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Viertes Kapitel.
Menschen

 

»Trahit sua quemque voluptas.«

Virgil.

 

Olga ging durch die Straßen des neuen Westens dem Tiergarten zu und wollte von da zur Stadt. Sie ging zu einer öffentlichen Versammlung eines »Bundes«, dem sie sich angeschlossen hatte. Diesem Bunde, der auf eine Veränderung der moralischen Wertungen des Sexuallebens hinarbeitete, gehörten Männer und Frauen in fast gleicher Zahl als Mitglieder und Gäste an, – intellektuelle Streiter, die die Frage, für deren voraussetzungslose Neudurchforschung sie sich verbündet hatten, als die verhängnisvollste für die Gesellschaft betrachteten. Die Gesetze der geschlechtlichen Sitten, aus deren Übung das menschliche Leben sich erneut, unter zwei Hauptgesichtspunkten zu revidieren, – das war die Aufgabe, die sich diese Vereinigung gestellt hatte. Diese führenden Gesichtspunkte galten dem Wohl der Generation, der Rasse im weiteren, – den natürlichen Antrieben des Individuums im engeren Sinne. Und die Fragen, die es zu erwägen galt, untersuchten die Bedingungen, die der Betätigung des Trieblebens des normalen Menschen in den Hochjahren seiner Zeugungskraft, innerhalb der gegebenen Ordnung geboten waren, – die Schäden und Leiden die sich aus der Mißachtung und Verformung dieser natürlichen Antriebe der normalen Geschlechtsnatur ergaben, – so wie die Ziele, denen zuzustreben war, um dem einzelnen ein normales Schicksal zu verbürgen und um der Gesellschaft die Erzeugung eines hochwertigen Nachwuchses zu sichern.

Alles öffentliche Durchsprechen sozialer Probleme hatte Olga bisher meist unbefriedigt gelassen; sie hatte die letzte, rückhaltlose Ehrlichkeit, die dem Menschen zeigt, was er wahrhaft ist, will und braucht bislang in allen »Vereinen« vermißt. Hier, zum erstenmal, war sie in einen Kreis getreten, der sich, wie es ihr schien, um die Erörterung auch dieser innerlichsten Willensantriebe des Menschen und der Gesellschaft nicht herumdrückte. Ärzte, Soziologen, Gelehrte, Schriftsteller und Dichter, Vertreterinnen der Frauenbewegung und Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften, Künstler und Laien, – sie alle waren im »Bunde« vertreten. Die Fragen der Ehe, der Prostitution, des unfreiwilligen Zölibats, der Lage des Kindes, besonders des unehelichen Kindes, des Schutzes der Mutterschaft, für den der Bund vor allem eintrat, und der ihm die große Bedingung einer planmäßigen Züchtung vollwertiger Lebensmassen bedeutete, – das waren die Fragen, die hier besprochen wurden, die von hier aus weiter drangen, bis sie sich zu sachlich begrenzten Forderungen verdichteten, zu denen Stellung zu nehmen, auch die Behörden sich immer öfter genötigt sahen.

Unablässig hatten sich die Vorstellungsreihen, die für Olga die Frauenbewegung mit der allgemeinen Entwicklung verbanden, – gerade zu diesem Problem gedrängt, auch ihr war es als der Mittelpunkt jeder sozialen Reform erschienen. Denn hier handelte es sich um das Werden des Menschen, des Trägers der Weltkultur, von dessen Beschaffenheit alles andere abhing. Die Geschlechtssitten der Gesellschaft ließen ihn entstehen, darum, so war es ihr immer erschienen, hing es gerade von diesen Sitten ab, wie die Welt selbst wurde. Als sie von diesem Bunde hörte, hatte sie eine große Freude erfüllt. Hier also war eine Gemeinschaft, innerhalb welcher sie aussprechen durfte, was anderwärts befremdend und anstößig gewirkt hatte, hier wurden diese großen Fragen, als solche anerkannt, freimütig erörtert und zu festen Zusammenhängen verknüpft.

Von Zielfreude erfüllt, war sie durch die Straßen des neuen Westens gegangen, vorbei an den Fassaden modernster Mietspaläste, die mit ihrem gedämpften Luxus, ihrem wohlabgetönten Putz den Straßen dieses Viertels stilvolle Einheit gaben. Um in den Frieden des Tiergartens einzutreten, mußte sie durch das dichteste Verkehrsgewühl, am Bahnhof »Zoo« vorbei, wo sich oben, auf dem hochgelegenen Bahnsteig, Fernzüge mit den Vorortzügen treffen, während unten, auf dem Niveau der Straße, zahllose elektrische Linien sich kreuzen, Automobile mit sausenden Stößen ihr Benzin in Kraft verwandeln, die Berliner Droschken in ihrem unbeirrbar gemächlichen Hottetrott auf ihre Art mit ihnen konkurrieren und die Passanten sich auf Straßenübergängen und Bürgersteigen drängen. Die weiten Prachtstraßen, die den Berliner »Westen« mit Charlottenburg und Wilmersdorf verbinden, gehen strahlenförmig von hier ab. Drüben aber, auf der anderen Seite, wo die Gärten den Verkehr in ruhigere Wege leiten, glüht, mit farbigen, eingelegten Kuppeln, bauchigen Türmchen, bizarren Schnörkeln, Pagoden, fratzenhaften Emblemen und unperspektivischen, ägyptischen Fresken, – ein Stück Morgenland, in den Gebäuden des Zoologischen Gartens. Über diesem bunt aufeinander getürmten Gemisch steigt, schmal und hochgestreckt, fast kahl gegen die orientalische Fülle, der romanische Turm der Gedächtniskirche auf; und das goldene Kreuz, an seiner Spitze, flammte im Schein einer kupferroten Wolke, die auf dem schiefergrauen Himmel erglüht war.

