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V. Kapitel.
Das Moralproblem

(Sonate Pathétique)

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1. Die Umwertung und ihre Wirkung. / 2. Kritik der alten und der »neuen« Ethik. / 3. Soll und Haben oder Ehe und freie Liebe. / 4. Praktische und theoretische Sexualethik. / 5. Ausgleichstendenzen in der doppelten Moral. / 6. Bürgerlich und Romantisch. / 7. Das Böse. / 8. Die Moral der Überwindung. / 9. »Geschlecht und Charakter«. / 10. Das Gattenband. / 11. Die metaphysische Bedeutung des Hymen.

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I.
Die »Umwertung« und ihre Wirkung

Wundert man sich manchmal darüber, warum die Menschen mit solcher Scheu und Angst davor zurückweichen, wenn es gilt, den Dingen auf den Grund zu sehen, (besonders die »saturierten Existenzen«), so muß man, je mehr man selbst immer wieder in diese letzten Gründe der Dinge hineinblickt, erkennen, daß dieser Grund der Dinge zumeist ein Abgrund ist. Vor diesem Abgrund aber schließen die Menschen angstvoll die Augen, als Sträuße stecken sie ihren Kopf in die eigenen Federn. Vielleicht ist es ein berechtigter Selbstschutzinstinkt, der sie so tun heißt; denn wahrlich, wer dort hinabblickt, wo die Mütter wohnen, wird nicht so leicht wieder zur naiven Daseinsfreude zurückkehren können.

Ein Gelehrter hat, sehr richtig, die Tatsache, daß wir z. B. die Ungeheuerlichkeiten des Krieges überhaupt überleben, daß wir nicht allesamt zugrunde gehen, an dem Bewußtsein dessen, was sich da abspielt, mit einem seelischen Vorgang erklärt, den er »psychische Sicherungen« nennt. Gewisse Eindrücke, von furchtbarer Gewalt, lassen wir eben, mit Absicht und Willen, nur bis zu einem gewissen Grade in uns deutlich werden und »sichern« uns gegen ihr weiteres Vordringen, verkapseln uns gegen sie, von einem bestimmten Punkte an. »Wir«, das will sagen die große Menge.

Einzelne aber hat es immer gegeben, die, die Dinge zu schauen, wie sie sind, den Mut hatten. So ist Faust zu den Müttern hinabgestiegen und Orpheus in den Hades; so hat der Jüngling zu Sais das Bild entschleiert, dessen Anblick er nicht ertrug. So hat es unter Menschen immer Forscher gegeben und Propheten.

Vor dem Moralproblem die Augen zu schließen und in seine letzten Gründe und Abgründe nicht blicken zu wollen, hat wahrlich für die, die nicht ganz nervenfest sind, einige Berechtigung. Und besonders auf den Grund des Geschlechtsproblems wollen nur die Wenigsten hinsehen, / weil sie es nicht mit gutem Gewissen, mit klaren, unerschrockenen Augen und mit einem unbeirrbar starken Herzen tun können; darum drücken sie die Augen zu. Und doch reichen die Wurzeln einer jeden Existenz tief hinunter in jenen Grund, wo die Erkenntnis nicht hinblicken will; und doch kommen von da alle heilsamen oder alle verderblichen Säfte in den Organismus jedes Lebens, jedes Schicksals. Wer da hinunter leuchtet, gilt ihnen als »Ruhestörer«, ja die Tatsachen hier zu untersuchen, galt bis vor einem Jahrzehnt überhaupt als unanständig. Und die »Anständigkeit« bestand in einer stillschweigenden Übereinkunft, dort nicht hinzublicken, wo es nicht »schön« ist. Dieser Brauch ist Jahrtausende alt, und so konnte es geschehen, daß es eines Herkules bedurfte, um den Stall des Augias zu säubern. Er mußte sich entschließen, doch hinzusehen und sogar fest hineinzufassen, hinein zu stechen, / als er säubern sollte.

Als die Bewegung zur Reform der sexuellen Ethik vor nun etwa 10-15 Jahren einsetzte, da hatte sie wahrlich genug Untersuchungsstätten, die der Säuberung, der Belichtung und der fruchtbaren Bearbeitung harrten. Es gab so viel des verhüllten Schmutzes, so viel gedankenlose, grausame und ungerechte Tradition, unter deren Deckmantel sich viel sinnlose Opferung wertvoller Lebenskraft verbarg, während andrerseits fressende Krebsschäden sich ungehemmt immer weiter entwickeln konnten, / so daß es natürlich war, daß diese Bewegung ihr Werk zuerst mit einer radikalen Umwertung beginnen zu müssen glaubte.

Diese Umwertungsperiode setzte übrigens schon vorher ein, mit Nietzsche. Und während der Umackerungsprozeß an sich zu begrüßen ist, weil ein solcher Prozeß von Zeit zu Zeit überhaupt notwendig ist, wenn neuer Same fruchtbar keimen soll, so muß man sich doch sehr davor hüten, zu glauben, daß das, was bei solchen stürmischen Umwertungen in Bausch und Bogen, die von dem Furor einer schönen Leidenschaft, einer offenen, edlen Empörung und, wie bei Nietzsche, einer dichterischen Phantasie, einer blendenden und verführerischen, suggestiven formalen Sprachkunst getragen werden, / daß alles das, was dabei positiv herauskommt, wirklich wertvolle Funde seien. In Wahrheit ist es wie beim Acker. Was bei der Umschaufelung durch die Pflugschar aus der umgewühlten Erde »herauskommt«, ist meist nichts, was von besonderem Wert wäre; hingegen ist der Prozeß als solcher sehr notwendig, damit die Saat lebendiger Entwicklung, die in der toten, starren und unberührten Erde nicht hätte Wurzel schlagen können, hier, im umgeackerten Boden, keimen kann.

Ein chaotisches Gären hatte diese Bewegung geschaffen. Kürzlich, als wir das zehnjährige Jubiläum des Bundes für Mutterschutz begingen, wies Dr. Helene Stöcker in ihrem Überblick »Zehn Jahre Mutterschutz«, eine Publikation von bleibendem, weil kulturhistorischem Wert in den Kriegsschriften von Oesterheld & Co., Berlin W 15. über das Werden und den Entwicklungsgang des Bundes darauf hin, daß diese Bewegung, wie alle reformatorischen Bewegungen, in ein heroisches Stadium und in ein bürgerliches sich gliedert. Vielleicht kann man es noch anders ausdrücken: in ein chaotisch elementarisches Stadium und in eines der Bewußtheit. In diesem letzteren wird man natürlich viele von den Siegestrophäen, die in dem heroisch chaotischen Stadium angestrebt oder errungen worden waren, / mit Maß und Bedacht, / auf ihren richtigen Wert prüfen und vieles auf den früheren Platz zurückstellen, aber freilich mit einem neueren und stärkeren Unterbau, der nicht der blinden Tradition, sondern der Überzeugung und Untersuchung sein Dasein verdankt. Und viel positiv neu Errungenes wird in diesem Stadium auch aus der gefährlichen Perspektive einer jugendlich chaotischen und unkritischen Glorifizierung fein sacht herausgeholt und auf das ihm zukommende Maß, auf Dimensionen, in denen es keinen Schaden anrichten kann, reduziert werden müssen.

Heute, im gereiften und bewußten Stadium der Bewegung, erkennen wir, daß die höchsten Errungenschaften der Kultur nicht nur in Freiheiten, sondern vor allem auch in Bindungen bestehen. Bindungen, die sich der hoch und immer höher strebende menschliche Geist, der die feinsten und tiefsten Erkenntnisse jener Zusammenhänge gewann, die zwischen den elementarischen Trieben der menschlichen Natur einerseits und zwischen den höchsten Absichten der Vervollkommnung des menschlichen Lebens anderseits bestehen bzw. zwischen dem Widerspiel dieser beiden Strebungen, selbst auferlegte, als er erkannte, daß in einer planmäßigen Hemmung und Überwindung gewisser, auf naive Art der Augenblicksbefriedigung zustrebenden Instinkte / die Voraussetzung für den Aufbau aller höheren Lebens werte hegt.

Als diese Bewegung einsetzte, war die Krise in den Fragen des Geschlechtslebens eine brennende geworden. Man fühlte, daß da etwas schmerzte und brannte, man empfand die Zuckungen und das Stöhnen eines lebenbegehrenden, aber geknebelten Organismus, und man wollte Freiheit schaffen, um jeden Preis. Man dachte eine Zeitlang, dieser krankhaft krisenhafte Zustand unseres Geschlechtslebens hätte seine Wurzel in der durch die Kultur geschaffenen Bevorzugung des Instituts der Ehe: in Wahrheit aber hegt die Krise in den Zuständen, die die trotz und neben und in der Ehe noch immer herrschende Paniximie schafft, / in der Tatsache, daß die tiefste Idee der Ehe in der Praxis noch zu selten ihre Realisierung findet.

Sah man all das Elend, welches z. B. die uneheliche Mutterschaft belastet, das Elend des unehelichen Kindes, die krassen Gegensätze zwischen der vollständigen und unnatürlichen Entbehrung der in unsrer Kulturwelt zum Zölibat Verurteilten einerseits und die Überbürdung mit geschlechtlichen Funktionen niedrigster Art in der Prostitution anderseits; sah man auf der einen Seite Frauen, die der höchsten Funktion der geschlechtlichen Liebe niemals teilhaftig werden durften und konnten, durch die Absperrungen, die in der Kulturwelt für sie gegeben waren, auf der andern Seite die Moralwelt des Mannes, der die Liebeskraft, nach der unzählige Frauen sehnend verlangten, zu der Prostituierten trug; wieder anderseits das Entbehren der Muttertums bei den davon ausgeschlossenen Frauen, während die Häufung von Mutterpflichten, in der Ehe, als nationale Pflicht gefordert wurde: / so empfand man, da hier unmöglich die richtige Ordnung walten konnte, daß irgend etwas faul war im Staate, daß diese Ordnungen und Sanktionen, die offiziell für die verschiedenen Funktionen des Geschlechtslebens bestanden, nicht die richtigen sein konnten.

»Hier ist Krankheit, Schmutz und Niedrigkeit, tiefste Entwürdigung der Menschheit in der Prostituierten … Gram, Lächerlichkeit und Kinderlosigkeit bei der einsamen »reinen« Frau, der »alten Jungfer«. Von der unwürdigen Situation des Mannes bei der Benützung der Prostitution gar nicht zu reden.« »Krieg und doppelte Moral« / in der Zeitschrift »Die neue Generation«, August 1915, von Dr. Helene Stöcker. Und man begann den Kampf um eine andere Moral, die die krassen Gegensätze, »wie sie durch die laxe Prostitutionsmoral und die strenge Ehemoral zugleich entstanden sind« Ebenda., überbrücken sollten.

Dieser Instinkt der Auflehnung, der zur Umwertung, zu Reformströmungen, von oft revolutionärer Gewalt, führte, war wertvoll und berechtigt. Daß er sich, auf der Suche nach der Wahrheit, nur langsam dem wahren Brennpunkt der Krise, des Übels, an dem der Organismus der Gesellschaft krankt, näherte, lag in der komplizierten Natur dieser Sache. Es war so, wie beim Versteckspiel der Kinder. Einer geht mit verbundenen Augen und sucht etwas, was man gut versteckt hält. Die andern Kinder stehen um ihn herum und deuten die Entfernung oder die Nähe, die er zu dem versteckten Gegenstand gewinnt, dadurch an, daß sie, wenn er weit davon ist, sagen: kalt, kalt, kalt; kommt er aber näher, dann ermuntern sie ihn in der richtigen Direktive, indem sie sagen: warm, sehr warm; und trennt ihn nur noch ein Griff von dem Gesuchten, / so schreien sie endlich, ganz erlöst: heiß!

Eine große Gefahr aber kam aus der ideologischen Überschätzung der menschlichen Natur, aus einer fast kindhaften (im Grunde rührend weiblichen) Verblendung, gegenüber der dunkelsten und rasendsten Elementarmacht, der Geschlechtlichkeit, die, mehr noch wie jedes andere Urelement, der bewußten Fesselung bedarf. »Wehe, wenn sie losgelassen, wachsend ohne Widerstand …« kann man von dieser Urmacht wahrlich sagen. Statt dessen hieß es: »Wir aber wollen die Schönheit, die Gesundheit, die Natürlichkeit, die Freude, an Stelle dieser grausigen Verzerrungen der Liebe stellen, indem wir die Möglichkeiten der Liebesbeziehungen erleichtern.« »Krieg und doppelte Moral« von Dr. Helene Stöcker in der Zeitschrift »Die neue Generation«, August 1915. Jawohl, wir wollen. Aber die große, dunkle, elementarische Naturmacht / will anders / und braucht daher nicht Erleichterungen, / sondern Dämme.

Ich glaube, daß wir der verborgenen Ursache unserer schmerzhaften Sexualkrise sehr nahe gekommen sind, wenn wir sie vor allem in der Paniximie und Anarchie der sexuellen Zustände erkennen, in jener Erkrankung, Verbildung und Überreizung des Geschlechtsgefühls, das durch die Fäulniserreger der Zivilisation entstanden ist, und wenn wir, als Kriterium für ein reines, moralisch und sozial fruchtbares Geschlechtsleben, welches auch einzig und allein den Zustand des Glücks und der Befriedigung mit sich bringt, die Monogamie erkennen; wenn wir einsehen, daß jeder Geschlechtsverkehr, an dem mehr als zwei Personen beteiligt sind, daß jede Vermischung und Versudelung, jede Zersplitterung nach mehreren Seiten, in diesem Punkt, immer und ausschließlich nur Unheil schafft und daß die Befriedigung, die sich daraus rauschähnlich für den Moment ergeben mag, durch unüberbrückbare Gewissens- und Situationskonflikte viel zu teuer bezahlt wird. Gewiß, wer in einer freudlosen Ehe oder in einer entsprechenden eheähnlichen Gemeinschaft lebt, für den wird kein Grund bestehen, sich ausschließlich an dieses Bündnis gebunden zu halten. Und es ist ihm auch nicht zuzumuten. Aber dann soll er reinlich dieses Bündnis lösen, wenn er anderwärts sein Glück suchen und versuchen will, oder zumindest auch dem andern ehrlich seine Freiheit wiedergeben, / worauf dann das Bündnis gelöst oder (äußerlich) erhalten werden kann, wenn beide damit einverstanden sind. Die Mischung von Paniximie einerseits mit Monogamie anderseits, die allein ist ein Unding und eine Ruchlosigkeit und schafft namenloses Unheil.

Gewiß, man kann sich Kraftnaturen denken, Persönlichkeiten von einem solchen Lebensüberschwang, unter den Männern sowohl als unter den Frauen, daß ihnen eine Mehrseitigkeit der erotischen Beziehungen, als Lebensbedürfnis, vielleicht zugebilligt werden muß; Persönlichkeiten, die einen so kostbaren Wert für die Menschheit und besonders für die ihnen zunächst stehenden Menschen darstellen, daß man das Glück, in ihrer Nähe zu leben, eben auch durch Resignation in einem gewissen andern Punkt nicht für zu teuer erkauft hält. Aber sehen wir uns die Praxis an, so finden wir, daß gerade, ganz im Gegenteil, die höchsten Inkarnationen der Männlichkeit, die die Rassen und Völker hervorgebracht haben, in ihrem Liebesleben von einer blendenden Reinheit sind; während, umgekehrt, der Lebebengel, der Durchschnittsspießer, der Schwächling, der nicht nimmt, sondern sich nehmen läßt und der in seiner sozialen Bedeutung fast auf eine Null reduzierte und sehr oft verkommene und entgleiste »Mann« gerade den Hauptschwerpunkt seiner Existenz in der eruptiven Befriedigung der libido mit ungezählten Objekten findet. Man denke an das Liebesleben Bismarcks, Björnsons, Ibsens Das Liebesleben Goethes habe ich schon in der »Sexuellen Krise« in die Untersuchung einbezogen, weiteres darüber im Supplement., man halte sich sonst irgendeine heroische Erscheinung vor Augen, wie etwa Hindenburg, und man wird sich überhaupt gar nichts anderes in Verbindung mit solchen Persönlichkeiten denken können, als daß sie aus ihrem Zusammenleben mit dem Weibe eine Gemeinschaft gemacht haben, die von unverbrüchlicher Treue geweiht ist.

Man halte sich dagegen einen Bummler vor Augen, einen pretiösen Überjüngling, der sich als Umwerter und Ritter von der neuen Moral in die Brust wirft und beständig auf der Suche nach neuen libidinösen Reizungen alles Weibliche beschnüffelt, weil er weder die Kraft noch die Fähigkeit hat, irgendein starkes Gefühl in sich erwachsen zu lassen, / weil sein »Seelenleben« durchaus nur von dem automatischen Vorgang abhängig ist, der die Geschlechtsbereitschaft des Mannes bedeutet. Hier liegen krankhafte Degenerationserscheinungen vor, aber diese Krankheit, die ich im vorigen Kapitel die »geile Sucht« genannt habe, ist eben die verbreitetste unserer Zeit, hoffentlich »gewesen«. Ich sage gewesen, weil ich von der Katastrophe des Weltkrieges eine Reorganisation des Moralgefühls erwarte.

Es war nun eine fürchterliche Entwertung der an sich so ehrlichen und so notwendigen Umwertungs- und Reformbewegung auf dem Gebiete der sexuellen Ethik, daß ihre Rehabilitierung der natürlichen Rechte und Ansprüche jedes Menschen auf ein vollerfülltes, normales Liebesleben, Scharen von Mitläufern und von Troßgesindel an sich lockte, welches die Tatsache, daß es für alle Phänomene des Geschlechtslebens jetzt wissenschaftliche und philosophische Definitionen gab, dahin ausnützte, die letzten Grenzen und Unterscheidungen des Moralempfindens und Moralbewußtseins einzureißen. So geschah es, daß sich der ehrliche Reformator, das ist der, der von den reinsten Instinkten und von dem schärfsten und nüchternsten Beurteilungsvermögen erfüllt ist, der durch Phrasenzauber keiner Art zu suggerieren ist, weil er sofort, wenn auch die ideal sein sollenden Definitionen noch so verlockend klingen, die Dinge und ihre Wirkung in der Realität vor sich sieht / so geschah es, daß dieser Reformator, (der selbst eine erotisch sehr stark empfindende und nicht eine asexuelle Persönlichkeit sein muß), sich manchmal sagen mußte, daß die vollständig unkritische Moral des Bürgertums, welche auf Überlieferung und auf Respekt vor der Tradition beruht, die ja der Erfahrung der Jahrhunderte ihr Dasein verdankt und der Niederschlag jener Instinkte ist, durch die das Leben sich beschützen will, trotzdem aber erstarrt und natürlich oftmals nicht mehr zureichend war, / daß diese vielgeschmähte, alte, bürgerliche Moral ein wahres Heil sei, gegenüber der Umreformierung in Bausch und Bogen, von Nietzsche angefangen, welche die haarsträubendste Demoralisation als solche gar nicht mehr erkennen ließ, so daß ein moralischer Dämmerzustand, ein Zwielicht aller moralischen Instinkte und Handlungen geschaffen wurde, welches innerhalb der alten, bürgerlichen Moral ganz und gar unmöglich ist.

