbar machen, das strengste Meiden schlechter Gesellschaft und, / da meist, besonders in dieser Lage, keine gute zu haben, / ein Anachoretenleben, ganz auf Vertiefung und Innerlichkeit gestellt, kann in einer gewissen Phase des Lebens, ja unter Umständen für immer zur Notwendigkeit werden. Nicht Zufall ist es, daß alle Propheten, alle Heiligen, alle, die erhabene Gesichte schauen wollten, / in die Wüste gingen. Die Isolierung von den überall heranbrandenden Strömen und Wellen des Bösen, die aus ihren Mitmenschen an sie herankamen, war die erste Bedingung ihrer eigenen Reinigung und Verklärung. Die Sehnsucht nach der Hingabe an Menschen, / wohl die tiefste Sehnsucht, die das Herz kennt, / muß in solchen Zeiten abgetötet werden, wenn ein Mensch, der die Verfolgung des Bösen zu fühlen bekommt, sein Leben behalten will.

Er wird sich daran gewöhnen können, wenn er sich eine bestimmte Maxime zu eigen macht, nämlich die: sich mit partiellen Beziehungen (nicht zu verwechseln mit dem bei der Konstatierung der geilen Sucht gebrauchten Ausdruck »partielle Reizungen«) zu Menschen zu begnügen. Etwas Ganzes, / eine wahre Freundschaft, eine wahre Liebe, eine wahre Ehe, ein wahres, inniges Verwandtschaftsverhältnis / ist für ihn kaum zu haben. Partielle Beziehungen, beruflicher oder, ganz vorsichtig, oberflächlich gesellschaftlicher oder verwandtschaftlicher Natur, / solange sie sich eben harmlos erhalten lassen, / sind alles, was ihm bleibt. Da erotische Beziehungen bei hochgearteten Menschen Partialität nicht erlauben, so werden sie, in diesem Punkt, zu völligem Verzicht gezwungen sein, wenn nicht ein besonderer Stern sie zu ihresgleichen führt. Um jeden Preis aber, sei es auch um den des Verzichts auf jede menschliche Ansprache, muß er, in gefährdeten Lagen, beunruhigende und fragwürdige Gesellschaft meiden. Denn von da werden beständig Ströme des Übelwollens, die auf die Untergrabung seines Ich gerichtet sind, gegen ihn ausgesandt. Verkehr suche er, wenn er ihn finden kann, mit schlichten und frommen Naturen, wenn auch aus ganz anderen, sozial vielleicht tief unter ihm stehenden Kreisen. Die intellektuelle und soziale Gemeinschaft ist völlig Nebensache, / die tiefsten Ströme fließen anderwärts. Besonders in bedrohlichen, schwächenden Lebenslagen werden an eine höhere Natur, die schon immer, um ihrer Persönlichkeit willen, geheimen Neid erregte, / Kröten und Schlangen und Ratten von allen Seiten heranzukriechen suchen, um sie zu benagen, zu vergiften, zu besudeln. Sie stoße das Gezücht mit einem Fußtritt hinweg. Wohl ihr, wenn sie den scharfen Blick hat, es sofort, in seinen verschiedenen Verkleidungen, zu erkennen.

Mancher Mensch trägt ein ererbtes Böses in sich, eine dunkle Erbschaft, die latent in ihm liegt. Solange ihre Entwicklungsfähigkeit nicht gekommen ist, ist oder scheint dieser Mensch nicht selten als einer der gutmütigsten, harmlosesten und reinsten. Auf einmal ist dieses latente Böse befruchtet worden, und sein Entwicklungsstadium setzt ein. Es ist dies so, wie wenn ein Weib, von Geburt an, eine Cyste mit sich herum trägt, eine scheußliche Mißgeburt, die sie aus dem Mutterleibe empfing (oft eine Zwillingsentwicklung, die nicht zur Reife kam und die als befruchtetes, aber nicht entwicklungsfähiges Ei in die lebensfähige Frucht, die dann geboren wurde, überging); sie liegt in ihr, ein toter Klumpen. Plötzlich beginnt das Weib geschlechtlichen Verkehr, durch den die Cyste befruchtet wird, das Ungetüm entwickelt Haare, Zähne usw., wächst / und muß operativ entfernt werden. Ähnlich trägt mancher Mensch einen ererbten Verbrecher in sich. In einem bestimmten Entwicklungsstadium seines Lebens, befruchtet von verderblichem Umgang (am rapidesten befördert diesen Entwicklungsprozeß schlechter sexueller Umgang), entwickelt sich das Ungeheuer, und der Charakter beginnt entsetzliche Merkmale zu zeigen, wütet auf die gewissenloseste und grausamste Weise am meisten gegen das, was er früher, als guter Mensch, geliebt hat. Zum Schaudern dieses Andern steht plötzlich ein zähnefletschender, struppiger Verbrecher vor ihm.

Läßt er sich nun in Kämpfe mit ihm ein, die die grauenerregendsten Erscheinungsformen annehmen werden, so wird er meist sein Leben dabei einbüßen. Denn seine Kampfmittel sind eben nicht die des Verbrechers, und weil dessen ganzes Vorgehen nicht nur die Empörung hervorruft, die das Schlechte im allgemeinen im Guten erregt, sondern weil es, da es sich um einen einst geliebten Menschen handelt, tief ins Herz trifft, so wird er daran verbluten. Vielleicht gibt es auch hier eine Rettung, gibt es, wie bei der Cyste, eine Operation, irgendeinen schonungslosen Schnitt des Schicksals, unter Qualen, die ans Leben gehen, die aber vielleicht den Unseligen von dem Verbrecher, der in ihm wütet, befreien können.

Wen die ihn zum Bösen ziehende Anlage der atavistischen Triebe veranlaßt hat, zeitweilig aus der reinen Atmosphäre jenes Lebens, das sich der höhere Mensch in ihm geschaffen hatte, hinunterzuschleichen in die Tiefe, der wird immer mehr dieser Tiefe verfallen. Ich sah einmal einen Film von erschütternder Gewalt »Sein eigner Mörder«, von Richard Oswald.. Der Stoff behandelte ein ähnliches Thema, wie das des bekannten Films: »Der Andere«, nur noch in viel tiefer dringender Art.

Ein Gelehrter, eine vornehme männliche Persönlichkeit, hat ein chemisches Experiment erfunden, wodurch man sich verwandeln kann. Wir sehen nun den Gelehrten und Grandseigneur zuerst, in seiner eleganten Männererscheinung, auf seinem Schloß, inmitten seiner Gäste, und an der Seite seiner geliebten, schönen, vornehmen Braut. Dann sehen wir ihn im Laboratorium. Mit fieberhaftem Eifer braut er den geheimnisvollen Trank nach dem Rezept und trinkt ihn. Vor unseren Augen verwandelt sich nun dieser Mann; vehemente Stöße gehen durch den hohen, edlen Körper, der einsinkt und zusammenschrumpft. Und im Augenblick steht an seiner Stelle / ein Unhold aus der Tiefe. Ein struppiger, verwahrloster Pennbruder, dem das böse Tier aus dem Gesichte blickt, in zerfallenden Lumpen. Die Fabel des Films zeigt nun sehr geschickt, wie dieser entsetzliche Kerl zuerst in dem Schloß herumwüstet, dann aber von da das Weite sucht und sich mit dem Geld, das er mitgenommen hat, eine Schnapskneipe kauft, in der er mit einer Dirne lebt. Der Herr des Schlosses gilt als vermißt. Von Zeit zu Zeit aber verschwindet er aus der Schenke, schleicht sich ins Laboratorium, trinkt das Gegenmittel nach dem Rezept und verwandelt sich wieder in die strahlende Persönlichkeit, die er war. Eines Tages aber hat der Wind das Rezept verweht; immerhin / er hat es im Kopf. In Todesangst, ob er auch nichts vergessen hat, braut er den Trank und, siehe da, / noch einmal gelingt ihm die Rückverwandlung. In aufrechter Haltung schreitet der Gelehrte aus dem Laboratorium hinaus, in den Speisesaal, wo eine glänzende Gesellschaft versammelt ist. Aber da geschieht das Entsetzliche: auf dem Weg dahin verfällt er, ohne seinen Willen, / der Verwandlung in den Verbrecher. Denn der Gegentrunk, der ihm seine edle Gestalt wiedergab, wirkt nicht mehr. Er hat das Gift zu oft genommen, er kann sich nicht mehr dauernd zurückverwandeln, zu hoher Menschlichkeit. Er weiß nicht, daß er sich auf dem Wege wieder in den Pennbruder verwandelt hat, und erst die hohen Spiegel des Speisesaales zeigen ihm sein Bild.

Das, was er in der andern Gestalt, als Verbrecher, tut, führt dazu, daß er verfolgt und sogar als Mörder des verschwundenen Gelehrten angesehen wird. Bedrängt, / schießt er im Laboratorium, in das er sich einschlich, in ein Gefäß mit Dynamit, und / sein ganzes Haus mit allem Leben darin / geht in Flammen auf … Ein erschütterndes, wahres Symbol. Im Film löst sich dieser fatale Konflikt dadurch, daß wir den Gelehrten, als Schlafenden, in seiner edlen Gestalt in seinem Gewächshaus finden, / das Ganze war ein böser Traum.

Im allgemeinen Sprachgebrauch gilt der Ausdruck »dämonisch« als die Bezeichnung für eine interessante und in gewissem Sinne zwar gefährliche, aber doch anziehende Natur. Ich glaube, daß man dem Begriff dämonisch eine doppelte Ausdeutung geben muß. Unter einer dämonischen Natur kann man eine solche verstehen, die starke, elementarische, naturhafte Triebe in sich hat, die also in ihrem Wesen mit der Naturkraft selbst verhängt ist und darum eine bedeutende Macht oder Wirkung ausübt. Hingegen gibt es auch umgekehrt etwas, was eine Natur als dämonisch bezeichnen kann, die passive Dämonie, das heißt die Unterjochbarkeit von dämonischen Einflüssen und besonders nicht von solchen die aus den fruchtbaren Elementen der Naturkraft kommen, sondern die Unterjochbarkeit von dämonischen Einflüssen der Zerstörung. Es gibt Wesen, die nicht entwicklungsfähig sind, im Sinne freier Menschlichkeit oder gar im Sinne der Göttlichkeit, sondern die ganz und gar im Banne niedriger Triebe stehen, die in ihnen eingeschlossen sind und zerstörend in ihnen und aus ihnen heraus wirken. Wehe dem Menschen, der solche dämonische Wellen und Gase, die aus einer dumpfen Natur kommen, in sein Heim, in sein Leben eingelassen hat. In zäher Gier werden sie an seinem Leben zehren, es vergiften, es ihm schleichend aussaugen, wie die Vampyre, / die auch Dämonen sind. Diese Geister der schwälenden Tiefe kennen keinen Durchbruch ins Freie. Ihr Werk ist unbeeinflußbare, langwierige, zähe Vernichtung; an ihnen prallen alle Waffen, mit denen Menschen sonst einander bekämpfen, ab. Es gibt Menschengebilde passiver Art, von dumpfer Tücke, die mit ihrer Körperlichkeit und auch mit ihrer seelischen Struktur dazu geschaffen scheinen, / die Ansiedlungs- und Entwicklungsherde für alle niedrigen und bösen Geister zu bilden, die dann aus ihnen heraus wirken und wüten.

Eckermann berichtet in seinen Gesprächen mit Goethe, daß Goethe »dieses unaussprechliche Welt- und Lebensrätsel das Dämonische nennt, und, indem er sein Wesen bezeichnet, fühlen wir, daß es so ist, und es kommt uns vor, als würden von gewissen Hintergründen unseres Lebens die Vorhänge weggezogen. Wir glauben weiter und deutlicher zu sehen, werden aber bald gewahr, daß der Gegenstand zu groß und mannigfaltig ist und daß unsere Augen nur bis zu einer gewissen Grenze sehen«.

»Das Dämonische«, sagt Goethe, »ist dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist Teilweise vielleicht doch, / »aufzulösen« im Sinne der Ergründung der Ursachen und Zusammenhänge. Diese Ergründung erfolgt durch primäre Kräfte der Seele, und die Verstandeskräfte setzen erst an zweiter Stelle ein. Anm. d. Verfasserin.. In meiner Natur liegt es nicht, aber ich bin ihm unterworfen.« (Sogar Goethe.) Darauf meinte Eckermann: »Napoleon scheint dämonischer Art gewesen zu sein.« »Er war es durchaus«, sagte Goethe. »Erscheint es nicht auch«, sagte ich (Eckermann) »in den Begebenheiten?« »Ganz besonders,« sagte Goethe, »und zwar in allen, die wir durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen vermögen. Überhaupt manifestiert es sich auf die verschiedenste Weise in der ganzen Natur, in der unsichtbaren wie in der sichtbaren. Manche Geschöpfe sind ganz dämonischer Art, in manchen sind Teile von ihm wirksam.« Hat nicht auch«, sagte ich (Eckermann) »der Mephistopheles dämonische Züge?« »Nein,« sagte Goethe, »der Mephistopheles ist ein viel zu negatives Wesen, das Dämonische äußert sich aber in einer durchaus positiven Tatkraft.«

Hier glaube ich nun, daß Goethe das, was ich das Passiv-Dämonische nenne, zufällig nicht in den Betrachtungskreis seiner Untersuchung zog, weil es ihm vielleicht nicht begegnete. Unter dem Passiv-Dämonischen verstehe ich, wie gesagt, eine von Dämonen der niedrigen Zone leicht zu okkupierende, zu besiegende Natur, die von diesen Dämonen auf die widerstandsloseste Art in Besitz genommen werden kann. In diesem Zusammenhang erklärt sich alles, was man im Mittelalter unter Besessenheit verstand und auch alles das, was wir unter / sexueller Hörigkeit verstehen.

Eckermann meinte zu Goethe, »Das Dämonische scheint so mächtiger Natur zu sein, daß es am Ende doch recht behält?« Goethe aber, der lichte Genius, verneinte das. »Der Mensch muß«, versetzte Goethe, »auch wiederum gegen das Dämonische recht zu behalten suchen …«

Wer kann solche Besessene erlösen und sich vor ihnen bewahren? Wer nicht mit ihnen hadert über das, was sie, unter dem infernalischen Zwange ihres Dämons, gegen ihn selbst tun. Wer, mit heiliger Gelassenheit, ihnen »das Kreuz«, im bildlichen Sinne gesprochen, entgegenhält, / wer Christus empfangen hat … Wer aber sich in einen Kampf mit diesen Dämonen einläßt, wird von ihnen erwürgt. Schon ihren infernalischen Wegen in Gedanken nachzugehen, / bringt ihn um den Verstand. Nur die Liebe, der Glaube an das Erlösungswerk kann hier retten. Die Liebe / zu wem? Zu dem persönlichen Ich jenes Menschen, der von den Dämonen besiedelt, »besessen« (das heißt in Besitz genommen) ist. Darum ist das Wort, aus dem I. Brief des Paulus an die Korinther, der Weisheit letzter Schluß: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle …

… Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht; die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit; sie vertragt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.«

Der gute Mensch, der das Los hatte, den Menschen, dem er einst vertraute, den er in sein Herz schloß, sich in dieser Weise »entwickeln« zu sehen, / kasteie sich. Er bete für ihn in seinem Herzen, er halte sich selbst, je schlechter der andere werden mag, heilig; er schaffe so magische Ströme der Reinigung, er bezähme die Empörung und den Zorn durch / das Mitleid. Er verkläre sich. Hier, wo die dunkelste Magie der Vererbung und des Fatums spricht, führt nur die höchste Heiligkeit der Liebe zur Erlösung.

»Und hat an ihm die Liebe gar
von oben teilgenommen …«

Das ist die Erlösungsidee des Christentums und des Faust.

Das » Tal des Faulen und der Bösbach« heißt eine Partie der Glarner Alpen in der Schweiz. Diese eigentümliche Benennung kommt jedenfalls aus derselben Volksüberzeugung, die das Sprichwort formulierte: Müßiggang ist aller Laster Anfang. Durch Müßiggang, Trägheit, die eine der Todsünden ist, verdirbt sogar der Gute. Aber der Schlechte, der, der schlechte Erbmassen in sich hat, entwickelt diese latent in ihm ruhenden, schlechten Triebe auch inmitten gehäuftester Arbeit, / und das ist eine überaus merkwürdige Erscheinung. Denn im allgemeinen ist ein arbeitsamer und strebsamer Mensch schon, an sich, als eine sehr sittliche Natur anzusehen. Scheinbar. Aber das Böse, das in ihm steckt, gräbt sich eben, wie der Bösbach, einen Weg, selbst mitten durch den fruchtbaren Boden seiner Arbeit. Der »Bösbach« strömt also nicht nur zwischen dem kahlen Geröll des »Faulen«, sondern er verwüstet auch die fruchtbaren, ernteschwangeren Schollen des schweren und ehrlichen Fleißes.

Das Böse / rächt sich durch sich selbst, und zwar immer und ausnahmslos. Hier kann man ruhig / Fatalist sein. Denn es rächt sich und muß sich rächen, wenn auch die Vergeltung eine Zeitlang hinausgeschoben wird, / durch den Kausalnexus der Ereignisse. Und nicht nur durch diesen, sondern immer auch noch durch das, / was der metaphysische Begriff der Strafe ist, der innern und der äußern Strafe.

Es kommen über den Verbrecher Stunden des Gerichts und des Gesichts, / Stunden, Zeiten, / da er sich erkennt, da ihm die Hülle abgerissen wird, die er über seine eigenen Augen, über sein Gewissen legte, / Stunden, in denen diese künstliche Verschalung birst und das innerste und geheimste Organ des Lebens, / das Gewissen, / blutend und zuckend bloßliegt. Für jeden, der schlecht war, kommt die Stunde, da diese Hülle birst, und wäre sie so dick wie eine Elefantenhaut. Die Reue / ist das Gericht / aber auch die Rettung, die Wendung, die die Genesung anbahnt. Der Reue ausweichen, diese Hydra nicht ins Auge fassen wollen, / das bedeutet, / sich selbst der ewigen Verdammnis überliefern. Gretchen verschmäht es, mit Faust aus dem Kerker zu fliehen, weil er Mephisto an seiner Seite hat. »Gericht Gottes, dir hab ich mich übergeben.« Damit steigt sie auf, / aus der Niederung von »Lust und Wahn und Schuld und Zwang« Siehe Vorwort., zu den reinen Sphären der Entsühnung. Die Reue gebiert die Gesichte, / in endlosem Zug.

»Dort sitzt meine Mutter auf einem Stein
und wackelt mit dem Kopfe …«

Ein Gespensterzug ist es, näher und näher kommen sie und dringen auf den armen Sünder ein, um so zwingender, um so gräßlicher, je mehr er sich ihrer zu erwehren sucht. Sie umfassen ihn und ersticken ihn.

»Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
wer nie die kummervollen Nächte
auf seinem Bette weinend saß, /
der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!