Die herbstliche Abendsonne warf ihre Lichter auf die große, ebene Fläche aufgeworfener Erde, die, mit Sand vermengt, ganz hellbraun erschien, und vom Zoologischen Garten aus den Eingang zum Tiergarten bildet. Schon der Weg, der noch an den Toren des Bahnhofs vorbei und eng zwischen Droschkenstandplatz und dem Endgeleise der elektrischen Bahn hindurch führt, ist nicht viel mehr, als ein sandig-erdiger Reitweg. Er weitet sich zu einer Art Riesenmanege unter freiem Himmel, die sich links, tief hinein, unter die Unterführungsbogen der Stadtbahn streckt, rechts eine breite Allee zwischen die Bäume des Tiergartens entsendet. Hier wurde geritten, und die Fußgänger hatten sich, beim Übergang zu der schmalen, dunklen Wasserstraße des Landwehrkanals, zwischen den geschickt gelenkten, gut gepflegten Tieren der Reiter und Reiterinnen durchzuwinden. Diese fröhlichen Kavalkaden, die da zwischen den schon entblätternden Bäumen hinsprengten, gefielen Olga. Voll Erquickung ging sie nun am Wasser entlang, vorbei an der brausenden Schleuse, bei der Freiarchenbrücke, am Garten- und Lützowufer herunter.

Ihr starkes Naturgefühl antwortete auf die zarten Reize dieser Parklandschaft, und ihre Blicke nahmen alle Bilder mit seltener Eindringlichkeit auf. Sie sah alles: die breiten, langen, meist mit Kohlen beladenen Kähne mit den kleinen Überbauten am Bug, deren winzige, gardinenverhängte Fensterchen verrieten, daß die Schiffer hier ihre Wohnstätte hatten; die zierlichen Dampfer mit den buntfarbigen Ringen um den rauchenden Schlot, – die einen, zwei und mehr der breiten Kähne durch den Kanal schleppen, bis hinaus auf die Wasser der Spree, deren große Biegung der Kanal verbindet. Sie sah, auf dem Wasser, die buntgezeichneten Enten ihr Spiel treiben, und besonders ein Pärchen fiel ihr auf; er, herrlich von Gefieder, in Farben strahlend, saß still und vornehm unbeweglich auf einem Fleck; sie, die Entin, graubraun wie ein Spatz, unterhielt sich dicht vor seinem Schnabel auf besondere Art: immer wieder tauchte sie mit Kopf, Hals und Brust senkrecht ins Wasser und streckte den Rest ihrer Leiblichkeit, das breite Bürzel mit den flossenhaften Pfoten, steil in die Höhe, dem Gatten, der diesem Spiel mit vollendeter Ruhe zusah, dicht unter den Schnabel. So tauchte sie aus und ein, wohl einhundertmal, – das Ende der Prozedur war jedenfalls noch nicht gekommen, als Olga, nachdem sie eine Weile dieser Gymnastik zugesehen, weiter ging. Und sie sah die Bäume an, diese alten, jetzt farbig belaubten, schon entblätternden Eichen, Ulmen, Buchen. Sie stand still vor dem Stamm eines alten Prachtkerls von Baum und sah, zum erstenmal, eine Rinde, die fast vollkommen regelmäßige, zylindrische Einkerbungen zeigte, genau an; ja sie sah die Böschungen des Ufers, wie sie, niedrig und schräg zurückweichend, bei der Freiarchenbrücke begannen und da noch ganz mit Rasen bewachsen waren, wie sie aber immer höher und steiler wurden, der Rasen immer mehr und mehr zurückwich und die glatte, steinerne Kaimauer darunter sichtbar wurde, bis, von der Korneliusbrücke an, der Kanal nur noch zwischen diesen schwarzen, steinernen Mauern durchfloß, in denen ab und zu ein paar Stufen sichtbar wurden, die von dem immer höher ansteigenden Promenadenweg zum Wasser herunterführten.

Und sie bog ab und ging über die Brücke, tiefer hinein in den Tiergarten. Am Neuen See war es, an dessen sich immer wieder biegenden Ufern sie jetzt ging. Sie war müde und strebte einer Bank zu. Sie wußte, daß sie um jene Ecke herum eine finden würde, beschleunigte ihre Schritte, wandte sich, wie der Weg es wollte, – stand vor der Bank.

Die war besetzt. Und der darauf saß, den kannte sie.

Er sprang auf und stand vor ihr, in seiner ganzen Länge. »Sie?« Einen Augenblick war die Erinnerung angstvoller Zeiten schreckhaft in ihr aufgefahren.

»Warum nicht?«

»Was – führte Sie – hierher?«

»Nichts. Mich führt seit langem nichts. Aber manchmal jagt es mich – von irgendwoher nach irgendwohin.«

»Und können Sie – so beliebig gehen, wohin Sie wollen?«

»Überallhin, wo man sich nachts mit der Geige ernähren kann.«

»Noch immer – das?«

»Was sonst?«

Sie gingen nebeneinander her. War es die Friedensfülle der Landschaft, die sie so eindringlich aufgenommen hatte, und die jetzt diese dunklen Gefühlswellen, die in ihr aufgestiegen waren, in sich zusammensinken ließ, daß sie wesenlos zerflossen? … Er erkundigte sich nach ihrem Leben hier, und sie berichtete. Sie sagte ihm sogar, wohin sie ging, – zu der Versammlung des »Bundes«; und, wie einst, hörte er ihr mit verstehender Fühlung ihres Wesens zu. Die Erquickung des milden Abends erfüllte beide, und es war vielleicht im gleichen Augenblick, daß die beiden Menschen wußten, daß hier ein banges Stück Vergangenheit von einer neuen, vernunftstarken Gegenwart hochgehoben, umgewandelt und zu einem brauchbaren Stück Leben verändert worden war.