Man muß das durch Beispiele erläutern, um es verständlich zu machen. Wo der »Idealismus« aufhörte und der Schmutz anfing, / das wußte und weiß die große Masse jener Menschen, die sehr schwächliche und krankhaft verbildete Instinkte haben, deren Urteilsvermögen nicht auf der Höhe steht, die aber dennoch sich anmaßen, sich jenseits der »verbindenden Gewalt der Norm« zu stellen, (wie es Rosa Mayreder nennt und wie sie es mit Recht bedenklich findet), / eben durchaus nicht mehr zu unterscheiden. Und hatte früher die gesunde und bürgerliche Verachtung hier ihre Direktiven gegeben, so /und das war das Beklemmende / fehlten jetzt diese Direktiven, zum mindesten in jenen sehr weitreichenden Kreisen, in denen man so ziemlich Tag für Tag »neu wertete«. Für die Beurteilung nach der noch nicht »umgewerteten« Moral gab es klare, verläßliche und jedermann verständliche Richtlinien der moralischen Bewertung. Diese Klarheit und Verläßlichkeit der Beurteilung, nach bestimmt gewerteten Symptomen, stürzte ein, ohne daß irgendwelche allgemein gültigen und allgemein verbindlichen und allgemein erkennbaren Symptome der Beurteilung, als Ersatz, vorhanden gewesen wären. Nur die krassesten Entgleisungen warfen, ab und zu, in dieses moralische Zwielicht wieder einige Blitzlichter der Bewußtheit.

In der Moral hat es, im Laufe der Jahrtausende, einige, ganz wenige Genies gegeben. Kaum zehn Namen wird man, in der Universalgeschichte der Menschheit, aufzählen können, die wirklich für die Gestaltung ihres kostbarsten Gutes, ihrer Ethik, in Betracht kommen. Diese wenigen großen Namen der Moral / aller Zeiten, aller Völker / sind etwa diese: Moses, Salomo, Konfutsius, Buddha, Sokrates, Christus, Spinoza, Kant, Schopenhauer.

An sie soll man sich halten. Sie alle sind einig / in der Erkenntnis, daß die Überwindung des Trieblebens die Vorbedingung aller menschlichen Gemeinschaft und Umfriedung ist.

Der Wahn, daß das, was diese Genies der Ethik fanden, durch jedermann, auf eigene Faust, zu »ersetzen« sei, daß man sich, so ohne weiteres, nach Bedarf, eine »neue« Ethik machen könne, konnte nur in einer Epoche entstehen, die, auf jedem Gebiet, im Zeichen des Surrogates stand.

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Die Umwertung bewegte sich, in der Praxis, sehr oft in den Bahnen, daß man z. B. der Ehe das, was ihr Wesentlichstes ist, nehmen wollte, indem man sie freier und immer freier zu machen versuchte, / hingegen andererseits jedes noch so wilde und innerlich, menschlich und sozial ziel- und zwecklose, illegitime Sexualverhältnis mit dem Ausdruck »Ehe« zu belegen wagte und dadurch den Begriff der Ehe auf zynische Weise schändete, / zynisch hier im wörtlichsten Sinn übersetzt: hündisch. Wenn irgendein Bursche aus der Schar der »Umwerter« ein Verhältnis unterhielt, durch das er mit irgendeiner vielleicht um 20 Jahre älteren Frau, ab und zu, ganz ungeregelt, geschlechtlich auf die wildeste und persönlich auf die roheste Art verkehrte, / so bekannte er das ihrer jungen 16jährigen Tochter, mit der er später auch Beziehungen anzuknüpfen suchte, mit dem Ausdruck: er hätte mit ihrer Mutter in Ehe gelebt! …

Und wenn irgendein junger Mann, vielleicht sonst von besserem Streben, aber ein Schwächling, dem Bösen gegenüber, / dem Bösen wie es insbesondere in der geilen Geschlechtsgier in Erscheinung tritt, / wenn der sich von irgendeiner Zimmervermieterin, dem Prototyp einer alten, geilen Vettel zu sexuellen Diensten jahrelang einspannen ließ, / so nannte man das eine »freie Ehe« oder etwas Derartiges. Und wenn dann ein solcher junger Mann, dessen Geschlechtsgefühl schon durch sein Vorleben durch und durch verdorben und krankhaft irritierbar sein mußte, ein junger Ehemann wurde, der Ehemann der Frau, die er über alles liebte und verehrte, und wenn er doch an ihrer Seite / in den Pfuhl der tiefsten Tiefe hinuntersank, / was war das?

Ob das alte oder neue »Ethik« (!) war, läßt sich nicht feststellen. Sowohl die alte, als die neue Ethik werden sich dagegen verwahren, mit derartigen krassen Fällen geschlechtlicher und sittlicher Verkommenheit etwas zu schaffen zu haben. Feststellen läßt sich nur, daß sich all dieses Treiben in dieser letzten Epoche, leichter und skrupelloser austoben konnte, als in den Epochen vorher, in gesünderen Zeiten, / weil eben so viele und vielerlei Theorien die »zwingenden Bedürfnisse« der Sexualität, in ihren verschiedensten, anmutigsten Wesenserscheinungen »bewiesen«, / so daß irgendeine. wohlklingende Formel auf jeden paßte, mochte er auch als Cynos mit seinem Geschlechte umgehen. Alles war zu »erklären«, alles war zu »rechtfertigen«. Aber die Ehen / gingen in die Brüche, und ebensowenig wie von der wahren Ehe sah man weit und breit etwas von der wahren Liebe, / von wirklichem, geschlechtlichem Glück.

Wären meine Beispiele nicht alle dem Leben entnommen, aus dieser Epoche der letzten 15-20 Jahre, wären sie nicht typisch für das, was da vorging, / so wären sie wertlos, so wären sie Papier.

Als die furchtbare Katharsis dieser Zeit kam / der Krieg. Dieser Krieg mußte schon deshalb kommen, weil die Mehrheit der Männer überhaupt nicht mehr wußte, wo und wie sie ihre Geschlechtlichkeit vergiften, in welch schmutzige Tümpel sie hinein steigen sollten, um sich, die Ihren und ihr ganzes Leben / zu verderben. Die Zunahme der Geschlechtskrankheiten / und der Scheidungen / beweist es. Und der Krieg hat die Geschlechtskrankheiten / vermehrt.

»Das Allerschlimmste aber bei den Geschlechtskrankheiten sind nicht die der Ansteckung unmittelbar folgenden Krankheitserscheinungen, sondern die so häufigen Nachwehen in den späteren Jahren, also nachdem der Krieg schon längst vorbei und die alte Ansteckung schon längst vergessen ist, und die Verschleppung der Erkrankung in die Familien nach der Heimkehr der Heere in die Heimat …

… Um so dringender muß die Warnung an die Gesunden ergehen: Redet euch nicht ein, daß ihr, wenn ihr euch vom Verkehr mit Frauen zurückhaltet, eurer Gesundheit schadet! Das Gegenteil ist richtig! Seid stets der Gefahr, der fast unausbleiblichen Gefahr der Ansteckung eingedenk!« »Krieg und Geschlechtskrankheiten«. Ein Mahnwort von Professor Dr. Albert Neisser, Breslau, Sonderdruck.

Aber nicht nur eine Gefahr der physischen, sondern auch eine Gefahr der psychischen Ansteckung besteht bei jedem Geschlechtsverkehr, und ihre Folgen sind, / wenn es sich eben um schlechten Verkehr handelt, / fast noch verwüstender, oder doch ebenso furchtbar, wie die der physischen Ansteckung. Über diese Zusammenhänge habe ich in meiner Flugschrift »Krieg und Ehe« Näheres gesagt und werde besonders im Zusammenhang mit der Bedeutung der Monogamie noch mehr darüber bringen.

In der Etappe hat sich vermutlich die Apokalypse noch einmal ausgerast. Aber dem Mann, / der als Wachtposten vor Leichenkammern und Cholerabaracken stand, zerfressen von der Läusepest, der als Totengräber das Massengrab ausschaufeln und die gefallenen Kameraden hineinlegen mußte, gewärtig morgen selbst hineingelegt zu werden, der als Sträfling in den Kasematten Sibiriens oder unter der Peitsche der Neger an seine ferne Heimat, wie an eine für ewig untergegangene Welt denken mußte, der als Schwerverwundeter auf »Matratzen«, die aus Leichenhaufen bestanden, liegen blieb, / dem wird die geile Sucht vermutlich für eine Weile vergangen sein.

Die heroische Stimmung des Krieges kann uns nicht dafür blind machen, wohin wir mit unserer im Kriege explodierten Zivilisation geraten sind. Die Uniform / es liegt schon im Wort / gleicht aus. Sie stellt den Mann unter einer besonderen Marke heraus, unter der er seine Schuldigkeit tut und tun muß. Ohne die Uniform bleibt / Adam. Im übrigen sind gerade die defekten Männertypen meist auch die, die vom Kriegsdienst loskommen. Über ihnen ist der besondere Stern / der Minderwertigen. Gerade die Besten und auch die, die da »durchgeknetet« werden müssen, / bei denen es noch lohnt /, geraten in die größten Gefahren; und die Allerbesten / fallen. Wen die Götter lieben, / den nehmen sie jung. Dieser defekte Männertyp wird, hundert zu eins zu wetten, wenn er dennoch anfangs mitmuß, mit einem kleinen Streifschuß, der ihn gleich zu Anfang untauglich macht, davonkommen. Unter diesen gibt es Erzheuchler, oder milde gesprochen, Phantasten, die in einer sich selbst illusionierenden Selbstbelügung die Emotionen erleben, die andere nur durch die erbarmungsloseste Selbsterkenntnis finden, / welche öffentlich wehklagen, dem Vaterland nicht mehr dienen zu können, während sie, in Wahrheit, alle Hebel in Bewegung setzten, um vom Kriegsdienst loszukommen, ja schon lange vorher erwogen, wohin sie bei Kriegsausbruch sich drücken würden und nur deshalb sich nicht drücken konnten, weil ringsherum überall Feinde waren und der Organismus der Mobilmachung sie sofort erfaßte. Es sind dies die von Dr. Oskar Jászi in einer trefflichen Studie so zubenannten »sichergestellten Helden«. Mit ihrem Streifschuß zurückgekehrt, pressen sie alle nur erdenklichen Renten heraus, setzen sich als »Schwerverwundete« in Szene und sind dabei »mobil« genug, sich vor allem auf das in Massen vorrätige, männerlose, zum Teil sich anbietende Frauenmaterial zu stürzen.

Und während die Edelhirsche, da draußen, sich mit ihren Geweihen zerstoßen, / bespringen die Kränklichen und Schwachen die Weibchen, und die Rasse wird so /immer »besser« … Es gibt keinen Faktor der Kontraselektion, der es in dem Grade ist, / wie der Krieg. Die Griechen z. B. sind nur dadurch zugrunde gegangen, daß sich die Elite der Mannheit und Rasse in den beständigen Kleinkriegen Griechenlands hinmordete, / während zu Hause das afrikanische schwarze Sklavenmaterial, welches nicht in den Krieg ziehen durfte, Berber, Skythen, Phönikier u. a. / in die Fortpflanzung eingriff.

In einem geistvollen Artikel »Wer freut sich des Krieges?« Blätter für zwischenstaatliche Organisation, Oktober 1915, jetzt wieder »Die Friedenswarte« genannt. werden die, die sich des Krieges »freuen«, von Privatdozent Dr. Oskar Jászi, Budapest, in sehr übersichtlicher Weise rubriziert. Bemerkenswert ist die Rubrik: »Die sexuell Befreiten«. Es heißt da: »Kaum leichter als den wirtschaftlichen, sehen wir den sexuellen Druck auf unserer Gesellschaft lasten. Die durch den Zwang äußerer Umstände bestehenden Ehen vernichten das Lebensglück von kaum weniger Menschen als die materiellen Sorgen.« (Daß es jenseits dieser Ehen für sie zu finden ist / bezweifle ich.) / »Der Krieg bedeutet für manche die zeitweilige oder definitive Befreiung aus der Hölle der Eifersucht, der Überreizung, des Zankes und der Unbefriedigtheit. Der Krieg löst Probleme, schneidet den gordischen Knoten von Liebschaften entzwei, die man zu entwirren keine Möglichkeit und keine Energie hatte. Eine Unzahl Menschen atmet heute auf, die Wonnen der Befreiung, des Friedens, der Ruhe und die Hoffnungen eines neuen Lebensabschnittes, neuer Möglichkeiten genießend. Die Wege der sexuellen Selektion sind abermals frei geworden.«

Vielleicht für den Mann. Die Frau hat, durch den Krieg, im allgemeinen, die letzte Möglichkeit der sexuellen Selektion verloren. Richtig ist nur, daß faule und korrumpierende Liebesverhältnisse, durch den Riß in den Krieg, der so manchen aus einem dunklen Bann befreite, ihrem gerechten Schicksal endlich verfielen. Besonders wird die zurückgebliebene weibliche Partnerin zumeist sicherlich genau das Schicksal gefunden haben, / das ihr gebührte. Wie viele Kriegstrauungen hingegen dauernde Bande knüpften und ob diese jähen Eheschließungen zum Segen oder zum Unsegen waren, darüber werden uns erst die nächsten statistischen Scheidungsergebnisse informieren.

Außer den »sexuell Befreiten« trifft Verfasser sehr glücklich »Die Wichtiggewordenen«, ferner, ganz besonders schlagend in der Charakteristik, »Die sichergestellten Helden« … »Sie deklamieren mit blutig rollenden Augen, sie finden kein Opfer zu schwer, … donnernde Kampflust setzen sie der angst- und zweifelsschwachen Menge entgegen.« Und besonders trefflich charakterisiert Verfasser, als Kriegsfreunde, die »Thema suchenden Dichter« … »Er sucht neues Erleben, neues »Durchfühlen« im Kriege. Endlich bekommen wir auch shakespeareartige Ereignisse, anregendere Reize als uns das Kaffeehaus geboten hat.«

Er hat aber Einen vergessen, / den Metaphysiker, / der sich zwar des Krieges nicht »freut«, sondern sein ganzes Grauen wuchtig empfindet, dennoch aber die Überzeugung hat, daß dieser Krieg von höheren Mächten, als die Diplomaten es sind, / beschlossen war.

Was sich hier in Europa begab, mußte den Weltenwirbel, / den Taifun, / heraufbeschwören. Not, Elend, Nahrungsgedränge, naturwidrigstes Sexualdilemma und babylonische Unzucht, / das war ins Gigantische angewachsen. Und der Taifun mußte kommen, um alle diese geordnete Unordnung / ins verdiente Chaos zu stürzen. Einer, der zu Hause, ein reines, edles Heim, im Bunde mit Ratten und Schweinen unterminiert hatte / ja, was sollte mit einem solchen Menschen anderes geschehen, als daß der Taifun ihn faßte, ihn in die Kanonade warf, ihn hart ans Beinhaus und hart ans Massengrab wirbelte und ihn schließlich bestenfalls / als Gnade, als Rettung / ihn, der nichts anderes kannte, als die überbeleuchtete Kultur von Berlin, Wien oder Budapest, mit Zentralheizung, Warmwasserversorgung und Freudenmädchen, ihn, der als tadellose Gesellschaftsstütze, mit dem ruchlosesten Geheimleben, seine so gesichert scheinende Karriere verfolgte, / an den Strand des Eismeers warf, wo er, einsam in der Polarnacht, halbnackt und fast verhungert / als Lastträger der Murmanbahn, als russischer Sträfling bzw. Kriegsgefangener / über sich / nachdenken kann …

So wie es Kultur bedeutet, daß man nicht bei jeder Reizung des Unwillens gleich das Schwert zückt, sondern auf andere Art solche Reizungsmomente abreagiert, / ebenso ist es Kultur / und Kultur und Moral sind identisch / daß man nicht bei jeder Reizung des Geschlechts gleich diesem Trieb zu Willen ist, sondern solche Affekte durch Sublimierung bändigt. Die Devise einer wirklichen Kultur lautet eben / »die Waffen nieder! …« Was nicht bedeuten soll, sie nicht im gegebenen Fall / in Bereitschaft zu haben.

»Nie ohne Waffen sei der Mann,
Ich meine nicht das Schwert,
Obwohl es ihn nur ehren kann,
Wenn er es selber ehrt.« Theodor Körner.

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Die Reformbewegung in Sittlichkeitsfragen beginnt natürlich nicht erst mit Nietzsche, sondern mit den Romantikern. Aber erst seit Nietzsche haben wir hier eine ununterbrochene Strömung. Und diese Strömung hat heute, nachdem sie den Weltbrand überdauert hat, auch tatsächlich, wie ich glaube, das kritische Stadium überwunden und strömt nicht mehr ohne Ufer und Dämme, sondern sie hat ein bestimmtes Richtungsziel, eine Umfriedung und Dämmung. Sie gibt weitere Rechte als die bisherige offiziöse Moral, aber sie verlangt gebieterisch die Absage an die Unzucht, an Orgie, Lüge, Verrat, Schmutz jeder Art, die das Geschlechtsleben schänden. Sie ist durch und durch auf Monogamie gestellt, / muß es sein, wenn sie gegen die Unzucht sich kehrt, / im Gegensatz zur offiziellen Moral, die es in der Theorie zwar auch ist, in der Praxis aber jede Anarchie duldet, wenn nur der äußere Schein gewahrt bleibt.

»Von dieser Grundlage aus bemächtigte sich der Mann der Direktive über die sexuellen Beziehungen, wozu ihm von Natur kein Rechtstitel zusteht. Er schuf die doppelte Moral und ein Unmaß geschlechtlicher Ausschweifung, wie es in der Natur beispiellos und nur durch die Einrichtung der Prostitution möglich ist. Die prostituierten Frauen, die er zwang, ihm gleich zu werden, verachtete er, als sie ihm gleich waren, vernichtete die physische und moralische Existenz der Millionen in seinem Dienst, machte sie zum Herd einer Seuche, die auf ihn selbst, auf sein Haus zurückschlug, die der Untergang für ganze Nationen wird …

… Der bordellbesuchende Gymnasiast und der lüsterne Greis sind alltägliche Erscheinungen, denen auf weiblicher Seite nur seltene Ausnahmen entsprechen; die Unbezwingbarkeit des männlichen Geschlechtstriebes wird so allgemein zugegeben, daß sie als die Rechtfertigung für die Institution der Prostitution dient …

… Zugegeben, daß die Behauptungen von der Unerträglichkeit dieser Zustände begründet seien« / (die sich auch im weiblichen Organismus geltend machen und dennoch überwunden werden müssen, um höherer Zwecke willen) / »so ist doch zuletzt zu untersuchen und zwar wiederum mit dem Hinblick auf die Natur, als Richtscheit, / wieviel von diesem Zustand normal, wieviel auf das Konto selbstverschuldeter Überreizung zu setzen ist.« Dr. jur. Anita Augspurg.