Ihr führt ins Leben uns hinein,
ihr laßt den Armen schuldig werden;
dann überlaßt ihr ihn der Pein,
denn alle Schuld rächt sich auf Erden

Greift da noch, außer der Faust des Schicksals, die Knochenhand des Todes ein, wie jetzt in diesem Kriege, wo Millionen in eine verfrühte Sterbestunde gejagt wurden, so sei Gott dem gnädig, dessen Gewissen nicht rein ist, der in die Nähe des Beinhauses gestoßen ward, bevor er gutmachen konnte, was er verbrach …

»Alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blume … Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! Nun, Herr, wes soll ich mich trösten?« – – –

Der menschliche Vergeltungstrieb, die menschliche Rachsucht, diese Vermessenheit, Selbstjustiz üben zu wollen, gärt, besonders in der niedrigen Natur, als rachsüchtige Tücke und macht sich da als Rachebedürfnis jedem kleinsten, oft auch nur vermuteten Angriff gegenüber geltend. In derartigen Naturen kocht, insgeheim und vorsichtig verborgen, ein immerwährendes Bedürfnis nach Rache, / Rache für jeden schiefen Blick. Und wenn sie auch nur vermuten, daß man ihnen zu nahetreten könnte, daß man sie beeinträchtigen könnte, so wird dieses bei Menschen, die schlechte Rassenelemente in sich haben, dazu führen, sich schon anticipando zu rächen für etwas, das ihnen vielleicht angetan werden könnte. Hier haben wir die deutlichen Wurzeln des psychiatrisch-wissenschaftlich so zubenannten Beeinträchtigungswahns, die im Bösen zu suchen sind, in einer tückisch schleichenden Rebellion der kleinen Natur gegen alles, von dem sie vermutet oder fürchtet, es könnte sie schmälern oder drücken. Derartige Naturen werden in ihrer schleichenden, gemeinen und hinterhältigen Rache, die nie offen den Fehdehandschuh hinwirft, sondern auf schleichenden Umwegen und in tiefster, unzüchtigster Heimlichkeit sich auszuwirken sucht, / Befriedigung empfinden, ohne jemals innere Entlastung von dem, was sie wurmt, dadurch zu erreichen.

Es gibt Menschen, deren Geheimleben sich vollständig aus solchen lichtscheuen Treibereien, die im letzten Grunde nicht einem positiven Trieb entspringen, etwa dem der Lustbereicherung, wie man gerade in der Geschlechtssphäre meinen könnte, sondern einem negativen Trieb, / dem, / sich zu rächen für etwas, was gar nicht geschehen ist, aber vielleicht geschehen könnte. Jene Menschen, die die Umgangssprache als schlecht, niedrig und gemein bezeichnet, werden beständig etwas Derartiges ausbrüten und es skrupellos vollziehen. Hat ein solcher Mensch z. B. eine Frau, die er dennoch liebt, malgré lui-même / könnte man fast sagen, / gegen sich selbst, / hat er eine Frau, die anspricht und gefällt, die eine reichere Natur ist, als er selbst, so wird er sie deswegen bald hassen, weil er sie liebt und weil er anticipando fürchtet, sie könnte ihn »beeinträchtigen«, d. h. / in der Geschlechtssphäre / betrügen; während die Frau von der geschilderten Art in Wahrheit viel zu rein ist, um jemals aus ihrem Geschlechtsleben ein unsauberes Gemisch mehrfacher Beziehungen zu machen, / wird er, schon anticipando, mit einem Gefühl der Schadenfreude, / sie auf die schmählichste Art / geschlechtlich entehren. Er wird Dinge tun, die man kaum andeuten kann und die die grausigste Schändung der Ehe bedeuten, er wird im eigenen Heim Dauerkonkubinate mit dem Abhub der Tiefe unterhalten, er wird diesen grauenhaften Betrieb im eigenen Zimmer, im eigenen Bett der Frau vor sich gehen lassen, / es werden ihn keine Visionen dabei hindern … Und sein Grundgefühl dabei wird sein: Ha, du ahnst es nicht, wie entehrt du bist, / im eigenen Heim … Du Stolze, / dich hab ich klein gemacht, / ohne daß du es weißt! …

Wenn ein Übermaß von Schmutz, Gemeinheit und Niedertracht, besonders aus der Geschlechtszone, über einen Menschen hereingebrochen ist, wie eine unermeßliche Lawine von Dreck, die auf ihn und sein ganzes Haus stürzt, / so wird der Trieb, den zu vernichten, der diese Lawine erschuf, auch in einer guten Natur sehr stark werden. Und doch ist es höchste Einsicht und Weisheit, / die gebietet, von jeder Art von Vergeltungssucht abzulassen. Hier setzen die Religionen ein, und zwar aus Weisheit und nicht nur aus Sittlichkeit … Denn diese Rachetriebe, so berechtigt sie auch sein mögen, führen nicht nur zur vollständigen Selbstaufreibung und Selbstvernichtung, sondern zur Vernichtung ganzer Familien, ganzer Geschlechter, ganzer Völker. Die selbstgeübte Rache fällt stets zurück auf den, der sich ihr hingibt. Die Rache ist mein! spricht der Herr, und man kann sie ihm getrost überlassen. Denn die Rache des Herrn manifestiert sich eben im Kausalnexus der Ereignisse und in der metaphysischen Justiz des Gewissens. Und während Menschenhände sich sehr rasch vergreifen, trifft die Rache des Herrn / oder des Schicksals oder der Logik / zielsicher den wirklich Schuldigen allein und rettet und isoliert die von seinen Untaten Mitbetroffenen zu guter Letzt vor dem Gericht, / ermöglicht ihnen eine Rettung. Aber nur dann, / wenn sie sich der Rache enthielten; sonst werden sie in das Vernichtungswerk schonungslos mit einbezogen.

Es gibt etwas noch Höheres, als sogar / die Gerechtigkeit. Ja, / man höre und staune, / etwas Höheres noch sogar als / die Wahrheit. Dieses Höhere ist / die Liebe, im Sinne von Güte. Die Liebe im heiligsten und sühnendsten Sinne. Das ist der Sieg Christi / seine Steigerung, Erneuerung, Verklärung des Alten Testamentes. Dies ist es, womit er die Menschheit / erlöste. Und dies ist das Höchste und Weiseste, / denn das Böse im Menschen ist Dämonenwerk, ist Krankheit, und die heilt man nicht / durch Vergeltung, / sondern durch Weisheit, Geduld und Liebe.

In gewissen schweren Katastrophen seines Lebens, zu Zeiten, wo ihm von allen Seiten Unrecht und Böses zugefügt wird, kann ein Mensch die Wahrnehmung machen, daß, je mehr er sein Recht erhärtet und beweist, / desto schlimmer es ihm ergeht, desto einheitlicher er überall unterliegt. Gerade weil er im Recht ist, wendet sich der Haß gegen ihn. Erst wenn er, anstatt mit seinem Recht und mit der Wahrheit in ihrer furchtbarsten Gestalt, / mit der Güte kommt, fangen an, auf seinem Wege Blumen zu sprießen und aus den Verheerungen erwachsen neue Gärten … Die Aggressionen schlagen plötzlich um. Wo eine Schar von Helfern und Helfershelfern des Bösen war, / wandeln sie sich in lauter Freunde, in gute Genien, die ihm zuwinken mit grünen Zweigen und mit dem Hosiannaruf: Oh, bist du gekommen, um zu vergeben, / dann sei gegrüßt! … Auf Schritt und Tritt wird nun dieser verfolgte Mensch den verlorenen Boden zurückgewinnen und, / wer ihm das Ärgste tat, wer meilenfern vor ihm floh, als er als Rächer seiner schwergekränkten Menschlichkeit auftrat, / der wird sich zitternd und weinend zu seinen Füßen schmiegen. Der Schuldige, der an einem andern tödliches Unheil beging und ihn darüber rasen sieht, der wird lieber sich ans Ende der Welt, in die Hölle, / in die Kasematten Sibiriens, verkriechen, ehe er dem vor Augen tritt, dem er dieses Böse tat. Es sei denn / daß er der Gnade sicher sei … Daß er sie kommen fühle. Nur dann wird er sich aus einem unheimlichen Dämon wieder in einen Menschen zurückverwandeln. Dies ist es, / dieses Höchste des Christentums, / die Gnade, die noch höher steht als die Gerechtigkeit und selbst als die Wahrheit.

» Sei stille dem Herrn und warte auf ihn, er wird dir geben, was dein Herz wünscht. Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden …« – – –

Von dem Weibe, wie Strindberg es gesehen hat, sagt ein Kritiker Jul. Hart im »Tag« bei der Besprechung von Strindbergs »Vater«, 29. 10. 1915.: »Es trägt ganz und gar nur gespenstische Züge an sich. Es ist die Strindbergsche Tschandala-Vision und von hexischer Natur, wie die Macbeth-Hexen. Es ist die verdorbene und verwüstete Frauenseele … Der Vernunftmann und das Vernunftweib stoßen sich nur noch ab, und die Geschlechtsliebe wird zum Haß der Geschlechter.«

Auf die Vernunft wird hier, zu unrecht, abgeladen, was Mangel an Blut, Mangel an reiner Rasse heißen sollte. Denn gerade die Vernunft allein, / die höchste Vernunft, die aus der Offenbarung quillt und nur der tiefsten, einsamsten Askese entstammt, / kann den vergiftendsten Haß, / den Geschlechtshaß, / heilen, kann schwärende Wunden, die dem Geschlecht geschlagen wurden und darum zur Raserei der Bestie im Menschen verführen, heilen lassen.

In Max Schillings neuer Oper »Mona Lisa« Das dichterisch und sexualpsychologisch wertvolle Textbuch ist von Beatrice Dovsky. wird der Dämon im Weibe beschworen, weil der rasende Gatte den Liebhaber in einen eisernen Schrank versperrt, in dem er ihn vor den Augen der Mona Lisa umkommen läßt. Mona Lisa aber stößt ihn / selbst hinein. Zwei Skelette birgt fortan dieser Schrank. Und dieses stolze Haus, das einst Gattenliebe zur Heimstätte schuf, ist eine Stätte der Greuel geworden.

» Nur einen Atemzug genoß ich ein Glück,
Und du straftest mich mit der Hölle Qualen!
Jetzt geb' ich zehnfach sie dir zurück,
Jetzt sollst du zehnfach mir bezahlen!
Hat dich mein Lächeln berückt?
Bist in die Falle gegangen?
Traf dich das Strafgericht?
Hast du dich selbst gefangen?
Der Rache Geister hast du geweckt,
Den Dämon hast du beschworen,
Der in jedem Weibe steckt,
Der mit dem ersten Weibe geboren.
Hast mich gelehrt die Schrecken der Gefahr,
Hast mich gelehrt, mit Entsetzen zu spielen,
Hast ertötet in mir, was menschlich war,
Mußt, was ich duldete, selber nun fühlen …«

Gattenhaß, / hier ist der Abgrund, / hier ist die unterste Zone der Hölle … Diesen Stoß in den Kasten, in dem der Mensch ersticken muß, vollzieht aber nicht nur, wie Strindberg und Weininger meinten, das Weib. Über die Ausartungen des Hasses und der Verfolgungssucht geben uns besonders die Kämpfe, die sich zwischen Gatten bei Scheidungen abzuspielen pflegen und die später in aller Deutlichkeit geschildert und erörtert werden sollen, den furchtbarsten Aufschluß. Alles das, was von Seiten eines Mannes zu geschehen pflegt, der unter der Dämonie einer Dirne steht, über den die schwarze Magie des Geschlechts Macht gewonnen hat, ist diesem Stoß in den Kasten, den in der Dichtung die Mona Lisa ihrem Gatten gibt, der darin ersticken soll und muß, zu vergleichen. So tut, umgekehrt, ein Mann an seinem Weibe, / ein Mann, der längst der Tiefe verfiel und der sich nun, mit ihr im Bunde, seines Weibes zu entledigen sucht. Kein Mittel ist ihm zu schlecht, sie umzubringen, zu vernichten, seine von der Dirne bebrütete Ruchlosigkeit wird immer neue Variationen ersinnen, um die Frau direkt und indirekt / aus dem Leben zu befördern. Er wird ihr alles, was sie zum Leben braucht, zu entreißen suchen, moralisch, seelisch, sozial und materiell, / er wird sie in jedem Sinne in den Kasten zu stoßen suchen, / in dem sie ersticken muß. Sogar nicht sie allein, sondern alles, was im Umkreis der Familie mit ihr zusammenhängt. Es ist die von der Dirne verdorbene und verwüstete Männerseele, die, auf diese Art, / zum Grauen aller, die diese Vorgänge beobachten, / sich emaniert.

Was die Justiz anbelangt, so kann man sie beruhigt einem Größeren überlassen: Der Mann selbst und fast immer auch die Dirne werden jeder in einen solchen Kasten gestoßen werden, / von höherer Hand. Die Dirne wird darin verröcheln, und der Mann müßte es auch, wenn nicht sie, / die Frau, / ihn befreite … Es bleibe nicht unerwähnt, daß die Geheimwissenschaften außer von einer schwarzen Magie auch von einer weißen Magie sprechen. Unter der schwarzen Magie versteht man jene, die den Willen nimmt, unter der weißen jene, die ihn gibt, sich selbst wiedergibt, ihm zur Wiedergeburt verhilft, ihn stärkt, erneuert, erhebt. Ins Sexual-Metaphysische erweitert, ist, als die Verkörperung der schwarzen Magie, / die Dirne, als die der weißen, / die reine Frau anzusehen. Wehe aber, wenn sie, / die reine Frau, / fällt!! Dann stürzt um sie herum alles ein und, furiengleich, hält die schwarze Magie ihren nunmehr ungehemmten Einzug Ich trage hier eine Ehrenschuld an einen Toten ab, indem ich hervorhebe, daß ich dem kürzlich verstorbenen Max Sebaldt eine Fülle der wertvollsten Hinweise auf diesem Gebiete verdanke. Sein Gespräch war ein spendender Brunnen. Nicht nur als Kenner der Geheimwissenschaften, besonders der Sexualmystik, war Sebaldt bedeutend, sondern er war auch produktiver Sprachforscher, Etymologe und Ethnologe. Von seinen unter dem Pseudonym G. Hermann veröffentlichten Werken sei auf die Schrift » Gnosis-Sexualreligion«, Verlag Max Altmann, Leipzig, hingewiesen..

In Wagners »Tannhäuser« (in dem der Parsifal schon vorgebildet ist), stehen sich diese beiden Magien, die schwarze und die weiße, gegenüber: Venus, die Teufelin und / Elisabeth. Schon hier sind die tiefsten Ideen des Christentums nicht nur als asketischer Kontrast, sondern als befreiende Lösung aus dem dumpfen Treiben der unbeseelten Brunst des Venusberges, gedacht. In den gewitterschwülen, fast atmosphärisch geladenen, unfreien und unfrohen Zauber, der, wie eine elektrische Spannung, im Umkreis des ganzen Hörselberges, / des verwunschenen Gebietes der infernalischen Geschlechtlichkeit, / liegt, / dringen die ernsten Pilgerchöre, die dennoch nicht bedrückend wirken, sondern, im Gegenteil, die Spannungen der Atmosphäre zu lösen scheinen. Das Unerträgliche dieser Spannung und Überspannung der Brunst lastet auf Tannhäusers christlich-germanischer Seele wie ein atembeklemmender Druck, aus dem es nur eine einzige Erlösung geben kann: / Entsühnung und / Elisabeth /, die rettende weiße Magie – – – die weiße Liebe …

Hier, im Tannhäuser, ist aber das Problem der Geschlechtlichkeit und das Problem von Gut und Böse noch verhältnismäßig einfach und naiv, eindeutig und schlicht erfaßt. Erst die Vertiefung in den indischen Mythos, in die Quellen der germanischen Bearbeitung der Parsifalsage, in die Quellen Eschenbachs, führte Wagner in die Urgründe geschlechtlicher Problematik, ans Lebensgeheimnis der Sphinx, nämlich zu den tragisch-gegensätzlichen Fluktuationen des Geschlechtlich-Weiblichen, das noch nicht zum Ewig-Weiblichen erlöst ist, / zu der morgenländischen Gestalt der Kundry.

Über Kundry folgt eine besondere Analyse an späterer Stelle.

Wenn selbst die Aversionen, das Grauen, das Entsetzen, die Ekelvisionen, die sich aus den Katastrophen des Geschlechtsverrats in seiner schwersten Form ergeben, überwunden, »verziehen« werden können, wenn selbst die Erinnerungen und Bilder von dem, was sich begab, mit der Zeit vielleicht verblassen, so kann doch das, was ich die erstickenden Gifte und Gase nenne, die sich aus der Verbindung des verdorbenen Charakters mit der Tiefe ergeben und die, in unheimlichster Fülle, bei den typischen Ehekatastrophen gegen die Frau gerichtet zu sein pflegen und in ihrer letzten Absicht auf ihre Ermordung hinauslaufen oder auf eine dem gleichzusetzende Art der Vernichtung, / nie mehr überwunden werden. Wer das erlebte, wer in den Abgrund eines Charakters blickte und dort, wo er die besten Gefühle für sich selbst vermutete, eine losgelassene Hölle gegen sich gerichtet fand, der hat für sein ganzes Leben das Lächeln verlernt. Zumindest diesem einen Menschen gegenüber. Bindet ihn aber an diesen Menschen ein inneres Band, das, worüber später unter dem Namen das Gattenband Näheres folgen soll, / was mit erotischen Gefühlen nichts zu schaffen hat, sondern weit mehr ist als solche Gefühle, die durch ein Tausendstel dieser Erlebnisse längst zerstört wären, / bindet einen Menschen an den, der wie ein Mörder gegen ihn auftrat, dieses geheimnisvolle, schicksalshafte, innere Band / dennoch, / so haben wir hier den schwersten Seelenkonflikt unter allen, die es gibt, / so ist hier das Maximum der Belastungsgrenze erreicht, das ein menschliches Gemüt und ein menschliches Hirn ertragen kann, / und es setzt eine psychische Krise ein, die entweder in der Irrenanstalt endet, oder / zur vollkommensten Ergründung ungeahnter Geheimnisse, zu lösenden Offenbarungen führt.

Diese »Gifte« und »Gase« / das sind die Schandtaten, die, außer auf geschlechtlichem Gebiet, durch einen Menschen, weil er geschlechtlich verdorben und verwüstet war, einem andern angetan wurden, z. B. einer Frau von einem Mann. Die Ruchlosigkeit, mit der er sie und alles, was zu ihr gehörte, um alle Lebenswerte zu betrügen suchte, die Gewissenlosigkeit, mit der er ihr letztes bißchen Besitz verwirtschaftete und der grauenvolle Zynismus, mit dem er sich darauf berief, / daß es verwirtschaftet sei, daß sie es nicht mehr »wiederbekommen« könne, der kläffende Haß, der ihr aus seinen Worten entgegendrang, wenn er sie, um seiner Dirnen willen, mit Gift bespie, das Konglomerat von Verbrechen und Greueln, die aus ihm, während einer ganzen, großen Zeitspanne, in unablässiger Folge, von keinem Lichtblick unterbrochen, herauskamen und gegen sie gerichtet waren, / wie soll man das nun jemals vergessen und verwinden können? Hier hängt von der Auffindung einer Erklärung / Tod und Leben, mögliches Glück und Unglück, kurzum die Zukunft zweier oder mehrerer Lebensschicksale ab.