Als sie sich, am Ende des Tiergartens, zu Beginn der Bellevuestraße, die, an den modernsten Hotelpalästen vorbei, in das Innere des Westens zum Potsdamer Platz führt, trennten, waren sie sich klar geworden und hatten es ausgesprochen: daß sie sich wieder sehen würden und daß sie es durften; daß das »Alte« nimmer aufleben würde und konnte, – daß aber eine gute Freiheit zwischen ihnen war, die die Fremdheit hob und ihnen gewährte, einander sonder Scheu zu berichten, durch welche Tage ihre Wege sie führten.

*

An diesem Abend nahm sie an der Diskussion teil, trat zum erstenmal in Berlin als Rednerin auf. Man kannte in der Frauenbewegung ihren Namen. Sie griff in einer Art in die Polemik ein, die nicht gewöhnlich war; gerade an jenen Stellen des Referates, – das ein holländischer Gelehrter über das Problem des Neomalthusianismus gehalten hatte, – gerade an jenen Stellen, welche mehrdeutiger Auslegung unterlagen, setzte sie ein, hob das einzig Wesentliche heraus, trassierte mit schnellen, kräftigen Zügen die unausgesprochenen Voraussetzungen und Folgerungen des Vortrages und leitete so, aus materialreicher Fülle, zu den reinen Linien der Idee, der diese Fülle nur Gewandung gab. Sie sprach, – im Gegensatz zu der gewöhnlichen Art der »Rechtlerinnen« – vollkommen phrasenfrei, beinahe nüchtern; ihr großes und doch gedämpftes Organ, das glatt, schallend, mühelos den Saal beherrschte, diente ihr wie ein willfähriges, zureichendes, nie versagendes Instrument. Sie gewann, sowie sie das Podium betrat, auch an physischer Persönlichkeit. Die Gestalt, in einem dunkelblauen Kleid von modernem Reformschnitt, den sie erst in Berlin genau kennen gelernt hatte, schien kräftig und beweglich; das Gehäuse des Kopfes, unter dem Minervahelm ihres kupfernen Haares, zeichnete sich in bedeutenden Konturen; die dunklen Augen, die bei der ersten Anregung des Sprechens aufleuchteten, sich dann mählich tief umflorten, bekamen eine Art von gläubigem Ausdruck.

Am Schluß der Versammlung lernte sie die führenden Personen der Bewegung kennen: neben ihnen auch andere. Ein vornehmes Ehepaar fiel ihr auf, das mit drei blühenden, schönen Töchtern zwischen 16 und 22 Jahren hier anwesend war; dann eine alte, kleine Dame, die auf Krücken ging; sie erzählte ihr von ihrem Sohne, der mit seiner Frau in einem Dorf in den Appeninen lebt; er sei Schriftsteller. Sie, die Mutter, hatte sich bis zu einer schweren Krankheit, die sie der Bewegungsfreiheit beraubte, niemals wesentlich um Fragen der Allgemeinheit bekümmert; sie war früher leidenschaftliche Skatspielerin gewesen; aber als sie nicht mehr ihre gewohnten Wege gehen konnte, mehr als ein Jahr gelähmt ans Zimmer gefesselt war und die früheren Skatgenossen ausblieben, da habe der Sohn, der damals noch zu Hause war, sie mit Büchern versorgt, die ihr Interesse für diese Fragen so geweckt hatten, daß sie nun, in ihren alten Tagen, fast einen neuen Lebensinhalt gewonnen hatte; der Sohn selbst hatte sich einer ihm heiligen Dreieinigkeit verschrieben: seiner Frau, – Italien – und der Dichtkunst, vor allem der Lyrik, die er fast ausschließlich pflegte. Frau Ullmann erzählte das alles in ihrer schnellen, etwas monotonen Art, während sie schon das schwarze Kapotthütchen auf dem spärlichen Scheitel hatte, und sich fest auf ihre Krücken stützte. – – – Eine Dame von bräunlichem Teint, gelbgefärbtem Kraushaar, kleiner Gestalt, mit Geschmack gekleidet – Fräulein Gerber – stellte sich Olga als »Kampfgenossin« vor.

