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Siebentes Kapitel.
Erfüllungen

 

»Zwei Schwingen führt ja stets die Zeit,
Sie nimmt mit einer, gibt mit einer;
Ist heute dein Besitz auch kleiner –
Zwei Schwingen führt ja stets die Zeit.«

Halm.

 

Olga reiste in dem schlesischen Winter, an das Krankenlager ihres Vaters. Lang und ermüdend war die Nachtfahrt in der dritten Klasse. Während der kleinen Strecke, von der österreichischen Grenze an, war die Reise am unerträglichsten. Seit sie in Deutschland lebte, hatte sie vergessen, daß es solche Eisenbahnwagen gab. In dem schlechtgeheizten, übelriechenden, engen und dunstigen Coupé war sie erst mit einer Schar slovakischer Bauern zusammengepreßt. An einer Umsteigestelle wurde das Coupé leer. Sie fand aber auch dann keine Ruhe, da ein unaufhörliches Getöse von aneinander klirrenden Metallteilen den Raum erfüllte. In ihrer Verzweiflung rief sie den Schaffner und bat ihn, zu untersuchen, woher dieser wahnwitzige Lärm käme. Der Mann kroch unter die Bänke und probierte an verschiedenen Schrauben herum, dann erklärte er ihr, daß eiserne Bestandteile des Wagens, welche durch Schrauben gehalten würden, lose seien und bei jeder Umdrehung der Räder donnernd an die Schienen schlügen.

Im Morgengrauen kam sie an. Die lehmigen, ungepflasterten Straßen waren von dicken Kotwällen verbarrikadiert. Die von Kohlenstaub und Fabrikrauch verdorbene Luft kroch ihr bei jedem Atemzug beißend in die Kehle. Ihre kleine, verschabte Reisetasche in der Hand, eilte sie, mit angstvoll klopfendem Herzen zu Fuß ihrem Vaterhause zu, das ihr noch finsterer als sonst seine trübe Front wies. Die alte Salke wußte, daß sie mit dem Frühzug kommen würde, und preßte wartend den Kopf an die Fensterscheibe. Olga erkannte trotz des Zwielichtes, unter dem wollenen Kopftuch das gespenstig verschrumpfte Gesicht der Alten. Sie winkte hinauf, und gleich antwortete ihr ein deutliches Nicken. Bald hörte sie die schweren, schleifenden Schritte, der Schlüssel wurde knarrend herumgedreht, und das Tor wich zurück, in den finsteren Flur.

»Olgaleben!« – – – Die knochige Hand tastete nach der ihren. »Gelöbt is Gott – Se sind daham!« – – – Und dann stiegen sie zum Krankenzimmer des Vaters hinauf.

Sie erkannte nicht gleich, ob er lag oder saß. Er war in einen tiefen Fauteuil gebettet. Eine Menge Kissen stützten den Rücken, die Beine lagen, in der Höhe des Sessels, ausgestreckt, auf hoch aufgetürmten Matratzen. Seit das Wasser in ihnen war, konnte er sie nicht mehr hängen lassen und hielt es auch liegend im Bett nicht aus. Seine ehemals so lange Gestalt schien zusammengeschrumpft, der Rest seines grauen Haares war schneeweiß geworden und hing lang und wirr unter dem schwarzen Sammetkäppchen hervor; die wie mit einem grauen Hauch überdeckten Augen flackerten hilflos, und alle Züge des Gesichtes verliefen spitz in tiefen Furchen.

»Gut, du kommst«, sagte er mit fremder, hohler Stimme.

Er faßte krampfhaft ihre Hand und ließ sie eine ganze Weile nicht wieder los.

»Ich hätt' ka Ruh' gehabt, mei' Kind,« flüsterte die hohle Stimme, – »wenn du nicht gekommen wärst.«

Sie versicherte ihm, während sie sein abgezehrtes Gesicht küßte und die Tränen herunterwürgte, daß sie schon längst gekommen wäre, wenn er sie nur hätte früher rufen lassen. Sie erzählte auch, daß Stanislaus in wenigen Tagen nachkäme. Der Alte nickte nur, apathisch, mit dem Kopf. –

Olga sah sogleich, daß die mühevolle Pflege des Schwerkranken von ihr und der alten Salke allein nicht geleistet werden könnte. So besorgte sie einen Wärter. Der war nun Tag und Nacht um den Kranken, gab bei jedem Besuch des Arztes seine Meinung ab und hörte nicht auf, täglich den immer näher rückenden Termin des Endes zu prophezeien. Die alte Salke bemerkte auch, daß er sich Kleinigkeiten aus dem Besitze des Kranken nach und nach aneignete und erzählte es Olga klagend. Auf die Wäsche des Kranken schien er es abgesehen zu haben, die Taschentücher wurden immer weniger. Auch die Tabakpfeifen, die auf einem Brett aneinandergereiht waren, verschwanden nach und nach; und eines Tages war sogar das Gebiß des alten Mannes, das er sich manchmal noch einsetzen ließ, nicht zu finden. Dieser schwarzhaarige Wärter, mit dem gleichzeitig schlauen und verdrossenen Gesichtsausdruck, mit der kolossalen Hakennase, unter den dichtbebuschten Augen, erinnerte an eine unheimliche Dohle, die hier auf die letzte Beute lauerte.

»Weggetragen haben se euch alles, – grad' wie der do – – – « sagte die alte Salke, mit wiegendem Kopf und blickte Olga vorwurfsvoll an. Dann hob sie die Achseln, spreizte die Finger mit dem Ausdruck von Hilflosigkeit und wiederholte nachdrücklich: »Weggetragen – alles …«

Schwer und bang waren besonders die Nächte. Der Kranke kam fast nicht mehr zu Ruhe. Unablässig verlangte er seine Lage zu verändern, mußte immer wieder vom Bett in den Lehnstuhl und von da wieder zurück getragen werden. Die Tochter stand am Fußende des Bettes. Ab und zu sah er sie mit starren, umflorten Augen an und sagte dann erkennend: »Mei Kind …« Im übrigen fragte er nach nichts, was ihn sonst interessiert hatte. Mit keinem Wort fragte er nach dem Leben der Kinder, während der letzten Zeit.