Hier setzt nun das Zauberwort der weisesten und weißesten aller Magien, / des Christentums ein. »Vergib ihm siebenmal siebenmal des Tages.« Dieses seltsame Gebot, neunundvierzigfältig zu vergeben, an jedem Tage, der in solcher Zeit des Bösen ablief, / kommt nicht nur aus einem überirdischen Maß von Güte, / sondern es bedeutet / die instinkthafte Erfassung aller Zusammenhänge des Bösen. Wenn einer in die Klauen »des Bösen« geraten ist (kirchlich des Teufels / philosophisch des bösen Weltprinzips), so wird er gar nicht anders können, als, mit jedem Atemzug, / Pestilenz verbreiten, mit jedem Wort, mit jeder Tat, mit jeder Absicht, mit jeder Unternehmung, jeder Handlung, jedem Versuch; mit jedem Blutstropfen wird er Böses und Schlechtes wollen und tun. Ist er der »Besessene« / so wird man vergebens, solange »es« in ihm wütet, / nach irgendeinem menschlichen Zug, nach dem Schimmer einer anständigen Handlung, einer anständigen Absicht und Gesinnung, eines rechtlichen Gedankens, bei ihm ausspähen, / alle seine Wege »neigen sich zu den Verlorenen« Aus den Sprüchen Salomos.. Er kann, in solchem Zustand, nicht anders, als fortwährend, unausgesetzt, das Böse in unermeßlichen Variationen und in langen kausalen Ketten und Reihen / aus sich »herauslassen« / es ist dies wie eine höllische Kolik, die sich nicht eindämmen und »zurückhalten« läßt, / es ist die » Kothölle« Ein Wort von Strindberg bezw. Swedenborg, in anderm Zusammenhang von ihm gebraucht, aber hier anwendbar., die aus ihm heraus will, / der Vererbungsschmutz von Jahrhunderten …

Vergibst du ihm also nicht siebenmal siebenmal des Tages, / neunundvierzigfältig, / ja siebenmal siebenzigmal, wenn es sein muß, / das, was er in jener Zeit getan hat, / so spare dir die Vergebung ganz. Entweder, du vergibst ihm jeden seiner Atemzüge, den er unter dem Zwange des Bösen, der, als ein Druck aus dem Weltall, auf seine dazu prädisponierte Natur eindrang und aus ihr herauswirkte und den er gegen dich kehrte, / von sich gab, / oder du kannst ihm überhaupt nichts vergeben …

Das ist das christliche Einmaleins, / das dem mephistophelischen »Hexeneinmaleins« entgegenzusetzen ist. Das ist christliche weiße Magie.

Nur die Offenbarungen der Seele, denen die Deutungen der Vernunft folgen, im Sinne der Ergründung dieser tiefsten Geheimnisse des Geschlechts, dieses seiner dunkelsten, geheimsten Zone, / kann die Wirrnis, die sich aus den Verbrechen des Geschlechts ergibt, / lösen. Die »Vernunft«, geläutert, sublimiert bis zur Hellsichtigkeit, kann es vollbringen.

Jedem Gemütskranken, dem vom Menschen klaffende Wunden geschlagen wurden, wäre mindestens ein Jahr strenger Klausur zu empfehlen. In der ersten Wirrnis wird er vielleicht ein verstärktes Bedürfnis nach Mitteilung haben. Hat er aber den Faden gefunden, / so ziehe er sich zurück. Nur an sich selbst kann er genesen. Jeder Verkehr mit Menschen muß in dieser Zeit nahezu ausgeschlossen sein, denn jeder Kontakt mit ihnen schabt und nagt der todkranken Seele wieder das ab, was sie durch ihre einsame Kraft, / dank ihrer starken Erbreserven, / in tiefstem, qualvollstem Ringen aus sich selbst heraus erzeugt, / die Gewebe, die sich langsam über die Wunde breiten. Durch jede Berührung mit Menschen werden diese Gewebe, diese feinen Schichten, die der Genesungsprozeß erstehen ließ, abgerissen, und die Wunde klafft erneut. Und nicht ein Jahr, sondern viele Jahre mönchischer Einsamkeit sind oft notwendig, um schwere Seelenkatastrophen zu überwinden. Das ist der tiefe Sinn der indischen Weltflucht, des Prophetentums in der Wüste und des katholischen Klosters. Nur in dieser tiefsten Zurückgezogenheit kann eine todkranke Seele ihre eingeborene Kraft wiederfinden, Erhebungen und Verklärungen erleben, / Genesung, Erleuchtung und Wiedergeburt.

Und sie wird, in solchem Erleben, die Geheimnisse der versiegelten Lippen, des in Angst und Qual und Scham Schweigenden / und sich Verbergenden ergründen. Und sie wird auch / die Toten ergründen, / ihre Toten, wird sie jetzt, zum erstenmal, hören und sehen, / richtig sehen, / erkennen. Und wenn sie Buße tut vor ihnen, / so werden die schweigenden Verhüllten, die von ihr abgewandten »Verstockten«, die Lebenden, Buße tun / vor sich selbst. Und indem sie die Siegel der Schweigenden und die der Toten löste, in Liebe löste, / in sühnender Liebe, die aus dem Begreifen und Erkennen der letzten Urgründe der Schrecken / langsam erquoll, / indem ihr diese unendlichen Offenbarungen wurden und die Stimmen auf sie eindrangen, bei Tag und bei Nacht, / hat sie das Rätsel des Lebens selbst, / das Geheimnis der Sphinx / gelöst.

»Wie erhebt sich das Herz, wenn es dich, Unendlicher, denkt!
»Wie sinkt es, wenn es auf sich herunterschaut!
– – – – – – – – –
»Weht, Bäume des Lebens, ins Harfengetön,
»Rausche mit ihnen ins Harfengetön, kristallener Strom …« Klopstock.

Wie sich das Schicksal von Gatten, die zerfallen waren und doch aus irgendwelchem Grunde nicht auseinander können, die also weder mit- noch ohneeinander leben können, gestaltet, / das ist eine Frage, die sich jeder rationellen Untersuchung entzieht und deren Lösung von den geheimsten Strömungen des Gemüts abhängt. Die Lösung für die Frau, die die Wiedervereinigung für ein beschlossenes Fatum hält, die hier eine Mission fühlt, / die Mission, auszuharren, damit der Mann nicht ins Bodenlose versinke, / die deutlich fühlt, daß durch die endgültige Loslösung der Untergang der Familie besiegelt ist, / die also den inneren Frieden nur mit ihm wiederfinden kann, trotz der erfahrenen Greuel, / die Lösung für die Frau läge darin, daß sie beiderseits ein Nebeneinanderleben in strengster Askese und geschlechtlicher Totalabstinenz vorschlägt. Denn wenn sie sich alles auf der Welt vorstellen kann, wenn sie sich ausmalen kann, daß sie einem Manne, der gebüßt hat, der erkennend, gereinigt, vielleicht gebrochen, zu ihr wiederkehrt, auch vollkommen vergibt, im menschlichen Sinne und die Greuel begraben sein sollen für alle Zeit, / so kann sie sich doch das eine nicht vorstellen: daß sie ihm jemals wieder ihren Körper gönnt. Ihren Körper, mit dem sie / ihre Seele gibt. Ein Leben in strengster Totalabstinenz scheint auch schon deshalb notwendig, weil diese Greuel eine Sühne erfordern, eine mönchische Sühne, / wenn die Seele je wieder die eines Menschen werden soll. Diese Sühne / will sie mit ihm teilen.

Es ist dies eine Lösung, auf die ein Mann kaum eingehen dürfte. Und selbstredend ist diese Totalabstinenz nicht nur im Verhältnis der Gatten zueinander, sondern erst recht im Verhältnis zu jedem möglichen Dritten die selbstverständliche Voraussetzung, und die leiseste Möglichkeit eines neuerlichen Bruches des Bandes, wenn es auch nur formal besteht, würde genügen, um hier den endgültigen Todesstoß zu geben.

Es gibt Wunder / jenseits der Ratio. Und auch das Auferstehen jener Gefühle, die das Unmögliche eines Tages dennoch wieder möglich machen, / läßt sich / zwar nicht denken, aber dunkel fühlen, ahnen. Die Wunder einer nie versagenden Werbung, die Hingabe eines ganzen Lebens, eine Wesensart, die mit jedem Atemzug wohltut, / können vielleicht selbst dieses Unmögliche / möglich machen.

Das persönlich-metaphysische Ich eines Menschen, an welches ich, / jenseits aller seiner Erbmassen, / glaube, kann so geartet sein, daß er als Opfer gewisser Atavismen erscheint; er kann unter dem Zwange der Ahnen, der durch nichts so sehr, als durch schlechten Geschlechtsverkehr, herausgepeitscht wird und wieder die Übermacht bekommt, / sehr viel Böses tun und kann dabei doch, / persönlich für sich, / d. h. wenn sein Wille nicht im Bann der schwarzen Magie ist, / eine im Grunde hingebende und weiche Natur sein. Es ist die Dämonie der gemischten Vererbung, die hier ihr Spiel treibt.

Und diese Art Menschen, in denen Böses und Gutes noch durcheinander fluktuieren, sind noch nicht die ganz Verlorenen. Die Liebe allein, wenn sie nicht blind, sondern sehend, wissend geworden ist, / kann sie erlösen. Erst wenn die Liebe sie verläßt, / fallen sie / ins Bodenlose, / für immer. Diese Art Mensch kann im tiefsten Grunde doch nur das Hohe und Schöne wahrhaft lieben, was sich z. B. bei einem Mann in der Gattenwahl ausdrücken wird, / wenn auch die verlarvte Dirne sogar für die Gattenwahl gefährlich wird.

Für eine Frau, die Böses erlebte, aus der Geschlechtssphäre, wird maßgebend sein, was der Mensch, der ihr das Böse tat, an sich ist. Ob er nur ein Schwacher, von Dämonen Verführter, aber im Grunde sie Liebender ist, eine weiche, zum Bösen verführbare, aber auch zum Guten lenkbare Natur, die auch altruistische Züge hat, z. B., wie schon früher erwähnt, eine als sittlich zu schätzende Hingabe an die Arbeit, / oder ob er ein brutaler, roher Egoist und ein Lump durch und durch ist, eine arbeitsscheue, sozial untaugliche, genußsüchtige, schmarotzerhafte Natur. Einen solchen Menschen »erlösen« zu wollen, wäre ein müßiges Beginnen, / auf Misthaufen kann man keine Rosen pflanzen, und für einen solchen Menschen empfindet eine Frau, die selbst ein sittliches Streben hat, keine wirkliche Liebe, wenn er sie auch, da wir hier gerade den erotischen Typus Mann finden, der besonders in der Brunst, in der balzenden Werbung, die verlockendsten Töne hat und magische Illusionen vorspiegelt (und zwar ihr sowohl wie sich selbst) / vorübergehend entflammen, verführen und zu Fall bringen kann.

Durch nichts so sehr, als durch die geschlechtliche Vermischung, kann der menschliche Wille gänzlich unter fremde Gewalt geraten und dann zu den unheimlichsten Taten verleitet werden. In solchem Fall kann dem schwächlichen Opfer oder Medium auch jeder beliebige Charakter von der Person, die es in ihrem Bann hält, aufgeprägt werden, bzw. die entsprechenden Atavismen werden auf diese Art vom latenten ins aktive Stadium gebracht. Die vollständigste Beeinflußbarkeit und Subordination einer schwächlichen und unsaubern Natur wird durch das, was ich die Sexualhypnose nenne, durch die fortgesetzte Geschlechtsvermischung / mit dem Bösen, / herbeigeführt. Im Geschlecht, / losgelöst von den höheren Gefühlen, / hat die Macht der Finsternis ihren Sitz, ihr eingeborenes Bereich; reingehalten ist es der Garten des Lebens, / verschmutzt, / die Sphäre der Vernichtung. Im übrigen geht der geschlechtliche Einfluß so weit, daß durch ihn auch ganz neutrale Beziehungen sofort verändert, meistens getrübt zu werden pflegen.

Gerät das Böse und Gewalttätige an eine im Grunde reine, starke und bewußte Natur, die ihm nur in einer schwachen, verblendeten Stunde zufiel, so werden die sonderbarsten, wütendsten, verbissensten Kämpfe einsetzen, die alle daher stammen, daß das Böse »sich nicht will ziehen lassen«, im Sinne von erziehen, wie auch die Schrift es versteht, / und daß das Gute und Starke sich nicht will / verderben lassen; daß es sich mit aller Macht dagegen auflehnt, stemmt, / bis das schwere, dunkle Joch der Sexualhypnose / gesprengt und abgeschüttelt ist. »Wer sich nicht will ziehen lassen, / der muß sterben …« Salomo.

Die unsauber veranlagte Natur wird daher mit dem Bösen, / dem sie sich willig ergibt, durch welches sich alle ihre schlechten Triebe geschmeichelt und »verstanden« fühlen,/ in eitel »Harmonie« leben, während umgekehrt, / die gute Natur, / mit dem Bösen nur in eitel Konflikt und in den aufreibendsten Kämpfen leben wird, / bis sie die Kette schließlich / bricht.

Das Böse, dessen Steigerung das Verbrechertum ist, ist eine psychopathische Erscheinung, ist Krankheit. So gibt es z. B. Menschen, von krankhaft-bösartiger Ungefälligkeit, von krankhaftem Übelwollen gegen andere, die ihnen nichts getan haben. Es sind dies zumeist Menschen, deren sympathisches Nervensystem, von Geburt an, verbildet ist und die dadurch beständig eine Menge bösartiger Gefühle produzieren und mit heftigen Aversionen gegen alle Welt, oder gegen bestimmte Objekte, die sie mit Eifer suchen, geladen sind. Auch bei manchen Gallenleiden und Leberentartungen und bei fast allen Störungen der Verdauung, ergeben sich, im Psychischen, gänzlich unmotivierte Aggressionen, die besonders bei solchen Menschen, deren Wille nicht kulturell durchbildet ist, in krasser Form aufzutreten pflegen. Das alles sind defekte, schwer schadhafte und in vieler Beziehung schädliche Menschen, / besonders dann, wenn diese organischen Defekte nicht paralysiert werden durch andere Triebe des Organismus, durch die sie wiederum zu segensreichem, fruchtbringendem und nützlichem Verhalten gedrängt werden.

So wie es Menschen gibt, die zu den Wohlwollenden im besten Sinne gehören, die jedem mit natürlichem Wohlwollen entgegentreten, / eine Charaktereigenschaft, die hoch über der gemeinen »Gutmütigkeit« steht und etwas weitaus Edleres und Tieferes ist, / Menschen, die gewöhnlich auch einen gesunden, berechtigten Selbsterhaltungstrieb haben und zur Defensive ihrer Rechte auch edle Empörung aufbringen, während die schleichenden und hinterhältigen Charaktere ein freimütiges Eintreten für irgendein Rechtsprinzip überhaupt nicht kennen und ihre Ränke im Dunkel ausspinnen, / ebenso gibt es Menschen, die von Natur aus übelwollend sind, / allen gegenüber. Diese Typen waren es jedenfalls, die den Aberglauben an böse Hexen, Zauberer u. dgl., an Wesen, deren Blick genügt, um das Vieh zu verhexen oder Krankheit über einen Menschen zu bringen, / erzeugt haben. In der Geschlechtssphäre drückt sich diese Veranlagung in schweren Psychopathien und Perversionen aus, in sexueller Skrupellosigkeit, besonders aber in sexuellen Wahn- und Zwangsideen, z. B. in der Illusion der absonderlichsten sexuellen »Eroberungen«. Diese bösartigen Psychopathen trifft man auf Schritt und Tritt, die hemmen beständig den Lebensweg der gesund und gut Gearteten, rollen wie Schutt, über den man beständig stolpert, auf den Weg der andern. Auch gesellschaftliche Beziehungen nehmen oft ein jähes Ende, / durch irgendeine unerwartete, antisoziale, bösartige Schrulle, der man begegnet, durch sonderbar abstoßende Manieren, wie denn wirkliche »gute Manieren« nur aus einem harmonisch durchbildeten Organismus kommen.

Als Verhaltungsmaßregel empfiehlt es sich, / solchen Menschen auszuweichen, wenn man es irgend kann. Nur sind sie, gerade in der letzten Epoche, überzahlreich geworden. Sind aber unsere Nächsten, die wir gesund und gütig kannten, lediglich durch Krankheit, psychisch ungünstig verändert worden, / so ist es unsere heiligste Pflicht, ihren Aversionen mit doppelter Geduld und Liebe zu begegnen, besonders wenn es sich um alternde Menschen handelt, deren Lebensarbeit allein schon ihnen das Anrecht auf vollste Rücksichtnahme und auf gütige Unterordnung und Nachsicht mit ihrem Leidenszustand sichert. Auch hier ist viel gesündigt worden, besonders von der jüngeren Generation, an der älteren, und diese superklugen Modernen entzweiten sich oft mit ihren alten Eltern, weil sie eben nicht klug und vor allem nicht gut genug waren, ein relativ einfaches Krankheitsbild zu verstehen, / weil ein Hauptmerkmal ihrer eigenen Entartung darin bestand, daß ihnen alle gütigen Familieninstinkte abhanden gekommen waren.

Der einheitliche Typ des Bösen ist der Gewohnheitsverbrecher im Männlichen, der immer auch sexuell degeneriert ist, und die Dirne im Weiblichen. Während der Gewohnheitsverbrecher aber als solcher kenntlich ist, ist die Dirne / Verbrecherin oft verlarvt und stiftet erst in der Verkleidung unermeßliches Unheil an. Weibliches Verbrechertum ist immer mit Dirnentum und sehr oft auch mit später ausbrechendem Irrsinn verbunden. Professor Dannemann in Gießen führte auf dem Kongreß für Familienforschung, Vererbungs- und Regenerationslehre in Gießen, April 1912, aus, daß sich der Komplex des Verbrechertums aus folgenden Elementen zusammensetzt: »Aus dem exogenen Moment (Faktoren des Wirtschaftslebens und des Milieus) und aus dem endogenen Moment (Veranlagung und Vererbung). Verbrecherische Wesen sind antisozial Veranlagte, und die soziale Hygiene verlangt ihre Internierung. Da ihre lebenslängliche Internierung in Gefängnissen sich nicht empfiehlt, wird dem Allgemeinwohl durch eine psychiatrische Auffassung solcher defekter Menschen mehr genützt … Denn in den festen Häusern der Irrenanstalt sind sie besser untergebracht, als wenn man sie beständig wieder, nach temporärem Strafvollzug, hinausläßt.« Als Prädisposition, die bei kriminell Veranlagten eines Tages zum Ausbruch von Irrsinn führt, werden übermäßig starker Sexualdrang, Anlage zu Beeinträchtigungs- und Beziehungsideen und andere neurotische, hysterische und epileptoide Züge angeführt, besonders aber ein von erster Jugend an bemerkbarer, amoralischer, verschlagener Zug, der sich durch den Mangel an jedweder ethischen Empfindung kundgibt, »wodurch derartige Wesen ihren Mitmenschen dauernd gefährlich werden und besonderes Unheil anrichten«; nirgends stärker aber, als gerade in der Geschlechtssphäre.

Die Dirne ist ein Wesen, das keine Fremdheit kennt, zu niemandem.