An der Plauderstunde im Café, die den Abend beschloß, nahm noch ein Reichtagsabgeordneter, ein freigesinnter Pastor, und der Vortragende selbst teil, – ein seit Jahren in Holland ansässiger Deutscher, mit scharfgeschnittenem, grauhaarigem Charakterkopf. Nicht mehr mit ins Café gegangen war die Vorsitzende. Diese alte Frau war es, deren Erscheinung Olgas tiefstes Interesse wachgerufen hatte, seit sie sie zum ersten Mal in dieser Vereinigung erblickte. Erst heute hatte sie Frau Dr. Wallentin persönlich kennen gelernt. Sie mochte von den Siebzig nicht mehr weit sein; die zarte, fast mädchenhafte Gestalt war in ein schwarzes Samtkleid gehüllt, das in antikem Schnitt an ihr herabfloß; weiße, beinahe jugendliche Arme sahen aus den weiten Ärmeln hervor, nur an den Händen sah man das Alter wieder. Die großgeschnittenen Züge waren von dem erfüllten Blick leuchtender, blauer Augen durchstrahlt; silbrigweißes Haar fiel, in langen Locken, frei auf die Schultern herab. Diese Frau, die Vorsitzende des Bundes, war die Gattin eines verstorbenen Forschers, Dr. Wallentin, Weltreisenden und Entdeckers unbekannter Erdstriche, gewesen. Sie war die Mutter dreier Söhne, von denen nur einer in Berlin war und zeitweilig mit seiner Frau, einer schwedischen Dichterin, im Bunde erschien. Die beiden anderen Söhne, – der älteste, der als Soziologe einen bedeutenden Ruf hatte und der jüngste – befanden sich, wie man hörte, auf einer Weltreise, deren Zweck nicht bekannt war. Die Gattin des ältesten Sohnes, Frau Lucinda Wallentin, lebte in Berlin, stand aber den Bestrebungen ihrer Schwiegermutter und ihres Gatten so fern, wie nur irgend denkbar; sie führte ein Haus, in dem lediglich formalästhetische, sowie okkulte und mystische Interessen gepflegt wurden. Die Wallentins galten als reich, und Mutter und Söhne verwendeten, so hieß es, ihre Mittel vor allem für ihre großen, sozialpolitischen Pläne.

Ihre aktive Teilnahme an der Versammlung brachte Olga in Beziehung zu all diesen verschiedenen Menschen und erweckte ihr Interesse an ihnen in hohem Grade.

Am Ende der »Tafel«, die durch das Aneinanderrücken einiger runder Kaffeehaustische entstanden war, saß, zwischen Fräulein Gerber und einer Dame, die eindringlich, ja fast aufgeregt auf ihn einsprach, der holländische Professor. Obwohl er eine verbindliche Miene beibehielt, rückte er doch unbehaglich auf seinem Platz hin und her und ließ den Blick über die Tischgesellschaft wandern, als erwarte er von da Ablösung von seinem Posten. Denn sowohl Fräulein Gerber, die mit süßlichem Lächeln, das keinen Moment von ihren Lippen wich, da saß, als auch die andere Nachbarin ließen den Gast keinen Augenblick locker. Während aber Fräulein Gerber meist persönliche Bemerkungen, in Form schmeichelhafter Phrasen, von sich gab, sprach die Dame, die sich an der anderen Seite des Professors niedergelassen hatte, über das Thema des Abends mit dem Rüstzeug einer Ausdrucksweise, die einen wissenschaftlichen Anklang hatte; besonders solche Ausdrücke, die dem Gebiet der Physiologie entnommen waren, wendete sie häufig an. Sie war den meisten der Anwesenden nicht bekannt, hatte sich als Frau Dr. Bergmann vorgestellt. Offenbar war sie der Vorsitzenden nicht fremd, da ihr Frau Dr. Wallentin beim Verlassen des Versammlungslokals freundlich die Hand gedrückt hatte. Sie unterschied sich von den anderen Damen wesentlich durch ihre Kleidung. Denn während die meisten der anwesenden Frauen im Stil der neuen Frauentracht, die von Berlin aus langsam ihren Weg ins Gebiet der konventionellen Mode nahm, gekleidet waren, – farbensatte Stoffe trugen, von einem Gürtel unterhalb der Büste gerafft, deren Blusenteil häufig mit jenen neuartigen, dichten Handstickereien, in farbiger Seide oder in metallischen Borten, bedeckt war, die diesen fließenden Gewändern den Eindruck leichter Konfektion benahmen, – trug Frau Dr. Bergmann einen schweren, grauen Lodenrock, in dem eine gewöhnliche, herrenhemdartige, gestreifte Bluse steckte, dazu einen steifleinenen Stehkragen und einen schwarzen Ledergürtel. Auf dem Kopf, um den das natürlich gekräuselte, hellbraune Haar herumstand, saß ein grünes Jägerhütchen, dessen kurzflügeliger Federnschmuck hinten hochstand und der noch jugendlichen Frau mit den nicht unsympathischen Zügen einen Stich ins Komische gab.

Frau Dr. Bergmann hatte sich am Schluß der Versammlung auch Olga vorgestellt und nickte ihr nun wiederholt mit der Miene einer alten Kameradin, die ihrer Befriedigung mit ihr Ausdruck geben wollte, zu. Olga saß am anderen Ende des Tisches mit dem Ehepaar, das ihr mit seinen drei schönen, lebhaften Töchtern aufgefallen war, – es war die Familie eines Hamburger Großkaufmanns, der sich ins Privatleben zurückgezogen hatte. An derselben Ecke saßen auch das Reichstagsmitglied und der graubärtige, revolutionärgesinnte Pastor. Olga wunderte sich über die vertraulich erscheinende Art, mit der ihr Frau Dr. Bergmann zunickte, und betrachtete, von ferne, interessiert ihr Gesicht. Aus dem Oval sprang eine Nase heraus, die sich stark zum vorgerückten Kinn herabbog; auffällig war eine kleine Unregelmäßigkeit der braunen Augen, deren eines ein wenig höher saß, auch etwas kleiner war, als das andere. Diese Augen verrieten eine Unruhe, die der freundlich lächelnde, schmallippige Mund nicht zu bestätigen geneigt schien. Die Muskulatur der einen Gesichtshälfte, in der das größere, tiefergelagerte Auge saß, war etwas kräftiger entwickelt, als die der anderen. Trotz dieses Mangels an Symmetrie war das Gesicht nicht ohne Reiz.

Kurz vor Abgang der letzten Vorortzüge brach die Gesellschaft auf. Man sagte sich draußen, vor dem Portal des großen Cafés, in dessen Sälen sich die Menschen noch stauten, Adieu. Der Potsdamer Platz war überfüllt vom Verkehr; ein dünner, linder Regen fiel, und der nasse Asphalt glänzte in der Lichtflut.