So ist es, wenn es zur letzten, dunklen Reise geht, dachte Olga, – da hat kein anderer Gedanke mehr Platz.

Der alte Mann starb schwer. Angstvoll wehrte er sich gegen den Tod. In den letzten Nächten stieß er immer wieder einen Klagelaut hervor »o je, o je« – dessen dumpfe Monotonie Olga mit Grauen erfüllte. Einmal erfaßte er ihre Hand und sagte: »Verzeih' mir.« Es überlief sie kalt; was hatte sie ihm denn zu verzeihen? Sie küßte die fahle Stirn, auf der die Schweißtropfen perlten und deren eisige Kälte sie mit ihren Lippen fühlte. »O je, o je!« sagte der Kranke. Es war keine Auflehnung mehr in diesem Klagelaut; er klang so abgewandt von allem, so wissend hoffnungslos, so sterbensbang … Als der Morgen dieses Tages graute, floh sie aus dem Krankenzimmer. Sie lief durch das Städtchen, bis hinaus auf die öde Heide und dann im selben Tempo wieder zurück. An diesem Morgen kam Stanislaus an. Der Vater erkannte ihn nicht mehr. Er lebte noch einen Tag und noch einen Teil der Nacht. Die Kinder wichen nicht von seinem Lager. Um jene Stunde, da Tag und Nacht miteinander ringen, führte seine Seele den letzten Kampf. Im Morgengrauen sahen sie, daß eine völlige Veränderung der Gesichtszüge des Kranken eintrat. Die Augen schienen aus ihren Höhlen zu quellen, der Unterkiefer sank herab, das Atmen wurde röchelnd, es klang, als ob zwischen zwei Mühlsteinen etwas Sprödes zermahlen würde. Der übermüdete Wärter lag und schlief, die alte Salke saß zusammengebrochen in einer Ecke, und die Tränen strömten endlos aus ihren halbblinden Augen. Endlich stieß der Kranke einen tiefen Seufzer aus, hob noch einmal mit letzter, krampfhafter Anstrengung den Unterkiefer, formte die Lippen, über die ein letzter Laut kam, – ein hohles O, und der Ansatz des Wortes »je« – dann streckten sich seine Glieder, der Atem wurde schwächer, die Augen drehten sich in den Höhlen, – der Kiefer fiel herab.

*

Aus dem unerwartet schneidenden Weh, das durch das Sterben des Vaters über die Geschwister gekommen war, rüttelte sie die Notwendigkeit, eine Menge von Entschließungen zu treffen. Sie verkauften den ganzen Besitz dem Prokuristen, der das Geschäft in letzter Zeit allein geführt hatte. Von dem ehemals großen Vermögen war nur noch ein Rest vorhanden, der unbegreiflich gering schien. Stanislaus versuchte es, aus den Büchern über das Zusammenschmelzen des Vermögens Aufschluß zu erlangen, aber, was in den Büchern stand, das stimmte. Er begriff, daß der Verlust in jenen Posten steckte, die hinter den Büchern geblieben waren. Diese Unterschlagungen waren in so vorsichtigen Tritten ausgeführt, daß sie keine Spuren hinterließen, auf denen man ihnen hätte nachgehen können. Und auch von diesem Vermögensrest, der als Buchwert vorhanden war, mußten sie sich, beim Verkauf, noch große Abzüge gefallen lassen. Der Vater hatte ein Testament hinterlassen, des Inhalts, daß bei der Realisierung des Vermögens Olga bis zur Höhe ihrer Versicherungssumme die Erbin sei. Der Rest sollte zwischen ihr und dem Bruder geteilt werden. Diese Summe kam immerhin bei der Erbschaft heraus. Was darüber hinaus jedem als Anteil zufiel, war nicht viel mehr, als Stanislaus für sein Buch eingenommen hatte; und so sah er, daß er mit seiner Arbeit doch auf einem festeren Grunde stand, als mit der ehemals ausgesprochenen Absicht – zu erben.

Nachdem die peinlichen Verhandlungen des Geschäfts- und Hausverkaufes überstanden waren und hier alles aufgelöst war, was sie jemals mit diesem Städtchen verband, nachdem sie auch noch die alte Salke bei einer ihrer Nichten untergebracht und ihr für den Rest ihres Lebens eine bescheidene Leibrente gesichert hatten, zogen sie wieder fort, – und die letzte Spur des Nestes, dem sie entstammten, war nun für sie verweht.

Olga fuhr nach Berlin zurück. Stanislaus beschloß, eine Reise durch Deutschland zu machen, um in verschiedenen größeren Städten, wie auch auf dem flachen Lande, statistisches Material über die Lebens- und Sterbeverhältnisse der unehelichen Kinder zu sammeln und besonders unter den verschiedenen Gruppen der Unehelichen zu unterscheiden. Vor allem war es die soziale Gruppe der Stiefvaterfamilie, deren Struktur er untersuchen wollte.

*

Viel Arbeit erwartete sie in Berlin. Ruhiger, sicherer, stärker als früher, nahm sie sie auf. Sie wußte nun, daß sie hier zuhause war. Zum erstenmal hatte sie das Gefühl einer klaren Lebenslage.