Niemand ist ihr ein Fremder, und niemand ist ihr ein Angehöriger. Sie ist mit jedem intim, aber niemandem wirklich verbunden. Mit X verbindet sie dasselbe Band, wie mit Y, / aufs erste Augenzwinkern hin, Mann ist für sie Mann, ob es ein Vagabund ist, der an der Tür um ein Stück Brot bittet, oder eine Amtsperson, die, als Polizeiorgan etwa, zu ihr kommt. Sie setzt sich, / vom Hauswirt angefangen, / mit jedem männlichen Wesen, dem sie überhaupt auf ihrem Weg begegnet, sofort in eine Beziehung, die die Geschlechtsorgane in Aktion bringt. Die verlarvte Dirne, mit der sozialen Maske, ist natürlich die gefährlichste, sie bringt einen schwächlichen Mann auch dazu, sie zu heiraten. Als Ehefrau wird sie dann auch mit allen Personen seiner Berufssphäre, etwa seinen Angestellten, die gleichen Beziehungen unterhalten, die sie seit jeher mit allem Männlichen, dessen sie habhaft werden und von dem sie irgendein Vergnügen oder irgendein Geschenk erwarten konnte, unterhielt. War einer bereit sie »auszuführen« und ein Abendbrot zu bezahlen, /so war sie »sein«. / Als »Ehefrau« wird sie, wenn der charaktervolle Mann, der sie dazu machte, aus dem Hause geht, sich mit seinem Bureaupersonal im Ehebett ergötzen, / oder auf der Chaiselongue seines Arbeitszimmers, / so wie mancher »Mann« / es mit den Dienstmägden tut. Und das Schicksal spielt manchmal so weise, daß es einem gesunkenen Mann, in der Gestalt einer verlarvten Dirne, sein vollendetes Komplement entgegenstellt, welches ihn magisch anzieht und welches dann die metaphysische Funktion der Nemesis in seinem Leben übernimmt.

Die Dirne ist das fleischgewordene Prinzip des Bösen. Sie ist die Ergänzung des Mannes / im Bösen. Fast jeder Mann findet einmal in seinem Leben, wenn nicht öfter, den Typus einer Frau, die das genau passende Komplement des spezifisch Bösen seiner Natur ist, / das Komplement und das Ferment jener Atavismen des Schlechten, die sein Organismus, aus uralter Ahnenreihe, mitschleppt. Ebenso stößt auch manche Frau manchmal auf einen entsprechenden, dunkelgearteten Typus Mann, der das Böse in ihr komplementiert, durch den sie fällt und an dem sie dann entweder zugrunde geht oder / ihn fortstößt und sich erhebt. Beim Mann vollzieht sich dieser unheimliche Prozeß indes weit öfter. Mit instinktiver Treffsicherheit bohrt sich die Dirne in den faulen Punkt seines Ich hinein; an dieser Stelle lebt er in Konflikt mit der erwählten Frau seines Herzens, mit der ihn das Höchste in seiner Natur, sein persönliches Ich, jene Elemente, die die alte Schmutzerbschaft ( die in keiner Ahnenreihe fehlt) überwunden haben oder überwinden wollen, vereinte. An dieser faulen Stelle ist also die Dirne die siegreiche Konkurrentin der Frau, / und ob er sich ihr dauernd verschreibt oder sie durch einen moralischen Prozeß, der das ererbte Gift und dessen Schmarotzer (eben die Dirne) heraustreibt, der die Pestbeule zum Eitern und zur Entleerung bringt, / ausstößt, / das hängt davon ab, ob die guten oder die schlechten Erbmassen in ihm die stärkeren sind. Ein Mann ist z. B. eine strebsame tüchtige Natur, ein gutmütiger Mensch, / aber er neigt zum Trunk. An diesem Punkt setzt die Dirne ein; oder derselbe Typus hat einen Hang zur Verschwendung, oder er hat angeborene Tücke in sich, neigt zum Betrug und zur Schlichigkeit, zur Überlistung und Überdeckung von Gewissenskonflikten; immer sind es die faulen Stellen des Charakters, die die Dirne als Faktor in seinem Leben möglich machen. Die weitverbreitetste ererbte moralische Krankheit aber ist die geile Sucht. Kommt zu dieser Sucht noch eine andere, den Charakter zermürbende Schwäche hinzu, / so haben wir hier den Typus Mann, der der Dirne gegenüber der gefährdetste ist. Auf diese Art kann ein Mensch, der bis zu einer bestimmten Periode seines Lebens der reinste und beste schien, / plötzlich aufs unheimlichste verwandelt dastehen.

Das Geschlecht ist der Becher des Lebens. Und sein Inhalt: entweder »der ehrfürchtig geschonte Wein der Weine«, wie Nietzsche es herrlich nannte, oder auch / pures Gift. Und dieses Gift, so hat es die Rächerin Natur gewollt, dieses Gift, das den moralischen Organismus zersetzt, wandelt sich auch in physisches Gift, und der Quell des Lebens, den der Verdorbene dann weiter zu geben hat, ist / durchseucht. Und wenn er nach der Dirne seine Frau umarmt, wenn er das Ungeheuerliche vollbringt, seinen verdorbenen Körper und seine zerstörte Seele an ihren reinen Körper und an ihre Seele heranzubringen, so gibt er ihr, statt des Weines der Weine, statt der Labung, die sie erwartet, / pures Gift. Inwieweit er durch diese Umarmungen und das was sich dabei vollzieht, und das, was daraus entsteht, ihre Seele vergiftet, / das soll noch in allen seinen Zusammenhängen dargelegt werden.

Das Geschlecht ist die Sphäre, um deren Besitz die Engel mit den Teufeln streiten; die einen, die diese Sphäre verklären, die anderen die hier die schwarze Messe der Hölle zelebrieren. Das Böse wohnt in der Zone der niederen, geschlechtlichen Triebe. Durch den Verkehr mit den bösen Elementen des Geschlechtes werden die alten, vererbten Triebe zum Bösen, die schon halb und halb überwunden waren, wieder erweckt und wieder wirksam. Die brüchigen Stellen des Charakters markieren sich urplötzlich mit der schärfsten Deutlichkeit, die Fäulnisherde, die im Laufe der Vererbung erfolgreich eingedämmt und brachgelegt worden waren, erweitern sich wieder, und es hebt in ihnen ein unheilvolles Gären an. Die bösen Gewalten, die durch gute Mischungen in Jahrhunderten überwunden wurden, so daß sie oft nur noch in der Andeutung da waren, bekommen wieder die Übermacht, in rasendstem Tempo bricht der Atavismus durch, und der Rückschlag auf einen amoralischen Ahnentypus, den eine Reihe von aufsteigenden Entwicklungsformen schon überwunden hatte, / vollzieht sich rapid.

Und da sage man noch, die intimste Vermischung, die die Natur kennt, sei »irrelevant« für den Mann!

Ebenso wie es Menschen gibt, die ein sympathisches, persönliches Ich haben, / aber schlechte Erbmassen, welche mit diesem, ihrem metaphysischen Selbst, in fortwährendem Kampfe liegen und es auch zu Fall bringen können, / gibt es auch andere, bei denen das persönliche Diagramm umgekehrt gelöst werden muß. Sie können ein weniger sympathisches, persönliches Ich haben, / aber gewaltige, starke, die besten Lebenskräfte umschließende Erbmassen. Wenn wir an so manchen Konflikt denken, den wir mit einem solchen Menschen hatten, eben wegen der weniger sympathischen Züge seines Wesens und dabei doch / die Gefühle des Respektes vor seiner Natur, die der Liebe, der Hingezogenheit zu ihm, besonders wenn er unser naher Verwandter war, / niemals aus unserm Herzen schwanden, so daß wir, besonders, wenn er tot ist, nur noch dieses starke Gefühl der Vererbungsliebe für ihn haben, / so findet das durch diese Theorie seine Erklärung. Es waren die fundamentalen Kraftreserven des Lebens, welche aus seiner Persönlichkeit heraus wirkten, trotz mancher weniger ansprechenden Eigenart, die uns sein persönliches Bild, solange er lebte, zu entstellen und vorübergehend zu trüben vermochte. Erst wenn er tot ist, wird uns bewußt, wenn wir aus seinem Blute stammen, / was wir ihm danken, und wieweit das, was wir selbst sind, mit den geheimsten und fruchtbarsten Vererbungstiefen seiner eigenen Natur im Zusammenhang stand.

Von wunderbarer Schönheit / ist das Mendelsche Gesetz. Ein einziges weißes Keimblatt, / selbst in einer langen Reihe dunkelgearteter, / schlägt immer wieder in der Vererbung durch und ist imstande, die ganze Art zu variieren und zwar im günstigsten Sinn. Wäre nur das Böse und Schlechte in der Vererbung maßgebend, so wäre die ganze Welt schon verjaucht, denn gänzlich von allem Bösen unberührte Ahnenreihen gibt es nicht. Nur blinder Pharisäerhochmut kann das glauben. Mit viel stärkerer Kraft wirkt aber alles Gute und Gesunde, was in diesen magischen Strom der Vererbung hineinfloß, / im Sinne der Reinigung. / Eine absolute »Eugenie« d. h. Wohlgeborenheit gibt es nicht. Vorwiegend gesunde, starke Erbmassen im Leibe zu haben, / das ist das Kostbarste, was wir unsern Vätern in ihren Gräbern und unsern Müttern verdanken. Denn das, / diese ererbten Kraftreserven, sind die Voraussetzung zu jenem »höchsten Glück der Erdenkinder«, das sich aus den ringenden Elementen der Gäa herausstößt, / der Persönlichkeit. Und das Unschätzbarste, das, was uns aus den Abgründen dieses Lebens, wie sie sich, gerade in diesem Zeitalter, / aus der sexuellen Not, aus dem Erotismus, seinen Verirrungen in der Objektwahl und seinen Folgen ergaben, / immer wieder rettete, / das ist die reine geschlechtliche Vererbung, / das Stammerbe tüchtiger Familien. Physisch sowohl gibt diese Vererbung reiner sexueller Instinkte unserer Natur die kostbarsten Elemente und Reserven, bewahrt uns vor dem Siechtum der degeneriert Geborenen, stattet den Organismus mit den wunderbarsten Kräften des Widerstands und der Überwindung von Gefahren, Krankheiten und Übeln aus, / als auch moralisch. Vorübergehend können solche Familien, in diesem unheimlichen Daseinsgedränge, »herunterkommen«, aber mit starken Kraftreserven und mit reinen Geschlechtsinstinkten / kommen sie auch wieder hinauf. Hier und nirgends sonst liegt das Entscheidende für jeden möglichen Aufstieg, für den Wert von Erbqualitäten / und für den endgültigen Sieg zwischen Gut und Böse.

VIII.
Die Moral der Überwindung

Das Geschlecht ist nicht nur, wie Schopenhauer es definiert, der Brennpunkt des Willens zum Leben, sondern auch, in den Aufgaben der Überwindung, die es stellt, das Zentrum der sittlichen Energie und der Charakterbildung. Und die Forderung der Übung der Überwindung, also wörtlich übersetzt, die der zeitweilig gebotenen Askese, ist deshalb notwendig, weil die Betätigung des Geschlechtstriebes von den schwersten inneren und äußeren Gefahren begleitet zu sein pflegt. Es mußte daher gerade für jenen Zustand, den der geschlechtlichen Begierde, in dem von Natur aus die Vernunft am wenigsten die Oberhand hat, / das Gesetz geschaffen werden, die Sitte, die, zum Schutz, Warnsignale gibt, um auf diese Weise dort zügelnd zu wirken, wo die eigene Erwägung, ohne jede Einmischung der Umwelt, nicht ausreichen würde, am wenigsten vor dem lockenden Genuß.

Die Liebe ist vielleicht blind, man sagt es ja. Aber ihre Wirkung ist deutlich. Hat sich ein Menschenkind fortgeworfen, an ein falsches Idol, so fühlt es Schmach, Erniedrigung, Schmerz, mit einer Deutlichkeit ohnegleichen. Hatte aber die Liebe die Macht, die Seele zu erheben, hoch über ihr gewöhnliches Maß hinaus, war das Idol echt, / dann war es auch kein »Fall« und entbehrt des schmachvollen Nachgeschmackes. Bleibt die Nemesis zu lange aus oder wird sie von gewollter List hinterhalten (wie es fast immer dann geschieht, wenn z. B. der Mann sinkt, weil die Partnerin, die Dirne, gemäß ihrer Funktion, natürlich nicht etwa so auftritt, wie umgekehrt ein Mann, der ein Weib mißbraucht hat: dieser wird brutal, das Weib aber, das den Mann depraviert, umgarnt ihn nur desto enger), so setzt ein Prozeß der Verderbnis ein, welcher durch kaum eine andere moralische Verirrung, in so rapider Weise, fressend wie ein Krebs und tatsächlich zu allen Verbrechen verführend und führend, sich entwickeln kann. Den unübertrefflichen Ausdruck für das Wesen der Buhlerei und ihrer Wirkung gibt uns Shakespeare im Hamlet:

Hamlet:

»… Mutter, um Eur' Heil!
Legt nicht die Schmeichelsalb' auf Eure Seele,
Daß nur mein Wahnwitz spricht, nicht Eur' Vergehn;
Sie wird den bösen Fleck nur leicht verharschen,
Indes Verderbnis, heimlich untergrabend,
Von innen angreift. Beichtet
vor dem Himmel,
Bereuet, was geschehn, und meidet Künft'ges,
Düngt nicht das Unkraut, daß es mehr noch wuchre.
Vergebt mir diese meine Tugend; denn
In dieser feisten, engebrüst'gen Zeit
Muß Tugend selbst Verzeihung flehn vom Laster, (!)
Ja kriechen, daß sie nur ihm wohltun dürfe.

Königin:

O Hamlet! du zerspaltest mir das Herz.

Hamlet:

O werft den schlechten Teil davon hinweg
Und lebt so reiner mit der andern Hälfte.
Gute Nacht! Doch meidet meines Oheims Bett,
Nehmt eine Tugend an, die Ihr nicht habt.
Der Teufel Angewöhnung, der des Bösen
Gefühl verschlingt, ist hierin Engel doch:
Er gibt der Übung schöner, guter Taten
Nicht minder eine Kleidung oder Tracht,
Die gut sich anlegt. Seid zu Nacht enthaltsam,
Und das wird eine Art von Leichtigkeit
Der folgenden Enthaltung leihn; die nächste
Wird dann noch leichter: denn die Übung kann
Fast das Gepräge der Natur verändern;
Sie zähmt den Teufel oder stößt ihn aus
Mit wunderbarer Macht
. Nochmals, schlaft wohl!
Um Euren Segen bitt' ich, wann Ihr selbst
Nach Segen erst verlangt
. – – –
– – – – – – – – –
Zur Grausamkeit zwingt bloße Liebe mich;
Schlimm fängt es an, und Schlimmres nahet sich
.
Ein Wort noch, gute Mutter!

Königin:

Was soll ich tun?

Hamlet:

Durchaus nicht das, was ich Euch heiße tun.
Laßt den geduns'nen König Euch ins Bett
Von neuem locken, in die Wangen Euch
Mutwillig kneifen; Euch sein Mäuschen nennen;
Und für ein paar verbuhlte Küss', ein Spielen
In Eurem Nacken mit verdammten Fingern
,
Bringt diesen ganzen Handel an den Tag,
Daß ich in keiner wahren Tollheit bin.«

Man hat über die Bedeutung der Askese und der Abstinenz, besonders in den letzten Jahren, wissenschaftlich viel diskutiert und gelangte meistens dazu, diesen Zustand als der seelischen und körperlichen Gesundheit vollreifer Menschen gefährlich zu kennzeichnen und die Forderung danach als unberechtigt abzulehnen.

Dazu ist zu sagen: mit dieser Erkenntnis ist uns wenig gedient. Denn: schwere Mißhelligkeiten, Aufregungen, unhaltbare Situationen und qualvolle Konflikte sind der Gesundheit und dem Gesamtleben eines Menschen noch weit unzuträglicher, als selbst die strengste Totalabstinenz. Es ist fast zum Lachen, daß eine alleinstehende Frau so oft von guten Freunden, ernsten Männern der Wissenschaft, den erstaunten Vorhalt zu hören bekommt: »Aber warum leben Sie denn abstinent?« Als ob mit dem Bruch der Abstinenz so gar keine weiteren Umstände verknüpft wären und man sich die Sexualerfüllung, bloß weil sie »gesund« ist und einem ordiniert wird, so ohne weitere Umstände, / ohne anderweitig Schaden zu nehmen, / besonders an seiner Seele! / »besorgen« könnte, wie ein Rezept, das man in der Apotheke herstellen lassen kann.

Und nicht nur soziale Konstellationen, sondern Gründe von fast fatalistischer Art sind es oft, die einen Menschen, besonders einen von höherer Art und höherem Streben, zu zeitweiliger oder vollständiger Askese und Abstinenz gebieterisch zwingen. Der nächstliegende Grund ist der, daß ein Mensch, um so feiner geartet er ist, um so weniger die Möglichkeit finden wird, eine vollwertige erotisch-sexuelle Partnerschaft zu finden. Kompromisse auf diesem Gebiet pflegen sehr schlecht auszugehen. Wer seinesgleichen leicht und mit glücklicher Hand findet, und, worauf es ja besonders ankommt, eine befriedigende Dauerbeziehung knüpfen kann, der wird gewiß keinen Grund haben, asketisch zu leben und hat ganz recht, wenn er sich um eine Vorschrift solcher Art nicht kümmert, sofern er nicht in asketischer Lebensweise Befriedigung findet und, wie gesagt, Sturz in Unsauberkeiten und schwere Mißlichkeiten vermeiden kann.

Der Durchschnittsmensch findet Partnerschaft, auch auf diesem Gebiet, am leichtesten. Aber es hat keinen großen Forscher oder Künstler gegeben, der nicht, wenigstens zeitweilig, und zwar in ziemlich ausgedehnten Zeitspannen, in vollkommener sexueller Enthaltung gelebt hätte, während die höchsten Vertreter der Erleuchtung der Menschheit, die Propheten und die Religionsstifter, dauernd enthaltsam lebten. Hier ist nicht nur die persönliche Disposition das Entscheidende, denn auch die mit heißen erotischen Wünschen ausgestattete Natur wird, unter Umständen, zu einer Sublimierung ihres Liebestriebes ins rein Geistige gelangen und in strengster Askese leben, / aus innerster Bestimmung. Von sozialen Reformen irgendwelcher Art kann hier nicht »Erlösung« erwartet werden. Und alle in der Theorie erkämpften Freiheiten und »Erlaubnisse zum Glücklichsein« (!) werden uns trotzdem nicht davor bewahren, uns in einem bestimmten Entwicklungsstadium unseres Lebens, ja, wenn es das Schicksal will, für immer, durchaus isoliert halten zu müssen, / wenn wir der Entwicklung unseres inneren Menschen und unseres Schicksales freie Bahn geben wollen.

In solchen Zeiten der vollkommensten Isolierung aus innerster Nötigung, wird man, wenn man auf seine Stimmen lauscht, ungeahnte Offenbarungen erleben und Großes vollbringen. Am leichtesten wird dieser Zustand vollständiger Sexualabstinenz, / die so weit geht, daß auch kein Blick und kein Wunsch aus der erotischen Sphäre an uns herandringen darf, da dies sofort Unruhe und Störung mit sich bringt, die daher zu vollkommener Isolierung führen muß, / am leichtesten wird dieser Zustand dann / nicht nur zu ertragen, sondern zu genießen sein, wenn ein großes Werk in uns reift / oder ein großes Schicksal sich mit uns vollzieht. Beides erfordert Isolierung, weil es vor jedem Eingriff anderer behütet werden muß.

Es ist das große Schicksal, / das der Bestimmung, / das, was die Türken Kadèr Der gegenwärtige Sultan der Türkei, Mehmed V., hat, in einem Gespräch mit Emil Ludwig, dem Abendland dieses Wort geschenkt. nennen, / nicht Kismet, das kleine Fatum des Zufalles, / das in solchen Zeiten reift / und die Zukunft gestaltet.