Olga strebte an der Kreuzung der Königgrätzer Straße mit dem Potsdamer Platz über den Fahrdamm.

Drüben angelangt, bedachte sie sich einen Augenblick, ob sie in eine elektrische Bahn einsteigen sollte. Aber nach dem langen Aufenthalt in den rauchigen Sälen, war das Bedürfnis nach frischer Luft zu stark in ihr. Sie beschloß, aus dem Trubel heraus, in die ruhige Tiergartenstraße abzubiegen und zu Fuß zu gehen. Sie wohnte in der Nähe des Lützowplatzes, den sie durch den Tiergarten auf gutbeleuchteten Wegen erreichen konnte. Während sie durch die kurze, verbindende Bellevuestraße ging, vorbei an den glänzend erleuchteten Hotelvestibulen, schien es ihr, als folge ihr jemand mit leichten, eiligen Schritten dicht auf dem Fuß. An der Ecke, an welcher die Bellevuestraße in den Tiergarten einmündet, gerade da, wo sich vor etwa sechs Stunden Koszinsky von ihr verabschiedet hatte, war es, daß sie von hinten ihren Namen rufen hörte.

»Fräulein Diamant!« Es war eine Frauenstimme, in hohem, scharfem Diskant, die sie anrief. Die Stimme betonte und verlängerte das i und hackte, nach norddeutscher Art, die Vokale ohne verbindenden Hiatus scharf auseinander, so daß es klang »Dii-a-mant.«

Die Angerufene blieb stehen, wandte sich um und fand sich Frau Dr. Bergmann gegenüber.

»Ich bitte Sie, – – mich nicht der Dreistigkeit zu zeihen, – aber es drängte mich, Ihnen Aug' in Aug' gegenüberzustehen; auch haben wir, denke ich, ein gut Teil Weges gemeinsam.«

»Zeihen – – Aug' in Aug'« – – Olga fielen sowohl die Stimme als auch diese Wendungen auf.

Frau Dr. Bergmann trabte nun, die Hände in die schrägen, tiefen Taschen ihrer Lodenjoppe versenkt, ohne Schirm, mit ihren kurzen, eiligen Schritten neben ihr her. Olgas Einladung, mit unter ihren Schirm zu kommen, lehnte sie ab. Sie bediene sich nie eines Schirmes.

»Als ich Sie heute sprechen hörte,« begann sie nach kurzer Pause, – – »da hatte ich den Eindruck: voilà, hier steht ein Mensch.«

Olga wußte nichts zu erwidern, und Frau Dr. Bergmann fuhr fort.

»Und weil ich nach einem Menschen – – dürste, so sagte ich mir, – – eh bien, Erika, fasse Mut! – – Und darum bin ich jetzt hier, – neben Ihnen.« Sie legte den Kopf auf die Seite und wandte Olga, mit eindringlichem Lächeln, ihr Gesicht zu, so daß sie im Schein der Gaslaterne das Flackern ihrer Augen sehen konnte.

Ihr Interesse an Frau Dr. Bergmann wurde durch deren Bemerkungen nicht gerade verstärkt. Die manirierte Art ihrer Ausdrucksweise empfand sie als peinliche Reizung ihrer Nerven, die sie nach dem lebhaften Abend mit besonderem Unbehagen erfüllte; sie hätte jetzt gerne Ruhe gehabt. Aber es wäre ihr ganz ungehörig erschienen, irgendeine Seele, die sich, um menschlichen Anteil bittend, an sie wandte, abzuweisen. Und so sagte sie: »Es soll mich freuen, wenn ich Ihnen nützen kann.«

»Nützen – – o du grundgütiger Gott! Ich brauche keinerlei Nutzen von irgend jemand.«

»Der Verkehr von Menschen, der für alle Teile ganz nutzlos bleibt, kann wohl als sinnlos und überflüssig gelten.«

»Da haben Sie recht, meine sehr Verehrte«, rief Frau Dr. Bergmann lebhaft und es klang aufgeregt, bestärkend. »Ja, ja, – – selbst eine Beziehung, die der ganzen Welt sinnlos scheint, braucht es nicht zu sein, wenn – – wenn – – dieser heilige Nutzen für die Seele da ist, von dem Sie wohl sprechen; o davon wüßte ich viel zu sagen, – – viel, viel.«

Da Olga schwieg, fuhr sie fort: »Und gerade Ihnen möchte ich das alles sagen, – – denn Sie, – – Sie unter allen, werden verstehen, was den anderen – über den kleinen Horizont geht.«

»Ich bin dessen nicht ganz so sicher«, meinte Olga, als wolle sie sich den Bekenntnissen, die nun offenbar folgen sollten, entziehen.

Aber vergebens. Frau Dr. Bergmann kam jetzt in immer stärkere Erregung, sie schien sich an ihren eigenen Worten zu entzünden, – beinahe gewaltsam, als wolle sie sich Gehör und Verständnis erzwingen, rüttelte sie an der Zurückhaltung der anderen: – – – – – »Das einfache Wesensgeschehen – – daß eine Frau einen Menschen findet, – – bei dem sie das Gefühl hat – – daß er ihr das Paradies, ›Leben‹ zu erschließen vermag, – – daß sie zu diesem Manne strebt, – ohne Besinnen – – unter vollständiger Preisgabe von allem, was sie bisher besaß, – – daß sie an die Macht ihres Willens unfehlbar glaubt, – daß sie ihre Liebe hegen will, solange ein Atemzug in ihr ist – – solange noch eine Nervenfaser in ihr vibriert – – daß sie glaubt, ja weiß – –«, hier zuckte ihr Gesicht, wie vom Krampfe verzerrt, – – »daß er dieser Liebe folgen muß, – – das – das ist es, was die – – Geringen, – die Kreaturen des Alltags – – nicht begreifen wollen, – – wofür sie sie gequält haben, mit lächerlichen Fragen. – –« Und angstvoll drang sie in sie ein: »Aber Sie – – Sie begreifen?!«

»Es ist nichts Neues und nichts Unbegreifliches, daß eine Frau, um der Liebe willen, alles preisgibt, was sie bisher besaß.«

»Sehen Sie, – – sehen Sie – – ich wußte, Sie würden mich verstehen!« frohlockte Erika.