Meines Erachtens / alles, was den Aufbau von Lebensbeziehungen durchkreuzt und verhindert. Auch im weiblichen Organismus macht sich, mit derselben Stärke, das Bedürfnis nach Entlastung von drückenden, Stauungen verursachenden Sekreten der Keimdrüsen geltend, wozu noch, im weiblichen Organismus, das Bedürfnis nach den kontrektativen Erlebnissen der Diebe, / nach Anschmiegung und Zärtlichkeit, / hinzutritt Vgl. das 5. Kapitel »Liebe« im ersten Teil der Untersuchung »Die sexuelle Krise«.. Dennoch hat sich die Frau niemals eine Dirnenmoral zurechtgemacht, vielmehr immer, auch in den radikalsten Bestrebungen, nur das Recht auf Hingabe an einen Menschen zu erringen gesucht. Alles andere, was den von Frauen ausgehenden Bewegungen für Sexualreform nachgesagt wird, ist elende, bewußte Verleumdung, die zumeist von solchen Männern ausgeht, welche die Liebe der höheren Frau nicht zu gewinnen wußten.

»Eine solche Überspannung des Trieblebens, wie sie zur Begleiterscheinung männlichen Wesens geworden ist, liegt außerhalb des Rahmens der Zweckmäßigkeit der Natur. Je mehr sie gefördert und je mehr ihr nachgegeben wird, um so gefährlicher wird sie ausarten.« Dr. jur. Anita Augspurg in dem Sammelwerk »Ehe«. /

Und da diese schon durch das Vorleben entstandene geschlechtliche Überreizung sich an die eigene Frau nicht heranwagt, / so unterhält der Mann, der ihr verfallen ist, eben auch während der Ehe beständig Beziehungen zur Prostitution, meist zur verlarvten, geheimen Prostitution, die ihm die Illusion von Liebesbeziehungen vorspiegelt. Diese »Liebschaften« pflegen von / kleinen Geschenken, kleinen Bezahlungen, kleinen Schwängerungen, kleinen Abtreibungen und nicht kleinen, sondern katastrophalen / Zusammenbrüchen der Ehe, der Existenz, der Ehre, der innerlichsten und heiligsten Beziehungen, des inneren und äußeren Schicksales, kurzum vom vollkommenen Ruin begleitet zu sein. »Schuld« daran soll womöglich die »Frigidität« oder die »mangelhafte Geschlechtsempfindung« der Frau sein, bis / sie ihm ihre Frigidität beweist, indem sie eines Tages mit einem andern auf und davon geht, / der ihm, dem Gatten, das Herz seines Weibes stahl, während er irgendwo mit einer Dirne buhlte und sich bemühte, sie als zärtlicher Liebhaber / zufriedenzustellen.

II.
Kritik der alten und der »neuen« Ethik

Havelock Ellis, einer der sicherlich sehr gewissenhaften und bedeutenden Reformatoren, wirft, in einer blendend geistreichen Definition, der alten Moral vor, daß sie dem Weibe die moralische Verantwortlichkeit versage.

»Solange ein Vater oder Gatte, hinter dem die Gemeinschaft stand, sich für das sexuelle Verhalten des Weibes, für ihre ›Tugend‹ für verantwortlich hielt, war es notwendig, daß die sexuelle Ethik sich ganz auf den Eingang zur Vagina konzentrierte. Die Moral verlangte, daß alle Augen ständig auf diesen Punkt gerichtet waren, und das ganze Eherecht war dementsprechend eingerichtet. Das ist nicht mehr länger möglich.«

Wohl dem Weibe, hinter dem ein Vater oder ein Gatte oder ein Bruder steht, der sich für sie verantwortlich fühlt!

Zu den Täuschungen und Irrtümern, zu denen der große Umwertungsprozeß geführt hat, rechne ich auch diese so blendende Definition. Die Moral hat vollständig recht, sich auf den Hingang der weiblichen Vagina zu konzentrieren; denn dieser Hingang ist ein Ausgang, / ist die Pforte des Lebens. Ellis sagt weiter: »Erst nach der Empfängnis oder der Geburt eines Kindes hat die Gemeinschaft irgendein Recht, sich für die sexuellen Akte ihrer Mitglieder zu interessieren. Der Geschlechtsakt ist für die Gemeinschaft ebensowenig ein Anlaß zur Kenntnisnahme, wie irgendein anderer privater, physiologischer Akt. Es ist impertinent, wenn nicht empörend, hier zu inquirieren. Aber die Geburt eines Kindes ist ein sozialer Akt. Nicht was in den Schoß hinein, sondern was aus ihm hervorgeht, kann die Gesellschaft etwas angehen.«

Diese These ist eine contradictio in adjecto. Denn dadurch, daß »etwas« in den Schoß hineingeht, kommt gewöhnlich (als Norm) auch »etwas« aus ihm hervor. Und derselbe Reformator verlangt, daß für die Geburt des Kindes von der Gesellschaft vorgesorgt wird:

»Dann aber ergeht an die Gemeinschaft die Aufforderung, einen neuen Bürger zu empfangen. Sie darf dann verlangen, daß der Bürger eines Platzes in ihrer Mitte würdig ist und daß er geziemend durch einen verantwortlichen Vater und eine verantwortliche Mutter eingeführt wird.« Ellis.

Wenn demnach die Gesellschaft verpflichtet sein soll, jeden neu ankommenden »Bürger« würdig zu empfangen, dann hat sie ja doch auch tatsächlich das Recht, »sich für die sexuellen Akte ihrer Mitglieder zu interessieren«, aus denen ja diese Bürger hervorgehen. Es ist geradezu komisch, zu sagen, der Geschlechtsakt sei für die Gesellschaft »kein Anlaß zur Kenntnisnahme«, wenn man für die Folgen dieses Aktes dennoch wieder die Gesellschaft haftbar machen will und wenn sie auch tatsächlich dafür haftbar ist, weil sie durch die Geburt eines jeden Menschen sehr stark in Anspruch genommen wird, selbst unter den wenigst humanen Gesetzen, geschweige denn bei offiziellem Ausbau vollwertigen Mutterschutzes. Diesen Mutter- und Kinderschutz müssen wir wollen. Um so schärfer müssen daher unsere Forderungen in bezug auf die sexuelle Moral werden! Denn es geht nicht an zu sagen: einerseits will ich mich ausleben nach allen Dimensionen, / anderseits zahle du, Gesellschaft, dafür die Rechnung. Konzentriere nicht deine Aufmerksamkeit auf den »Hingang meiner Vagina«, bezahle aber die Rechnung für alles Lebende, was da herauskommt.

Derartige Schlußfolgerungen ergeben sich tatsächlich, als Blüte der neuen Moral. Und Ellis ist wahrlich nicht etwa ein Kompilator, ein bloßer medizinisch-klinischer Sammler, noch weniger ein Folklorist, sondern er ist einer der wundervollsten, ehrlichsten, wärmsten und tiefsten Psychologen. Es fehlt ihm vielleicht nur, in seinem heißen und herzlichen Ringen nach der Gestalt dieses Phänomens, das letzte Licht, das erst durch katastrophale, schwere Erfahrungen das ganze Problem so erhellt, als wenn in eine schwüle, geheimnisbergende Dunkelheit plötzlich, aus der unheilschwangeren Atmosphäre, zuckende Blitze herniedersausen, die die Heimstätten der Menschen in Flammen setzen, / die dann die Brandfackeln der Wahrheit werden.

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Das Schlagwort »neue Ethik« / einer bestimmten Gruppe, die zufällig diese ebenso überhebliche als naive Formulierung in Kurs setzte, / zuschreiben zu wollen, wäre verfehlt und ungerecht. Diese sog. »neue Ethik« lag vielmehr durchaus im Geiste der ganzen Epoche der letzten zwanzig Jahre vor dem Krieg, die ich als moralische Verfallsepoche bezeichne, wenn auch die tüchtigen Grundinstinkte unter der aufgewirbelten Oberfläche erhalten blieben und sich in der Katastrophe des Krieges, in der sie zu elementarischem Durchbruch kamen und das Gekräusel in nichts zerstob, bewährten. Mittelbar durch den Krieg haben z. B. nicht nur die Begriffe Nahrung und Arbeit, sondern auch die Begriffe Ehe und Familie ihre ursprüngliche, fast schon weggeredete, tiefe Bedeutung wieder erhalten. Das machte sich deutlich empfindbar, als der Mann da draußen im Felde war und seinen ganzen privatpersönlichen und privatsozialen Rückhalt in seiner Familie fand. Mit ihr war er in jenen Zeiten, während er dem Vaterland gehörte, ganz besonders verbunden. Wehe dem Mann, den die Katastrophe aus seinem bisherigen Lebenskreis gerissen hatte, während er mit seinem Weibe, mit seiner Familie zerfallen war, etwa während einer Scheidung, die, inmitten des frechen Übermutes einer allzu üppig gedüngten Zivilisation, vielleicht leichtfertig und durch den Einfluß irgendeiner Dirne vom Zaun gebrochen und betrieben worden war. Nach ihm muß da draußen, auf den unermeßlichen Totenfeldern und inmitten seiner Kameraden, für die die Nachrichten aus der Heimat der einzige Glücksstrahl waren, / eine Einsamkeit gegriffen haben, in der seine Seele wie in einem tiefen Meer versunken sein mag. / Und wenn er zurückkehrt, / vielleicht als Blinder oder arm- und beinlos, / mag er dann seine zähen Verfolgungen weiterbetreiben, seine Scheidung durchführen und sich von Dirnen / trösten lassen.

Konflikte und Entfremdungen zu überdauern, treu auszuhalten, auch wenn es manchmal schwer fällt, lehrte die alte Moral: weil man sich damit eine Heimat erhält. Wenn man sich nicht mehr »liebt« (d. h. gewöhnlich, wenn diese Gefühle zu irgendeinem Dritten abschweiften), in schnöder Hast auseinander zu rennen, erlaubte die neue, und es lag durchaus im Geiste der Zeit, wie die rapid anwachsenden Scheidungsziffern beweisen. Ungefähr jede achte Ehe der Großstadt wird geschieden. Der neuste Jahrgang des Statistischen Jahrbuchs für das Deutsche Reich bringt in bisher unveröffentlichten Nachträgen auch die Ehescheidungszahlen für das letzte Friedensjahr 1913. Rund 18 000 Ehen wurden 1913 rechtskräftig in Deutschland geschieden, trotz der Erschwerung der Scheidung seit 1900. Der Durchschnitt der vorhergehenden fünf Jahre betrug 15 000. Hingegen hat, trotz der Kriegstrauungen, wo mancher so wahrlich dran glauben mußte und auf fast automatischem Wege plötzlich ein Ehemann wurde, ehe er sich's versah, / auf demselben Wege, auf dem er manchmal auch plötzlich ein Held ward, / die Gesamtzahl der Eheschließungen in den letzten fünf Jahren, fallend bis auf den gegenwärtigen Zeitpunkt, / abgenommen.

Und nicht nur die Männer sprengten mit einem erschreckenden Zynismus immer häufiger ein Eheband, sondern auch Frauen gingen häufiger, als in früheren Epochen, aus der Ehe / weil sie »nicht mehr liebten«. Frauen, die gingen, weil sie »nicht mehr liebten«, d. h. auf deutsch, weil sie das Bedürfnis, mal mit einem andern Mann geschlechtlich zu leben oder überhaupt neuen sexuellen Erlebnissen freie Bahn zu lassen, / nicht mehr unterdrücken konnten, / gingen meist / in Nacht und Nebel, Vereinsamung, Schande, Armut und Untergang. Das Wort »lieben« ist auch so eine Art Fremdwort, das manchmal der Übersetzung, / der ehrlichen Verdeutschung bedarf!

In einem Flugblatt wird betont, daß die »alte Ethik ihren vollständigen Bankerott dargetan« habe »Mutterschutz und neue Ethik« von Dr. Walther Borgius, Flugblatt des D. Bundes f. Mutterschutz..

Ein einziges wurde dabei übersehen: nämlich, daß man auch mit dieser von den reinsten Inspirationen getragenen neuen Ethik denselben furchtbaren Bankerott machen kann, der der sog. alten Ethik nachgesagt wird, ja einen noch weit schlimmeren und naheliegenderen: dann nämlich, wenn die erotischen Triebe in wichtigen Lebensentscheidungen nicht vorsätzlich und bewußt diszipliniert werden. Diese bewußte Disziplinierung und Richtunggebung der erotischen Triebe ist um so schwerer, je mehr es sich um einen Menschen handelt, der sich von überlieferten Traditionen nicht bestimmen läßt. Für den, dem irgendeine übernommene Tradition richtunggebend ist, ist es nicht so schwer, sich mit gutem Willen reinzuhalten, denn es ist ihm ja in präzisen, für ihn und alle Welt klaren Begriffen ein Schema der sittlichen Lebenshaltung in die Hand gegeben. Derjenige aber, der auf diesen Katechismus nicht mehr schwört, weil er seine schwachen Stellen entdeckt hat, der sich also in jeder Lebensprüfung aus den tiefsten Schächten seines Bewußtseins und seines Gewissens, seines Verstandes und seines Gefühls, seiner begehrenden Triebe einerseits und warnender Hemmungen andrerseits eine Richtschnur seines Handelns erst bilden muß, / der hat es schwerer. Und es wäre eine Vermessenheit, es irgend jemandem, der die sichere Bahn der Tradition verlassen hat, auf diesem Gebiet leicht machen zu wollen.

Ich muß leider hier feststellen, daß dies vielfach von führenden Persönlichkeiten geschehen ist. Weder ein Nietzsche, noch (in gemessenem Abstand) eine Ellen Key können jemals die Verantwortung für alles das tragen, was sie, sicherlich in einem vorwiegend ästhetisch zu wertenden Überschwang ihrer Gefühle, »gepredigt« haben. Nietzsche, der Prophet des »Übermenschen«, aber/tief innerlich / Moralist durch und durch, ist an dieser Erkenntnis zusammengebrochen. Für ihn gab es nicht die Beschwichtigung durch die Phrase, hinter deren reichen Faltenwurf sich minder heroische Naturen im kritischen Moment verbergen. Der ringende moralische Charakter ohnegleichen, Apostel und Apostat zugleich, war Strindberg. Er blieb in aufsteigender geistiger Bahn, / weil er erkannte, / büßte und wiedergeboren ward. Nietzsche / verfiel dem Wahnsinn, und Weininger hat sich als Jüngling erschossen. Beider Untergang ist dem Metaphysiker kein Rätsel … / »Alles was ich geschaffen habe, wird untergehen, weil es mit dem Willen zum Bösen geschaffen ist«, hat Weininger in seinen letzten, nachgelassenen Schriften bekannt … Das Böse war der Geschlechtshaß, den er gesät hatte und die völlige Verblendung und Verkennung der Idee des Ewig-Weiblichen.

Und das Böse, das bei der Ergründung des Sexualproblems geschaffen werden kann, / ist / oder wäre / die Übergehung seiner Schrecken und die Hintansetzung der tiefsten Quelle der Liebe, / der Familienliebe, der erlösenden, sühnenden Liebe und der Liebe, die sich selbst bindet. Die uns am meisten liebten, / begehren Raum in unserm Werk!

Und er soll ihnen bereitet werden, / mit aller Hingabe. Ihrer soll / gedacht werden.

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Ist Zurückhaltung der stärksten Lebenstriebe schon für die Überzeugten der alten Moral notwendig, so ist verstärkteste Gewissensprüfung und jene höchste Besonnenheit, die die Griechen Sophrosyne nannten, für die vonnöten, die sich von ihr freigemacht zu haben glauben. Denn sich ganz von allen überlieferten Moralwerten »freizumachen«, wird wohl nur dem gänzlich unkritischen Kaffeehausumstürzler möglich sein, der über die Zusammenhänge uralter moralischer Leitgebote mit den tiefsten und einschneidendsten Erfahrungen der Menschen niemals nachgedacht hat. Wer es aber je getan, wer den Mut hat, die Realität der Dinge so zu sehen, wie sie ist, der wird (freilich anders als die offiziell Konservativen) doch, in gewissen Grundüberzeugungen seines Lebens, bei allem unerschrockenen Mut, mit dem er sich für freie Erkenntnis und für freieste, mutigste Geistesrichtung einsetzt und sie dadurch beweist, daß er sogar auch den »Umsturz« anzugreifen wagt, / wozu der allergrößte Mut gehört, / der wird dennoch »konservativ« sein dort, wo er die Überzeugung hat, daß nicht alles Alte und Übernommene unbedingt schlecht ist, sondern daß es gewisse wertvolle Grundlinien der Erfahrung gibt, die sich in moralischen Überlieferungen erhalten haben. Goethe erkennt auch hier wieder den springenden Punkt. Er meint, die rechte Erziehung wäre die, welche das Gesetz (die moralische Vorschrift) überlieferte, aber nicht als starres Dogma, sondern mit seiner Begründung. Diese Begründung allerdings geht an die Wurzel des Moralproblems überhaupt und erfordert daher einen neuen, schöpferischen Prozeß.

Die »Umwertung« in Bausch und Bogen, wenn auch erheblicher Eifer dahinter stand, ergab, als Resultat der Umackerung, nicht selten die sonderlichsten Paradoxen. So wollte man eine versittlichte Prostitution, so sah man, (in der Verschwommenheit und Unklarheit des Empfindens), das »Recht auf Liebe«, ja einen besonderen »Idealismus« darin, wenn ein Mensch alle Bande sprengte, die seine soziale Verbindung und seinen Gemütszusammenhalt mit andern Menschen verbürgten, um, ohne jede Grundlage einer Heimstätte, geschweige denn einer Stätte, auf der neues Leben gedeihlich aufgezogen werden könnte, irgendeinen freien Bund einzugehen. Es gab Neuethiker, die genau beweisen konnten, daß eine Frau, die in einer Ehe mit einem Mann lebt, dem gegenüber sie nicht gerade in den Flammen der erotischen Brunst steht, in »Prostitution« lebe. Und man sah Frauen, die ihren Männern entlaufen waren und mit Jünglingen lebten, für deren Lebensunterhalt sie aufzukommen hatten … Diese Frauen meinten »Idealistinnen« von reinstem Wasser zu sein / und waren es / im Stil der neuen Ethik; denn Ehe »ohne Liebe« war Prostitution, und dort, wo man »liebte«, hatte man das Recht, sich hinzugeben, und selbstverständlich durfte dieses Recht durch die wirtschaftliche Lage nicht beeinflußt werden, ansonsten wäre es ja wiederum / Prostitution gewesen … Der alten Moral hatten sich diese Idealistinnen wohlweislich entschlagen, denn die, in ihrer ungeschminkten Nüchternheit, hatten keine ideale Verbrämung eines solchen unwürdigen Zustandes, der / fast niemals auch ein erotisches Glück mit sich bringt. / Zwischen Menschen, die durcheinander in katastrophale, unhaltbare Lebenslagen gerissen wurden, entsteht nicht nur nicht Liebe, sondern / Feindschaft. Der natürlich und kulturell gebotene Zustand ist der, daß der Mann für ein Weib, mit dem er lebt, wenigstens notdürftig die Sorge übernehmen kann. Und kann er das nicht, so wird er gewöhnlich um so brutaler gegen sie auftreten und sie in jedem Sinne mißbrauchen. In galoppierendem Tempo wird sie / sinken. Mit Recht bezeichnet die alte Moral eine Frau, die mit einem Manne lebt, der nichts ist und ihr nichts bieten kann, als seine Männlichkeit, als eine Gefallene und den Partner als eine Zuhälternatur. Es gab sogar Frauen, die aus der Ehe, aus dem Heim, aus der gediegenen und geachteten Existenz, die ihnen ein Mann geschaffen hatte und / von ihren Kindern wegliefen, / auch ohne daß ein bestimmter Liebhaber sie von da herauslockte, die, in ihrem pathologischen Erotismus, sich einen solchen Liebhaber, der in der Realität gar nicht bestand, in der Phantasie zurechtlegten und ins wilde Leben, ja auf die Straße hinausstürzten, nur um ihn unbehindert suchen zu können. Was sie erwartete, / waren die schmählichsten Abenteuer der Gasse und ein Leben der Sklaverei. Ich habe einen solchen Fall in meinem Roman »Die Intellektuellen« Oesterheld & Co., Berlin W 15, 5. Auflage. in allen seinen phantastischen Verzweigungen gestaltet.