Der eben geschilderte Zustand vollständiger Askese und Abstinenz wird, im allgemeinen, nur dann mit zwingender Bestimmtheit eine Epoche unseres Lebens gestalten, wenn wir, in einem tieferen Sinne, wirklich allein sind. Sei es durch eine innere Bindung an einen von uns Entfernten oder durch die Tatsache, daß überhaupt kein Mensch des anderen Geschlechtes uns nahesteht.

Haben sich aber zwei Menschen zusammengefunden und ihre Lebensgemeinschaft begründet, dann sollen auch alle geschlechtlichen Bedürfnisse so befriedigt werden, daß hier nicht ungelöste Spannungen, die zerstörend auf das Verhältnis wirken können, zurückbleiben, / eine Forderung, die ganz allein schon die strengste Durchführung der Monogamie unerläßlich macht.

Man hat das Christentum dafür verantwortlich gemacht, daß es dem Menschen das »unbefangene Zutrauen zu seinem Triebleben« genommen hat und es »erst einer intellektualistischen Rechtfertigung bedarf, ehe er dazu ja zu sagen wagt« Maria v. Stach.. Tatsache ist, daß man zu nichts weniger als zu seinen erotischen Impulsen und Trieben ein wirklich »unbefangenes Zutrauen« haben kann und darf und sich das »Jasagen« sehr überlegen soll, weil diese Triebe auch dort entfacht und erregt werden können, wo sich aus ihrer Betätigung Konstellationen ergeben, die für unser Gesamtleben und unsere Gesamtentwicklung von verderblichstem Einfluß sind. Im übrigen kann ebenfalls als eine Sublimierung des Geschlechtstriebes das befriedigende Gefühl angesehen werden, das sich, in andern Zeiten, / in welchen die Totalabstinenz nicht so weitgehend ist, daß, aus den oben erörterten Gründen, nicht einmal ein Blick oder ein Wunsch an uns herandringen darf, / dadurch entwickelt, daß man weiß und fühlt, daß man gefällt und eine von zarter Erotik gefärbte, von den Elementen der liebevollen Schätzung, der Güte und besonders des Wohlwollens (weil darin das Moment des Schutzes enthalten ist) getragene Verehrung von seiten des anderen Geschlechtes genießt. Für eine Frau z. B. ist das der »Mehrseitigkeitsanspruch«, den sie, als erotische Persönlichkeit, evtl. ans Leben stellt und stellen darf, ohne jemals die Treue, ja sogar ohne die Abstinenz zu brechen.

Und sollten die Grundzüge solcher Beziehung, die, wenn sie rein erhalten werden, das Herz beleben, wie junger Tau die Blüten, für den Mann und die feinsten Schwingungen seiner Seele keinen Wert haben? Ich glaube / doch. Hier ist die Richtung, in der wir das Bedürfnis unserer Natur, geliebt zu werden, bejaht zu werden, / über die Grenzen eines Bündnisses zwischen zweien hinaus, / befriedigen können, / ohne die wilden und dunklen Gewalten des Geschlechtes zu entfesseln. Eine solche Beziehung zartester Erotik, deren Wesen oft für immer unausgesprochen bleibt, aber nichtsdestoweniger gefühlt wird, kann man sich mit mehr Sicherheit dauernd, ja für immer erhalten, als wenn je diese kaum bewußten Wünsche, / deren Erfüllung das Verhältnis wahrscheinlich für immer zerstören würde, / Rechte erhielten. Eine Beziehung dieser Art, die auf feiner, platonischer Verehrung beruht, hat ein sehr lustbetontes Element in sich, das unserer Sehnsucht nach erotisch gefärbten Erlebnissen, auch in Zeiten der Abstinenz, genügen kann. »Was nicht ist, / ist.« Ibsen.

Wahrscheinlich beruht auf der Fähigkeit, Beziehungen solcher Art zu pflegen, die Anziehungskraft, die manche Frau bis ins Matronen- ja bis ins Greisenalter hinein auf das andere Geschlecht ausübt, vielleicht ist dies das Geheimnis der wirklichen grande amoureuse, deren Gegenpol die Kokotte ist, die mit 30, höchstens 40 Jahren ein Wrack zu sein pflegt.

Es gehört dazu eine sublime Seele, eine sympathische Körperlichkeit und ein Reiz, der schwer definierbar ist, / ein Etwas, das unsere Feinde Charme nennen, / worunter man wohl eine Wesensart, die von Wärme erfüllt und persönlich belebt ist, zu verstehen hat.

IX.
»Geschlecht und Charakter.« Titel dieses Abschnittes ist in Anführungsstriche gesetzt, weil er identisch ist mit dem des Weiningerschen Hauptwerkes.

Die doppelte Moral, die das Produkt der wirtschaftlichen Übermacht und der numerischen Minderzahl des Mannes war, die die Unzucht, von Seiten des Mannes, ein Naturbedürfnis und das Naturbedürfnis, von Seiten der Frau, Unzucht nannte, / fußt gewöhnlich auf dem Argument, daß die Geschlechtserlebnisse des Mannes, welcher Art sie auch seien, auf seinen inneren Menschen keinen Einfluß haben. Weil eben die »Folgen« von der Natur allein auf das Weib abgeladen wurden, so daß alles Geschlechtliche in ihrem Leben eine tiefeinschneidende Rolle spielen müßte, während es der Mann angeblich vermöge / »ohne Schädigung seiner persönlichen Qualität die physischen Geschlechtsansprüche in flüchtigen Abenteuern zu befriedigen; das Weib hingegen wird durch eine solche Lebensweise, eben wegen der Zusammenhänge der sexuellen Impulse mit den höchsten Seelentätigkeiten in der weiblichen Konstitution, moralisch und seelisch depraviert. Für den Mann ist der Kontakt mit der Gemeinheit, die flüchtige geschlechtliche Beziehungen mit sich bringt, angeblich irrelevant(!), das Weib aber sinkt durch einen solchen Kontakt auf die Stufe des Partners herab«. Rosa Mayreder in: »Psychologie der freien Liebe« (»Die neue Generation«).

Eine solche Anschauung entsprach zwar der allgemeinen Ansicht, beruht aber auf einer konsequenten Irreführung des weiblichen von seiten des männlichen Geschlechts.

Durch Geschlechtserlebnisse niedriger Art wird ein Mann gemein, skrupellos, zynisch und schlecht. Der Brennpunkt seines »Seelenlebens« konzentriert sich, durch eine solche Lebensweise, auf das Geschlechtsorgan und seine Regungen. Er verlernt es, anders, als mit widerlicher Geilheit, an die Vorgänge des Geschlechts heranzugehen, und er verlernt überhaupt jede Fähigkeit, sein Geschlechtsleben zu sublimieren, sowie höhere Gefühle in sich zu entwickeln und bewußt zu pflegen. Und in dem letzten Satz der eben zitierten Behauptung heißt es hier auch: »das Weib sinkt durch einen solchen Kontakt auf die Stufe des Partners herab«, womit ja implicite zugegeben ist, daß dieser Partner des schmutzigen Geschlechtsverkehrs sogar auf einer noch tieferen Stufe steht, als das Weib, denn sonst könnte sie ja durch den Verkehr mit ihm nicht noch zu ihm »herabsinken«. Hingegen bespricht Frau Mayreder, in ebendemselben Aufsatz, die Motive, die der Doppelmoral als Schutz für das Weib zugrunde liegen, sehr treffend, wenn sie auch die Forderung gerade für die weibliche Seite m. E. zu scharf spannt, während sie in der Toleranz für die männliche zu weit geht.

Ich habe in einer Beantwortung Sexuelle Rechte. Flugblatt des Bundes f. Mutterschutz, Ortsgruppe Berlin. dieses Artikels die Abgrenzung des Problems der sexuellen Moral so zu geben versucht: »Stellt man sich das Problem für die reale Gegenwart, so wäre es etwa so zu formulieren.

Von einer Emanzipation von der konventionellen Moral, die heute immerhin einige Schutzmomente bietet, ist unter Umständen sicherlich abzuraten, und zwar überall dort, wo diese Emanzipation als Sünde, als Unrecht empfunden wird, wo Verführung angewendet werden muß, wo das Weib in schwere Mißlichkeiten gestürzt wird und wo es sich nur durch Betäubung seiner Hemmungen dem illegitimen Verkehr ergab. Anders aber, wenn das selbständige, gereifte Weib, das zur rechten Ehe nicht gelangte oder diese Form überhaupt nicht wünscht, sich in freier Entschließung, mit vollem Überblick der Konsequenzen, der Vereinigung mit einem Mann hingibt und sie ebenso erstrebt wie der Mann selbst; hier wird niemand ein Unrecht zugefügt, darum ist hier auch nichts zu richten und nichts zu ächten. Um eine alte Norm durch eine neue zu ersetzen, dazu bedarf es selbständiger, sicherer, zwingender, innerer Überzeugungen und, / als Gegensatz zu diesem inneren, feurigen Antrieb, / einer gewissen Kaltblütigkeit und Klarheit im Überblick der Konsequenzen, einer Gabe des nüchternen Abwägenkönnens der eigenen innersten Forderung einerseits und der äußeren Schicksalschancen anderseits. Das merke sich jeder, der nach »neuen Reformen« zu leben beabsichtigt! Das gleiche Ergebnis kann die eine Seele in Nacht und Verzweiflung herunterziehn, sie mit dem Gefühl des tiefsten Falles beladen, / eine andere aber mit der jubelnden Gewißheit, ihres Lebens Erfüllung gefunden zu haben, durchdringen. Wo eine reife, freie Seele die Liebe als das höchste Fest des Lebens empfindet, da wird sie auch über papierne Theorien, mit denen man ihr dieses Erlebnis verwehren zu können glaubt, nur lächeln; und unsere Propaganda hat zunächst vielleicht gerade diesen Zweck, zu verhindern, daß man solche weibliche Persönlichkeiten mit dem Stigma der Ächtung auf ihren weiteren Wegen bedroht; ich glaube sagen zu dürfen, daß dieser Zweck schon heute erreicht ist.«

Während eine prinzipielle Abstinenzforderung bis zum Abschluß der legitimen Ehe uns heute nicht mehr zulässig erscheint, weder dem Manne noch der Frau gegenüber, muß, umso entschiedener, der Kampf gegen ein prinzipielles Recht zur Ausschweifung geführt werden, ein Recht, das heute jedem Mann stillschweigend von der Gesellschaft geboten wird, zum mindesten dem ledigen Manne, während skandalöse Geschlechtserlebnisse in der Ehe auch für den Mann von der Gesellschaft nicht toleriert werden.

Zum Glück ist wenigstens hier schon ein durchaus gesundes Empfinden erwacht. Kein Mann kann irgendeinen repräsentativen Posten, irgendeine höhere soziale Stellung, die er einnahm, weiter behalten, wenn sein Geschlechtsleben, als Ehemann, skandalös ist, am wenigsten dann, wenn seine Ehe daran zugrunde geht und der Skandal »offenkundig und manifest« wird. Die Anschauung, wonach eine Scheidung durch sein Verschulden den Mann nicht belastet, ist heute überwunden. Mit Recht duldet man niemand auf einem höheren Posten, von dem man vermutet oder weiß, daß er sich mit Dirnen abgibt oder daß er in den Händen eines minderwertigen, demoralisierenden Dauerverhältnisses ist, oder daß er überhaupt Beziehungen unterhält, die sein Eheleben untergraben. Man nimmt an, daß ein solcher Mann seine Pflichten gegen seine Familie nicht korrekt erfüllen wird oder kann, weil er seine Einnahme eben mit jener Sorte Frauen verbraucht, durch die seine Ehe zum Einsturz kommen muß oder schon gekommen ist. Von einem solchen Mann nimmt man an, daß er auch in anderer Hinsicht nicht zuverlässig ist, daß er keine sittlichen Richtlinien hat, sondern jeweils das tut, was ihn seine unlauteren Impulse gerade tun heißen, ohne sich über die Folgen viele Gedanken zu machen. Einem solchen Menschen wird man daher irgendeinen verantwortlichen Posten nicht anvertrauen.

Die doppelte Moral ging niemals so weit, daß sie die Verschmutzung des Geschlechtslebens während der Ehe für den Mann toleriert hätte. Vielmehr wurden hier Entgleisungen ebenso verurteilt, wie solche der Frau, was sich darin ausdrückt, daß diese Verfehlungen ja geheim gehalten werden; was sich ferner darin ausdrückt, daß der Ehebruch des Mannes gerade so vor dem Gesetz und vor der öffentlichen Meinung ein Scheidungsgrund schwerster Art ist, wie der Ehebruch der Frau. Die Doppelmoral bezog sich lediglich darauf, daß sie das sexuelle Leben des Mannes vor der Ehe mit weiteren Rechten ausstattete, als das Leben der Frau. Und hier, in diesem Punkt, ist der gerechte Ausgleich im Moralempfinden der Gesellschaft im Gange.

Dadurch, daß die Gesellschaft unerbittlich auch Verfehlungen des Mannes, die zur Kompromittierung und Schädigung der Familie und zum Einsturz der Ehe führen, rächt, trifft diese Rache freilich auch die unschuldigen Opfer mit, eben die Familie des ruinierten Mannes. Und da sage man noch, daß Geschlechtserlebnisse aus der niederen Sphäre auf das innere und äußere Leben eines Mannes und der mit ihm zunächst Verbundenen ohne Einfluß bleiben! Durch nichts werden Schicksale und Existenzen so unbedingt sicher ruiniert, als durch diese Art von Erlebnissen, besonders wenn es sich um charakterschwache Männer handelt, die solchen Einflüssen gegenüber sehr suggestibel sind, nicht zu brechen verstehen und die Sudelei fortsetzen bis ins Unendliche. Sie werden auf diese Art zu Hampelmännern in Dirnenhänden, ihr ganzes Gehabe bekommt einen kretinhaften Zug, sie erscheinen als Ritter von der traurigsten Gestalt und reiten auf dem Bock ihrer Geilheit so lange durch Nacht und Graus der Walpurgisnacht, / bis das höllische Getriebe sie verschlungen hat. Mit ihnen stürzt alles das zusammen, was der höhere Mensch in ihnen mühsam aufgebaut hatte, / ihre und ihrer Familie Existenz, soziale Stellung, Ehre und Zukunft.

Hingegen wird niemand einen Vorwurf gegen einen Mann erheben, der seine Ehe löst, um mit einer andern Frau zu leben, aber seinen Pflichten gegen seine bisherige Familie anständig nachkommt und die Frau, mit der er in Ehe gelebt hat, vor dem Elend schützt, auch wenn sie »mitschuldig« gesprochen wurde und daher keinen gesetzlichen Anspruch auf Versorgung hat. Dieser Fall ist sehr selten. Vielmehr zeigen uns die Akten unseres Mutterschutzbureaus, das auch von eheverlassenen und geschiedenen Frauen aufgesucht wird, daß, zumeist mit dem teuflischsten Raffinement, die »Mitschuld« der Frau konstruiert wird; bei dem herrschenden Gesetz ist es ein Kinderspiel, sie etwa wegen »Zerrüttung« mitschuldig, sogar alleinschuldig sprechen zu lassen, zumal der Mann über Geld und damit über tüchtige Rechtsanwälte verfügt, die mittellose Frau aber nur sehr schwer (nur dort, wo sie einer leuchtenden Ausnahme in Gestalt eines hochherzigen Rechtsanwalts begegnet) Vertreter ihrer Rechte finden wird, die sich in ihre komplizierten Scheidungsakten vertiefen und gründlich ihre Rechte wahren.

In den Händen einer Dirne wird der Mann, auch wenn er die Frau geliebt hat, zur Bestie, die ihr um jeden Preis das Messer in den Rücken zu stoßen sucht. Derartige Geschlechtsbeziehungen niedrigster Art sind eben nichts weniger, als »irrelevant«, sondern sie formen bzw. verwüsten den Charakter und damit / das Schicksal. Er handelt ganz instinktiv so, wie er es zur Erhaltung des guten Einvernehmens mit seiner jeweiligen »Gefährtin« braucht, die, vor allem, / Abgaben von seinen Einkünften an seine frühere Frau, natürlich verhindern will.

Darum / und dieses ist ein ernsthafter legislativer Reformvorschlag, den ich mache, / sollte bei Scheidungen nur der erste Ehebruch für die Zuerkennung der alleinigen Schuld maßgebend sein, / denn alles andere ist Konsequenz. Daß eine Ehe zerrüttet werden muß, durch die geheime Untreue des Mannes, daß auch die Frau dadurch, / von diesen okkulten Mächten des Verrates, die sich in der entsprechenden Behandlung der Frau nach außen projizieren, dahin gedrängt wird, erotischen Verführungen gegenüber nur schwachen Widerstand zu leisten und schließlich fällt, / im geheimen geschoben von dem Willen der Dirne ihres Mannes, / den geheimen Zusammenhang dieser Dinge werde ich noch beleuchten. Es ist typisch, daß der Ehebruch der Frau dann zumeist von ihr, mit Reue und Selbstanklagen, zugegeben wird, während der Verrat eines gesunkenen Mannes, der sie dazu trieb, meist geheim bleibt und sie somit als die allein Schuldige im Scheidungsprozeß und damit in der Gesellschaft / verurteilt, gebrandmarkt und für ihr Leben ruiniert wird.

Das ehebrecherische Geschlechtsleben des Mannes, welches zur Mißachtung aller Pflichten der Loyalität führt, wird meistens zum Ruin für ihn und seine Familie. Loyal heißt wörtlich übersetzt: gesetzmäßig, ehrenhaft, rechtschaffen. Treu und Glauben sind die Grundpfeiler unseres Gesetzes und jeder Gesittung. Warum straft das Gesetz z. B. die brutalsten Verbrechen weniger hart, als einen Meineid? Weil durch diesen gegen Treu und Glauben verstoßen und damit ein schwereres Verbrechen begangen wird, als z. B. durch die brutale Vergreifung an fremdem Eigentum. So werden z. B. auch Verträge nach dem deutschen BGB., §157 nicht nach dem Wortlaut, der oft schon mit der Absicht auf listige und den andern schädigende Ausdeutungen abgefaßt wurde, sondern, / wie es buchstäblich im Gesetz heißt, / nach Treu und Glauben entschieden, was besonders bei der Auslegung von Eheverträgen, bei Scheidungen, von Bedeutung wird.