Bald nach ihrer Rückkehr erhielt sie einen unerwarteten Besuch. Koszinsky und Erika standen zusammen an ihrer Tür, und sie hörte, was sich zwischen ihnen begeben hatte. Sie sah in Erikas freudestrahlende Augen – und erkannte, daß das Wunderbare dicht neben der Finsternis seinen Platz hat. Seit jener Nacht, da Erika in dem schwarzen Wasser des Landwehrkanals den Tod gesucht und auf so wunderbare Art zu neuem Leben bestimmt wurde, waren der Retter und das gerettete Geschöpf verbunden geblieben. Es wäre ihm unsinnig erschienen, sie wieder aus den Augen zu verlieren. Er betrachtete sie wie ein ihm anvertrautes Gut, wie ein letztes Pfand des Schicksals, mit dem es ihn noch einmal erproben wollte; in seinem schon wie erstorbenen Willen war eine neue Saat aufgegangen, – ihm war, als verpflichtete ihn dieses Vertrauen des Schicksals fest auf sich selbst. Sie wieder fühlte, wie ihr geknebelter, mit den Füßen getretener Liebeswille befreit war. Nun endlich hatte er ein Objekt, das kein Phantom war und sich ihr nicht entzog. Sie ging seit jener Nacht wie eine Verklärte. Der Wahn, den ihr schon der Psychiater ausgetrieben, hatte nun den letzten Boden verloren, und die schwarzen Wasser des Landwehrkanals hatten nicht nur ihn, sondern auch sie gereinigt. Da sie dem Tode so nahe gewesen, genoß sie nun das neugeschenkte Leben mit jedem Atemzug. Sie betrachtete sich als sein Geschöpf, als ihm gehörig, in jedem Sinn. Er hatte nach kurzem, leisen Sträuben, – nach dem schwachen Versuch männlicher Defensive – nach und nach jeden »Widerstand« aufgegeben. Dieses Geschöpf, das er sich da aus dem Wasser gezogen, das sich nun in seinem Leben fest einnistete und den leeren Platz in seinem Schicksal keck besetzte, dieses Geschöpf war ihm offenbar bestimmt. Mehr und mehr schien es ihm, als ob sie ihm auf rätselhafte Weise teuer geworden wäre. Immer wieder tauchte die Erinnerung an das Köpfchen mit dem verzweifelten Ausdruck der Ertrinkenden, das sich damals aus der dunklen Wasserfläche hob, vor ihm auf, und um nichts in der Welt hätte er diesen Ausdruck je wieder an ihr sehen mögen. Wenn sie nur durch ihn und bei ihm glücklich sein konnte – wie sie nicht aufhörte zu beteuern, – so mochte es denn so sein. Und er ertappte sich darauf, wie er manchmal, wenn er, spät nachts, allein von seiner musikalischen Kaffeehaustätigkeit nach Hause kehrte und an sie, – die ihm zugeworfen worden, durch rätselhafte Fügung, – dachte, wie er dann jene Worte vor sich hinsummte, die seine erste Sehnsucht begleitet hatten: – – – »Sieh, da war – meine Chiffre leis' gezogen.«

Mit dieser Kaffeehaustätigkeit waren Erika und Olga gleichermaßen unzufrieden. Eifrig beratschlagten sie zusammen, wie man den Mann aus dieser Lebenslage in eine andere bringen könnte. Olga berichtete, daß sie das schon vergeblich versucht hatte. Sie sagte, ihre Meinung ginge dahin, daß Koszinsky mit seinen großen Sprachkenntnissen sich durch kaufmännische Tätigkeit ganz gut nach und nach eine Stellung im Leben schaffen könnte. Aber es sei vergebene Liebesmüh, ihm in dieser Hinsicht zuzureden, denn er wolle davon nichts wissen.

Der Gedanke an eine kaufmännische Tätigkeit Koszinskys schlug sofort bei Erika ein.

»Und was wetten Sie, meine Liebe, daß ich ihn dazu bringe«, rief sie und war gleich Feuer und Flamme für diese Idee.

Sie gab nicht nach, sie belagerte und bedrängte ihn, sie verfolgte ihn mit Annoncen, die sie aus Zeitungen herausschnitt und die er schließlich, von ihr gedrängt, durch Offerten beantwortete. Sie blieb bei ihm, wenn er sie schrieb und ließ nichts passieren, was nicht »tadellos korrekt« war. Der Erfolg blieb nicht aus. Eine große Zuckerfabrik, die nach dem Auslande exportierte und einen Korrespondenten fremder Sprachen brauchte, stellte ihn in ihre Dienste. Erika jubelte: das hatte sie erreicht!

Und so taten diese beiden, diese Törichten, diese Verirrten, diese beiden Sündhaften und Entgleisten, – so taten sie aneinander, was keiner der Gerechten und Klugen an einem von ihnen vermocht hatte. – – –

Da war noch ein anderer Gast, der sich meldete: Werner kam zu Olga als einer, der ihrer bedurfte. Sie erschrak, als sie ihn wiedersah; es schien, als wäre jeder verbindende Strang zwischen seinen vielfachen Willensstrebungen durchschnitten. Er kam zu ihr, wie ein Flüchtiger.

In langer, wirrer Rede erzählte er ihr wieder von seiner Leidenschaft. Aber er hatte nicht mehr als einziges Willensziel den Wunsch, verkettet zu bleiben. Die Gunst der schönen Frau hatte ihm nicht die erhoffte Seligkeit gebracht; denn da war etwas – Dunkles – Ungreifbares. Sie, die er besaß, schien ihm immer wieder in neue, rätselhafte Fernen zu entgleiten. Oft, während er durchglüht, fiebernd, aufgelöst in seiner Leidenschaft, zu ihren Füßen sank, begegnete er, wenn er die Stirn aus den Falten ihres Kleides hob, einem eisigen, in die Ferne gerichteten Blick, der über ihn hinweg sah, weit hinweg. – – – Dabei drängte sie ihn zu einer entscheidenden Aussprache mit ihrem Gatten. Er schreckte davor zurück, weil er wußte, daß, wenn der Ehebruch zwischen ihnen beiden zugegeben würde und als Grund der Scheidung festgestellt war, sie keine Ehe miteinander schließen konnten.