Es gab Philosophen, die geistreich »bewiesen«, daß zwischen ihrer Mutter und einer Dirne kein Unterschied sei, weil beide doch im Grunde das »Nämliche« tun, d. h. weil auch die Mutter geschlechtlich verkehrt habe und zwar mit seinem (des Philosophen) Vater. Prof. Siegmund Freud weist in einer Studie (»Beitrag zur Psychologie des Liebeslebens«) sehr fein nach, daß es eine Sorte Mann gibt, die dem Dirnentypus hörig ist und die sich, bei der Objektwahl, mit dem oben erwähnten, im Unterbewußtsein aus dem Mutterkomplex hergeholten Argument beschwichtigt.

Es gab Ehen unter den »Modernen«, wo die Frau, wenn sie darauf kam, daß der Mann sie betrog, mit viel Philosophie Begründungen, die zur Tolerierung dieses Treibens dienten, erfand und wo man die »Großzügigkeit« darin sah, daß die Frau sich mit den Dirnen des Mannes und der Mann mit den Liebhabern der Frau »befreundete«. Mir ist, als ob das alte Pathos, das sogar zur Mordwaffe greift, um den Zerstörer oder die Zerstörerin des ehelichen Glückes niederzustrecken, mindestens aber ein ehrlicher Zorn, wenn er auch die Versuchung zur radikalsten Selbstjustiz überwindet, das Heilsamere sei. Alle schleichende Rache nur ist gemein. Ein Ausbruch der schwerbeleidigten Empfindung aber kann, wie ein Gewitter, die Atmosphäre reinigen.

Wenn auch die sog. alte Ethik mancherlei Verfehlungen stillschweigend duldet, so hat sie doch dafür auch die mehr oder minder stillschweigende Verachtung. Das ist das Wesentliche: erst wenn die Deutlichkeit darüber, wo die Verachtung oder wo, im Gegenteil Tolerierung, ja Bewunderung am Platz sei, verwischt wird, dann erst beginnt die wahre Gefahr. Gewiß, das hurenhafte Treiben, die Duldung der Prostitution in ihrer höchsten »Blüte«, wie sie der offizielle Gesellschaftszynismus möglich macht, wird für den sittlich empfindenden Menschen eine sehr bedrückende Tatsache sein; aber Beruhigung kann er daraus schöpfen, daß dieses Treiben selbst dort, wo es in seinen schamlosesten Formen geduldet wird, dennoch auf jene Nachtseite der Gesellschaft verwiesen ist, der die höchsten Werte des bürgerlich sozialen Lebens gebieterisch verwehrt sind, eben die Achtung und die vollwertige Anerkennung. Gewiß, in Nizza gibt es schon Institute, wo Damen, (denen dort der Kaffeehausbesuch ohne männliche Begleitung verboten ist!), Gesellschafter für Stundenhonorare mieten können. Solche Damen werden dann jedenfalls solche Gesellschafter auch für die Nachtstunden gegen Honorar mieten. Im Grunde braucht uns das weniger zu entrüsten, als daß wir die »Damen« und »Herren«, die von dieser Einrichtung Gebrauch machen, herzlich bedauern. Denn sie markieren sich deutlich als Ausgestoßene der Gesellschaft und werden, wenn sie ihr / weiblicherseits vielleicht / durch Reichtum oder dgl. dennoch zugehören, eine so empfindliche Verachtung und Abweisung zu spüren bekommen, daß sie sich von selbst von da zurückziehen werden. Schon in dem Phänomen, daß jede Korruption auf dem Gebiete des Geschlechtslebens heimlich gehalten werden muß, von seiten derer, die überhaupt in der Gesellschaft bleiben wollen, liegt im Grunde ein beruhigender Vorgang, weil eben dann das Ideal der Reinheit der Geschlechtsbeziehungen das offizielle und maßgebende der Gesellschaft ist und bleibt. Erst wenn sich keinerlei Entgleisung mehr in Heimlichkeit verstecken, wenn jede Unregelmäßigkeit sich unter dem Schutz einer Theorie breit machen kann, / erst dann beginnt die Gefahr eine universelle zu werden.

III.
Soll und Haben oder Ehe und freie Liebe

Die »freie Liebe« wird niemals der Ehe gleichberechtigt sein, denn das Zusammenleben von Mann und Weib ist als erotische Gemeinschaft für die Allgemeinheit vollkommen belanglos und wird erst als soziale Gemeinschaft, als Gesellschaftsvertrag, für sie von hoher Bedeutung. Diese anerkannte, offizielle, sozial-repräsentative Gemeinschaft stattet die Gesellschaft darum mit Rechten aus. Wenn eine Frau also ein freies Verhältnis eingeht, wozu sehr viel vollwertige Gründe sie veranlassen oder sogar zwingen können, wofür am allerwenigsten ein Vorwurf gegen sie zu erheben ist, falls das Verhältnis auf loyalem Boden steht (wofür es nur ein einziges Kriterium gibt / daß es nämlich beiderseits durchaus monogam ist und nicht durch Verrat zustande kam), so wird sie sich aber darüber klar sein müssen, daß sie alle Pflichten einer Ehefrau auf sich nimmt, ohne ihre Rechte zu haben. Darum wäre es heller Wahnsinn, den Frauen zu einem sehr übel angebrachten »Idealismus« in diesem Punkt zuzureden, vielmehr ist der weitgehendste Schutz des Frauenlebens noch immer in einer guten Ehe zu finden. Und sogar eine schlechte Ehe gibt ihr soziale und wirtschaftliche Rechte.

Auch das feministische Ideal der vollständigen wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frau bleibt in der Regel graue Theorie. Wenn der Mann aus der Ehe ausspringt, so hat er, dem Gesetz und dem allgemeinen Moralempfinden nach, für ihren standesgemäßen Unterhalt zu sorgen. Bei Bündnissen zwischen »Übermenschen« pflegt die Frau diesen Anspruch nicht zu erheben, / dazu ist sie zu »ideal« und der Bohème-»Übermensch« ist meist auch gar nicht fähig, sich selbst zu erhalten, geschweige denn eine Frau und Kinder.

Sicherungen der Frau sind durchaus notwendig. Denn sogar, wenn die Frau, vor der Ehe, einen Beruf gehabt hat, so ist nicht anzunehmen, daß sie, gealtert, auch noch in diesem Beruf eine erfolgreiche Tätigkeit wird finden können, zumal der Nachwuchs jüngerer Kräfte die Arbeit, die sie leisten könnte, entwertet und in jedem Beruf ein Überangebot qualifizierter Kräfte vorhanden ist Eine Frau von gründlichster Bildung suchte während des Krieges irgendeine feste Anstellung und wurde überall abgewiesen, weil sie, mit 36 Jahren, schon »zu alt« sei …. Zudem hat sie heute noch zu der Praxis höherer Berufe keinen Zutritt, am allerwenigsten als verheiratete Frau. Eine Frau z. B., die ihren Dr. phil. gemacht hat, (wozu wiederum Vermögen notwendig war), wird in der Praxis meist in keiner Weise damit einen auskömmlichen Beruf finden können, außer wenn sie auch noch das Oberlehrerinnenexamen gemacht hat Auch die Ablegung des Lehrerinnenexamens ist an eine bestimmte, sehr niedrige Altersgrenze gebunden und kann nicht »später« nachgeholt werden., und dann darf sie nicht heiraten. In den freien Berufen aber, z. B. in den künstlerischen, ist sie auf die unregelmäßigsten Einnahmen angewiesen, die zeitweilig auch ganz versiegen.

Es ist einfach lächerlich, zu glauben, daß eine Frau ohne scharf spezialisierten Brotberuf, von Jugend an, und ohne Vermögen sich mir nichts dir nichts auf »eigene Füße« stellen kann. Und nicht nur etwa eine, nach Möbius, schwachsinnige, sondern, unter Umständen, auch eine starksinnige Frau wird, wenn die Notwendigkeit, sich plötzlich allein zu erhalten, als Katastrophe kommt, wenn ihr plötzlich jeder Boden unter den Füßen entzogen wird, vor dem Untergang nur bewahrt werden, durch die Hilfe dritter Personen. Diese Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, ist aber wohl mit das schlimmste, was über einen Menschen hereinbrechen kann und, sie zu finden, ist / ein Wunder. Der Mann, dessen ganzes Leben ausschließlich und fortgesetzt der Berufsarbeit gewidmet ist, hat normalerweise immer sein Brot, er hat eine immer offene und mit vorrückendem Alter immer bessere Karriere. Die Frau, die in der Ehe gelebt und sich der Ehe gewidmet hat, kann sich, auch ganz abgesehen von ihren etwaigen Mutterpflichten, im allgemeinen und sogar im besonderen nicht von dem Anspruch auf ganze oder teilweise Erhaltung durch den Mann emanzipieren ohne in schwere Katastrophen gestürzt zu werden, ohne sich, unter Umständen, zu einem Leben der furchtbarsten Unsicherheit, der erbärmlichsten Sklaverei und Bettelei zu verurteilen. Und falls sie dies nicht auf die Dauer aushalten kann, auch nicht das Talent hat, sich zu prostituieren und keine anderweitige dauernde und ausreichende Hilfe findet, / wird sie im Elend oder gar durch Selbstmord enden müssen.

Nicht nur als Mutter, auch als Frau / braucht sie Schutz und gesicherte Rechte, dem Mann gegenüber, mit dem sie lebt oder während einer für ihr Leben belangvollen Zeitspanne gelebt hat und durch den sie vielleicht in eine schwere Krise gestürzt wurde. Alle diese Ansprüche auf sozialen Schutz und wirtschaftliche Stützung hat sie eben im freien Verhältnis nicht. Dort kann der Mann gehen, / aber ohne sie zu versorgen. Das ist und bleibt der »kleine Unterschied«, den keine noch so hochtönenden Theorien aus der Welt schaffen werden. Und wie es mit dem »Verantwortlichkeitsgefühl« aussieht, / sieht man nicht nur bei den verlassenen unehelichen Müttern und Frauen, sondern sogar / bei Ehescheidungen. Über die Schreckenskämpfe, die sich da abzuspielen pflegen, aus rein wirtschaftlichen Gründen zumeist, soll an anderer Stelle, wo ich das Frauenproblem als solches ins Auge fasse, Näheres ausgeführt werden. Es bleiben aber der Frau bei Ehekatastrophen, zum Unterschied von Liebeskatastrophen, / Rechte und Ansprüche, unabhängig vom »Verantwortlichkeitsgefühl« und vom »guten Willen« des Mannes. Und wenn man schon in der Liebe zu kurz gekommen ist, was sehr vielen Frauen geschieht und geschehen kann, so soll man, bei der Bilanz des Lebens, wenigstens seine wirtschaftlichen und sozialen Rechte gerettet haben. Und in der doppelten Buchführung der Geschlechter soll die Frau auch auf die Soll-Seite etwas setzen können, nämlich: positive Verpflichtungen, die der Mann ihr gegenüber eingeht. Sie soll nicht nur seine um Liebe und »gute Behandlung« bittende Debitorin, sondern auch seine Kreditorin sein, oder / wie Strindberg es genannt hat / seine Gläubigerin. (Warum Strindberg den Dämon nur im Weib sah, das soll später beleuchtet werden.)

Die Soll- oder Debet-Seite bedeutet, mit dem kaufmännischen Fachausdruck: »Er soll mir was«. Das heißt, erweitert: er soll mir etwas zahlen. Und die andere, die Haben- oder Kredit-Seite bedeutet: »Er hat was«, d. h. erweitert: er hat was bei mir gut, d. h. also, noch mehr erweitert: ich bin sein Schuldner. Auf der anderen Seite aber / bin ich sein Gläubiger. Wenn nun jemand den »Idealismus« hat, bei der Bilanz der Geschlechter nur seine Kreditseite vollgeschrieben zu haben, und auf der Debetseite / gar nichts vorfindet, wenn eine Frau, mit einem Wort, zuviel Kredit gegeben hat, / so kann sie, eines Tages, an dem man ihr nichts »schuldet«, an dem man ihr nichts »soll«, / vor dem Bankerott stehen. Auch in der Ehe kann man Bankerott machen und zwar recht gründlich. Aber wenn es in einer Ehe zur Katastrophe kommt, so liegt dies nicht an der Ehe, / sondern an ihrem / Bruch. Auf diese kleine Nuance hat man bisher nicht geachtet und hat »irrtümlich«, anstatt gegen den Bruch der Ehe / gegen die Ehe selbst Front gemacht. Ein kleiner Irrtum. / Ein Mißverständnis.

Ist man so ideal, seine Buchungen nur auf der Kreditseite eingetragen zu haben (er hat was bei mir gut / und nicht, er soll mir was), so darf man doch den Idealismus nicht so weit treiben, diese Buchführung auch anderen zu empfehlen, besonders wenn man aus nächster Nähe und in täglich neuem, erschütterndem Material konstatieren muß, wohin es führt, wenn die Frau auf Schutz, Rechte und Sicherungen verzichtet und sich dennoch preisgibt. Außer diesem offenkundigen Frauenelend, wie es unsere Mütterheime zeigen, gibt es, auf Schritt und Tritt, auch noch ein verborgenes. Es gibt auch in der Liebe, sogar auch in der freien Liebe / verschämte Arme. Ihnen sowie allen anderen, deren Elend sich nicht verbirgt und nicht verbergen läßt, soll man helfen, nicht aber hartnäckig daran festhalten, / eine ideologische Theorie und ein nichtideologisches Leben / hätten prachtvoll geklappt. Not soll als solche zugegeben und nicht eine Tugend oder gar ein »Glück« aus ihr gemacht werden, besonders nicht in der Form von Theorien, da diese Illusionierung des Lebens sehr viel Schaden anrichten kann, zumal wenn es sich um die mächtigste Triebgewalt des Menschen, um die Bereitwilligkeit zur Liebe, handelt. Hier heißt es eher bremsen, als / erleichtern. Denn jede Erleichterung in der Anknüpfung von Liebesbeziehungen wird meistens zu Enttäuschungen am Objekt der Liebe (oder des Gefühles, das dafür gehalten wird) und damit zu schweren, seelischen und sozialen Katastrophen, besonders für die Frau führen. Es prüfe nicht nur, wer sich ewig bindet, sondern wer überhaupt das, was das Heiligtum jedes Menschen sein soll, sein Geschlecht, in die intimste Vermischung zu dem eines Menschen vom andern Geschlechte bringt …

Der Glücks- und Liebeshunger ist das gefährlichste Irrlicht des Lebens. Eros hüpft mit der Blend- und Diebeslaterne auf den dunklen Wegen des Wanderers umher, und folgt der diesem Licht, ohne es genau zu besehen, so wird er meist nicht aus dem Walde seines Schicksales herausfinden, sondern / in Sumpf und Dickicht geraten.

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Solange in einer Ehe alles gut geht, wird die Frau den Unterschied zwischen Ehe und freier Liebe nicht so leicht herausfinden können. Und gerade erst, wenn es nicht gut geht, wenn es schief geht, wenn das »Verantwortlichkeitsgefühl des Mannes« (!) vollständig versagt, / gerade dann wird sich der Wert formaler Rechte für die Frau sehr deutlich geltend machen. Einen vollwertigen Schutz gegen Mißbrauch und Benachteiligung gibt es ja natürlich überhaupt nicht. So werden denn auch die formalen Rechte wirtschaftlicher Natur, z. B. die Ansprüche auf Unterhalt, auf Rückgabe des Vermögens usw., natürlich die Frau bei einer Ehekatastrophe nur dann schützen, wenn sie nicht durch Umstände anderer Art ihrer Grundlage beraubt sind. Wo nichts ist, hat auch der Kaiser das Recht verloren. Ferner wird sie die Rechte nur dann geltend machen können, wenn sie sie kennt, d. h. wenn sie Gesetzeskenntnis hat bzw. juridisch gut beraten und vertreten wird. Es muß allen Frauen dringendst persönliche Gesetzeskenntnis empfohlen werden, wie es ja auch der Staat direkt verlangt, da Gesetzesunkenntnis vor Strafe nicht schützt, / am wenigsten vor der Strafe des Lebens. Wenn die Frauen sich erst in das Gesetzbuch vertiefen, so werden sie erstaunt sein, wie schnell sie das Wesentliche begriffen haben werden.

Die Gesetze sind, so unzulänglich sie auch sein mögen, den verschlungenen Rechtsbedürfnissen des Lebens gegenüber, doch ein Niederschlag des Moralextraktes aller Zeiten, zu denen ein Volk und eine Kultur überhaupt in Beziehungen steht, von denen sie ein Erbe übernahm, welches sie selbständig weiterverwaltete, vermehrte und zu verbessern suchte. Das Gesetzbuch ist, besonders in seinem familienrechtlichen Teil, klar und präzise und die Übersicht leicht. Wenn die Frau also das Gesetz und ihre Rechte nicht genau kennt und nicht sehr gut beraten ist, so wird sie von ihnen keinen Gebrauch zu machen wissen, auch dann nicht, wenn sie durch psychische Momente sich verhindern läßt oder verhindert ist, von ihnen Gebrauch zu machen, z. B. / weil sie die Schuldige oder Mitschuldige ist oder sich dafür hält und eine Versöhnung anstrebt. An sich sind die gesetzlichen Rechte der Ehefrau sehr bedeutende, sehr weitgehende, und der Mann kann sich ihnen nur entziehen / durch Tod, Konkurs Durch Konkurs nur dann, wenn er über kein pfändbares Einkommen verfügt. oder Flucht. Diese gesetzlichen Rechte, die die Frau wirtschaftlich schützen, wären schon ganz allein für sich ein Grund und zwar ein recht gewichtiger, (denn nichts haben und sich nichts verschaffen können, ist sehr schlimm), dafür, daß Ehe und Konkubinat niemals in der Praxis als gleichwertig empfunden werden können und auch nicht empfunden werden, am wenigsten von den Beteiligten selbst.

Die Rechte und Ansprüche der Ehefrau an den Mann anerkennt die ganze Umwelt und handelt danach. Der Mann schuldet der Frau Unterhalt. Daraus ergab sich, z. B. während des Krieges, daß, an seiner Statt, / alle die Institutionen einsetzten, die staatlichen sowohl wie die der Wohltätigkeit, die die Ehefrau vor der größten Not bewahrten; und darauf beruht auch jede Art Witwenpension und Hinterbliebenenfürsorge. Die Grundlage des Einkommens der Ehefrau des Kriegers war die staatliche Subvention; und alles, was sie sonst noch auftreiben konnte, an ergänzenden Hilfsgeldern, wurde der Ehefrau gegeben, deren Mann im Kriege war. Auch einer eheverlassenen Frau wird geholfen, sogar wenn sie nicht schwanger und nicht Mutter ist, z. B. vom Bund für Mutterschutz. Aber der verlassenen nichtschwangeren Geliebten zu helfen, dafür würde selbst im Bund für Mutterschutz jede formale Begründung fehlen.