X.
Das Gattenband

»Drum prüfe, wer sich ewig bindet.« Ewig will man allerdings überhaupt nicht mehr gelten lassen, da man die leichteste Lösbarkeit der Ehe fordert. Ich stehe nicht auf diesem Standpunkt. Ein Eheband zu lösen, das bedeutet meist eine vollständige Umwälzung des Schicksals, eine Zerreißung innerster und äußerer Bande und Verhältnisse, die nicht so leicht wieder durch irgendwelche neuen Verbindungen zu ersetzen sind. Das soll nur geschehen, wenn schwerwiegende Gründe, wie das Gesetz sie heute als solche normiert, dafür in Frage kommen. Eine Scheidung soll so lange dauern, daß beide Teile die gründlichste Gelegenheit haben, ihre Gefühle einer Revision zu unterziehen. Sofortige Lösung, auf den bloßen Willen eines Teiles, ist eine der präzisen Forderungen der Sexualreform des letzten Jahrzehntes. Ich teile sie nicht, weil nichts in der Welt irreführender ist, als Impulse solcher Art, die zumeist aus erotischen Einflüssen von dritter Seite stammen. Darum prüfe auch, wer / sich ewig scheidet, / von einem Menschen, der ihm einmal Gefährte war. Man gebe also den Gatten, bevor man sie für ewig scheidet, erst Gelegenheit, durch Trennung von Tisch und Bett Erfahrungen darüber zu machen, wie ihr Leben ohne den bisherigen Gefährten verläuft. Nietzsche sagt: Gebt uns eine kleine Ehe vor der großen, / womit er eine Art Probeehe vor der legitimen Bindung meint. So könnte man auch eine »kleine Scheidung«, eine Probescheidung verlangen, / wie sie ja auch das Gesetz in der Trennung von Tisch und Bett vorgesehen hat; allerdings nicht, wenn auf Ehebruch geklagt wird, in welchem Fall nur die Scheidung, nicht die bloße Trennung verlangt werden kann; gerade hier sollte es zuerst auch Trennung geben können. Diese Trennungszeit wird aber nur dann das alte Grundgefühl, das zwei Menschen einst zusammenführte, wieder erstehen lassen, wenn der sexuelle Einfluß dritter Personen völlig ausgeschlossen ist, wenn beide Gatten, in dieser Prüfungszeit einer Probescheidung, die eine Zeit der »Gewissenserforschung« sein soll, / wie die katholische Religion die Zeit vor der Beichte und der Kommunion nennt, / Totalabstinenz halten.

Diese systematische Gewissenserforschung, die Beichte, die Buße, die Absolution und schließlich die Kommunion, / die Vereinigung des Gereinigten mit dem Herrn, / symbolisiert im Abendmahl und im Genuß der Hostie, / sind die wertvollsten Elemente der katholischen Kirche. Die Hingabe an die Buße, die zur Aufnahme der Hostie befähigt, bedeutet die Wiedergeburt, / die Auferstehung!

»Panis angelicus fit panis hominum, dat panis coelicus figuris terminum. O res mirabilis! Manducat Dominum pauper servus et humilis.« Das Brot der Engel wird das Brot der Menschen; das himmlische Brot bringt den Toten die Auferstehung. O Wunder! Der arme, niedrige Erdensohn verzehret den Herrn.

Wenn in der Zeit der ehelichen Gewissenserforschung die innere Entwicklung zweier Gatten, während der Trennung, dieselbe Richtung nimmt, wenn das Grundgefühl füreinander einmal ein sehr starkes war, so können sie sich und einander wiederfinden und erleben, / was schöner und reicher sein kann, als ihr erstes Lieben, weil es bewußter ist, / die Versöhnung, die Vereinigung, die dann fast die Weihe der Kommunion erhält. Auch hier bedeutet die Hingabe an die Buße die Wiedergeburt und Auferstehung.

Was ein Mensch dem andern war, das weiß er ganz genau erst dann, wenn er ihn verloren hat, sei es durch den Tod oder, was schlimmer ist, durch / das Leben. Erwacht das Bewußtsein: hier war einmal ein echtes tiefes Gefühl für dich, hier wurdest du, trotz aller Entfremdungen, einst wahrhaft geliebt, hier war dir in der fremden, kalten Welt eine Heimat geworden oder es hätte wenigstens eine Heimat sein können, wenn man sie als solche begriffen hätte, / hier war eine gute Bahn, die Möglichkeit eines Aufstieges, zusammen und durch einander, und dieser Mensch wird dich ebensowenig jemals vergessen und verwinden können, wie du ihn, / so wird das unsichtbare Band, das ihn mit dem Verlorenen eint, nie zu lösen sein und überdauert sogar eine Scheidung. Nur wenn man durch einen Menschen niemals eine wirkliche Heimat hatte und wenn man weiß, daß man in seinem Leben, in seinem Gedächtnis auszulöschen ist, daß man in der Erinnerung seines Herzens nicht lebt / und er nicht in dem unsern, / nur dann war es / ein lösbares Band. Man wird die Verbindung relativ leicht und schnell zerreißen können, weil man deutlich fühlt und weiß, daß die innere Verbindung zerrissen ist.

Diese Verbindung zwischen Menschen, die geschlechtlich zusammen gelebt haben und die ein Schicksalsband verknüpfte, ist die stärkste Art der telepathischen Verbindung überhaupt, und die telepathische geschlechtliche und seelische Vermischtheit wirkt so vehement, daß ganz besonders der geheime Verrat sich dem andern / in Wellen von Mattigkeit, rätselhafter Erschöpfung und physischem Zusammenbruch, ja in dauerndem Siechtum geltend macht, (es entwickeln sich innere organische Leiden), so daß ein Mensch, der den Gefährten dauernd geschlechtlich verrät, diesen andern, wenn er medianim und telepathisch veranlagt ist, / damit nahezu vom Leben zum Tode befördern kann, zumindest einen dauernd leidenden Zustand bei ihm hervorruft, / eine Hinfälligkeit, die niemand zu erklären weiß … In Ibsens »Rosmersholm« und in Hauptmanns »Fuhrmann Henschel« ist es sogar der Gedankenverrat, der die Frau zu Tode bringt.

Ich beobachtete das Hinwelken einer jungen Frau, das so weit führte, daß sie schließlich nicht mehr gehen konnte, / die sich von ihrem Mann geliebt glaubte und von ihm / in seiner Art / auch geliebt wurde, / was ihn nicht hinderte, / der schmutzigsten und skrupellosesten Verführung zu erliegen. Dieser Mann war geschlechtlichen Einflüssen, besonders solchen der untersten Zone gegenüber, ein vollkommen willenloser Schwächling, was die Frau nicht wußte. Eines Nachmittags, während ich bei der Frau war, sank sie plötzlich zusammen und klagte über Herzkrämpfe. Ihr Herz war vollständig gesund. Wir schafften sie auf den Balkon, und in der frischen Luft erholte sie sich langsam, / ruhend im Liegestuhl. Bald darauf kam auch der Mann hinaus auf den Balkon und setzte sich, mit beklommenem Gesicht, neben sie.

Dieser Mann hatte mit einer Person des eigenen, ehelichen Hausstands, einer Dirne schmutzigster Art, die sich nächtelang mit halbwüchsigen Burschen herumtrieb, während seiner Ehe, mit der von ihm »geliebten« und begehrten Frau, die er sehnsüchtig umworben hatte, / dauernd im Konkubinat gelebt und war in jener Stunde, da er die Frau in Gesellschaft wußte, / bei dieser Person … In der gleichen Zeit verfiel die Frau in Herzkrämpfe … Nach dem Zusammenbruch dieser Ehe, / natürlich kam es dazu, / konnte die Frau, von Stund an, laufen wie ein Wiesel / und war gesund.

Ich verweise hier auf alles das, was Maeterlinck über das zweite Ich im Menschen, welches schärfere Sinne hat, als jene es sind, die mit dem Oberbewußtsein korrespondieren, in seinen Schriften entwickelt. »Der doppelte Garten« u. a. Verlag Eugen Diederichs, Jena. Vgl. ferner die Schriften von Jacob Böhme, Swedenborg, Strindberg, die germanische, indische, jüdische und keltische Mystik. Aus letzterer z. B. »Schottische Balladen« von Fiona Macleod. Die geschlechtliche Telepathie, die die stärkste ist, wurde aber noch nirgends beachtet, es sei denn bei Strindberg. Dieses andere Ich ist es, aus dem auch alles das kommt, was wir Ahnung nennen. Dieses andere Ich, das, zum Unterschied von dem empirischen Ich, das intellegible Ich genannt wird, warnt die für die Aufnahme seiner Signale begabten Naturen, wenn sie z. B. ein Schiff besteigen wollen, welches untergehen wird; während die Menschen, deren Oberbewußtsein vergröbert bzw. von ihren Trieben beständig in Anspruch genommen ist, so daß die Stimme des intellegiblen Ich niemals zu ihrem Gehör dringt, / ungewarnt sich in Gefahren hineinbegeben, ja sich, mit einer seltsamen Hast, hinein stürzen.

Ahnungen, Sympathien, Antipathien, sind sehr stark zu beachten. In dem Wort Sympathie liegt übrigens schon seine geheimnisvolle Unterbedeutung, was sich am frappantesten dann geltend macht, wenn wir uns bewußt werden, in eine erotische Beziehung geraten zu sein, zu einem Menschen, der uns ursprünglich gar keine Sympathie einflößte, vielmehr eher das Gegenteil, / sehr oft ein beklemmendes, bedrückendes ablehnendes Gefühl, oder sogar ein Gefühl der inneren Leere in uns, am Anfang der Bekanntschaft, erzeugte, / ein Gefühl, das uns in seiner Nähe frösteln machte. Geraten wir dennoch zu ihm in eine geschlechtliche Beziehung, so wird hier ein Schicksalsknoten gewunden, der zu den gefährlichsten Verstrickungen führt und meist nur durch einen Alexanderhieb des Fatums seine Lösung findet.

Die geschlechtliche Telepathie ist die stärkste, die es gibt. Telepathisch wirken aufeinander auch sonst Menschen, die in einer Schicksalsbeziehung zueinander stehen, besonders aber, wenn noch der geschlechtliche Zusammenhang dazukommt.

Es gibt Menschen, deren intellegibles Ich ihnen fortwährend Signale gibt, die sie auch vernehmen, z. B. in Träumen, in denen sie die geheimen Schrecken, die sie bedrohen, und von denen sie nichts wissen, in deutlichen Bildern sehen. Darum halte ich die Träume nicht so sehr, wie die Freudische Schule es tut, für verdrängte Wünsche, als vielmehr ganz besonders für verdrängte Furcht, für die unterbewußte Ahnung kommender oder schon bestehender Schrecken und Gefahren, besonders auch solcher geschlechtlicher Natur Vgl. meine Traumnovelle »Das andere Leben«, erschienen in der Zeitschrift »Pan« 1912. Herausgeber Dr. Alfred Kerr, Berlin-Grunewald..

Auch die erwähnte junge Frau hatte ein Unterbewußtsein, welches ihr fortwährend Signale gab, die sie aber dennoch nicht beachtete, / weil ihr Triebleben und auch ihr Verstandesleben zu stark entwickelt war. Sie träumte z. B., noch während ihrer Ehe, in der sie alles in allerbester Ordnung vermutete, / Szenen, welche ihr die furchtbaren Geheimnisse ihres Hauses deutlich zeigten. Nur selten träumte sie in Allegorien und Bildern, / obwohl auch in solchen, / meist aber in deutlichen, konkreten Szenen, in denen sie z. B. ihren Mann, gegen den sie nie einen Verdacht hatte, / mit teilweise bekannten, teilweise unbekannten weiblichen Wesen in Situationen sah, die, nach alledem, was sich später über die Ehe enthüllte, direkt als »photographische« Aufnahmen des Unterbewußtseins zu betrachten sind. Diese Szenen hatten sich unzweifelhaft genau so, wie sie sie im Traum sah, / abgespielt. Sie erwachte aus ihren Angstträumen, die sie schon von Kindheit an gehabt hatte und zwar immer nur dann, wenn wirkliche Gefahren sie bedrohten, / gewöhnlich mit einem gellenden Angstschrei, zitternd an allen Gliedern, in Schweiß gebadet. Der Mann erwachte davon auch, / sie erzählte ihm ihren Traum, / und er / beruhigte sie … Und trotzdem / setzte er sein furchtbares Treiben fort …

Erst die aufrüttelndsten Erfahrungen, die merkwürdig typischen Erlebnisse einer geheimnisvollen, nicht mehr zu verkennenden Einheitlichkeit ihres besonderen Unglücks, machen solche Menschen feinhöriger, innerlicher, aufmerksamer in der Beobachtung der Signale ihres ungemein präzise reagierenden zweiten Ich. Und sie finden dann, nach und nach, ein Schema der Verständigung, zwischen der innersten und der Bewußtseinssphäre und werden, / während sie vorher eine Menschenunkenntnis, zumeist Menschen überschätzung an den Tag legten, die, bei ihrem sonst sehr stark entwickelten Intellekt, überraschen mußte und einzig darauf beruhte, daß sie der Signale des andern Ich nicht achteten, / dann, wenn Heimsuchungen furchtbarster Art sie getroffen haben, / die wachsamsten Beobachter und die treffsichersten Menschenkenner, deren instinktive, dann aber von ihnen beachtete Reaktion auf Menschen fast immer die richtige ist und für ihre Lebensgestaltung entscheidend wird. Sie taumeln dann nicht mehr blindlings zwischen Begierde, Sehnsucht, Wahn und Enttäuschung hin und her, sondern haben endlich im Urwald des Lebens die Witterung bekommen.

Über die Wirkung des Geheimverrats habe ich in meinem Flugblatt »Krieg und Ehe« das Folgende ausgeführt.

»Sie glauben, wenn ihre geschlechtlichen Nebenwege geheim bleiben, so habe das mit dem einen bestimmten Dauerverhältnis, das sie sich erhalten wollen, nichts zu schaffen. Das ist ein Irrtum. In demselben Augenblick, in dem eine Ehe oder ein eheähnliches Verhältnis gebrochen wird, / ist die Ehe zu Ende. Mann und Weib verbinden magische Ströme. Wird der eine Teil geschlechtlich »abgelenkt«, so ist der Kontakt sofort gestört, und es wirkt ein neuer, meist sehr schmutziger Strom auf das Bündnis ein. Es liegt in der Natur der Sache, daß der Ehebruch sich sofort fühlbar machen muß; denn es gibt keine nur sexuellen Beziehungen, und die berühmte Trennung von Sinnen und Seele, mit der sich die meisten beschwichtigen, ist ein Ammenmärchen. Es ist unmöglich, daß ein Mann, der am Abend vorher mit irgendeiner Dirne geschlechtlich verkehrt hat, sich am andern Tage mit der Herzlichkeit, Freudigkeit und Vertraulichkeit, die das Um und Auf der Ehe ist, seiner Frau zuwendet. Es beginnt der berühmte Prozeß der »Vernachlässigung«, der Reizbarkeit und der schlechten Stimmung jenes Teiles, der die Ehe gebrochen hat. Das schlechte Gewissen treibt dazu, den Partner auf gehässige und ungerechte Weise anzufallen, ihn herabzuzerren und zu erniedrigen, / um sich weniger schuldig zu fühlen. Die Frauen (denn in den meisten Fällen ist es der Mann, der das Bündnis bricht) sind diesem Phänomen gegenüber blind. Bei all diesen Szenen und Konflikten befassen sie sich mit den Symptomen, weil sie die Wurzel und Ursache der verdorbenen Situation nicht ahnen. Die merkwürdige Tatsache, daß ein Mann langsam aber sicher an der Seite einer Frau, die er aus Liebe gewählt hat, immer tiefer in den Sumpf sinkt, ohne daß diese es merkt, weiß oder ahnt, hat ihren Schlüssel in einem seltsamen Instinkt der menschlichen Seele. Es ist ein vogelstraußartiger Selbstschutzinstinkt. Selbst wenn die Anzeichen und Merkmale sich schon häufen, sieht der andere Gatte nichts, weil die Seele sich instinktiv gegen den Todesstoß wehrt. Die Untreue des Weibes und die sich für den Mann daraus ergebende Tragödie war ja seit jeher ein Hauptstoff der Dichtung: der Mann als Dichter hat ja auch aus dem Weibe die Sphinx gemacht. Daß er selbst viel sphinxhafter, viel unergründlicher in seinem Geschlechtsleben ist, hat niemand ausgesprochen. Der Ehebruch der Frau ist eine Ausnahmeerscheinung, gegenüber der ungeheuerlichen Anhäufung dunkelster Geschlechtsexzesse von seiten des Mannes.

Jede Befriedigung, jede Sättigung der Geschlechtsgier durch eine dritte Person zerbricht die Spannung, die Wertung, das Begehren, die gehäufte Konzentration, die sonst auf den ehelichen Gefährten gerichtet ist (ich spreche hier natürlich von Ehen, in denen sich zwei Menschen mit gutem Willen aneinander aufbauen wollten und nicht von irgendwelchen konventionellen Bündnissen, die nicht durch wählende Auslese zustande kamen). Will man aber ein Bündnis, welches trotz der Ehe innerlich belebt bleiben soll, so erhalten, daß die beiden Menschen voneinander befriedigt durchs Leben gehen sollen, so ist die beiderseitige monogame Forderung Selbstverständlichkeit. Tatsächlich wird auch diese Forderung immer erhoben, und »Toleranz« wird in keiner Ehe, die nicht ganz verrottet ist, gewährt, wenn auch Resignation manches Widerliche erträgt. Der scheinbar harmloseste »Seitensprung« zerstört dieses Verhältnis, denn er zerstört die Akkumulation, die Häufung, die Spannung der Liebeskräfte auf ein bestimmtes Objekt, dem man sie zuzuwenden versprach und welches sich um dieses Versprechens willen gebunden hält. Von allen Vertrauensbrüchen der Menschen aneinander ist der Ehebruch der schmählichste, denn er setzt ein anderes Wesen, das um des Gefährten willen allen andern erotischen Möglichkeiten entsagte, auf eine Sandbank. Will man die Liebe in der Ehe erhalten, so müssen Hungergefühle aufgespeichert werden, die ausschließlich aus einer Quelle gestillt werden dürfen, immer vorausgesetzt, daß man mit diesem Manne oder dieser Frau sein Glück sucht. Nicht im Namen der Tugend, die ja ein vieldeutiger Begriff ist, besonders wenn ihr die geheimnisvollsten Triebe der Natur gegenüber gestellt werden, / sondern im Namen des Glückes muß die Treue in der Liebe und Ehe für die conditio sine qua non erkannt werden.