»Aber – – Sie sagten da etwas von der Macht des Willens, – derer es bedarf, daß der Mann dieser Liebe folge, – – und das ist mir nicht ganz klar«, meinte Olga.

»Er wird, – – er wird, – – er muß ja«, stieß die andere hervor.

»Er muß, – wie ist das zu verstehen? Will er denn nicht dasselbe wie Sie?« Unwillkürlich war sie stehengeblieben. Der Regen rauschte auf die Blätter der Bäume nieder.

Unruhig warf Erika den Kopf zurück. »Ach Gott, – – das sind diese Fragen, die mir so – – so überflüssig erscheinen.«

»Verzeihen Sie – aber wenn Sie selbst sich so weit mitteilen, – so sind solche Fragen wohl unvermeidlich.«

»Vergeben Sie, – o vergeben Sie! Sie haben ganz recht! Ich meinte nur, – ein Weib von Delikatesse bedarf nicht erst der Versicherung eines Mannes, – – daß – – er – – sie liebe.«

»Nicht in Worten, gewiß nicht, – – aber in Taten.«

»Auch das nicht.«

Olga sah sie erstaunt, beinahe erschrocken an.

Geheimnisvoll, im Flüsterton, fuhr Erika fort: »Ein großgeartetes Weib – – wissen Sie – – wird hingehen – – wird ihm tief ins Auge blicken – – wird vielleicht – – sagen: – – ich liebe Sie,« – – die Stimme hob sich wieder zum schrillsten Diskant, – – »ich liiiebe Sie – – und muß darum meinen Mann und mein Kind verlassen.«

»Und was ist's mit dem Manne, dem diese Frau ihre Liebe auf solche Art bekennt?«

Erika zuckte scheinbar gleichmütig die Achseln, aber aus ihrem gehetzten Blick kroch Qual über ihr ganzes Gesicht. »Er, mein Gott – – er handelt, wie ein Mann seiner Art eben handeln muß, er – – er – –« es schien, als grabe sie angstvoll in sich selbst nach, – – und dann kam es wieder, geheimnisvoll und überzeugt, von ihren Lippen: »Er prüft mich.«

»Wodurch?«

»Ja sehen Sie, – – eine andere würde – – wankend werden, wenn – – wenn er – – so tut – – als – – als ob er nichts von ihr wissen wollte … aber nicht ich

»Wenn er was tut?«

»Nun – – wenn er sich scheinbar nicht um mich bekümmert …«

»Wie? Sie haben Mann und Kind verlassen, und er bekümmert sich nicht um Sie?«

»Offen – – darf er es nicht. Aber«, sie blickte sich scheu um, – – »Sie müssen wissen – – er verliert mich nicht aus den Augen.«

»Wo und wie verkehren Sie mit diesem Manne?«

»Ich verkehre nicht direkt mit ihm, – aber, – – aber, er läßt mich ständig beobachten.« Wieder blickte sie sich um, aber weit und breit war niemand zu sehen. – – »Oh – – das habe ich herausbekommen!«

»Und ihn selbst, – – wann sehen Sie ihn?«

»Er sieht mich nicht, – – er begegnet mir nicht … das – – das ist ja eben, – die Prüfung.«

Tief betroffen wandte ihr Olga den Blick zu. »Worauf bauen Sie?« fragte sie gespannt.

»Auf die Macht meines Willens«, sagte Erika mit funkelnden Augen. »Oh, ich werde ihn zwingen. Unablässig sende ich ihm – – Strömungen – – meines Willens.«

»Was hat er Ihnen gesagt, – – damals, als Sie Ihre Familie verließen«, beharrte Olga.

»Ach, – – das kümmert mich nicht«, sagte Erika in wegwerfendem Ton, aber ihre Stimme zitterte. »Er tat natürlich, als wäre er sehr erstaunt über meinen Entschluß, – – redete Worte, die nichts bedeuteten, – – ich hätte auf ihn keine Hoffnungen zu setzen, – – sagte meinem Mann, meine – – Ideen – – wären ihm unbegreiflich, – – und er habe mit alledem – nichts zu schaffen … aber was kümmert mich das?« stieß sie leidenschaftlich hervor. Und hartnäckig fuhr sie fort: »Ich weiß ja doch, daß das nur Prüfungen sind. Habe ich sie alle bestanden, – –« ein fanatisch verklärter Schein kam in ihr Gesicht, – – »dann wird es angefahren kommen, – das Glück.«

Olga hatte begriffen. Sie schlug nun die einzige Methode ein, diesen Vorstellungen auf den Grund zu kommen, – sie fragte mit ernsthafter Sachlichkeit: »Warum glauben Sie das?«