»Ich wünsche auch gar nicht, daß der Ehebruch zugegeben wird«, sagte sie, und in ihren irisierenden Augen tanzten geheimnisvolle Fünkchen. »Nein, ich wünsche nur einen endgültigen Abschluß dieser Ehe. Man kann ja die Eifersucht des Barons heraufbeschwören: dann wird er selbst die Scheidung wollen. Bei der Scheidungsverhandlung kann man ja den Ehebruch immer noch in Abrede stellen.«

»Meineid?« flüsterte er und sah sie starren Blickes an. Sie lächelte nur, hob gleichmütig ihre tief abfallenden, romanischen Schultern und strich ihm mit den langen, weißen Händen übers Haar.

»Eines Tages wird er dich bei mir attrappieren, mein Guter, – und dann muß die Situation noch anders gelöst werden.«

Mehr und mehr empfand Werner den Unsegen dieser Leidenschaft, aber er fühlte sich gebannt, und seine Fluchtversuche endeten kläglich.

Da kam Olga zurück nach Berlin. Als er ihr wieder gegenüber saß, in ihr tiefes Auge blickte, ihre reife Seele wieder fühlte, da war ihm zumute, wie jenem Peer Gynt, der sein Kaiserreich, das er verlassen hat, zu spät erkennt.

Er kam wieder, öfter und öfter. Der Winter ging zu Ende, da stürzte er eines Abends zu ihr, wie ein Verzweifelter, der den letzten Versuch der Befreiung macht. Er erzählte ihr, daß er manchmal das Gefühl habe, in die Fänge eines abenteuerlichen Fabelwesens geraten zu sein, das mit ihm ein behexendes Spiel trieb. Er dächte schon an Opium oder an Haschisch, denn so ginge das nicht länger. Nur eine Rettung gäbe es für ihn: daß sie ihn wieder aufnähme! Und nicht nur als Freundin, als teilnehmender Mensch, – nein, – wieder ganz an ihr Herz, – an ihr reines, großes Frauenherz.

»Nur du bist meine Zuversicht«, sagte er mit beschwörender Stimme.

Da war sie wieder in dem gefährlichen Wirbel, da rauschte und brauste es um sie herum, und sie fühlte, wie es zur Tiefe zog …

Sie beschloß, jede Entscheidung abzulehnen und ihn mit ihrer ganzen Kraft dazu zu bringen, diese Verbindung zu lösen, ohne sich wieder in neue Gefahren zu stürzen; denn eine Gefahr war für ihn, das wußte sie nun, jede Hingabe an ein anderes, menschliches Ich.

Dieser da hätte allein sein müssen.

Sie saßen zusammen in ihrem Zimmer; nebenan stand die Balkontür offen. Es war einer jener ersten, verfrühten Vorfrühlingstage im Februar, denen oft noch Schnee und Regen folgt. Plötzlich, gegen zehn Uhr, abends, hörten sie beide, unten vor dem Hause, – Werners Namen rufen. Eine Frauenstimme rief, gedämpft und doch deutlich, zu den erleuchteten Fenstern hinauf: »Werner!« Und dann klang es noch einmal, stärker: »Werner!« Er erschrak und wurde totenbleich. Olga trat hinaus auf den Balkon, der im Dunkel lag. Unten, in der einsamen, fast ländlich stillen Straße sah sie, im Schein der Straßenlaterne, die Baronin stehen. Sie trug einen langen Mantel, von weich fließendem, schwarzen Sammet. Der weiße Hermelin des Kragens und der breiten Armstulpen leuchtete. Der Kopf war in einen schwarzen Schleier gehüllt, und ihr blasses, großes Heraantlitz schimmerte marmorweiß daraus hervor. Hoch aufgerichteten Hauptes, in befehlender Haltung stand sie unter der Laterne und rief immer wieder zu den erleuchteten Fenstern hinauf – »Werner! Werner!«

Gebannt stand Olga auf dem finsteren Balkon und starrte hinunter. Dann hörte sie, wie unten das Haustor aufgeschlossen wurde. Die Männergestalt, die heraustrat, blieb im Dunkel stehen. Die Baronin wandte langsam den Kopf und streckte den Arm aus. Olga sah, wie der Mann danach griff und sie an sich riß, dann verschwanden sie beide im Dunkel.

Und sie kehrte vom Balkon in ihr leeres Zimmer zurück. – – –

*

Frau Edda, in Wien, rüstete zum Abbruch. Als sie die Katastrophe, die so plötzlich über sie gekommen war, begreifen lernte, – da faßte sie einen Entschluß: sie wollte vergessen. Nicht das Gehirn, nicht die wache Vernunft konnten solch letztes Vergessen üben; aber in der abgründigsten Tiefe der Seele sollte versenkt und begraben sein, was ihr Leben zerstören mußte, wenn es gespenstig durch ihr Erinnern wandelte  … Sich zusammenraffen, frei von lähmendem Gedenken, – das war das einzige, was sie tun durfte, wollte sie nicht zugrunde gehen.

Ihre Lage war schlimmer, als sie im ersten Augenblick ausgesehen hatte. Ihr letzter Rückhalt war ihr Vermögen, welches in der Fabrik ihres Bruders Vinzenz angelegt war. Vinzenz aber machte kein Hehl daraus, daß er in kritischer Lage sei. Eines Tages fuhr er »zur Auffrischung seiner Nerven« wieder einmal mit seinem Automobil davon. Er wollte in zwei bis drei Tagen zurück sein; er kam nicht wieder. Dafür, an seiner Statt, nach einigen Wochen ein Brief aus Amerika, – wohin er sich »zurückgezogen« hatte. Fabrik und Villa wurden versteigert und der Konkurs über sein Vermögen verhängt. Eddas Geld war fort, wie das vieler anderer. Reisenleitners Frau, Eva, ging fürs erste mit ihrer kleinen Tochter zu ihrer Mutter, die wieder in Genf lebte. Edda sah nun keinen anderen Ausweg als den, zu dem ihr Stanislaus geraten hatte.

Sie verkaufte ihre Möbel und den größten Teil ihres Schmuckes. Die Summe, die sie dadurch in die Hände bekam, war ihr einziger und letzter Besitz. Dann bereitete sie sich vor, nach Berlin zu fahren, um da »einen Beruf zu suchen«, wie sie ihren Bekannten erzählte, während sie hilflos und ungläubig den schönen Kopf schüttelte.