Der Mann schuldet der Ehefrau nicht nur Unterhalt, sondern auch Herausgabe des Vermögens am Tage der Rechtskraft des Scheidungsurteiles, bzw. wenn er die Unterhaltspflicht verletzt hat, sofort und nicht erst bei der Scheidung. Um deutlich zu machen, wie sich im Gesetz Sittlichkeit und Logik mit einer Dichtigkeit kristallisieren, die wesentlich absticht von den unklaren und verschwommenen Prägungen der verschiedenen Privatmoralen und der »Gesetze«, die sich jeder, nach Bedarf, für sich selbst zurecht macht, möge der Kernparagraph, der nach dem Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch über den Unterhaltsanspruch der Frau an den Mann bei getrennter Gemeinschaft bzw. während des Scheidungsprozesses entscheidet, hier wiedergegeben werden. Der § 1361 des Bürgerlichen Gesetzbuches lautet: »Leben die Ehegatten getrennt, so ist, solange einer von ihnen die Herstellung des ehelichen Lebens verweigern darf und verweigert, der Unterhalt durch Entrichtung einer Geldrente zu gewähren.« Das heißt: auch wenn die Frau etwa die Mitschuldige ist, so hat sie, solange der Prozeß nicht entschieden ist (denn eine Scheidung ist ein Rechtsstreit zwischen zwei Gatten), Anspruch auf Unterhalt, falls sie getrennt von ihm lebt, und ihre Weigerung, das eheliche Leben herzustellen, durch irgendein Moment begründen kann, d. h. wenn sie irgendeine Klage gegen ihn nicht nur erhebt, sondern erheben kann. Nur wenn gar nichts gegen den Mann vorliegt und die Frau ihn verlassen hat, wenn sie gar keine Klage weder erhebt noch erheben kann, noch auch erheben könnte, / nur dann hat sie, bei Verweigerung der Gemeinschaft, auf richterlichen Ruf, der erst ein Jahr nach Verlassen, bezw. in manchen Staaten ein halbes Jahr darauf erfolgen kann, auch keinen Anspruch mehr auf Unterhalt. In allen anderen Fällen aber bedingungslos.

Darum wird gerade hier, in diesem Punkt, gewöhnlich dieser schauerliche Betrug geübt, diese Abwälzung und Verbergung der eigenen Schuld, besonders dann, wenn die Frau sich auch schuldig gemacht hat und sich für die Alleinschuldige hält.

Wenn der Mann die Unterhaltspflicht verletzt hat, so schuldet er der Frau die Herauszahlung ihres Vermögens nicht erst bei der Scheidung, sondern sofort. Dieses Recht sichert § 1468 des Bürgerlichen Gesetzbuches, Abs. 3. Jeder Vertrag, den sie mit ihm macht, über Verzinsung, Abzahlung usw., d. h. jeder Erlaß der Barauszahlung, ist eine Konsilianz ihrerseits. Erläßt sie die Barauszahlung, so schuldet er ihr eine Verzinsung, die der Art der Anlage und der Sicherstellung entspricht. Das alles sind aber Zugeständnisse ihrerseits, denn sie hat den formalen Anspruch auf Rückgabe ihres Vermögens, bar und ganz Früher gab es in manchen Staaten »Ehestrafen«, durch die der schuldigen Frau ein Teil ihres Vermögens vom Mann entrissen werden konnte! Heute muß er ihr selbstredend ihr Vermögen zur Gänze zurückgeben, auch wenn sie die Alleinschuldige ist.. Und nur weil sie diesen formalen Anspruch hat, findet sich der Mann gewöhnlich bereit, überhaupt mit ihr Verträge abzuschließen, da er sonst, d. h. wenn sie auf ihrem formalen Recht beharrt und nicht Verträge schließt, die ihm die Barauszahlung erlassen, / für alle Zeiten ruiniert ist. Ohne diesen Zwang, daß er das Vermögen bei der Scheidung zurückgeben muß, bar und ganz, würde er, in den meisten Fällen, sich überhaupt aller Verpflichtungen, auch der Verzinsung und der Abzahlung des Vermögens in Teilen, entschlagen. Ein ruchloser oder ruchlos gewordener Mann / würde sagen / oder versucht auch heute noch zu sagen: »Das Vermögen ist weg und kein Richterspruch wird es dir wiederschaffen« … Wenn das Gesetz aber danach nicht fragt, ob das Vermögen weg ist oder nicht und ihn andonnert mit der imperativen Bestimmung: Am Tage der Scheidung ist es fällig, und wenn du es verwirtschaftet hast, so bist du es schuldig, und jede Art von Abzahlung, die deine Frau annimmt, ist ein Entgegenkommen ihrerseits, welches dich vor dem Konkurs behütet, / nun, dann wird ihr dieses Gesetz, dieses formale Recht, ihr Vermögen in den meisten Fällen dennoch / wiederverschaffen, und sogar von einem ganz skrupellosen Mann, der ihr ohne dieses Gesetz, / den Hals umgedreht hätte.

Ein Liebhaber hingegen, der einer Frau ihr Vermögen verwirtschaftet hat oder ihre Einnahmen verbrauchte, schuldet ihr, wenn sie nicht sehr genaue Belege hat, über die Barauslagen, die sie für ihn machte, / nichts, weder Unterhalt noch Ersatz des Vermögens, und es kommt sogar vor, daß Einer, der eine Frau positiv ruinierte, ableugnet, wie ein Hochstapler, jemals von ihrem Geld gelebt zu haben! Die Gesetze sind gar nicht so schlecht, wie man in den Kreisen derer, die sie »umwerten« wollen, meint. Und wenn, durch einen Zauber, alles das, was da gefordert wird, auch gleich erfüllt würde, dann ginge es uns in der Praxis, / wo hart im Raume sich die Sachen stoßen, / an den Hals. Und wenn man zwischen dem lebendigen, wirklichen, blutroten Leben und gewissen Theorien immer wieder klaffende Widersprüche sieht, so muß man eben von der »Umwertung« der Lebenswerte, analog diesen Theorien, ablassen, zumindest sie vorsichtig wägen, ja sogar lieber die Theorien umwerten, anstatt das Leben, / nicht aber sich gegen die Tatsachen der Wirklichkeit verschließen, um die Dinge nicht ansehen zu müssen, wie sie sind.

»Wir meinen, daß die Verpflichtungen der Menschen gegeneinander mit Alimentenzahlungen an Kinder oder geschiedene Gatten nicht erschöpft sind, sondern daß überall aus der neuen Erkenntnis des Menschen auch neue tiefere Forderungen für das Verhalten der Menschen in Liebe und Freundschaft, insbesondere über die Zusammengehörigkeit von Mann und Weib erwachsen Dr. Helene Stöcker: »Die Kultur der Liebe« in der Zeitschrift »Die Neue Generation«, Oktober 1913.«.

Die ideale Forderung mag man immerhin stellen. Aber daß sie in der Praxis des Lebens zumeist keine Erfüllung findet, / dagegen kann und darf man sich nicht verschließen. Und Rechte, Sitten und Gesetze müssen so eingerichtet sein, daß besonders der schwächere Teil der Geschlechter, die Frau, nicht in den Abgrund gerissen wird, / wenn die ideale Forderung eben nicht erfüllt wird. Wenn Liebe und Freundschaft in die Brüche gehen und das »Verantwortlichkeitsgefühl« des Mannes, der Frau gegenüber, meilenfern ist, wie man ja bei fast allen Scheidungen beobachten kann, / nun, dann sollen ihr wenigstens die vielgeschmähten, aber im kritischen Moment doch sehr gern angenommenen / Alimentenzahlungen bleiben.

Ob die »Zusammengehörigkeit« sich im Laufe der Verbindung, im Laufe vieler, vieler Jahre wirklich bewähren wird, kann man im voraus nicht wissen, und kann davon / ob sie sich entwickelt und bewährt, / nicht seinen ev. vollständigen sozialen Schiffbruch abhängig machen. Und wenn eine Frau schon Jahre ihres Lebens und ihre besten Gefühle vergeudet hat, nun, dann soll sie wenigstens durch den Mann, mit dem sie lebte, vor der Not des Lebens bewahrt bleiben, und zwar automatisch, auf dem Wege fester, gesetzlicher Obligationen, wie sie ja auch zum Glück vorhanden sind und wie sie vor jeder derartigen »Umwertung« behütet werden müssen.

Und wenn man immer wieder »die unendliche Gefahr, die lebenzerstörende Macht der alten konventionellen Moral« Ebenda. Stöcker. betont, so muß endlich einmal und zwar aus demselben Lager gesagt werden, daß diese zumeist sehr lebensfremden »Umwertungen« / tausendmal gefährlicher sind, als die vielgeschmähte, alte, konventionelle Moral, welche die allgemein gültigen Normen des Anstandes und der Pflicht, der anerkannten, wirklichen Verantwortlichkeit / geschaffen hat, / die zwar weit davon entfernt sind, jene erhabenen Ideale zu sein, mit deren Ausmalung man Seite über Seite füllt, die man aber im Leben, wohin man auch blicken mag, fast nirgends antrifft, / während sich aber doch die allgemein gültigen Obligationen des Anstandes und der Pflicht, den ärgsten Schrecken des Lebens gegenüber, eben weil sie zwingende Verpflichtungen sind, bewähren.

»Liebe ist nur da, wo Seele ist / und wo Seele ist, da ist Liebe, erkannten wir. Vor dieser Allumfasserin ist also aller Haß und Neid, alle ›Häßlichkeit‹, die vom ›Haß‹ kommt, alle Not und Gier verschwunden, versunken. Da ist Klarheit und Reichtum, innerstes Genügen, ›göttliche Seligkeit‹. Wer einmal von dieser Speise geschmeckt, von diesem Wein der Weine getrunken hat, der kennt das tiefste Erbarmen mit denen, die nicht zu jenen Auserlesenen der Liebe gehören. Der kennt auch das Mitleid und die Güte / die drängende Energie, allen aus dem Paradiese noch Ausgestoßenen zu jener Versöhnung und Verklärung des Lebens verhelfen zu wollen. Sowohl jenen, denen ihre eigene innere Disharmonie dieses Glück nicht verwehrt, die nur eine niedere Triebbefriedigung für sich, in Prostitution und ähnlicher Art oder in gewaltsamer Askese, kennen, als jenen nicht minder zahlreichen, denen man aus äußeren wirtschaftlichen und ethischen Hemmungen den Zugang zu den tieferen Erlebnissen des Menschen versperren will.« Ebenda Stöcker.

Ich frage /: wo bleibt die Kehrseite der Medaille? Ich vermisse sie in allen diesen Dithyramben über die »Liebe«, die in der letzten Epoche geradezu ins Unermeßliche anschwollen. Ich vermisse auch in der Praxis, so weit und breit man sich auch umsehen mag, auch nur einen Ansatz, einen Schimmer von einer Erfüllung dieser Ideale. Und ich muß diese Dithyrambenverherrlichungen der »Liebe« ablehnen, ja, sie als eine große Gefahr kennzeichnen, wenn bei diesen Untersuchungen auch nicht mit einer Nuance / auf die Schrecken der Geschlechtlichkeit hingewiesen wird. Und zwar gerade auf jene Schrecken, die sich aus der Liebe ergeben oder aus den Gefühlen, die die Menschen, in gutem Glauben, dafür halten. Diese Kehrseite, die die Schrecken der Geschlechtlichkeit mutig ins Auge faßt, / auch jenseits der Prostitution, / fehlt in der ganzen einschlägigen modernen Literatur über die Liebe, insbesondere wie sie von Frauen gepflegt wird, wie sie zuerst von Ellen Key in Schwung gebracht und nachher fortgesetzt wurde Hier sei auf die vorzügliche Schrift von Justizrat Dr. Max Rosenthal »Die Liebe« hingewiesen. Verlag Preuß & Jünger, Breslau. Von dieser Seite kam ein kräftiger Dämpfer gegen die Überverherrlichungen der Erotik und auch aus demselben Lager.. Ich vermisse ferner eine deutliche Betonung des monogamen Prinzips, habe vielmehr den Eindruck, daß man hier der prinzipiellen Stellungnahme ausweicht.

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Die Ehe unterscheidet sich von jedem anderen Bündnis, das zwischen Mann und Weib geknüpft wird, dadurch, daß sie, außer einer erotisch-sexuellen und gemütsmäßigen Verbindung, auch einen gemeinsamen sozialen Bund repräsentiert. Die anerkannte soziale Repräsentanz eines Paares, die ganze Atmosphäre selbstverständlicher sozialer Anerkennung dieser Gemeinschaft, die sie umgibt und die mit einer der höchsten Werte dieses Lebens überhaupt ist, für den Mann sowohl wie für die Frau, / für beide natürlich nur dann, wenn sie sich ihres Gefährten nicht zu schämen brauchen, / liegt im Wesen der Ehe und bildet ihren Unterschied gegen die freie Liebe. Wer die Ehe umgeht, zeigt damit an, daß er aus irgendwelchen Gründen sich nicht als offizieller Gefährte dieser Frau bzw. dieses Mannes betrachtet sehen will. Es fehlen somit alle Erlebnisse, die ein Paar mit der Gemeinschaft als solcher verknüpfen. Den unersetzlichen Wert des sozialen und repräsentativen Elementes der Ehe und seine suggestive Macht habe ich auch im ersten Teil dieser Untersuchung aufs gründlichste dargelegt und verweise daher dorthin »Die sexuelle Krise«, S. 13-30..

Es fragt sich, was man von einem Bündnis will. Ob man von der Gemeinschaft mit einem Mann / oder einer Frau / nur etwas Erotisches oder ob man zugleich auch etwas Soziales will. Ebensowenig wie die Ehe nur dazu da ist, nur ein Institut für die Fortpflanzung zu sein, sondern wie außerdem auch ihr Zweck darin liegt, die Lebensgemeinschaft zweier Menschen herzustellen, / ebensowenig ist sie auch nicht nur dazu da, nur die geschlechtliche Befriedigung zu vermitteln (inkl. aller Gemütswerte, die mit ihr verbunden sind), sondern sie soll auch für beide Teile eine soziale Ergänzung durch einander bedeuten, / den Aufbau einer allgemein anerkannten, geachteten sozialen Situation, einer Heimstätte, / eines Hauses. Dieses repräsentative, soziale und bergende Element aber fehlt der freien Liebe, / die auf ein Privatverhältnis beschränkt bleibt. Denn will man sozial seine Zugehörigkeit zu einem Menschen des anderen Geschlechtes am deutlichsten beweisen, / in Verbindung mit der inneren und mit der sexuellen Zugehörigkeit, / so heiratet man ihn; d. h., man macht das Bündnis, indem man es selbst vor aller Welt mit allen seinen Konsequenzen offiziell anerkennt, allgemein deutlich und verbindlich, / auch in den Augen der Gesellschaft.

In der Übernahme der Verbindlichkeit liegt die Ursache, deren Folge / die soziale Achtung und soziale Begünstigung ist, derer sich dieses Bündnis im Prinzip erfreut. In dieser Achtung ihrer Gemeinschaft liegt wiederum ein großer Wert für die beiden Menschen selbst, besonders für die Frau und ganz besonders für die Kinder, / aber auch für den Mann, auch er fühlt sich erst in dieser Gemeinschaft / geborgen. Will ein Mann eine Frau beschützen und dabei mit ihr im engsten persönlichen Verhältnis leben, so drückt er das darin aus, / daß er sie, / ihr Einverständnis vorausgesetzt, / heiratet. Warum will jede Frau »geheiratet« werden? Warum wird ihr durch keinerlei Redensarten, auch von dem Mann selbst nicht, das ersetzt, was die Ehe bietet, und warum glaubt sie an seine Liebe im tiefsten Grunde nur dann, / wenn er ihr die Ehe anbietet? Weil die Ehe für sie ein Schutz ist, wie er durch nichts anderes im Leben der Frau ersetzt werden kann. Natürlich nur mit einem Mann, der in jedem Sinne ehetauglich ist. Ist er untauglich, besonders sozial untauglich und untauglich im Charakter, / so gerät die Frau durch die Ehe mit ihm in einen Ruin, der weit schlimmer ist, als jeder, der sie allein erreichen könnte. Wie diese »Liebesehen« mit ganz und gar unfertigen, zerfahrenen und charakterlosen Männern, wie sie, besonders in der letzten Epoche, als Liebhaber, Erotiker und Travestien von »Ehemännern« ihr Unwesen trieben, / auszugehen pflegen, das soll später erörtert werden.

Wenn auch die Ehe sehr oft geschändet wird und ihre Voraussetzungen oft nicht erfüllt werden, / so ändert das nichts an dem unersetzlichen Wert des Prinzips. Die formalen Einschränkungen und Abhängigkeiten, die die Ehe für die Frau heute noch mit sich bringt, können durch Reformen, die dennoch nicht an dem Prinzip rütteln, immer mehr behoben, bzw. die Institution als solche kann natürlich noch verbessert werden. Hier sind Reformströmungen am Platze und erfolgen auch, sogar legislativ, wie uns die beständige Entwicklung des Familienrechtes beweist. Aber das Prinzip der Ehe muß vor jeder »Umwertung« bewahrt und verschont bleiben.

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Eine uralte Romanphrase der Familienblattliteratur lautet: »Und freudig sagte sie › ja‹ und fühlte sich geborgen in seinen starken Armen.« So verstaubt diese alte Romanphrase auch klingen mag, / so wenig Schliff sie für unser modernes Ohr besitzt, / so muß man ihr das eine lassen: sie hat recht. Diese Familienblattphrase hat recht, / und eine andere »glückliche Lösung« des »Romans« bzw. des Frauenschicksals als die, / eines ganzen Mannes liebendes Eheweib zu sein / gibt es nicht. »Soweit die Erde der Himmel sein kann, ist sie es / in einer glücklichen Ehe.« Marie von Ebner-Eschenbach: »Aphorismen«.

Ein ganzer Mann ist der, / der ein Charakter ist. Allerdings / der Charakter eines Mannes allein, ohne Liebe zu ihm und zu seinem persönlichen Ich und ohne Gegenliebe seinerseits, macht eine Frau nicht glücklich. Aber doch nicht so namenlos unglücklich, wie die Liebe zu einem Mann / ohne Charakter, sogar wenn die »Gegenliebe« seinerseits da ist, die sich aber, bei einem charakterlosen Mann, nicht dauernd halten wird und halten kann und die Frau nur um so sicherer in den Abgrund reißt.

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In den Kämpfen um eine Erweiterung der sexuellen Rechte ist man dahin gelangt, dem Geschlechtstrieb, wenn man liebt, oder zu lieben glaubt, das Recht auf Erfüllung fast bedingungslos zuzugestehen. Möglichste Erleichterung der Liebesbeziehungen wird ja gefordert.

Dem gegenüber habe ich kritisch hervorzuheben, daß eine Erleichterung der Liebesbeziehungen zu einer Vermehrung der Liebeskatastrophen und, / in Anbetracht des riesigen Frauenüberschusses, / zum völligen Untergang des monogamen Prinzips führen muß.