»Weil ich das Glück ersehnte, wollte, – – ergierte, – – wie ein Verhungernder die Nahrung, – – all die Jahre lang. Ich wartete darauf in meiner Ehe, – – ich rief es! Ich gebar vier Kinder, von denen eines lebt, – – aber ich hungerte und suchte; eines Tages fand ich, was ich suchte und sagte mir: jetzt ist es Zeit. Um alles zu gewinnen – – mußte ich alles wagen, – alles aufs Spiel setzen.«

»Wollte – – ergierte – – suchte – – wagte …« Olga verstand nun ganz. Eine Gewalttat am Schicksal, eine Erpressung an der Vorsehung, das war es, was sich ihr enthüllte. Wie mußte die Buße sein, die auf diese Tat gesetzt war! Und plötzlich tauchte, wie eine Vision, das Bild einer anderen Frau vor ihr auf, – – die nichts ergierte, die nichts tat, was das Verderben lockte, – – die trug und wartete. Eva Nestors Bild stand plötzlich vor ihrem inneren Auge.

Erika fuhr indessen fort, von den Prüfungen zu erzählen, die ihr auferlegt seien. Der Geliebte – – er wäre ihr scheinbar nie näher getreten als ein gewöhnlicher Bekannter – – tat, als kümmerte er sich nicht um sie, aber sie wußte – oh, sie wußte! … In harter Mühsal verdiente sie sich, seit sie ihren Mann verlassen, als Kontoristin ihr Brot; aber davon wolle sie Olga ein andermal erzählen. – Und wenn er ihre Liebe noch hundertmal stärker auf die Probe stellte, – ihr sollte es nur recht sein. Oh, daß sie leiden durfte, um ihrer Liebe willen, – – das war ihres Daseins »bittersüße Wonne«.

Wortlos folgte Olga den exstatischen Ausbrüchen dieser modernen Griseldis.

Sie waren nun an der Friedrich-Wilhelm-Straße angelangt, die von der Tiergartenstraße zum Lützowplatz hinaufführt. Olga blieb einen Augenblick stehen, um auszuruhen. Sie sah die nächtlichen Portale der Villen, die Gärten, deren gelbes, regennasses Blattwerk hinter den eisernen Gartengittern raschelte; sie sah die Biegung der einsamen, regenglänzenden Straße, über welcher die hohen Bogenlampen schwebten, und das tiefe Dunkel des Tiergartens, das, wie ein schwarzer Wall, die Straße auf der anderen Seite begrenzte. In all seinen Einzelheiten drang das nächtliche Bild in ihre Seele. Schweigen war ringsum. Nur oben vom Lützowplatz drang gedämpftes Wagenrollen bis hierher.

Das Gesicht der Frau Erika Bergmann war bleich, und ihre Augen irrten unstet. Das grüne Hütchen hatte sich verschoben und saß ein wenig schief auf der Seite. Schweigend gingen sie bis zum Lützowplatz. Als Olga in eine Seitenstraße einbog und bald vor dem Hause stand, in dem sie wohnte, sagte ihr Frau Erika Bergmann in ihrem hohen, scharfen Diskant »Auf Wiiiedersehen« – – und mit ihren kurzen, eiligen Schritten trabte sie, in Nacht und Regen, davon.

*

Eines Tages erhielt Olga einen Brief aus Dresden, mit unbekannter Handschrift. Als sie den Umschlag öffnete, fielen zwei dichtbeschriebene Bogen heraus. Die Schrift, die diese Blätter bedeckte, war dick, fast ohne Haarstriche, die Buchstaben eng aneinander und steil. Der Brief war von Werner Hoffmann. Stanislaus hatte ihr kürzlich erzählt, daß er in einem Sanatorium in der Nähe Dresdens sei; eine schwere Erschöpfung hatte ihn gezwungen, um einen Urlaub einzukommen. Auf Empfehlung eines Arztes war er in der Anstalt unter Bedingungen aufgenommen worden, die ihm den Aufenthalt da ermöglichten.

Der Brief trug keine Überschrift.

 

»Ich muß sprechen und wissen, daß ich gehört werde. Darum schreibe ich. Wenn ich alles gesagt haben werde, was in dieser Stunde zu sagen ist, – dann werde ich nachdenken, ob ich auch adressiere – und ich werde es sehr schnell wissen. Auf die Gefahr hin, eine falsche Adresse gewählt zu haben, werde ich den Brief dann absenden.

Das wird kein Liebesbrief, dazu ist meine eigene Verwirrung zu groß. Verwirrung im Felde der Voraussetzung, – Verwirrung im Gebiete der Objekte. So sieht die Sache erkenntnistheoretisch aus. Aber aus dem Mannigfaltigen und Hemmenden wächst das Einfältige und Eindeutige und treibt und schiebt zur Tat. Es wächst der Wunsch; mit ihm nicht – der Mut. Natürlich wage ich nichts, – was sich nicht, im gegebenen Falle, als mißverständlicher Unsinn deuten ließe, wert, einer freundlichen Ofenflamme überliefert zu werden.

Und doch ist es eine Tat. Hervorgelockt aus dem grotesken Gestrüpp der – Begier ist ein kleines, schwaches, schlechtes Wort. Aber Wunsch nach jenem Zustand, in dem ›Ich‹ überwunden wird. Daß es gelänge, – daß es vernichtet würde. ›Ich‹ ist ein sonderbares Ding: immer allein und doch tausendfältig gebunden.

Vielleicht reizt Sie das Problem?

Ein Wort der Erwiderung erbitte ich. Denn hat je einer weniger gelogen als ich? Man sage mir ein Wort. Und sei es nur – ›Sei still mein Freund‹ – wenn man nicht sagen kann:

›Hier blüht das schwere Schweigen, –
Hier findest du, was dich dir nimmt.
Hier wallt, in rotem Purpur,
Vergessenheit und blickt dich an,
Zerstäubt zu Millionen Kräften,
Löst sie dein Schicksal von dir ab,
Trägt es dahin, von wo es kam.‹ – –

Natürlich Ihr sehr ergebener Hoffmann.