Pankratius riet ab; es sei ein hoffnungsloses Experiment. Sie solle hier abwarten, bei ihm und Kathi, bis sich ihr Schicksal – woran er nicht zweifle, – wieder günstig wende.

Er hatte sich mit Kathi verlobt; trotz ihres anfänglichen Sträubens war sie ihm, nach und nach, sanfter entgegengekommen. Sie war ihrer aufgedrungenen Mädchenschaft herzlich müde … »Mein ganzes Leben lang hab' i' mi g'forchten, daß i' den da krieg – und jetzt sag i' richtig – von selber – ja.«

»Par dépit,« dachte Edda, – »so geht es.« Sie hätte es als Demütigung empfunden, die Gastfreundschaft des Pankratius, mit dem sie immer auf Kriegsfuß gestanden, anzunehmen und blieb bei ihrem Berliner Plan.

Kurz bevor sie reiste, erhielt sie einen Brief aus Amerika; der war nicht, wie sie zuerst dachte, von ihrem Bruder, – es war Mr. Daniel Horatio Macpherson, der ihr schrieb. Vincenz hatte ihn aufgesucht, und er versprach, für ihn zu tun, was in seiner Macht lag; vor allem aber – der Brief wand sich nicht eben geschickt um das, was er im Grunde sagen wollte, herum, – vor allem aber legte er sich ihr zu Füßen. Wann und wo immer sie über ihn verfügen wollte, – er wäre bereit. Nachdenklich hatte Edda gelesen. Sie rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. Ihre im Grunde durchaus unsinnliche Natur, deren Neigungen in bloßer Gefallsucht gipfelten, – die vielleicht auch noch durch ihr dürftiges Eheleben stumpfer geworden war, – sträubte sich gegen die Wünsche des Amerikaners.

Und so kam auch sie nach Berlin. Olga hatte sie gebeten, bei ihr zu wohnen, aber nachdem sie ihr kleines Logis besehen hatte, lehnte sie ab, weil da doch kein Platz war. Man mietete sie auf einem möblierten Zimmer ein. Jetzt hieß es, Brot für Edda zu finden. Die Geschwister gingen systematisch ans Werk. Man sandte ein gutverfaßtes Rundschreiben an alle Redaktionen, welche Modeberichte und Modebilder brachten, legte einige frühere Veröffentlichungen von Eddas Entwürfen bei und betonte diskret die Tatsache, daß es sich um die Witwe des jüngst verstorbenen großen Gelehrten handle. Neben mancher Ablehnung, – weil der Posten schon besetzt sei, – kam auch hier und da eine halbe Zusage. Die Dame wurde gebeten, sich um eine bestimmte Stunde in der Redaktion einzufinden. Da diese Stunde gewöhnlich am Vormittag lag, so war das Problem für Edda nicht leicht zu lösen. Sie lag in dem schlechten Bett der Berliner möblierten Stube, – oh, wie bereute sie, nicht wenigstens ihr Bett aus dem Schiffbruch gerettet zu haben! – sie lag da, und die Sonne funkelte durch die Jalousienstäbe, ihre Strahlen brachen sich im Messingleuchter auf dem Nachttischchen; aber Frau Edda umklammerte, halb schlafend, ihre kleine Uhr, öffnete ab und zu die wie zugeklebten Augenlider und warf einen Blick auf das Zifferblatt in ihrer krampfhaft geballten Hand. Endlich entwand sie sich, matt und gequält, dem Bett. Das tägliche Bad, die Übungen, das alles mußte entfallen. In dieser »Hetzjagd« war dazu keine Zeit. Sie sollte sich selbst frisieren, und es fiel ihr schwer und machte sie nervös. Trotzdem warf sie, wenn sie mit der Toilette fertig war, einen befriedigten Blick in den Spiegel, denn die schleppenden, schwarzen Kleider und der wallende Witwenschleier ließen sie noch schöner erscheinen.