Gewiß gibt es im Leben heißblütiger, temperamentvoller junger Menschen Epochen, wo dieses Begehren nach erotischer Erfüllung das Überwiegende ihrer Seele und ihres Blutes wird, wo ihnen das Leben wertlos scheint, wenn sie auf erotische Erfüllung verzichten sollten. Aber die, die ihrerseits über die temperamentvollste erste Jugend hinaus und in ein gereiftes Entwicklungsstadium gelangt sind, / in ihre zweite Jugend, die ja heute für die Frau bedeutend verlängert ist, / die müssen doch eher / junge Menschen warnen. Die Fälle, wo die alles begehrende Glut und das Bedürfnis nach erotischen Erlebnissen auch im reifen Alter überwiegend einen menschlichen Organismus in Rebellion bringt, sind immerhin selten und gelten als pathologisch.

Hamlet:

Scham, wo ist dein Erröten? wilde Hölle,
Empörst du dich in der Matrone Gliedern,
So sei die Keuschheit der entflammten Jugend
Wie Wachs und schmelz' in ihrem Feuer hin;
Ruf keine Schande aus, wenn heißes Blut
Zum Angriff stürmet: da der Frost ja selbst
Nicht minder kräftig brennt und die Vernunft
Den Willen kuppelt.

Königin:

O Hamlet, sprich nicht mehr!
Du kehrst die Augen recht ins Innre mir,
Da seh' ich Flecke, tief und schwarz gefärbt,
Die nicht von Farbe lassen.

Hamlet:

Nein, zu leben
Im Schweiß und Brodem eines eklen Betts,
Gebrüht in Fäulnis; buhlend und sich paarend
Über dem garst'gen Nest
/

Königin:

O sprich nicht mehr!
Mir dringen diese Wort' ins Ohr wie Dolche.
Nicht weiter, lieber Hamlet!

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Im allgemeinen muß man als leitenden moralischen Grundsatz festhalten, daß die geschlechtliche Vereinigung das letzte sein soll, womit Menschen ihre Verbindung, die vorher auf ganz anderen Gebieten erfolgt sein muß, krönen; und nicht das erste. Und wenn sie sich ein gutes Schicksal schaffen wollen, soll die geschlechtliche Vereinigung erst dann erfolgen, wenn ihr ein Gehege geschaffen ist, wie es das Geschlechtsleben mit seinen schwerwiegenden äußeren und inneren Folgen nötig hat. Das sind die Gründe, die an die Wurzel der offiziellen sexuellen Moral, welche die Ehe entstehen ließ, hinabreichen. Man legte um junge Menschenkinder einen Wall des Schutzes und der Vorsicht und ließ sie nicht eher aufeinander los, bis das Nest gebaut war, in dem, aller Voraussicht nach, ihr Geschlechtsleben und seine Folgen am besten geschützt war und sich am besten entwickeln konnte, weil dann alle Verhältnisse darauf eingerichtet sind und nicht, im Gegenteil, wie bei Verbindungen, in denen für die Folgen innerer und äußerer Art nicht vorgesorgt ist, dadurch Verwirrung und Verwicklung in alle bisherigen geordneten Zustände kommt.

Das Geschlechtsleben ist eben nicht etwas, was sich, losgelöst von andern Lebensstrebungen, behandeln läßt; es muß mit ihnen in Einklang gebracht werden; das erfordert einige Umstände und den bewußten Aufbau einer Situation, in der das möglich ist. Oder es wird anarchisch als etwas behandelt, worüber nur der Moment und der Impuls zu entscheiden hat, dann werden sich sofort Komplikationen, Schwierigkeiten, ja Katastrophen schwerster Art ergeben, weil eben mit diesem Vorgang die Entstehung neuen Lebens einerseits und die Entstehung von Situationen und von Gefühlen, die an das Zentrum des Lebens rühren, andrerseits, verknüpft ist. Und nur wenn ein Gehege für diese Folgen innerer und äußerer Natur mit Vorsatz und ehrlichem, bewußtem Willen zur Treue geschaffen und makellos rein erhalten wird, werden sich Konsequenzen freudiger Art aus dem Geschlechtsleben zweier Menschen ergeben.

Die Berufung auf das »Verantwortlichkeitsgefühl«, einer der Hauptprogrammpunkte der »neuen Ethik«, die allein tut's nicht. Denn schon wenn ein Mensch /gewöhnlich die Frau / auf das Verantwortlichkeitsgefühl, also auf den guten Willen eines andern blindlings angewiesen ist, entsteht ein unhaltbarer Zustand. Die Verhältnisse müssen so eingerichtet sein, daß keiner der Willkür des andern ausgeliefert ist. Das Dogma von der »persönlichen Verantwortlichkeit« wird kaum jemals das Schutzmoment, das in der offiziellen Sitte, in allgemein anerkannten Obligationen liegt, ersetzen, worauf ich mit Nachdruck schon im ersten Teil der Untersuchung hinwies: »Das Schutzmoment jeder Sitte, jeder Moral liegt darin, daß sie ein Obligo ist. Die Bestie im Menschen wird nur durch eine ihm offiziell auferlegte Obligation bezwungen.« 1. Teil, s. 412. Die Erfahrung zeigt uns zur Genüge und immer wieder, daß niemand schneller ausreißt, als der, der eine schwierige Situation geschaffen hat und tatsächlich die Verantwortung für sie nicht tragen kann. Jeder Blick in die Akten unserer Mütterheime zeigt uns das; warum sollten wir also beharrlich mit einem Phänomen, das Tatsache ist, blinde Kuh spielen. »Sie sieht das ungeheuere Elend nicht, das ihr doch in den unehelichen Müttern Tag für Tag vor Augen steht, wie ein grausames Menetekel. Sie, die sich dieser Aufgabe gewidmet hat, jene zu schützen, sieht nicht den Abgrund, in den jedes Weib taumelt, das sich dem Mann »schenkt« und sich dabei verliert.« Aus einem Brief.

Wenn man jemanden zur Ehe begehrt, so ist es, weil man sich nicht nur durch ein dauernd-sexuelles, sondern auch durch ein dauernd-soziales Verhältnis mit ihm verbinden will. Die Ehewahl bedeutet also / die Auswahl eines Menschen, in dem sich, wie man glaubt und hofft, diese beiden Lebensbeziehungen in einer Person vereinigen lassen. Daraus ergibt sieb eine Verknüpfung und Verschmelzung des Lebensschicksals, wie sie durch keine andere Beziehung sonst gegeben ist.

Wenn wir auch von einer prinzipiellen Forderung der sexuellen Abstinenz bis zur Ehe, für den Mann sowohl wie für die Frau, absehen müssen und jedem Menschen das Recht auf Geschlechtserleben, sofern es auf loyalem Boden steht und sofern die Konsequenzen dafür übernommen werden können, zusprechen müssen, so haben wir doch zur Genüge auf alle Motive, die zur größten Vorsicht veranlassen, hingewiesen. Es ist ein Unterschied zu machen zwischen einem prinzipiellen Recht oder etwa zwischen der Empfehlung des außerehelichen Geschlechtslebens. Empfehlen läßt es sich, im allgemeinen nicht, das Recht dazu muß, unter den obigen Einschränkungen, jedem Menschen gegeben werden, ohne daß ihn, im geringsten, wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt sind, dafür Verachtung treffen kann.

Wenn die Frau auf die rein ethischen und rein idealen Gefühle beim Mann in der Geschlechtssphäre rechnet, so wird sie meist enttäuscht werden. Wie Tausende es auch sind. Illusionen über die Geschlechtsnatur des Mannes mag man in der Märchendichtung pflegen, / aber man darf sie nicht zu Grundlagen neuer ethischer Tabulaturen machen! Ja, wenn »der« Mann, im allgemeinen, der »Liebhaber« etwa so wäre, / wie der Held und Liebhaber eines Filmdramas, eine so durch und durch markige, verläßliche und sympathische Persönlichkeit, / dann wäre die Sache sehr einfach. Es ist seltsam, daß die Märchen in einem bestimmten Punkte alle lügen, daß sie ein Symbol ins Gegenteil verkehren: sie erzählen stets von einer Prinzessin, die einen Frosch oder einen Bären oder einen Lurch zum Ehegemahl nehmen muß, und nachher, »als er aus dem Bettelein stieg« oder wenn sie ihn geküßt hatte, verwandelt er sich in einen herrlichen Königssohn. Im Leben ist es doch gerade umgekehrt: Er kommt als Königssohn und geht gewöhnlich als Bär, Frosch oder Lurch!

Der Appell an das Verantwortlichkeitsgefühl ist schon deshalb in der Praxis meist wertlos, weil niemand gerade dieses Gefühl durch theoretisches Zureden erwerben wird, sondern das Gewissen etwas absolut Angebornes ist; wer es hat, dem braucht man dazu nicht zuzureden, er wird für seine feinsten Regungen empfänglich sein; wer es nicht hat, der wird in der Versammlung zwar weit den Mund aufreißen, wenn über solche Theorien gesprochen wird, in der Praxis aber handeln, wie ein Lump. Im übrigen muß doch auch gewünscht werden, daß eine Frau einen Mann, der von ihr fortstrebt, nicht zu halten braucht; und diese Gewähr gibt ihr am ehesten wiederum die Ehe, so paradox das klingt. Denn hat er mit seinem Weggehen für sie zu sorgen, so wird er instinktiv alle Gefühle in sich begünstigen, durch die er das Band erhält. Hat er aber gar keine Verpflichtungen, so wird er sehr oft beleidigend und ungezogen auftreten und dadurch die Frau, wenn sie nicht in einer ganz katastrophalen Abhängigkeit ist, selbst dazu zwingen, ihm den Laufpaß zu geben. Ein Verhältnis hat eben den Todeskeim schon dann in sich, wenn der eine Teil auf den guten Willen des andern blindlings angewiesen ist. Sehr richtig hat Rudolf Goldscheid einmal, gelegentlich einer Betrachtung der Frauenfrage, hervorgehoben, daß, bei der Zuerkennung von Rechten, nicht diese moralischen Rechte selbst, sondern lediglich Machtpositionen das Entscheidende sind. Darum wird um die Erringung dieser Positionen auf allen Lebensgebieten gekämpft. / Und im Geschlechtsleben muß man doch zumindest für jeden Menschen wenn schon nicht »Macht«, (die hängt hier von andern, sehr dunkeln Faktoren ab), so doch Sicherung wenigstens der Existenz erstreben. Es sollen Situationen geschaffen werden, wo jeder Mensch seine volle Würde bewahren kann, in ihnen werden sich die Gefühle der Sympathie am gedeihlichsten entwickeln.

Gesetze und Sitten haben die Macht, Pflichten unzweideutig und unverdrehbar durch ideologisch-phantastische Theorien erkennen zu lehren und sie absolut und allgemein verbindlich zu machen. Das ist ihr großer Vorteil, gegenüber freien Willkürmoralen, die jeden Tag, mit jeder Mode, jeder Stimmung, jedem Erlebnis und jeder Zeitströmung wechseln. Mißtraue niemandem so sehr / möchte ich den Frauen sagen / als Leuten, die dir die geforderten und berechtigten Sicherungen abschlagen und statt dessen an dein »Vertrauen« appellieren. Hätten sie nicht die Absicht, dein Vertrauen eines Tages, / wenn es ihnen so paßt, / zu mißbrauchen, so würden sie dir die Sicherungen nicht nur nicht abschlagen, sondern von selbst anbieten. Das gilt nicht nur in bezug aufs Geschäftsleben, sondern auch im erotischen Leben und besonders für die Frau dem Manne gegenüber.

Keineswegs ist ja natürlich die Ehe zulänglicher Schutz, aber immer noch der am weitestgehende. Wenn ein Mann gewissenlos sein will, so wird er sein Eheband brutal mißachten, sich allen Verpflichtungen zu entziehen wissen und von der Situation, in der sich die im Stich gelassene Frau evtl. sogar mit ihren Kindern befindet, gar keine Notiz nehmen oder nur soweit, als er durch die Gerichte dazu gezwungen wird. Immerhin ist dieser Fall doch relativ selten, und es bedarf schon einer besonderen Verhärtung des Gewissens, um ihn möglich zu machen.

Anderseits hat der Appell an das Verantwortlichkeitsgefühl auch eine Gewissenhaftigkeit am unrechten Fleck geschaffen. Es kam dahin, daß wenn ein Mann ein Weib, das oft nichts anderes war, als eine verkappte Dirne, oder das sonst so durchaus minderwertig war, daß es als wirkliche Lebensgefährtin nicht hätte in Betracht kommen sollen, geschwängert hatte, er sich verpflichtet fühlte, bei ihr zu bleiben, / daß hier ein Band geschaffen wurde, welches einen Menschen dauernd in die Niederung zog. In solchen Fähen ist die offizielle Moral, welche im allgemeinen nicht so weitgehende Forderungen stellt, / außer in orthodox-religiösen Familien und auch dort nur, wenn es sich um ein Mädchen handelt, an dessen Reinheit man glaubt / und nur die Versorgung des Kindes verlangt, wiederum die richtigere. Im übrigen entscheiden hier die letzten und verborgensten Willensströmungen und Einflüsse aus der dunkelsten erotischen Sphäre. Wer mit wachen Augen einen Menschen, der ihm wert war, in einen Abgrund taumeln sieht, wird aber alles tun müssen, um ihn zur klaren Besinnung zu bringen. Und nur darum sind deutliche moralische Richtlinien und Obligationen notwendig, darum auch müssen wir vor einem Verantwortlichkeitsgefühl, welches die niedrigere Sphäre der höheren gegenüber als Spekulationsmittel benutzt, warnen.

Sicherlich wird es Höhepunkte eines Menschenlebens geben, wo die Hingabe etwas bedingungslos Notwendiges wird, wo die Hochflut der Gefühle die Menschen auf Höhen getragen hat, auf denen jede rationalistische Erwägung verstummen muß, wo die Natur ein Fest feiern will, auch wenn die Einrichtungen der sozialen Welt damit nicht in Einklang gebracht werden können. Darum muß das Liebesleben als die private Sphäre eines Menschen betrachtet und, zum Schutze, nur darüber ein Warnsignal errichtet werden, welches darauf hinweist, daß man die Konsequenzen dafür zu tragen hat, und daß, in schimpfliche, abhängige und demütigende Verhältnisse zu sinken, einem ein gut Teil der Ehre rauben muß. Wer sein erotisches Leben so führt, daß es nirgend gegen Treu und Glauben verstößt und daß es ihn nicht in unsaubere Abhängigkeiten bringt, / der ist rein.

Wenn aber eine Frau ihrem Leben ein Fundament geben will, so wird sie sagen: mit einem Mann, der nicht gewillt oder nicht fähig ist, mir ein Heim zu bieten, lebe ich nicht; weil sich daraus, statt Glück, nur Leid ergibt und weil die Sehnsucht nach Heimat das weitaus stärkste Element des komplizierten Gefühlskomplexes der Liebe, besonders der Frauenliebe ist.

Die Erscheinung, daß bei dem Mann, sobald er die Frau seiner Sehnsucht besitzt, sein erotisches Gefühl herabzusinken pflegt, ist eine Tatsache. Wenn da nicht durch ein anderes Gefühl eine Gemeinschaft geschaffen ist, entwickeln sich meist sehr bald Störungen. Dies Gefühl ist das des Bandes, und es schafft sich, als Rahmen, / ein Heim. Daher dieser Rahmen zumindest anzustreben sein wird dort, wo Menschen den Wunsch haben, sich füreinander zu erhalten, als Versicherung gegen Gefühlsschwankungen, die nicht ausbleiben und die sonst allzuleicht zu Katastrophen führen können, obwohl natürlich kein noch so edler Rahmen Menschen, die auseinander streben, (zumeist unter dem Einfluß Dritter), zusammenhält. Sich und den Bund, den man schloß, nicht vorsätzlich gegen solchen Einfluß zu wappnen, / nennt man Treulosigkeit. Gewöhnlich rächt sie sich schwer.

Das Gefühl des Bandes ist aber vorwiegend das Gefühl / der gemeinsamen, aufsteigenden, sozial hoffnungsvollen Lebenssituation und / der persönlichen Zugehörigkeit. Dieses Gefühl ist das/einer unlösbaren Familienbeziehung. Ohne dieses Bandgefühl ist eine Beziehung nur schwer auf die Dauer zu erhalten. Sowie der eine Teil erkaltet, verläßt die Freudigkeit den andern, und damit wird dessen Anziehungskraft auf den ersten in beschleunigtem Tempo vermindert. Nun beginnt alles das, was Peter Altenberg unter dem Sammelnamen »organische Tragödie« zusammenfaßt, ein Zustand, der von den Vorgängen der Zersetzung und Zerstörung, die sich in der aufwühlendsten Weise geltend machen und von den bittersten Gefühlen, die sich bis zur Verzweiflung steigern können, begleitet zu sein pflegt. Es beginnt die unaufhörliche Beschäftigung mit den sich abspielenden und vorbereitenden Vorgängen der Loslösung, in Gedanken, wodurch alle seelisch-produktiven und sozialen Kräfte vollständig vernichtet werden und jegliche Tatkraft erlischt; es entwickeln sich Verödungsgefühle, die sich bis zur Todesangst, vielmehr besser gesagt, Lebensangst steigern können.

Wenn man die Liebe so sehr verherrlicht, wie es in dieser letzten Epoche geschah, / so darf man ihre Schrecken / nicht übergehen. Die Hingabe darf nicht nur in ihren Wonnen geschildert, die Bereitwilligkeit der Menschen, besonders der Frauen, sich der Liebe und ihren Rauscherlebnissen hinzugeben, darf nicht geschürt werden, / ohne die typischen katastrophalen Enttäuschungen und die furchtbaren Gefahren, die sich daraus ergeben, ins Auge zu fassen, / sie in das Licht der unerbittlichsten Betrachtung zu stellen.

Es kommen, / mit dem Zusammenbruch des Liebeserlebnisses, / die ununterbrochenen, fieberhaften Gefühlsumwälzungen, die jeden Tag alle Gegensätze durchlaufen, vom Hervorbrechen der wärmsten Liebesquellen, die noch nicht versiegt sind, bis zur völligen Vereisung und zu Ausbrüchen des Hasses, empörter Auflehnung, hilfloser Demütigung und stetig anwachsender Verbitterung, welche, wie ein Gift, die besten Kräfte und Säfte einer Menschenseele zersetzt. Der ganze Organismus wird schließlich krank Ganz wunderbar hat die Verzweiflung der verlassenen, liebefähigen Frau / Cäcilie v. Tormay in ihrem Roman »Mensch unter Steinen« geschildert. Diese große, bisher unbekannte Dichterin wurde kürzlich durch die Verleihung des höchsten akademischen Literaturpreises ihrer und meiner Heimat, Ungarn, des Petöfypreises, ausgezeichnet.. Um diesen Krankheitszustand herbeizuführen, muß keineswegs eine psychopathische Veranlagung gegeben sein. Die gesündesten, stolzesten und kräftigsten Organismen kann er befallen, gleichwie ein Bazillus einer verheerenden Seuche nicht nur die minderen Elemente ausjätet, sondern mit die besten und tüchtigsten. Goethes Gretchen ist gewiß nicht psychopathisch, sondern, vor ihrem Fall, ein von Lebensfreude und Kraft strahlendes Geschöpf. Und doch sind ihre Worte, die der Dichter für das Leiden verlassener Liebe gefunden hat, der nicht zu übertreffende Ausdruck dieser seelischen Verfassung:

»Meine Ruh ist bin,
mein Herz ist schwer;
ich finde sie nimmer
und nimmermehr.