Der Mann, der sich voll Liebe seiner Frau erhalten will, der sie und sich davor bewahren will, daß sie an seiner Seite frigid wird, der nicht nur ihr Mann, sondern ihr Geliebter bleiben will, der muß sich ganz und gar auf sie konzentrieren und sich nur für sie aufsparen. Er muß hungern und fasten lernen, er darf sich nicht satt machen an fremden Krippen, auch nicht in Zeiten der Trennung, während sie sich für ihn zusammenhält; er muß mit einem Wort sein Empfindungsleben und seine geschlechtlichen Begierden nur für sie bewahren. Begriffen die Männer diese einzige Liebeskunst, so gäbe es weniger Frauen, die plötzlich aus der Ehe stürzen, ohne zu wissen warum. Die geheime Untreue des Mannes war es, die die Ehe nach und nach veröden ließ und die Frau in den Zustand brachte, dem ersten besten, der ihr von Liebe sprach, in die Arme zu sinken … Ob diese Untreue des Mannes bekannt war oder geheim blieb, ist vollständig gleichgültig. Fühlbar machte sie sich, mußte sie sich machen, auf jeden Fall. Die geheime Untreue des Mannes ist ein Motiv der Frigidität vieler Frauen, welches, soviel ich weiß, von den Forschern noch nicht ins Auge gefaßt wurde. Zahllose Frauen, die temperamentvoll und erotisch sind, werden in der Ehe frigid, weil der Mann seinem Geschlechtsempfinden durch heimliche Polygamie eine Vergewaltigung angetan hat. Eine Vergewaltigung, die dadurch entsteht, daß sich in den Sexualakt, in den Vorgang der höchsten Konzentration des Lebens, Vorstellungen drängen, die nicht hingehören, aber nur unvollständig zumeist wieder verdrängt werden können. Manche Frau, die aus Liebe gewählt wurde und wählte, erlangt in der Umarmung ihres Mannes nicht mehr den Höhepunkt / warum? Weil ein anderes Weib bei der Umarmung vor seinen Blicken stand, sich, wie ein böser Dämon, zwischen ihn und sie drängte, und erst von der Phantasie fortgeschafft werden mußte oder auch nicht fortgeschafft werden konnte. Naturgemäß wird der volle Rausch, die Exstase des Mannes darunter leiden, und logischerweise wird dadurch die Frau nicht bis zu jenem Siedepunkt des Empfindens gebracht, der die volle Auslösung mit sich bringt. Damit ist aber der Ruin der Ehe gegeben. Von da an sind Türen und Toren allen Mächten, die sie zerstören wollen, freigegeben. Fast blindlings kann man behaupten: Jede Frau, die plötzlich auf eine unerklärliche Weise aus der Ehe stürzt / hat recht gehabt. Sie hat unter dem Zwang und Druck von Instinkten gehandelt, die heller waren als ihr Bewußtsein. Aus einer Ehe, in der eine ungebrochene Liebe auf der andern Seite da war, geht eine Frau nicht weg, und keinem Verführer wird es gelingen, sie von da loszulösen …

… Das Gift der wildpolygamischen, insbesondere der ehebrecherischen Buhlerei ergreift den ganzen physischen und seelischen Organismus wie eine pestartige Erkrankung, von der man sich nicht mehr frei machen kann, wenn nicht ein Wunder geschieht. Erst der Zusammenbruch einer Ehe, beiderseitige Verzweiflung und Reue kann hier zur Besinnung bringen und zur Buße. Die Mystik ebenso wie die Volksüberzeugung, ja sogar die Ausdrücke der Umgangssprache deuten an, daß die Ströme und Wellen der Liebe oder des Hasses, der Ehrlichkeit oder des Verrates, insbesondere aber des Ehebruchs sich in physikalische Wirkung umsetzen. Strindberg hat darüber viel gesagt. Der Ehegatte, der mit einer dritten Person die Ehe bricht, nimmt deren ganzen physischen und seelischen Habitus in seinen eigenen Organismus auf, und nun wirkt dieses Fremde, dieses ihn Hassende auf den andern Ehegatten ein, wie eine todbringende Batterie. Das Volk sagt: »sie können sich nicht mehr riechen«. Es ist buchstäblich auch physiologisch so. »Die Atmosphäre ist verdorben oder ist drückend« sagt man gemeinhin. »Die Frauen sind launenhaft / gereizt« sagt man oft. Die »Laune« ist aber nur ein Ausdruck des Instinktes, der nicht bis zur Höhe des Bewußtseins gekommen ist. Ein großer Teil aller Ehen hält sich / nur dadurch, daß die Frauen nicht erwachen, daß sie schlafend am Abgrund wandeln. Wehe, wenn sie darüber klar würden, warum ihre Ehe so freudlos, so unbefriedigend, so voll gereizter Stimmungen und Launen ist. Diese Stimmungen haben in den meisten Fällen keine andere Ursache, als die geheime Untreue des einen oder andern Teils.«

So wie der Geschlechtsverrat nur eine besonders elende Form ist, einen andern Menschen (und sich selbst) zugrunde zu richten, so wie dessen verheerende Wirkungen niemals ausbleiben und die vergiftete Quelle des Ruins werden, so ist, umgekehrt, / die allheilende Kraft der Natur, nächst der gesunden Vererbung, / die Liebe eines edlen Menschen. Durch eine solche Liebe werden Heilkräfte von einem Menschen auf einen andern akkumuliert. Die von Jugend an sieche, nahezu gelähmte Dichterin, Elisabeth Barrett, / genas, und wurde vollkommen gesund an der himmlisch-irdischen Liebe des genialen, / geistes- und herzensgenialen / Robert Browning, ihres späteren Gatten. Ihn, den gefeierten Dichter seiner Zeit, den edelsten Menschen und reinsten Mann, zog es unablässig, noch bevor er sie kannte, / zu Elisabeth Barrett Die Lebensgeschichte der Brownings hat Ellen Key in vollendeter Art gestaltet. S. Fischer Verlag, Berlin. Auch der unsterbliche Briefwechsel der Brownings ist in der Deutschen Buchausgabe erschienen.. Und als sie starb, einige Jahre nachdem sie ihm, mit vierzig Jahren, in seligster Ehe, einen Knaben geboren hatte, legte er für seinen Grabstein die Inschrift fest:

»Hier ruht Robert Browning,
durch den Elisabeth Barrett-Browning gesund wurde.«

Ein ähnlich glückliches Schicksal, wie Elisabeth Barrett, hatte eine andere Dichterin, die Schwedin Charlotte Leffler, die das Lebensbild Sonja Kovalevskas aufgezeichnet hat Reclams Universal-Bibliothek.. In unbefriedigender Ehe mit einem Amtsrichter, lernte sie in Italien den Herzog von Cajanello kennen, der später sogar durch den Tod des ältern Bruders der Majoratsherr seines Hauses wurde. Sie schloß mit ihm, vierzig Jahre alt, eine zweite Ehe, die ein vollkommenes Glück für beide Gatten mit sich brachte. Nach einigen Jahren gebar sie ihr erstes Kind. Auf der Höhe ihres Frauenglücks starb sie, nach eintägiger Krankheit, in ihrem schönen Haus am Posilip.

Die wenigen glücklichen Ehen, die es überhaupt in der Erinnerung der Kulturwelt gibt, knüpfen sich, seltsamerweise, an die Namen dieser beiden Dichterinnen und noch an den einer dritten, / an die Ehe von Caroline Sendling, die, nach den furchtbarsten Lebensstürmen, ihre vierte Ehe war und ihr und ihrem Gatten, dem großen Philosophen, reines, ungetrübtes Glück gewährte. In allen drei Fällen waren die Frauen bedeutend älter als die Männer. Es waren dies Ehen, die deshalb glücklich wurden, weil außergewöhnlich hochstehende Frauen ebenbürtige Männer gefunden hatten und sich nicht in Mesalliancen hineinbegeben mußten, die, für den bessern Teil, gewöhnlich katastrophal zu enden pflegen. Darüber Näheres an besonderer Stelle.

Von den Katastrophen ihres Lebens war Caroline nichts weniger als »verbeult, befleckt, erschöpft« worden, und Schelling beweinte in ihr, als er sie durch den Tod verlor, »das liebenswerteste Weib und das unvergleichliche Meisterstück der Geister« Das Lebensbild Carolines hat Dr. Helene Stöcker in einer feinsinnigen Studie, die die Briefe Carolines einleitet, gezeichnet. Verlag Oesterheld & Co., Berlin W 15. / Als »verbeult, befleckt, erschöpft« bezeichnet ein Schriftsteller O. A. H. Schmitz in einer seiner Schmähschriften gegen die Frauen der Mutterschutzbewegung, die Frau, die mehrere »Versuche« in der Liebe machte bzw. gezwungen war, sie zu machen, weil sie ihr Lebensglück nicht beim »Ersten« fand. Gerade an dieser Stelle erübrigt sich ein Kommentar hierzu..

Von glücklichen Ehen großer Männer sind die bekanntesten die Ehe Wilhelm von Humboldts, und die Ehe Bismarcks; wie denn das Sexualleben dieses Recken von blendender Reinheit war. Weder einen Bismarck, noch einen Luther Luther verlangte für den Ehebrecher die Todesstrafe., noch sonst eine geschlossene männliche Persönlichkeit, kann man sich »polygam« denken, / auf libidinöse Reizungen und Erlebnisse solcher Art erpicht, trotzdem ihnen die Sterne der Frauenwelt erreichbar gewesen wären. Vielmehr war ihnen die Ausgestaltung und Vertiefung des schicksalsvollen Zusammenhangs mit einem Weibe das geheime Bindemittel ihrer durch die Überfülle der Aggregate gefährdeten Natur. Hier war das geheimnisvolle, chemische Element, das diese Aggregate zu einer Einheitlichkeit verband, / der »Basenbildner« Berzelius.. Die Basen sind es, die sich mit den Säuren zu Salzen verbinden (Base hat den gleichen Sprachstamm wie das griechische Wort Basis), / wie Mann und Weib zusammen / das Salz der Erde sind. Aber um eine Ehe rein erhalten zu können, dazu gehört vor allem eines: Rasse.

Wenn das Band keine dauernde Schicksalsbestimmung hatte, so wird mit dem äußeren Bruch auch die innere telepathische Verbindung sofort beendet sein, und man wird fühlen und wissen, ein zerstörendes, einreißendes, im Grunde feindseliges und durchaus wesensfremdes Element seines Lebens beseitigt zu haben. Man wird aufatmen, wenn dieses Band endlich gesprengt ist; an jeder andern »Scheidung« aber wird man verbluten. Und verlor man diese Heimat um des falschen Eros willen (unter dem Einfluß erotischer Mächte aus der niederen Sphäre), so wird man an einer unheilbaren Wunde kranken. Eigene Verblendung, eigene Schuld hat ein Heim und ein Seelenband zerstört. Furchtbarstes Erleben, sowohl für den Mann, / wenn er nicht zu den ganz roh Gearteten gehört, die überall »Ersatz« finden, / als besonders auch für das Weib. Darum ist das Gefühl des Bandes, das man zu einem Menschen hat, dieses Gefühl einer Gebundenheit, die man sich oft selbst nicht erklären kann / aber sehr beachten soll / es wohl wert, daß man seiner Erhaltung jedes Opfer bringt und sich gegen alle Verführungen, die es zerstören oder lockern könnten, wappnet. Gibt es denn im Grunde etwas Törichteres, als sich die Liebe eines Menschen, mit dem man einmal auf das innigste verbunden war, zu verscherzen? Um irgendeiner schnöden Lockung willen, ein verläßliches Herz tödlich zu verwunden und zu verlieren? … Vielleicht ist im Grunde nur dieses schlichte Gefühl des Bandes, dieses Heimatsgefühl zu einem bestimmten Menschen, welches etwas tief Geheimnisvolles ist, ein fatalistischer, unlöslicher Zusammenhang, dessen Zerreißung Not und Tod, nicht selten Wahnsinn mit sich bringt, / am meisten für die Fremden, die es zerrissen, worüber Strindberg das Tiefste gesagt hat / und welches nie entstehen kann, wenn nicht im tiefsten Grunde die Empfindung da ist: hier ist deine Bestimmung, / vielleicht ist dieses geheimnisvolle Gefühl des Bandes, welches oft aller Rauschmomente bar ist, / die vielgesuchte, uns allen verborgene, / wahre Liebe … Denn dieses Gefühl schließt es aus, daß man mit einem andern Menschen glücklich wird, solange jener / lebt.

Dieses Gefühl unterscheidet sich von allen andern Gefühlen, die wir sonst Liebe nennen, wesentlich / und überdauert sie, weil: hinter jenen meist nur eine Suggestion steht, ein Blendwerk, das auf unsere Sinne, unsere Eitelkeit usw. geübt wurde, hinter dem meist keinerlei Realität wirkt, die das Leben bereichert, und welches daher beim geringsten Nachlassen der hypnotisierenden Person zergeht, wie Schall und Rauch (allerdings gewöhnlich nicht ohne heftige Explosionen); es zerfließt, wie Schein und Maja, wie eine optische Täuschung, vergleichbar der Fata Morgana in der Wüste, / während das andere, das, was ich das Heim- und Bandgefühl nenne, besteht, weil eine Realität, die positiv unser Leben zu bereichern imstande war, dahinter stand und fortwirkt.

Sogar das harte, frostige, unpersönliche Gesetz, die juridische Terminologie kennt den Begriff »Verzeihung« und hat, zu ihrer Ermöglichung, bei Scheidungen Sühnetermine eingesetzt. Schon in dem Wort Sühnetermin liegt ein wunderbar tiefer Sinn, wenn auch diese Termine in der Praxis meist nur eine Formalität bedeuten. Hingegen gibt es etwas im ungarischen Eherecht, welches vielleicht das sittlichste Europas ist Ich verweise auf die sehr bemerkenswerte Broschüre » Das ungarische Ehegesetz«, nebst der Rechtsprechung des ungarischen Obersten Gerichtshofes und ausführlichen Erläuterungen / Anhang: »Die Haager Konferenzen« von Dr. Fritz Back, Landes- und Wechselgerichtsadvokat in Budapest, Verlag Wien 1910, Manzsche K. u. K. Hof-, Verlags- u. Universitätsbuchhandlung, I. Kohlmarkt 20., was nicht bloß eine Formalität ist: das Gericht bestellt bei Scheidungen, die wegen jenes Vergehens zustandekommen, das am schwersten zu verzeihen und am schwersten zu sühnen ist, wegen dessen nur auf Scheidung und nicht auf Trennung geklagt werden kann, / Ehebruch, / einen Verteidiger, der jenseits der Parteien steht und / buchstäblich und wörtlich / der »Verteidiger des Ehebandes« heißt. Er verteidigt gegen die beiden auseinanderstrebenden Gatten / das Band. Also in der Praxis stellt sich der prozessuale Verlauf der Scheidung so dar, daß jeder der beiden Gatten seinen Rechtsbeistand hat, und daß ein dritter, vom Gericht bestellter Verteidiger gegen beide Gatten da ist, / eben dieser Verteidiger des Bandes.

Es liegt etwas Erschütterndes in dieser Einrichtung, etwas, was auf die Knie zwingt und zur Ehrfurcht mahnt / vor der erhabenen Idee, die hier im Gesetz ihren Ausdruck fand. Das Gesetz geht hier von der richtigen Voraussetzung aus, daß, wenn eine Ehe wegen Ehebruchs auseinanderzugehen droht, eine so schwere Verletztheit des gekränkten Gatten und eine so gründliche Entfremdung beider Gatten vorliegt, besonders weil ja mindestens einer von ihnen, wenn nicht beide, dann vermutlich in fremden Händen ist, daß hier ohne Nachhilfe, ohne Belichtung des Geheimen, was sie eint, eben des Bandes und des entscheidenden Grundgefühls füreinander, durch das einst die Gattenwahl zustande kam, gar nicht Verzeihung und Versöhnung erfolgen kann. Dieses metaphysische Etwas, eben diese Idee der Gattenwahl und Lebensgemeinschaft, die sich einst ein Heim schuf, die alle Verhältnisse, oft sehr schwerlöslich, verkettete, alles und jedes auf Dauer eingerichtet hat, so daß, durch eine Zerschneidung oder Zerreißung dieser Gemeinschaft, auch alle diese Beziehungen und Verhältnisse zerrissen werden müssen, / dieses metaphysisch Bindende, das auf dem Grunde des Gefühls der Gatten dennoch schlummert, / soll ihnen der Verteidiger des Bandes zum Bewußtsein führen.

Verzeihung kann natürlich von der einen Seite nur gewährt werden, wenn auf der anderen Seite tiefe Reue da ist. Und »Reue« heißt keineswegs, dem andern irgendeine billige Genugtuung geben, auf Kosten der eigenen Demütigung, / obwohl es den vornehmen Menschen gerade dazu drängen wird, / sondern bereuen heißt erkennen und sich für immer und ewig abwenden von jenen Trieben, die die Gemeinschaft zerstört haben. »Verzeihung« ist nur möglich, wenn dieser innere Prozeß der Umwandlung, der Erneuerung des Charakters, aus seinen besten Elementen heraus, / der Metanoia, / sich vollzogen hat.

»Es gibt … keine höhere Bestimmung für den Menschen, als die, das Rechte und Gute … völlig zum Durchbruch kommen zu lassen.« Kurt Engelbrecht: »Deutschland lerne! Ein Ruf an das deutsche Gewissen.« Concordia, Deutsche Verlagsanstalt, Berlin SW I.

Dieser Prozeß tut weh, gewiß, / denn da gilt es, verstopfte Kanäle in sich auszuräumen und sich im Hochofen des Schicksals, in der Glut des Eisenhammers, willig schmelzen, lösen und schmieden zu lassen, / auf daß die Schlacken endlich von den Edelstoffen loskommen.

Verzeihung kann auch nicht heißen, eine Gemeinschaft, die in ihrem Heiligsten geschändet wurde, fortsetzen. Diese entehrte Gemeinschaft muß erst vernichtet werden, und die den Frevel an ihr begingen, müssen sich zum Abgrund verurteilt fühlen. Nur wenn sie von da, in reinerer Wiedergeburt, auferstehen, ist ein neuer Anfang / nicht ein Fortgang des früheren Verhältnisses / unter denselben und doch veränderten Menschen denkbar. Diese Wiedergeburt ist nur dann möglich, wenn die Trennung ans Leben ging. / Vergeben, ebenso wie Buße tun, kann nur die hochgeartete Natur, / niemals die gemeine. Wehe wenn ein besserer Mensch in die Lage kommt, bittend / vor einem gemeinen zu stehen!

Versöhnung ist unmöglich, solange nicht der Ekel, jenes wunderbare Schutz- und Warnsignal der Natur, endlich zum Durchbruch gekommen ist, der Ekel vor dem, was zur Erniedrigung führte und was zumeist zur Scheidung von Ehen führt, der Ekel vor der Unzucht, den Verirrungen des Erotismus, der Ekel vor dieser wütenden, blinden Geschlechtsgier und den verschiedenen Gestalten, in denen sie in Erscheinung tritt. Solange den Menschen, der dieser Art von Erotismus verfallen war, nicht der Ekel vor sich selbst überkommt, solange ihm vor seinen Taten und dem was sich daraus ergab, vor diesen Verbindungen mit der Tiefe, nicht graut, solange ist jeder Begriff der Versöhnung eine Entweihung des heiligsten Gefühles, dessen ein Menschenherz fähig ist.

Aber nicht nur Menschen können Versöhnung und Vergebung üben, sondern auch / die Natur. Jedes Geschlecht ist entsühnbar, jede schlechte Vererbung kann überwunden werden, sowohl durch eine Reihe von guten Mischungen, als auch durch eine einzige Persönlichkeit auf dem Gipfel einer Ahnenreihe. Iphigenie ist aus Tantalus' Geschlecht und ist doch Iphigenie Auf diesen Grundgedanken gedenke ich einen Roman aufzubauen, der das Problem der Regeneration behandeln soll.. »Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit.« Goethe. Versöhnung ist unmöglich, solange nicht die Metanoia sich vollzogen hat.

Es genügt nicht, daß der Wille eines Menschen sich von den Entartungen und Erniedrigungen des Geschlechtes abwendet, sondern / sein Blut muß es tun. Denn nur, wenn keine Spur eines Begehrens nach diesen Erlebnissen mehr in seinem Blute ist, / ist an Genesung zu denken. Ist von diesen bösen Begierden, von dieser krankhaften Sucht auch nur noch ein geringer Rest in ihm, so wird ihn sein eigener guter Wille, werden ihn seine besten Vorsätze nicht davor bewahren, / wieder zu sinken. Die Reinigung muß sich von innen heraus vollzogen haben, er muß wirklich ausgeschlackt, geglüht und gehämmert sein, sonst wird nur versprochen, was niemals gehalten werden kann. Das Blut muß einen Genesungsprozeß durchgemacht haben, dann erst gehorcht der Wille, dieser arme Sklave, um dessen Freiheit es kläglich aussieht, gerade wenn die schwarze Magie des Geschlechtes in Frage kommt. Nur wenn sich ein Regenerationsprozeß vollzieht, wie es der ist, der bei einer überwundenen Blutvergiftung vor sich geht und diesem zu vergleichen ist, ist Genesung zu erhoffen.