Ratlos, mit einem Gefühl des Unbehagens und der Ablehnung stand sie vor dem Phänomen: Berlin. Diese gräßlichen Entfernungen, dieser beängstigende Verkehr, diese nach ihren Begriffen geschmacklos gekleideten Frauen und vor allem die Hast, mit der hier jeder seinen Geschäften nachjagte, – das alles flößte ihr Widerwillen ein. Ach, wie sehnte sie sich nach Wien! Nach dieser eleganten Residenz, die Großstadt war und in der doch alles im behaglichen Tempo der Kleinstadt vor sich ging. Nach diesem Wien, wo man sich kannte, wo man sich zu bestimmter Stunde mit Sicherheit im Café traf, wo die Bezirke, in denen man »zu tun hatte«, so hübsch eng arrondiert waren, daß man sie bequem erreichte, – nach Wien, wo sie ihren Fiaker und ihr elegantes Heim besessen hatte. Es war ihr ganz schrecklich, sich durch das Gedränge der Berliner Hauptverkehrsstraßen zu Fuß durchzuwinden, oder gar die gefährliche Jagd auf einen Omnibus zu machen, auf den sie so schlecht hinaufspringen konnte, weil der Zugang nicht, wie sie es von Wien gewohnt, seitlich, sondern hinten war. Wie schwer war es, die nötige Beweglichkeit aufzubringen, um hier die Verkehrsmittel richtig zu benutzen, – wo sie doch ihre lange Schleppe zu halten, dabei ihre Pakete selbst zu tragen hatte. Sogar das Telephon war ihr hier, wo sie auf die öffentlichen Sprechstellen angewiesen war, ein Greuel. Sie fand sich in der Zelle beengt, wußte nicht, wohin sie den Schirm, das Täschchen, die Pakete legen und wie sie es vermeiden sollte, mit dem riesigen Hut, den sie auch in der Trauer trug, an allen Seiten anzustoßen. Es kamen ihr Tränen in die Augen, wenn sie sich erinnerte, wie sie zuhause telephoniert hatte, – an dem kleinen, maurischen Taburett, auf dem der Tischapparat stand, behaglich im Schaukelstuhl zurückgelehnt, oder im Bett, wohin ihr das Mädchen den Apparat mit der entsprechend langen Schnur bringen mußte. Oh, wie sie die Armut haßte und fürchtete! Nein, Armut und Frau Edda, – das waren zwei Dinge, die nur das grausamste Schicksal zusammengepreßt hatte. Sie lehnte sich gegen diese neue, harte Armut mit der ganzen Revolution der Dame auf, – der Dame, wie sie als höchstes Zuchtprodukt europäischer Höflichkeit geworden war. Ihre tausend wirklichen Bedürfnisse, ihre physische Konstitution, ihre Rasse, ihr persönlicher Habitus konnten sich mit den Forderungen der Entbehrung und der Beschränkung nicht abfinden. Wenn sie sich auch, da sie ihre Lage ja genau überblickte, so weit einschränkte, als sie nur irgend konnte, so blieben doch eine Menge Bedürfnisse, denen sie, wie sie glaubte, überhaupt nicht ausweichen konnte, so zum Beispiel ihr ständiger Verbrauch an Toiletteartikeln, welcher regelmäßige Einkäufe in der Drogerie mit sich brachte. Auch konnte sie doch nicht anders, – wenn sie sich so elend fühlte, daß sie nicht mehr weiter konnte, – als eine Droschke heranrufen, oder ab und zu in ein Café gehen. Das »deutsche Essen« hatte sie anfangs, mit Ausrufen des Widerwillens, als minderwertig, geschmack- und reizlos abgelehnt. Sie behauptete, hier zum Hungern verurteilt zu sein. Nach und nach aber lernte sie die großen Restaurants kennen, die »Freßtempel«, wie sie sie nannte. Sie sah da, zu ihrem Staunen, eine Auswahl an Gerichten geboten, von der man in einem Wiener Restaurant keine Ahnung hatte. Sie wunderte sich über die kleinen Preise, mit denen diese Gerichte angeboten waren. Es wurde für sie eine Art von heimlichem Vergnügen, die Mahlzeiten, die sie ursprünglich bei ihrer Zimmerwirtin abonnieren wollte, in jenen Restaurants zu nehmen. Wenn sie durch das Vestibül eines solchen »Tempels« rauschte, kam das Behagen der früheren Wohllebigkeit über sie. Sie bestellte auserlesene, feine, kleine Gerichte, – es war ja alles so billig! Dann staunte sie, wenn die Rechnung immerhin sechs bis sieben Mark betrug.

Mit ihrer Suche nach einer Existenz hatte sie bis jetzt noch keinen Erfolg gehabt.

Der Frühling sollte bald kommen. Edda war gewohnt, ihn im Süden zu erwarten. Sie war schon als Mädchen mit ihrer Mutter regelmäßig gereist. Sie hatte Italien, Dalmatien, die französische und die österreichische Riviera kennen gelernt. Ja einmal hatte sie eine Seereise gemacht, die sie bis nach Konstantinopel führte und hatte da mit den türkischen Frauen zusammen gebadet. Sie hatte erfahren, daß nichts ihrem geschwächten Körper so wohl tat, wie das Klima dieser südlichen Striche und vor allem die milden Bäder jener Meere. Und während sie jetzt den Vorfrühling in Berlin verbringen mußte, in der Hetzjagd nach Arbeit, im Gedränge der Armut, dachte sie, mit fast krankhafter Sehnsucht, an die flimmernde Luft von Fiesole und Capri, an die linden Wellen im Bosporus und im Seebad von Rimini. – – – Und trotzdem sie nicht die geringste Möglichkeit hatte, zu reisen, ließ sie sich von vielen Pensionen und Badeorten des Südens, die nun täglich in den großen Tagesblättern ihre Annoncen erscheinen ließen, Prospekte kommen. Gierig las sie diese verlockenden Schilderungen und stapelte alle diese Drucksachen sorgfältig auf, als dächte sie, sie vielleicht doch noch gebrauchen zu können.

Sie klagte Olga und Stanislaus ihr Leid, und die beiden seufzten darüber. Aber was sollten sie ihr raten? Olga versuchte, wenigstens ihre Antipathie gegen Berlin zu verscheuchen, indem sie sich Mühe gab, sie Berlin verstehen zu lehren. Sie führte sie in die Umgebung hinaus, an die Seen, in die frühlingshaften Wälder. Sie besuchte mit ihr Versammlungen und Veranstaltungen, in denen um neue Kulturforderungen leidenschaftlich gerungen wurde. Sie machte sie, an einem Abend in der Dämmerung, auf den einzigen Stimmungszauber aufmerksam, der über einem der stärksten Verkehrspunkte der Stadt lag: sie zeigte ihr den Potsdamer und Leipziger Platz zur Zeit, da die ersten Lichter entzündet wurden, mit seinen in weiter Runde aufgebauten Palästen, – wies sie hin, auf jene kolossalen, mit Ornamenten stilisierten Pfeilerfassaden des Domes einer modernen Gottheit, den Messel dahin gestellt hatte, – sie deutete hinüber auf das massige Gebäude des Potsdamer Bahnhofes mit seiner Flankierung der Vorort-, Ring- und Wannseebahn, ließ sie die lange Kette von Gartenorten ahnen, die sich von hier aus nach Südwesten zogen und dem Großberliner ermöglichten, draußen im Freien und doch auf der Höhe der Wohnungskultur sein Heim zu besitzen. Sie zeigte ihr das vergessene Stück Romantik, das da, mitten im Getöse des Potsdamer Platzes, lag, jene Mauern, hinter denen der flüchtige Passant sicherlich nicht das vermutete, was sie bargen, – den alten Dreifaltigkeitskirchhof, dieses verschonte Kirchengelände, das sich gegen profane Bebauung noch siegreich gewehrt hatte.