Mein armer Kopf
ist mir verrückt,
mein armer Sinn
ist mir zerstückt.«

Diese Worte sind ewig typisch für den Zustand, den sie schildern. Jedes echte Weib / das, das Heben kann, / ist Gretchen. Und warum kommt Gretchen in dieses Elend? Weil Faust, / von Mephisto verführt, / auf der Walpurgisnacht ist. Das heißt: in der Orgie.

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Spürt man den geistigen Wurzeln der sexuellen Moral nach, so kommt man zu der Erkenntnis, daß der Mann das Weib und das Kind / in der Institution der Ehe, die sein höherer Mensch erfunden hatte, / vor sich selbst zu schützen sucht. Durch die Gesetze und Sitten, die er schuf, hat er bekannt: Meine Leidenschaft, auch noch so ehrlich gemeint, ist abhängig von Schwankungen, die sich meinem Willen entziehen. Hüte dich darum, dich mir blindlings auszuliefern, auch wenn ich dich darum bestürme und selbst von der Verläßlichkeit meines Gefühls durchdrungen bin. Fasse mich fest, solange ich nach dir brenne, nicht wenn ich dich schon genossen habe und die Sättigung da ist. Bist du mir blindlings ausgeliefert, so verlierst du an Reiz und Wert für mich; bindet mich aber ein Gesetz höherer Art, so beuge ich mich davor.

Man wendete dagegen ein, daß, wenn der Mann die Hingabe der Frau vor der Ehe mißbrauche, der Makel eigentlich nur auf ihn zurückfallen müsse. Als ob ihr damit / geholfen wäre! Gewiß gibt es, wie gesagt, Hochströmungen des Gefühls, in denen Maßregeln der Klugheit und Zweckmäßigkeit für Menschen von tiefstem Empfinden nicht in Frage kommen, aber / sie müssen dann auch wissen, was sie wagen! Wenn sie es wagen wollen und alle Konsequenzen auf sich nehmen können, nun, dann ist gegen ihr Liebesleben, auch in vollster Freiheit, nichts einzuwenden. Zu lieben und geliebt zu werden ist das größte, ja eigentlich das einzige Glück auf Erden.

Und gerade deswegen ist die Enttäuschung und der Zusammenbruch dieses Erlebens auch das schwerste aller Schicksale. Nur weil man vor diesem schwersten Schicksal die Menschen bewahren will, hat man Moralen und Sitten ersonnen, welche, den stärksten Impulsen der Natur gegenüber, zu ernüchternden Erwägungen und zur Vorsicht veranlassen, und Leichtsinn auf diesem Gebiete als Makel gekennzeichnet. Kein Mann, der ein Weib wirklich liebt, wird ihrer Hingabe ganz froh werden, wenn sie sich ihm allzu leichthin ergibt, weil er dann annehmen muß, daß die Vereinigung für sie nicht das durchgreifende Erlebnis bedeutet, das sie bedeuten soll und daß für sie der Geschlechtsakt als solcher und nicht die Bindung zu einem einzigen Menschen das Maßgebende ist, so daß sie vielleicht, mit derselben Leichtigkeit, außer mit ihm auch noch mit anderen geschlechtlich verkehren kann.

Wenn die Krebsin eine neue Schale bekommt und die alte abwirft, so wird sie sich für den Augenblick, in dem sie ohne Rüstung dasteht, wo sie die alte Schale abgeworfen hat, weitab von dem Männchen verbergen. »Nicht aus Scham, sondern aus verständlicher Furcht vor dem Männchen, das nie abgeneigt ist, den wehrlosen, entkleideten Genossen zu überfallen und aufzufressen« Aus einer naturwissenschaftlichen Plauderei..

IV.
Praktische und theoretische Sexualethik

Ein Sexualreformer Dr. Albert Moll. hat in einem Vortrag den Standpunkt vertreten: heimlich soll jeder nach seinem Gewissen sexuell leben, wie er will und das nur vor sich selbst zu verantworten haben. Das ist die Doppelmoral in Reinkultur und zwar nicht nur die Doppelmoral, wie sie sich im Leben des Mannes und der Frau ausdrückt, sondern die weit schlimmere Doppelmoral, die im Leben des einzelnen Menschen Platz greift. Die moralischen Unterschiede in der Bewertung des Geschlechtslebens von Mann und Weib haben immerhin, durch die Verschiedenheit der Geschlechtsnatur, noch einige Motive in sich, durch die sie sich begründen ließen, wenn sie auch, nach unseren Erfahrungen, nicht mehr stichhaltig sind. Die Doppelmoral aber im Leben des einzelnen Menschen, der nach außen hin eine Moral markiert, der er in Wahrheit heimlich ins Gesicht schlägt, führt zur vollständigen sittlichen Entartung. Ein solcher Mensch geht eben als Betrüger durchs Leben, und jeder Atemzug wird schließlich Lüge. Und wenn man auch nicht verpflichtet ist, jedem Menschen Rechenschaft abzulegen über seine privatesten Handlungen und es selbstverständlich ist, daß man geschlechtliche Erlebnisse überhaupt mit Diskretion behandelt, so wird es für einen besseren Menschen immer ein Unding sein, seine privatesten Handlungen verleugnen zu müssen und, gegebenenfalls, sie nicht verantworten zu können.

Das sexuelle Leben läßt sich überdies kaum verheimlichen, und soll nicht verheimlicht werden müssen. Es wird »offenkundig und manifest«, wie Ehrenfels es nennt, schon durch die Entstehung eines neuen Menschen und durch zahllose andere Wirkungen und Folgen, / vor allem deshalb, weil es Partner hat. Der oben erwähnte Sexualreformer empfiehlt, die Forderung auf Abstinenz bis zur Ehe zwar äußerlich streng zu spannen, aber im stillen »Duldung« zu üben und jeden in seinem Privatleben heimlich so leben zu lassen, wie er mag. Auf diesem Standpunkt stand man, bevor eine Reformbewegung einsetzte, und auf diesem Standpunkt steht der allgemeine Durchschnitt noch heute. Wenn das der Weisheit letzter Schluß sein sollte, dann hätte man sich's wahrlich leicht gemacht. Wir brauchen ethische Richtlinien, wonach ein Mensch nicht nötig hat, das, was sein innerster Wille begehrt, geheim zu halten und wonach er daher sein innerstes Willensstreben so gestalten muß, daß es Achtung beanspruchen kann. Ist Liebesglück zwar als das höchste Glück zu bezeichnen, / leider ist es meist nur Scheinglück, / so ist Achtung entschieden als der positivste soziale Wert zu erkennen, den es in der Kulturwelt gibt. Ohne erotische Liebe kann man allenfalls leben, ohne Achtung / als besserer Mensch / nicht. Wer sein Geschlechtsleben so einrichtet, daß er Enthüllungen fürchten muß, der kann darauf rechnen, eines Tages am Pranger zu stehen.

Man vergißt bei solchen Rezepten, daß keinerlei Heimlichkeiten, am wenigsten aber auf geschlechtlichem Gebiet, ohne Wirkung bleiben. Und nicht nur an die Folge und Wirkung, die neues Leben schafft, ist hier gedacht, sondern an die Wirkung auf den Menschen selbst und damit auf alle seine Beziehungen zur Umwelt. Wer »heimlich« im Schmutz watet und vielleicht gar Verrat übt, dessen ganzes Wesen und Benehmen wird ein derartiges werden, daß es jenes Leben, welches er gerne offiziell »durchhalten« möchte, untergräbt.

Ja sogar sein Gesicht wird einen widrigen Zug bekommen und Antipathien in seiner nächsten Umgebung erregen. Der Blick eines solchen Menschen wird unstet werden, er wird ehrlichen Menschen nicht gerade ins Gesicht sehen können, und dies wird bemerkt werden und die Antipathien verstärken. Vor allem aber seine Stimme, dieser Bote der Seele, / anima, / wird jeden Klang, jede Farbe verlieren, / das Organ wird etwas Krächzendes bekommen, weil es sich nicht frei, bewußt, zielsicher herauswagen kann. Und eine Frau, die vielleicht an einem bestimmten Mann gerade seine innige, weiche, knabenhafte Stimme liebte, mit der er ihr als Liebender, die ersten Zärtlichkeiten zuflüsterte, wird nach und nach, gegen die Stimme des heimlich gesunkenen Mannes, gegen dieses scheue, geborstene Gekrächze, / eine tiefgehende Antipathie empfinden, die ihr Sexualgefühl stark beeinflußt, wie sein ganzes unfreies und immer gereiztes Benehmen und Wesen überhaupt, das, nach und nach, je tiefer er sinkt, etwas von der instinktiven Bosheit des Kretins bekommt. Bald wird er überhaupt nicht mehr sprechen und niemals mehr frei aus sich heraustreten können. Die Frau, die mit ihm verbunden ist, wird einen Menschen an der Seite haben, dem sie jedes Wort abpressen muß, der stundenlang schweigend neben ihr hergehen kann, der eine Atmosphäre von dumpfem Groll um sich herum verbreitet, die aber ihn nicht bedrückt, ja deren Druck auf sie er mit Schadenfreude zur Kenntnis nimmt, weil er ja hier gar nicht sein Zuhause, sondern »anderwärts« seinen wahren »Rückhalt« und seine wahre »Intimität« hat, also auf gutes Einvernehmen mit der Frau gar nicht angewiesen ist und sich daran weiden wird, sie mit unerwarteten Bosheiten und Beleidigungen aus heiterm Himmel zu überfallen … Wenn er nachts oder tagsüber irgendwo mit einem schmutzigen Frauenzimmer Körper an Körper gelegen hat, / so ist ein anderes Benehmen gegen die Frau / gar nicht mehr denkbar. Ja, er wird ihr Vorhaltungen machen, daß seine Dirnen, die er ihr oft unter einem Vorwand ins Haus bringen und die er dazu anstiften wird, die Frau mit Frechheiten zu provozieren, / sie nicht lieben! … Wie er überhaupt jede Gelegenheit benützen wird, sich als den jovialen, mit aller Welt in Harmonie lebenden Menschen hinzustellen und die Frau als die »Unverträgliche« oder die »Egoistin« erscheinen zu lassen. Um »beliebt« zu sein und über sein ruchloses Geheimleben Schweigen zu breiten, wird er mit Schweige-, Bestechungs- und Unzuchtsgeldern, hinter dem Rücken der Frau, die ganze Umgebung mästen, / so daß er daher »beliebt«, die Frau aber »unbeliebt« sein wird, / dafür aber der Frau Vorwürfe über ihre Verschwendung machen, wenn sie sich satt ißt, oder wenn sie einen Gegenstand für den Haushalt kauft; an der Verschönerung des Heims, die ihr am Herzen liegt, an der soliden Ergänzung, die sie dem Haushalt geben will,/hat er ja ebenfalls kein Interesse, denn sein »Heim« ist / irgendwo anders …

Natürlich wird das Wesen dieses Mannes wie ein unerträglicher Alp auf der Frau lasten, / und der erste Beste, der ihr von Liebe spricht, wird sie dazu bringen können, dieses »Heim«, in dem sie sich niemals froh gefühlt hat, / in dem sie immer allein war, / in dem sie beständig sich gegen bösartige Überfälle verteidigen mußte, zu sprengen.

… Das alles sind die Wirkungen der Tiefe, / die zum Einsturz einer Ehe führen. »Heimlich« halten kann man eine Zeitlang so manches, aber der Wirkung eines Doppellebens, auf den eigenen Menschen und damit auf das eigene Schicksal kann sich keiner entziehen. Diese Wirkung wird sich auf vielfältige Art nach außen projizieren und neue, ungeahnte Konsequenzen schaffen.

Geschlechtliches Erleben greift eben, wie kein anderes sonst, / an die Wurzeln der Person, der Charakterbildung, der seelischen Struktur und damit des eigentlichen Wesens. Eine Zeitlang läßt sich ja ein Doppelleben durchführen, und besonders beschränkte, skrupellose Menschen, die die Zusammenhänge der Dinge nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, werden glauben, es »durchhalten« zu können. Daß sie sich dabei wohlfühlen, daß es ihnen möglich ist, / das allein charakterisiert sie deutlicher, als alles andere. Auf die Dauer aber läßt sich das wirkliche Sein und Treiben eines Menschen nicht verbergen, und selbst der beschränkteste Kopf mit dem hartgesottensten Gewissen, der auf das Vertrauen einer vornehmen Umgebung spekuliert und nicht etwa, / wie man glauben sollte, / davon entwaffnet und geläutert wird, / der wie ein Gnom der Unterwelt in seinem eigenen Heim haust / und das Vertrauen »benützt«, um es schamlos zu mißbrauchen, / wird daran glauben müssen und eines Tages dastehen, wie Rektor Bock oder Pfarrer Mirbt.

Daß er glaubt zweierlei Existenzen »durchhalten« zu können, ist das typische Merkmal des Verbrechers, / jener Menschenart, der die intellektuelle und sittliche Urteilskraft / besonders in der Abrechnung mit sich selbst / fehlt, und die, wenn sie sich nicht offen der Ehre entkleiden will, sonderbarerweise Befriedigung darin findet, / Achtung, Vertrauen, Liebe, kurz alle Gefühle des Wohlwollens, der persönlichen und sozialen Schätzung, / auf Grund einer falschen Maske einzuheimsen. Wie man sich dabei wohlfühlen kann, bleibt Andersgearteten ein Geheimnis.

Um dauernd geachtet zu werden, genügt es aber nicht, ein anständiger Mensch zu scheinen, sondern man muß sich die Unbequemlichkeit machen, es zu sein. Selbst wenn diese Dinge wirklich »fein gesponnen« wären, kämen sie endlich an die Sonnen, um so mehr, da sie, von dunkelsten, brutalsten Trieben diktiert, gewöhnlich auch mit brutaler Frechheit und Schamlosigkeit sich auswirken und bis zu den unglaublichsten »Unternehmungen« führen / und da die Komplizen nicht zu schweigen pflegen, wenigstens nicht über Jahre hinaus.

Es ist ein ausgezeichnet weises und gerechtes Gesetz im Eherecht der meisten europäischen Staaten, daß die Klage auf Ehebruch von dem Tage der Kenntnisnahme des getäuschten Gatten an erhoben werden kann, wenn der Ehebruch nicht um ganze zehn Jahre zurückliegt. Das Klagerecht verjährt, in den meisten Staaten, sechs Monate vom Tage der Kenntnisnahme des Delikts an, nicht etwa von dem Tage an, an dem das Delikt begangen wurde. Sobald der andere Gatte das Delikt erfährt, / beginnt sein Klagerecht. Und das ist das einzig Richtige, selbst wenn das Delikt um Jahre zurückliegt und der andere glaubt, daß über den Verrat längst »Gras gewachsen« sei, oder wenn er gar, eben weil es so lange nicht »herauskommt«, ihn dauernd fortsetzt. Auch der Verjährungsparagraph ist von tiefer sittlicher Bedeutung.

Und wieder liegt es in dieser Natur der Dinge, daß wenn, oft erst nach Jahren, auch nur ein Minimum davon bekannt wird, / man sofort ein Bild des ganzen Lebens dieses Menschen hat und sich sein Treiben, das er als Geheimnis begraben glaubt, weil ja niemand »dabei« war, bis aufs kleinste Detail mit absoluter Folgerichtigkeit rekonstruieren kann. Durch eine einzige Enthüllung hat man plötzlich den Schlüssel für sein ganzes Verhalten. Die Beweise strömen dann von allen Seiten herbei. »Denn ist die Tat gesetzt,/besteht sie.« M. E. delle Grazie in ihrem Drama »Der Schatten«.

Oskar Wilde sagt in »De Profundis«, seinen Aufzeichnungen aus dem Zuchthaus: »Ich vergaß, daß jede kleine Handlung des Alltags den Charakter prägt oder zerstört und daß man deshalb das, was man insgeheim im Zimmer getan hat, eines Tages mit lauter Stimme vom Dach herunter rufen müsse … Ich war nicht mehr der Steuermann meiner Seele und wußte es nicht … Und das Ende war die greuliche Schande.«

Und ein tiefes Sprichwort erkennt: »Es ist eine Gerechtigkeit auf Erden, / daß die Gesichter wie die Menschen werden.« Darum gibt es nur eine einzige sexuelle Moral, und die ist durchaus geradlinig: sein sexuelles Leben so einzurichten, daß man dafür, gegebenenfalls, einstehen kann / vor jedem.

Es darf nicht eine praktische und eine theoretische Ethik geben, sondern es müssen in den Menschen moralische Überzeugungen geschaffen werden, nach denen sie auch wirklich leben können und leben wollen. Der erwähnte Redner argumentierte damit, daß die uneheliche Mutter doch »in keinem Salon empfangen wird«. Ich meine, daß das keine Frau abhalten wird, die ein Kind als uneheliche Mutter haben wollte, sich auch wirklich zu dem Kinde zu bekennen, selbst auf die Gefahr hin, daß sie nicht in den Salons empfangen wird, was übrigens nur von ihrer Persönlichkeit abhängt. Mary Wollstonecraft wurde in Salons empfangen, und auch in unserer Zeit leben Frauen, die durch ihre Persönlichkeit und ihre Leistungen in der Gesellschaft hoch in Ehren stehen, obwohl sie sich, mit Bewußtsein und unter eigener Verantwortung, über die Grenzen der konventionellen Moral hinwegsetzten. Die »Salons« gewisser Kreise verschließen sich ja auch vor Juden. Nur ganz charakterlose Individuen werden aber deswegen ihr Judentum verleugnen. Die Sitte, vor der sich Salons öffnen und schließen, beruht lediglich auf Modeanschauungen, die sich beständig ändern. Sobald es Frauen in genügender Anzahl geben wird, die ihre natürliche Fortpflanzungspflicht erfüllen wollen, auch außerhalb der Ehe und sobald der Staat, aus bevölkerungspolitischen Gründen, ein Interesse daran haben wird, daß dies möglich sei, werden Gesetze und Sitten entstehen, die hier Schutz im weitesten Sinne bieten, und die Ächtung wird dann ganz von selbst entfallen. Es werden dann vor allem die biologisch tauglichen und die sozial selbständigen Frauen zur Mutterschaft, auch ohne Ehe, gelangen, mit allen Konsequenzen des Schutzes, soweit er notwendig ist. Moralen entstehen überhaupt meist nur / aus Gründen der Zweckmäßigkeit, als Ergebnis generativer Notwendigkeiten einerseits / und metaphysischer Instinkte andererseits.

V.
Ausgleichstendenzen in der doppelten Moral

Es ist ein erfreuliches Zeichen der Zeit und der Wirkung unserer Bewegung, daß die harte Abstinenzforderung, die dem Weibe, das nicht zur Ehe gelangte, bisher für Lebenszeit gestellt war, mehr und mehr als unhaltbar, während gleichzeitig die männliche Keuschheit in einem besonderen Sinn als ein rassenbiologisch und persönlich sehr hoher Wert erkannt wird.

Die Lösung zwischen den beiden scheinbar so entgegengesetzten Moralwelten von Mann und Weib liegt in der Mitte. Die absolute Abstinenzforderung bis zur Ehe kann auch dem Weibe nicht prinzipiell gestellt, und sie kann vor allem nicht immer erfüllt werden; andererseits müssen jene Geschlechtsrechte, welche bisher die Freiheit des Mannes zu den wüstesten Geschlechtsorgien bedeuteten, verpönt werden.