Wenn ein Gift ins Blut drang, physisch, so arbeitet der ganze Organismus zur Rettung des Lebens daran, dieses Gift, das ihn zersetzen will, wieder auszustoßen. Eine schwere Krise setzt ein, in der es auf Tod und Leben geht, in der das Fieber sich bis zum Delirium steigert, / und ob es dem Organismus gelingt, diese Gifte, die in ihn drangen und ihn verdarben, zu überwinden, zu töten, ob die allheilende Natur über die Krankheit gesiegt hat, / das ist eine Frage, die die tiefsten Zusammenhänge nicht nur der Vererbung, sondern auch Zusammenhänge fatalistischer Art berührt, / wie wir sie dort, wo über das Böse, im Kampf mit dem Guten, gesprochen wurde, / zu erhellen suchten.

Scheidungen werden sehr oft bereut, meistens dann, wenn es zu spät ist. Schon der bloße Gedanke, daß gar nichts im Leben durch langjährigen Bestand und durch Dauer ein sicheres Zugehörigkeits- und Heimatsgefühl geben soll, daß man alles und jedes »überwindet«, und »abbricht«, / ist furchtbar. Zuerst das Elternhaus, über das man sich »hinaus entwickelt« hat, und wo doch die tiefsten Wärmequellen unseres Lebens waren, der einzige wirkliche, nachhaltige Schutz und die einzige echte Liebe, die man uns entgegenbrachte und die man erst erkennt, wenn man an Gräbern steht oder wenn diese Heimat verweht ist, / wenn die, die uns wahrhaft liebten und mit denen wir wegen der Gestaltung unseres Lebens stritten und kämpften, / nicht mehr mit uns streiten …

Dann kommt die Ehe, ein neues Heim wird aufgebaut, mit gutem Willen, anfangs doch wohl meistens. Zwei Menschen schließen sich zusammen und nehmen es auf sich, der fremden, kalten, gleichgültigen und feindlichen Welt alles das abzuringen, was sie zur Erhaltung ihres Lebens und ihrer Gemeinschaft brauchen. Es wird etwas aufgebaut, zusammen mit allen Kräften, was von größerem Gewicht ist und wertvoller, als erotische Sensationen, / eine Heimat, eine Existenz, eine Gefährtenschaft, ein Herd, eine soziale Gemeinschaft, ein festes Familienband, eine dauernde gesicherte Zugehörigkeit in der Welt, ein möglicher gemeinsamer Aufstieg, eine Zentralstelle, von wo aus man, beschützt und umfriedet, den Kampf um soziale Güter führen kann. Eine Stätte, die, wenn sie richtig verstanden und richtig in Ehren gehalten wird, eine uneinnehmbare Festung gegen den Neid und Haß zerstörender Mächte darstellt, die jede Ehe umlauern. Eine solche Gemeinschaft soll weder leichtsinnig gegründet, noch weniger aber leichtfertig zerstört werden, denn sie ist nicht so leicht wieder vollwertig zu ersetzen. Je schwerere Prüfungen sie überdauert, um so fester wird der Glaube an ihre Bestimmung … Und wenn sie auch Charakterkrisen, die in der Entwicklung eines Menschen oft nicht ausbleiben und deren Verlauf sehr schmerzliche Wunden schlagen kann, überwindet, so wird sie auf desto festerem Boden stehen.

Nur eine Beziehung, bei der man das sichere Gefühl und die klare Überzeugung hat, in eine Sackgasse oder in einen Abgrund hineinzurennen, soll so schnell wie möglich gelöst werden. Bei richtiger Zurückhaltung, die den erotischen Impulsen keine Übermacht gibt, würde eine solche Beziehung überhaupt erst gar nicht geschlossen werden. Und ist die Lösung einer solchen Beziehung erfolgt, so wird man sich, mit jedem Tag, klarer werden, über welchen Bodensee man da ritt, jede Versöhnung ist für alle Zeiten undenkbar, und es werden auch gar keine Gedanken hieran verschwendet. Die Beziehung ist äußerlich und innerlich zu Ende / mit der Trennung.

Darum kann die Probe auf das Gefühl durch nichts so treffsicher, als durch Trennung gemacht werden, / aber nur dann, wenn man genügend inneren Ernst hat, um sich in dieser Zeit vollständig allein zu halten, ja sich tunlichst auch von jedem gesellschaftlichen Verkehr zurückzuziehen, um, unbeeinflußt von jedem, / nur auf die innerste Stimme der eigenen Seele zu lauschen.

Aus dem Briefe einer Frau an / eine andere / entnehme ich die folgende Stelle. Sie schreibt über ihre schwebende Scheidung. »Wenn sie nicht, wie durch Geheiß höherer Mächte, immer wieder verzögert worden wäre, gegen unser beider Willen, so daß uns das Eheband zusammenhielt und hält, über eine Trennung von Jahren, in denen die schwersten Schicksale, die innerlichsten Erlebnisse und Offenbarungen liegen, / so wären wir beide füreinander verloren gewesen.«

Die »Umwertung«, die die sofortige Lösung auf den Willen eines Teiles verlangt, halte ich für unrichtig und bin der Meinung, daß diese »Umwertung« / selbst wieder der Umwertung bedarf. Zwei haben das Band geknüpft, / und nur zwei können es, im Sinne des Gewissens, lösen.

Eine Revision der Moral sowohl, wie auch ihrer Umwertung ist besonders auch dort nötig, / wo der Brennpunkt der sexuellen Moral ist. Dieser Brennpunkt ist / der weibliche Schoß, das Problem der Keuschheit und / der sexuellen Defensive des Weibes.

XI.
Die metaphysische Bedeutung des Hymen

Daß die Fixierung des Augenmerks der Gesellschaft auf den »Eingang zur Vagina« eine tiefe Bedeutung hat, habe ich schon dargelegt. Das Hymen hat aber auch von Natur aus einen gänzlich geheimnisvollen Zweck. Es gehört zu jenen Teilen der Körperlichkeit, für deren Funktionen man, wie z. B. für die des Blinddarms, keine Erklärung weiß. Während man aber im Blinddarm ein Rudiment sieht, das heißt den Überrest eines früher notwendig gewesenen Organs, hat man das beim Hymen nicht angenommen. Denn diese feine Membrane, die den Eingang der Vagina verschließt, ist lokal etwas so vollendet Passendes, ja Abgepaßtes, daß man hier doch nicht den Überrest eines früher stärker und zweckmäßiger entwickelten Körperteils sehen kann, wie es evtl. noch bei Betrachtung der Klitoris möglich ist, die auf die Doppelgeschlechtlichkeit hinweist. Da das Hymen da ist, so hat es die Natur zu irgend etwas gebraucht, und tief geheimnisvoll ist der Zweck dieses Tores und seiner Verschließung. Als Schutz gegen die Promiskuität käme es aber nur in Frage, wenn es sich immer wieder erneuern würde, und vielleicht auch dann nicht, weil das mechanische Hindernis eben gerade den großen Anreiz zu seiner Erstürmung bietet.

Eine viel einleuchtendere Bedeutung gewinnt aber das Hindernis, wenn es als ein Schutz gegen die Preisgabe dem schwachen Mann gegenüber erscheint, den die Natur, zum Schutz der Rasse, von der Befruchtung ausschließen will, falls seine Potenz zur Erstürmung des Tores nicht ausreicht. Darum muß ich, aus diesem Empfinden heraus, alle »Errungenschaften« der »künstlichen Befruchtung« als widernatürlich und der Degeneration Vorschub leistend / ablehnen. Der Mann, der den Geschlechtsakt nicht ausführen kann, soll seine Schwäche nicht mit Hilfe der künstlichen Befruchtung auch noch vererben dürfen.

Im Verfallstadium der Antike galt die Entjungferung als eine unerquickliche Sache, die man nicht selten kräftigen Sklaven überließ und für deren Bewerkstelligung es auch die mechanische Hilfe gewisser metallener Gottheiten bzw. ihrer Standbilder und ihrer Priester (!) gab. Der geschwächte Mann kann das Hymen nicht sprengen, er bleibt also, wenn die natürliche Hemmung nicht hinterlistig umgangen wird, ausgeschlossen.

Es ist aber noch eine andere, metaphysische Bedeutung des Zweckes des Hymens möglich. Nämlich: der Wille des Weibes gehört (von Gewaltüberfällen abgesehen) dazu, daß das Hymen gesprengt werden kann. Das heißt die Natur will / zwar die Werbung durch den Mann, / denn seine Begierde muß erregt sein, damit der Akt zustandekomme, er kann sich daher zur Liebe nicht ohne sie »wählen« lassen, aber / die Auslese durch das Weib. Sie macht sie zur verschlossenen Festung, die sich nur dem »tüchtigsten« Ansturm, der ihr eigenes Begehren weckt, ergibt. Sie belädt diesen Vorgang mit physischen Schmerzen, sie fordert ein Blutopfer, und sie erfüllt das jungfräuliche Weib diesem ganzen, fast unheimlichen und phantastischen Vorgang gegenüber mit Angst, Grauen, Abwehr / vor dem Eindringen dieses geheimnisvollen, andersartigen, grotesk geformten, sich verändernden, beweglichen, wachsenden / männlichen Zeugungsorgans.

Alle diese Hemmungserscheinungen, die durch die resolute Absperrung durch das Hymen ihre Besiegelung erhalten, müssen erst besiegt werden, durch den im Weibe erweckten Willen dazu, / durch die Wunschmomente der Liebe.

Jede »Ordnung«, die das Weib zur Preisgabe zwingt, ohne diesen mächtigsten Helfer gegen die natürliche Abwehr, die in ihrer Natur, ihrer Seele, in dem Bau ihres Geschlechtsorgans liegt, sündigt gegen die Natur. Die Jungfrau und Frau im Bett eines ihr widerwärtigen Gatten bedeutet ein Stigma auf unsere ganze hochgeschätzte »Ordnung«, auch wenn die Staatsmaschine noch so korrekt funktioniert, / einen Affront an der Natur. Und in welche Sackgasse wir in der kapitalistischen Ära geraten sind, zeigt sich am krassesten darin, daß die Weiber werben und die Männer auslesen. Der verkehrte Werbekampf ist das auffälligste und bedrohlichste Symptom der sexuellen Krise.

Aus dieser Erkenntnis heraus sind alle Bewegungen zu erklären und zu rechtfertigen, welche sich gegen eine Verfälschung der Selektion wenden und der wählenden Auslese mehr Rechte zusprechen als jeder noch so legitimen Geschlechtsverbindung, wenn sie nicht das Ergebnis beiderseitiger freier Wahl ist. Inwieweit hier die Forderungen überschraubt wurden, zeigt sich in mancher lebensfremden, überidealistischen »Forderung«, / wie man denn auch den Begriff der Liebe selbst nicht immer richtig abgrenzte und verstand.

Die Einsamkeit der Frau, die Schwierigkeit, eine passende Verbindung zu finden, die sexuelle Krise / darf sie dennoch nicht zur blinden Liebe zur Liebe verleiten, sondern muß auf Auslese beruhen, / trotz allem. Und bei dieser Auslese soll nicht der trügerische erotische Zauber, den am stärksten oft die Entarteten ausüben, sondern Charakter und Gesinnung des Mannes maßgebend sein.

Auslese üben heißt eben auch / Zurückweisung üben. Denn in dieser Zurückweisung bzw. Zurück haltung liegt / die Auslese. Das Hymen ist ein Ausdruck der Natur für das, was ich / das defensive Sexualgefühl des Weibes nenne, welches in dieser letzten Epoche, in der die Bereitwilligkeit, das Anbot zur Liebe, sich, von weiblicher Seite, in erschreckender Weise ausdrückte, fast verlorenging. Die Wiedergeburt dieses Gefühls, / trotz sexueller Not und Krise, / ist die Voraussetzung einer wirklichen »Kultur der Liebe«, einer wirklichen Reinigung des Sexuallebens und eines wirklichen Rassenaufstieges.

Darüber mehr im letzten Kapitel, in der Heranziehung und Analyse des Mythos von Brünhild und vom Dornröschen.

Wenn ich den verkehrten Werbekampf das auffälligste Symptom der sexuellen Krise nenne, so nannte ich früher, als ihre Hauptursache, die Paniximie (den wilden Geschlechtsverkehr), die wiederum mit der kapitalistischen Wirtschaftsform verknüpft ist und in ihr sich ins Ungeheuerliche auswuchs.

Den Mann der Kulturwelt, der als Freier der Frau gegenübertritt, umgibt eine Aura, die etwas Unzüchtig-Geheimnisvolles hat. Dieses Unzüchtige liegt in der Vorstellung der Geschlechtserlebnisse, die sein Körper schon gehabt hat. Es liegt dies wie ein Geheimnis, das sich hinter seiner bürgerlichen Person verbürgt, um ihn herum.

Und die junge Braut wird in der Ehe nicht nur über den seltsamsten und geheimnisvollsten Mechanismus der Natur, der ihr im Grunde ein Grauen einflößt, das nur durch sehr starke Gefühle überwunden und umgewandelt wird in die höchste Wonne, / nicht nur über die Mysterien der Fortpflanzung wird sie sich in der Praxis zu unterrichten haben, sondern die Mirakel werden erst dort beginnen, wo sie den Wirkungen einer ihr vollständig fremden Geschlechtsmoral und eines ihr unbegreiflichen geschlechtlichen Willenstriebes im Manne, der sich, zu ihrem Erstaunen und Entsetzen, von den Gefühlen, die sie damit unlöslich verbunden glaubte, vollständig abgelöst ausdrückt, begegnen wird. Hier öffnen sich erst für sie die Abgründe. Eines Tages wird sie auf seinem Schreibtisch eine herausgeschnittene Annonce finden: Männer! Ich habe eine wichtige Nachricht für euch! … Die von mir befolgte Methode ist tadellos. Ich bin dauernd kräftig geblieben …

Es werden sich Konflikte ergeben zwischen einer ungebrochenen, natürlichen, vom Manne erweckten Begierde und verbrauchten Kräften, die diese Begierden nicht mehr erfüllen können, wodurch das Problem, das Eheleben monogam zu erhalten, auch für die Frau ein recht schwieriges wird.

Es ist möglich, daß eine Zeit kommt, in der die Gesellschaft von jedem vollreifen Weibe eine gewisse Anzahl gesunder Geburten verlangt, einerlei, ob sie verheiratet oder ledig ist, in der die uneheliche Mutterschaft im Interesse der Bevölkerungsvermehrung begünstigt und staatlich geschützt wird. Bei gewissen Naturvölkern gilt es als eine Ehre für ein Mädchen, wenn sie von einem Weißen ein Kind hat, also ein etwas »helleres« Kind. So kann man sich auch eine Kulturwelt vorstellen, wo es eine besondere Ehre für ein Mädchen sein wird, ein Kind von einem bedeutenden Manne zu haben, das ganz gewiß auch »heller« sein dürfte, als andere Kinder, die sie vielleicht in legitimer Ehe mit irgendeinem braven Manne zeugt.

Friedrich der Große schrieb an Voltaire, daß die meisten Delinquenten in seinem Staate Kindesmörderinnen seien. Er errichtete zuerst Entbindungshäuser und sorgte für die Erziehung der Kinder. »Allein ungeachtet aller dieser Erleichterungsmittel habe ich doch noch nicht dahin kommen können, ihnen das unnatürliche Vorurteil, dessentwegen sie ihre Kinder töten, aus dem Kopfe zu bringen. Ehemals sah man es für eine Schande an, Mädchen zu heiraten, die Mütter waren, ohne einen Mann gehabt zu haben: ich beschäftige mich jetzt mit der Idee, wie ich diese Ansicht ausrotten will. Vielleicht gelingt es mir.« Friedrich der Große an Voltaire II, S. 268.

In vielen Gegenden hat sich die Sitte der vorherigen Erprobung der beiderseitigen sexuellen Tauglichkeit, besonders der des Mannes, erhalten. Diese Sitte beruht auf einem durchaus gesunden Instinkt und läßt sich allerdings mit einer übermäßigen Schätzung der Jungfräulichkeit nicht vereinigen, die auch dort, wo man darauf Wert legt, sich vor der Ehe geschlechtlich zu kennen, nicht besteht. In einer übertriebenen Beachtung der Jungfräulichkeit muß man, nach Ellis, sogar »eine männliche Perversität sehen, ähnlich der Paidophilie, die der Neigung zum Geschlechtsverkehr mit Kindern verwandt ist«.

Ganz unverkennbar bahnt sich zwischen den Moralwelten von Mann und Weib ein Ausgleich an. Während die Forderung der Jungfräulichkeit von ihrer drakonischen Wucht mehr und mehr verliert, »ist es wahrscheinlich, daß die Frauen allmählich Wert darauf legen werden, die Vergangenheit der Männer mit einiger Kritik zu betrachten«.

Die Grundlage jeder Selbständigkeit und auch jeder Möglichkeit, Bedingungen an den Partner zu stellen, ist die wirtschaftliche Selbständigkeit. Die Sage berichtet von einer Amazonenkönigin, die zu Alexander dem Großen kam, um von ihm zu empfangen und dann wieder abzog. Diese Sage zeugt von der Vorstellung einer wirklich freien Frau. Denn die Frau, die sich den Vater ihres Kindes wählen kann und von ihm nichts anderes zu verlangen braucht, als die Befruchtung, ist frei. Unbedingt muß danach gestrebt werden, daß die Existenzverhältnisse eines jeden Menschen möglichst unabhängig werden von seinen erotischen Beziehungen. Aus der Erkenntnis dieser Notwendigkeit ist die Frauenbewegung entstanden. In der Unabhängigkeit liegt der Schwerpunkt jeder Reformbestrebung auf sexuellem Gebiet.

Und weil es für das Weib, besonders sobald es geschlechtlich zu leben beginnt, eine absolute Unabhängigkeit meistens nicht gibt, am allerwenigsten eine, die verläßlich wäre, gegenüber den Katastrophen der Mutterschaft, und weil man sich auf das »Verantwortlichkeitsgefühl« nicht verlassen und die Frau diesem Gefühl auch gar nicht ausliefern soll, weil sie dadurch von vornherein jeden Boden verliert /: darum legte die Gesellschaft im allgemeinen und die Familie im besonderen um ihre Töchter und Frauen den Schutzwall von Sitten, welche das Liebesleben der Frau zwar bedeutend einschränken und erschweren, dafür aber ihr Leben selbst, die Intaktheit ihrer Person und Existenz zu sichern berufen sind.

Ein paar Verse seien hier wiedergegeben, welche dieses Valentingefühl, / die Verteidigung der Schwester gegen das eigene Geschlecht, / in feinster Erfassung des stärksten und richtigsten Instinktes der bürgerlichen Moral, / des Schutzinstinktes für das Weib, / zum Ausdruck bringen:

DIE SCHWESTER.

(Von Leo Heller.)

Meine Schwester hat mir heut' verraten,
Daß die Männer alle nach ihr sehn,
Daß sie einen Kuß von ihr erbaten
Und des Nachts vor ihrem Fenster stehn.

Daß sie ihr geheime Zeichen machen
Und ihr Rosen senden Tag für Tag,
Daß sie jeden Morgen beim Erwachen
Vor der Türe Blumen finden mag.

In die Schläfen ist mein Blut geschossen,
Und vor meinen Augen war es rot,
Und zu jedem Werk war ich verdrossen,
Und ich dachte immer an den Tod.


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