In Edda aber drangen diese Reize nicht ein. Nur in einem Punkte interessierte sie Berlin: als Hochburg der Frauenbewegung. Ihre Bewunderung hatten jene Frauen, die um Unabhängigkeit kämpften. Und dieser Kampf erregte ihr zugleich auch Schauer. Arbeiten, – das wollten diese alle. Sie begriff die Motive vollkommen. War man stark genug für den Kampf da draußen, – dann freilich brauchte man nicht irgendeinem Daniel Horatio gefällig zu sein …

Aber mit der großen Ehrlichkeit ihrer Natur gestand sie sich, daß es für sie nur einen Beruf gab: eben den, – gefällig zu sein, den Glanz ihrer Reize verschwenderisch leuchten zu lassen, und dafür entgegenzunehmen, was sie so reichlich an irdischen Gütern brauchte. Erst Berlin hatte ihr die Augen geöffnet, was es für sie bedeutete, von der Teilnahme am Getümmel der Straße befreit zu sein. Immer würde es Frauen geben, – so sagte sie sich, wenn sie, nachdenklich, von einer Versammlung jener anders Gearteten nachhause kam, – immer würde es Frauen geben, wie sie, beladen mit allen Schwächen und gerüstet mit allen Reizen des Geschlechtes, weder fähig noch geeignet, in robuster Arbeit verbraucht zu werden, sondern dazu da, – pour faire plaisir aux hommes, wie der Franzose es artig nannte … Schon wenn sie in einer Droschke rollte, deren vier Räder sie über das Niveau der Straße hoben und sie durch das Chaos sicher zu ihrem Ziel dirigierten, – schon dann empfand fand sie diese starke Erleichterung, nicht mitten drinnen zu sein, – im Fußvolk. Und nach und nach, je mehr sie litt, – schien ihr kein Preis zu hoch, diesen Zustand zu erkaufen. – – –

Eines Tages hatte sie sich wieder in einem Verlag vorzustellen. In der Gegend des Alexanderplatzes lag das Bureau.

Es wurde ihr übel und schwindelig zumute, als sie durch das Volksgedränge dieses Riesenplatzes durchsteuerte. Das brauste und wogte um das kupferne Koloß der »Berolina« herum, – vor den breiten Fronten des Polizeipräsidiums und eines populären Kaufhauses – und war doch die Öde selbst. Endlich war sie bei der großen Querstraße, die sie suchte. Erst weit unten fand sie die Nummer. Erschöpft ging sie die dunkle Treppe eines alten Hauses hinauf und stand bald im Bureau.

Ob der Herr, zu dem sie geführt worden war, der Chef oder nur ein Stellvertreter des Chefs war, wußte sie nicht. Es war ein Herr in dunklem Salonrock, mit langem, braunen Vollbart und etwas bleichem, gedunsenen Gesicht. Er schielte ein wenig, und seine Blicke bohrten sich, mit gekreuzten Strahlen, auf ihre Erscheinung. Er bot ihr einen Stuhl an; sie dankte, blieb stehen und reichte ihm eine Mappe, die ihre Modezeichnungen enthielt; während er darin blätterte, durchrieselte sie Entsetzen: die Hände, die in ihrer Mappe blätterten, waren Mißgeburten. Die linke Hand hatte vier Finger von abnormer Länge und Dicke, krallenartig gekrümmt, und einen verstümmelten Daumen; von den Fingern der rechten Hand waren die mittelsten kürzer als die äußeren, und sie lag auf dem Papier der Mappe, wie ein groteskes Gewächs aus dem Meeresgrund. Und was das Schrecklichste war, – diese beiden entsetzlichen Hände waren überladen mit Ringen. Da war ein großer Siegelring, ein goldener Trauring, ein Doppelreifen mit Brillanten besetzt und noch andere. Ein krampfhaftes Gelächter wollte aus ihrer Kehle heraus, wenn sie sich erinnerte, daß auch sie einst viele Ringe anzustecken geliebt hatte.

Der Herr hob den schwammigen Kopf, mit dem wallenden Bart, von der Mappe, und wieder zuckten die schielenden Blicke an ihr herum.

»Sie sind die Witwe des Professors Diamant?«

Sie neigte den Kopf.

Ohne die Blicke von ihr zu lassen, deutete er auf die Mappe. »Es sind da sehr talentvolle Sachen darunter, – Ihrer Anstellung wird nichts im Wege stehen, gnädige Frau. Welches Honorar beanspruchen Sie?« Dabei saß er noch immer in seinem Sessel, während sie, in ihrer ganzen Höhe, blendend schön in der dunklen Umrahmung ihrer Trauerkleider, vor ihm stand. Sie sagte, sie wüßte nicht, welches Honorar angemessen sei, er möchte das doch selbst bestimmen.

Der Herr erhob sich und reichte ihr die zugeklappte Mappe. »Ich werde Ihnen die Honorarvorschläge und die Arbeitsbedingungen, die Bureaustunden usw. in einem Briefe mitteilen lassen. Immerhin«, – seine etwas krächzende Stimme wurde glatter, – »hängt das doch auch sehr von Ihnen ab.« Er trat noch einen Schritt näher auf sie zu, – es wurde ihr bang und unheimlich zumute. Das düstere Berliner Zimmer war von einer einzigen Auerlampe erhellt, die an einem Wandarm über dem Schreibtisch hing und von einem grünen Papierschirm bedeckt war. Das Licht sammelte sich auf der Platte des Schreibtisches und hatte da die gräßlichen Hände beleuchtet. »Es hängt von Ihnen ab«, sagte der Herr, – trat noch näher auf die langsam Zurückweichende zu, und da, – da ereignete sich das Entsetzliche: er hob die Hand, – eine dieser beiden Mißgeburten, – er hob sie bis zur Höhe ihres Antlitzes – und fuhr ihr damit ins Gesicht. Ehe sie es verhindern konnte, war die Hand, die gräßliche, streichelnd an ihrer Wange herabgeglitten, und sie hörte die krächzende Stimme: »Es hängt von Ihnen ab.« – – –