Der Lebensprozeß ist ohne gewisse starke Spannungen nicht zu denken. Die stärkste dieser Spannungen stammt aus dem sexuellen Empfinden. »Alles sexuelle Leben ist Gespanntsein, und zwar ein gerichtetes Hinspannen, ein Tendieren bis zur Abfuhr … das Keimerbe des Menschen sind sexuelle Spannungen männlichen und weiblichen Charakters.« »Die Bisexualität als Grundlage der Sexual-Forschung« von Dr. Heinrich Körber in: »Die neue Generation«. Die grundlegenden Theorien über die Bisexualität der Lebewesen hat Dr. Wilhelm Fließ gegeben, dem sie Weininger entnahm und, ohne jeden Quellennachweis, seine Philosophie darauf aufbaute, ein Zusammenhang, der erst nach seinem Tode enthüllt wurde.

Die Entspannung der sexuellen Gefühle bringt die große Entlastung, die vollkommenste innere Freiheit. Umgekehrt entsteht ein qualvoller Druck, wenn diese Entspannung nicht erfolgt, / sei es durch geschlechtliche Erfüllung oder: durch Sublimierung ins Geistige. Nicht nur der Sexualtrieb, sondern alle starken Gefühle drängen zur »Abfuhr«. So ist z. B. bei temperamentvollen und geistig lebendigen Menschen das Bedürfnis, sich ähnlich fühlenden mitzuteilen, ein wirkliches Lebensbedürfnis. »Alle meine Gefühle lasteten auf meiner Seele, anstatt eine Lebensquelle zu sein«, klagt Madame de Staël in der Verbannung, die sie des Verkehres mit ihren Freunden beraubte. Unter diesem Druck, sich nur sehr mangelhaft geistig und erotisch ausgeben zu können, leiden wohl heute, als Folge der immer zunehmenden Atomisierung, der immer frostiger werdenden, rein geschäftlichen Form des öffentlichen Lebens, die sogar die Geselligkeit beeinflußt, die meisten begabteren und reicheren Naturen. Die kapitalistische Wirtschaftsform hat ihre Ausläufer in nahezu alle menschlichen Beziehungen entsandt. Das starre »Gesetz« gegenseitiger, genau fixierter Verpflichtungen und Rechte, entsprungen aus dem immer mehr schwindenden Vertrauen von Mensch zu Mensch, hat das Gefühlsleben ertötet, zurückgedrängt, verpönt, und immer seltener werden die Oasen in dieser Wüste der Zivilisation.

»Die erotischen Spannungen werden, wenn ihnen jedes Ventil fehlt, zu Explosivkräften. Die unterdrückten Sinne nehmen Rache für die Zurücksetzung, die sie erlitten haben.« Interessant ist, daß nach großen Katastrophen, die eine Lebensgefahr mit sich bringen, bei der Rettung der Verunglückten sich, nächst dem Bedürfnis nach Stillung des Hungers, sofort der Geschlechtstrieb geltend macht. Professor Michels berichtet, daß, als die Verschütteten in Messina ausgegraben wurden, sie fast alle, Männer sowohl wie Frauen, danach begehrten, Essen zu erhalten und dann sofort geschlechtlich verkehren zu können. Dieser Trieb ist eben der Lebenstrieb an sich; die drohende Lebensgefahr, einmal beseitigt, mußte ihn erst recht in die Höhe peitschen.

Die Umwertung der sexuellen Moral vertritt den Standpunkt, daß unsere Zeit, mehr als jede andere, sexuell befriedigter Menschen bedarf, »Personen, die ihre auf sexuelle Reize so fein reagierende Neurone von den Extremen der Ausschweifung ebenso fernhalten, wie von den Extremen der nicht minder nachteiligen chronischen Unterdrückung«. Das ist freilich alles leichter »gefordert« als erfüllt. Nichts ist schwerer in der Welt zu haben, als wirkliche erotisch-sexuelle Befriedigung, und zwar um so schwerer, je höher entwickelt ein Mensch ist und je komplizierter und feiner daher seine diesbezüglichen Bedürfnisse sind. Im übrigen wird niemals die rationelle Theorie, sondern nur ein Etwas, das ein vornehmer Forscher, Dr. Meyer-Benfey, die Gnade genannt hat, das wirklich höchste Lebensglück erschließen. »Fordern« können wir alle Glücksrechte, die es in den Theorien aller Zeiten gegeben hat und geben wird, aber sie erringen und erhalten, / das ist eine Frage, deren Lösung leider nicht nur von der Erlaubnis unsrer Mitwelt abhängt.

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Je höher, reifer und voller eine Persönlichkeit ist, in um so höherem Grade wird sie von der Liebe nicht nur Geschlechtsgenuß, sondern vor allem psychische Befreiungen verlangen. Bei reichen und geistig hochveranlagten Naturen wird aber auch das erotisch-sexuelle Bedürfnis sich schon sehr frühzeitig entwickeln, wie auch Mantegazza bestätigt, um sich dann, mehr und mehr, zu psychischen Forderungen, als Begleiterscheinungen einer befreienden Erotik, zu sublimieren.

Wie schwer es besonders für den heutigen höheren Frauentypus ist, zu einem erotisch befriedigenden Verhältnis zu gelangen, habe ich im ersten Buch dieser Untersuchung ausführlich dargelegt Siehe S. 328-337 und 365-374 der »Sexuellen Krise«.. Für die Vergeistigung des Geschlechtstriebes hat Freud den Ausdruck »Sublimierung« gebraucht; Bloch spricht in ähnlichem Sinne vom »sexuellen Äquivalent«. Dr. Magnus Hirschfeld definiert diese Sublimierung »nicht sowohl, wie es meist geschieht, als eine Erhebung, ein Steigen des Geschlechtstriebs in die zerebrale Sphäre, als vielmehr eine Umwandlung der geschlechtlichen Aktion in seelische«. Strindberg vertrat den Standpunkt, daß die Gebärmutter des Weibes ihre eigene Seele habe, die, ganz ebenso wie der sich dem Willen entrückende, automatische Vorgang der Potenz beim Manne, ihre Strebungen, unabhängig vom bewußten Willen, verfolgt. »In der Gebärmutter steckt ein nach Gebären verlangendes Wesen, dem übel zumute wird, wenn es eine lange Zeit ohne Frucht bleibt. Es hemmt das Atmen, ruft Beklemmungen hervor und viele Krankheiten und muß deshalb befriedigt werden.

Aber wohlgemerkt: der Trieb, Kinder zu gebären, soll befriedigt werden, nicht der andere Trieb (Astartes), der kann nicht befriedigt werden, der ist unersättlich. Und der Trieb zur Leibesfrucht hat das Bedürfnis nach einer Behausung zur Folge, in der das Kind geboren wird, und verlangt einen Mann, der Essen schafft und das Haus beschützt! Das ist die heilige Ehe!« Und gerade das ist auch / die Krise!

VI.
Bürgerlich und Romantisch

Den Moralkonflikt zwischen der alten und der »neuen« Ethik kann man ohne weiteres als den Gegensatz zwischen Bürgerlich und Romantisch bezeichnen. Ich stehe nicht an, zu bekennen, daß ich die bürgerliche Moral für gesünder, sympathischer, nüchterner und reinlicher halte, mit einem stärkeren Instinkt für die Tatsachen ausgestattet, als die Moral der Romantik, die nicht selten Illusionen nachjagt und sich auf diesem Weg von Irrlichtern manchmal in ein Dickicht locken läßt, aus dem man nur unter Lebensgefahr, wenn überhaupt, wieder herauskommt. Unter diesen Irrlichtern sind weniger die Sehnsüchte der eigenen Seele zu verstehen, welchen, wie allem, was aus der innersten Natur kommt, Beachtung zu schenken ist, sondern nicht selten ist es ein Schwall von falschen Illusionen, welche die, die durch keinerlei richtunggebende Instinkte ihrer eigenen Natur zielsicher orientiert sind und die die Wegweiser des Bürgertums, dem sie entliefen, in Bausch und Bogen verachten, irreführen. Von den »Lemuren« / den »geflickten Halbnaturen« sprach ich an anderer Stelle In meinem Roman: »Die Intellektuellen«, Verlag Oesterheld & Co., Berlin W 15.. Und diese Menschenart, von deren lächerlich überwertetem Einfluß auf unsere Kultur wir hoffentlich, dank dem durch den Krieg geschaffenen Umschwung, befreit sind, die ist es, die auch das Wesen der Moral, nicht etwa in tiefer gewissenhafter Untersuchung, wie es die Bewegung für Sexualreform tut, / »umwertet«, sondern mit einem faulen Ästhetizismus des »Bösen« und mit den groteskesten »Idealen« / verkörpert in männlicher und weiblicher Gestalt / verunsäubert und verwirrt.

Charakteristisch ist fast immer der Bruch mit der Heimat, der elterlichen Sphäre. Die Verblendeten unterschätzen die sozial-ökonomischen Sicherungen, wie sie dort angestrebt werden und die wirkliche Wärme und Liebe, die dort geboten wird, / Werte, die durch unechtes Hinüberschielen nach jedwedem Humbug und der Kaffeehausproduktion von Talmiidealen nicht ersetzt werden können. Beispiele dafür daß den Leuten von dieser Richtung jede Fähigkeit dafür fehlt, Ursachen, Zusammenhänge und Werte gewisser sozialer Sitten auch nur zu ahnen, geschweige zu erkennen, geben hier vielleicht mehr Licht. Ein Überweib heiratet natürlich, wenn überhaupt, zumeist hinter dem Rücken der Eltern und zumeist ein »Genie« mit vielen Talenten, ohne jeden Brotberuf. In der Wirtschaftsführung der »Eheleute« wird dann genau »abgerechnet«, und jeder zahlt sein Teil. An Mahlzeiten im Hause hält sich niemand gebunden, und die Zimmer sind weit getrennt, damit keiner die empfindsamen Nerven des anderen störe. Die Aussteuer, die ihr die Eltern nachträglich geben wollen, verschmäht sie und macht sich lustig über die lächerliche bürgerliche Sitte, die der Tochter einen Vorrat an Wäsche mitgibt. Ich frage sie, ob sie denn in der Praxis und Realität keine Wäsche brauche, worauf sie mir erwidert, sie hätte zwei Tischtücher, das genüge. Und sollten zufällig einmal beide schmutzig sein, nun, so telephoniere sie eben ins Warenhaus und lasse sich das dritte kommen. Ich mache sie aufmerksam, (gewillt, der Sache auf den Grund zu gehen), daß das erstens sehr unbequem ist und daß es Geld koste. Und ich deute an, daß der Sinn der bürgerlichen Aussteuer der Tochter eben der sei, einem jungen Hausstand ein Fundament von Gegenständen des täglichen Bedarfs mitzugeben, von Vorräten von allem, was sich an Vorrat halten läßt, damit die knappen Einkünfte junger Leute nicht durch Anschaffungen solcher Art überlastet werden. Auch die Sitte der Mitgift ist eine im Grunde durchaus gesunde: es wird für die Tochter ein Kapital gespart, damit die privatwirtschaftliche Existenz zweier junger Menschen und ihrer Nachkommenschaft ein ökonomisches Fundament habe, welches in keiner Weise sonst / etwa von der »Gesellschaft« / zu erwarten ist. »Mitarbeit« der Frau, anstatt der Mitgift, ist ein sehr unzuverlässiger Wert, / ein Notausgang.

Die Quintessenz der bürgerlichen Sexualmoral ist die:

1. daß der Mann, als Gatte und Vater, die Fähigkeit und den Willen haben soll, sich, seine Frau und seine Kinder zu erhalten, sie für ihr Alter auf die eine oder andere Art zu versorgen und daß die Frau ihn bei diesem Bemühen zu unterstützen hat;

2. daß außereheliche Geschlechtsbeziehungen, insbesondere solche, die geeignet sind, ein schon bestehendes Eheband zu zerstören oder zu gefährden, und ferner solche, die die Ehe oder Existenz der Tochter erschweren bzw. unmöglich machen, zu unterbleiben haben; ebenso »Liebesheiraten«, falls der Charakter und die sozialen Fähigkeiten des Mannes keine Gewähr für eine Existenz geben.

Diese Moral bietet die weitgehendsten Schutzmomente gegen die größten Gefahren des Lebens.

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Das Bürgertum mag viele Sünden am Kerbholz haben, besonders in den Fragen der Ästhetik; aber sein Gegenpol, die »Übermenschen« der Großstädte, sind entschieden eine Spezies, der man noch viel radikaler, weit im Bogen, ausweichen muß, als dem philiströsesten Bürger. Natürlich gilt der Begriff romantisch nicht nur für diese Sorte.

Die Synthese des Moralproblems, auf dem Gebiet der Erotik, liegt in der Vereinigung der beiden Gegensätze, d. h. in der Ermöglichung individuell belebter und fruchtbarer erotischer und ehelicher Bündnisse, die dabei sozial-ökonomisch auf dem Boden der Tatsachen und der strebenden Entwicklung stehen.

Gewiß, so manche These, die dem Bürgertum in Fleisch und Blut saß, forderte zum Angriff und zur Überwindung heraus. Thesen solcher Art waren meist ebensowohl aus Motiven der Vorsicht und des Schutzes, als auch vielleicht aus religiösen Motiven entstanden. »Alle Theologen bezeichnen die Fornikation (den unehelichen Geschlechtsverkehr) als Todsünde.« Ellis. Da Millionen Menschen vom ehelichen Geschlechtsverkehr abgeschnitten waren und auch nicht immer, wenn sie ihn erreichten, ihre Befriedigung in ihm fanden, mußte hier eine Umwertung einsetzen. Betrachtet man aber selbst eine solche krasse These, die unsere Opposition hervorruft, genauer und tiefer und geht man an die Wurzel, so findet man, daß hinter einer solchen Weltanschauung, instinkthaft, sich eine Erkenntnis ausspricht, die sich in der Praxis mehr oder weniger bewahrheitet. Der Geschlechtsverkehr, der unehelich bleibt, der der religiösen Weihe bzw. der sozialen Legitimierung entbehrt, der scheut eben in irgendeinem Punkt davor zurück, für alle Folgen, die sich aus ihm ergeben, einzustehen. Ein Bündnis, das die Legitimierung umgeht, verbirgt sich in gewissem Sinne; auch wenn die Personen sich nicht verbergen, so verbergen sie sich dennoch vor dem Gesetz, vor der sozialen Forderung, vor gewissen Obligationen, die sich aus ihrem Verkehr, wenn er vom Staat sanktioniert wäre, ergeben würden. Darum wird der schutzbedürftigere Teil der Geschlechter, die Frau bzw. die Familie, die sie, wie es natürlich und sozial geboten ist, beschützt, auf der Legitimierung bestehen, weil sie eine wenigstens einigermaßen gesicherte Rechtslage schafft.

Gewiß, es gibt andere Werte, Erlebniswerte an sich, die auch ihr Recht verlangen. Es fragt sich eben, / was man will. Und es soll niemandem verdacht werden, der sich diese Rechte, unter Preisgabe aller Sicherungen, nimmt; besonders dann nicht, wenn es mit vollem Bewußtsein, klarem Willen und unter »eigener Verantwortlichkeit« geschieht.

Also, ich möchte eine These der neuen Ethik etwas umformen. Das Kriterium soll nicht darin liegen, daß man sich auf das »Verantwortlichkeitsgefühl« des andern, besonders des Mannes, dem, wie Rosa Mayreder sehr richtig bemerkt hat, Geschlechtsdankbarkeit vollkommen zu fehlen pflegt, verläßt, / sondern nur die Frau, die für alle Konsequenzen ihres Geschlechtslebens unter eigener Verantwortung und ohne nachher bei denselben Menschen, deren Moral sie mißachtet hat, um Hilfe betteln zu müssen, aufkommen kann, die hat auch das Recht, es so einzurichten, wie es ihr lediglich ihr eigenes Gewissen und ihre eigenen Wünsche diktieren. Ich darf hier nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß ich schon in dem Moral-Kapitel des ersten Teils meiner Untersuchung (»Die Moral mit dem doppelten Boden«) zu ganz derselben Schlußfolgerung gelangt bin. Wenn auch die Untersuchung im ersten Teil sich vor allem auf alles das beschränkte, was wir, unsern stärksten Lebenstrieben gegenüber, als schmerzhafte Hemmung empfinden und dort die große Naturmacht als solche in ihrem zwingenden Bedürfnis erkannt und analysiert wurde, während der zweite Teil folgerichtig nach Auswegen suchen und der Analyse die Synthese folgen lassen muß, / so habe ich doch dort, genau wie hier, Ähnliches gesagt, was ich nur deshalb hervorhebe, damit man mir nicht Widersprüche vorhalten möge, wenn ich die Gegensätze der Dinge, / die Zweiseitigkeit der Medaille, / erkenne und mit gleichen Maßstäben untersuche.

Es heißt dort: »Dem Begehrlichkeitstrieb jedes Individuums sind Schranken zu stellen, solange es, ob Mann, ob Weib, nicht alle Konsequenzen seines sexuellen Tuns und Leidens ermessen und tragen kann und solange es nicht fähig ist, den Sturz in Unsauberkeiten, die sich aus diesem Tun und Leiden ergeben könnten, zu vermeiden. Daß Sexualität und Ehre tatsächlich in einer gewissen Verknüpfung sind und nicht nur in der konventionellen Bewertung, ergibt sich aus der Tatsache, daß das Hinabgleiten in unsaubere und schmähliche Verhältnisse fast schon ehrlos macht.« »Die sexuelle Krise«, S. 96.

Und in mehr als einem Sinne. Es entstehen bedrückende, beschmutzende Situationen, bei denen auch, fast immer, jede Illusionen gerade jenes »Ideals«, das die Menschen da hineinlockte, / des Ideals der erotischen Erfüllung,/verlorengehen. Man hat alles aufgegeben und meistens nichts dafür eingetauscht, als Schande, Elend und Enttäuschung. Ein Blick in die Akten der Mutterschutzheime zeigt uns fast lauter ruinierte Existenzen, die, nach der »alten« Moral, jedenfalls nicht in diesen Abgrund gekommen wären,/was uns natürlich nicht abhalten kann, den Unglücklichen unsere Hilfe zuzuwenden, da wir, mit tiefster Einsicht, die dämonische Gewalt der stärksten Naturmacht, die sie dahin brachte, ermessen können.

Gewiß, man kann sich die Untersuchung gesellschaftlicher und moralischer Phänomene leicht machen, wenn man von vornherein ein Steckenpferd reitet, es immer lustig, mit vorgeschriebener Marschroute, nach der einmal gefaßten Tendenz hinlenkt und sich gegen das Leben und seine Lehren verschließt, / »zurück stets kommend auf ihr erstes Wort«. Ich, für mein Teil, ziehe vor, / es mir schwer zu machen und die Erscheinung, nach deren wahrem Wesen ich forsche, von allen ihren Seiten, soweit sie sich mir überhaupt offenbaren, zu untersuchen. Und erst aus der voraussetzungslosen Analyse des gesamten Materials ergeben sich Direktiven, welche als nach- (und nicht als vor-) gewonnene Tendenz des Werkes gelten können.

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Fortsetzung des V. Kapitels im zweiten Band
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig

 


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