Sie floh die Treppe hinunter, warf sich in das nächste Automobil, das ihr begegnete, und raste ihrer Wohnung zu. Dort stürzte sie zum Waschtisch und rieb mit aller Kraft ihr Gesicht ab, während die Tränen ohnmächtigen Zornes aus ihren Augen schossen. – –

Einige Tage später kam ein Brief – aus Amerika. Ein kindischer und unbeholfener Brief; ein Brief, der davon sprach, daß unten, an der Côte d'Azur, nahe von Beaulieu, eine Villa stehe, eine zumeist vereinsamte, aber ganz reizende und komplett möblierte Villa, und daß der Schreiber des Briefes der Glücklichste wäre, diese Villa dazu verwenden zu dürfen, ihr, – Mrs. Diamond, – einen bescheidenen Frühlingsaufenthalt zu bieten. Würde sie es dann gestatten und hätte sie nichts dagegen, so würde er, – Daniel Horatio, – sich irgendwo in der Nähe niederlassen und ebenfalls die Reize des südlichen Frühlings genießen. Wenn sie ihn Ärmsten nicht vergessen habe, – »if you have not forgotten poor me,« – dann möge sie ihm doch ein Kabeltelegramm senden, – ein Ja oder ein Nein. Sei es ein Ja, – »which would bring the happiest hour of my life,« – so würde sie umgehend weitere telegraphische Nachrichten von ihm erhalten. – –

Bald darauf gab es in New York einen Glücklichen. –

Frau Edda aber erhielt die angekündigte telegraphische Nachricht und, zehn Tage später, ein Reisebillett von Cook für den Luxuszug Berlin-Genua. Gleichzeitig überbrachte der Bote einer deutschen Großbank ein großes, versiegeltes Leinenkuvert, an dessen Kopf eine vierstellige Zahl prangte, – die nötigen Mittel für die Vorbereitungen zur Reise.

Und so sagte sie dem grausamen Berlin und den Verwandten ihres verstorbenen Mannes Lebewohl. Sie besorgte noch schnell die wichtigsten Einkäufe – neue, helle Kleider, die die Witwentracht ablösen sollten – und Mantel und Mütze fürs Automobil …

Sie fuhr über München, und die Nacht im Schlafwagen des Luxuszuges war die erste, in der sie wieder fest und glücklich schlief. Am anderen Tag sauste sie über den Brenner, hinunter zur italienischen Grenze, und blickte befriedigt hinaus auf die Berge Tirols, die stellenweise noch von Schnee bedeckt waren, über denen sich aber ein klarer, verheißender Himmel spannte. Dann kam die große Grenze zwischen Winter und Frühling: der lange Tunnel vor Genua. Und als aus der runden Höhle des Berges der Luxuszug herausschoß, da war er auch schon mittendrin im goldensten Glänze. Strahlendes Wetter erwartete sie in Genua. Ein kleines Appartement, bestehend aus zwei Zimmern mit Bad, war im Palasthotel für sie reserviert. Die wenigen Tage, bevor das Schiff aus New York kam, verbrachte sie mit Einkäufen und mit Ausflügen in die Umgebung. Ganz glückselig genoß sie alles, was sie so schmerzlich entbehrt hatte. In großen Garben kaufte sie Blumen ein, Magnolien, Gardenien und Rosen und füllte damit alle Vasen ihrer Zimmer. Die Zeit wurde ihr gar nicht lang, während sie in alten Palästen herumstrich oder in der eleganten Viktoria des Hotels hinausfuhr nach Pegli oder nach Nervi.

Als das Schiff ankam, wartete sie an der Landungsbrücke. Sie erkannte sofort, als der Ozeandampfer, mit auslaufenden Turbinen, in den Hafen einfuhr, die hagere Gestalt, die an Größe selbst die ihre überragte, mit dem langgezogenen, schmalen Kopf. Er lehnte an der Reling des Promenadendecks. Unter seiner Reisemütze zeigten sich die rötlichen Haare, und sein fast geschabt rasiertes, schmales Gesicht mit den wasserblauen, runden Augen schien ihr wie eine gute Erinnerung, die heute zu den ihr am meisten vertrauten gehörte.

Mit Mister Macpherson wurde auch the Car und dessen Bedienung ausgeschifft. Mit breitem Grinsen, das über seinem schwarzen Gesicht aufging, wie der Mond über der dunklen Erde, verneigte sich Billie vor der neuen Herrin. – – –

Sie fuhren sofort von Genua weiter. Und als der Kraftwagen auf die Höhe der schönsten Straße der Welt, – der Corniche, – hinaufgesaust war, als sie unten, glatt und weit, in goldfunkelnder Bläue das Mittelmeer liegen sahen, während über ihnen die breiten Wipfel der Pinien rauschten, – da kam eine so helle Freude über Frau Edda, daß sie sich unwillkürlich dankbar, und glücklich, in den auf der Lehne ihres Sitzes breitliegenden, langen und knochigen Arm hineinbettete. Köstlich empfand sie den scharfen Anhauch der Luft, die sie sausend durchschnitten. Ihr Gesicht glühte, und eine wohlige Müdigkeit kam über sie. Daniel Horatio nahm mit der Linken aus der Tasche seines Mantels eine Automobilbrille, schob sie ihr, geschickt, auf die Nase und wagte es dabei, die Hand jenes Armes, in dem sie ruhte, sanft gegen ihre Schulter zu drücken. »Sleep, dear, – you will be tired.« Um sie vor dem scharfen Luftzug zu schützen, hob er die Hand dann von ihrer Schulter und hielt sie dicht vor ihre Wange. Und während sie ihr Gesicht mit Behagen an das weiche Wildleder seines Handschuhes schmiegte, verfiel sie tatsächlich in leichten Schlummer und hörte noch, im Halbschlaf, die Worte, die Daniel Horatio, indem er sein Gesicht zu dem ihren neigte, zärtlich in ihr Ohr flüsterte: – »I am a gentleman ad I am clean.« …


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