Nachschrift vom Tage:

Frau Baronin v. Kellenberg wird Sie aufsuchen; sie hat ihre Gedichte unserm Verlag angeboten. Ich sende Ihnen mit gleicher Post das Manuskript. Mein Urteil: eine respektable Kraft, im Rhythmus der Nüchternheit, die letzten Wünsche der Exstase ausdrücklich zu machen. Ihre Meinung, bitte!«

 

Nach zwei Tagen erwiderte Olga:

»Es gibt Briefe, denen man es ansieht, daß sie erst nach zehnmaligem Versuche der Abfassung entstanden sind. So verräterisch war mir der Ihre. –

Was man sucht, glaube ich zu erkennen: ›Man‹ sucht eine brauchbare Form. Form sein, heißt Weib sein, – zugegeben. Aber diese Form erwartet einen bestimmten Inhalt, – der das Gewebe ihrer selbst durchdringe und erfülle, ohne daß es Störung, Zerstörung bedeute; der also vom selben Stoff sei, wie sie, nur fließender, füllender. ›Vergessenheit‹ – lädt mich nicht ein. Für mich ist – Deutlichkeit. Nur was deutlich in mir ist, gibt mir Fülle. Ich will nicht taumeln, – will gehen, mit sicheren Schritten und offenen Augen; will wissen. ›Verwirrung‹ im Felde der Voraussetzung, ja der Objekte? – – – Das ist, als trüge ein werdender Keim schon sein Todesbewußtsein in sich. Und doch – eine Tat?

Aber Sie verdienen Freundesvertrauen. Und so hören Sie denn das Bekenntnis meines frömmsten Glaubens: Ich glaube, daß es eine Stunde geben kann, die das ›Ich‹, – dieses tausendfältig gebundene und einsame, – aller seiner Bande entbindet, – die es frei macht, für immer. Das ist die Stunde, in der es dem einzigen Genossen begegnet – dem ›Zugedachten‹ – und ihn erkennt, in voller Deutlichkeit. Aber ich glaube nicht, daß zu dieser Stunde und über diese Stunde ein ebener, grader Weg führt, – daß mit dieser Begegnung und mit dieser Erkenntnis auch ein Besitz verbunden sein müsse, der aus zweien wahrlich eines macht … Wäre ich theosophisch veranlagt, – ich hoffte auf die immer wiederkehrende Begegnung, bis, auf höherer Bahn, die Wege sich so einen, daß es kein Verlieren mehr gibt.

Aber ich ›hoffe‹ nicht – in diesem Sinne. Nur daß Begegnung möglich sei, – wenn auch ohne Erfüllung – das ist mein Glaube. Und ich weiß auch, – das andere, – das Allzuirdische: daß Hunger und Wegemüdigkeit ihre Rechte verlangen … und [Kompromisse] schließen heißen.

Dies, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich lese die Gedichte der Baronin; verweile gern auf den Worten, solange ich die Blätter vor mir habe.

Leben Sie wohl und ruhig.

Olga Diamant.«

 

Darauf kam noch ein Brief:

»Ich bin froh, wenn ich an Sie denke! Nicht wie in die rote Glut, nicht wie in ein Chaos zuckender Blitze, – nein, – wie in ein helles, weites, edles Gemach, so blicke ich in Ihre Seele. Vielleicht werde ich bald schuldig werden an Ihnen. Verlassen Sie mich nicht – wie immer es sein wird zwischen uns! Ich mag Sie nicht verlieren, – wie immer es sein mag zwischen uns. Sie dürfen mich nicht verlassen, – denn ich bin ein Unglücklicher, einer der am Lichte der Sonne und an den Freuden des Weibes schuldig wird, schuldig an seinen Liedern, schuldig an seinen Küssen.

Aber meine Wünsche sagen ›ja‹. Und meine Wünsche küssen Sie. Und bald werde ich sagen: hier bin ich. Ich bin nicht ›die Begegnung‹, – nein. Aber ich bin ich, und ich bin hier – werde ich sagen.

Leben Sie mir wohl, Liebe, Schöne. Ich komme bald, denn ich sehne mich nach Ihnen. Meine Leiden haben mich demütig gemacht, darum küssen meine Wünsche nur scheu Ihre edlen Hände.

Werner Hoffmann.

P. S. Die Gedichte der Baronin senden Sie, wenn Sie damit fertig sind, bitte direkt an den Verlag; ich habe die Annahme veranlaßt.«

*

So war sie, wie es ihr Geschick schien, die Freundin der Umhergetriebenen, der Unbehausten, derer, die, wenn auch nur im Schatten eines fremden Daches, rasten möchten. War es die Wirkung ihres eigenen Schreitens, ihrer gebändigten Kraft, die diese Zusammengebrochenen anzog, die die Entgleisten und Ausgesprungenen mit wärmendem Frieden füllte?

Sie fühlte sich ihnen gegenüber bettelarm. Was konnte sie ihnen geben, – was wollten sie von ihr?! Eine schmerzliche Neigung, gemischt mit einem herben Verzicht, verband sie mit diesen Zerstörten. Einem Heilen, einem Ganzen, einem glücklichen Starken begegnen und sich ihm verbünden dürfen, – das war die Sehnsucht, von der ihre stillste Stimme sprach. Und dieser Stimme galt ihr bewußter Verzicht.

Koszinsky besuchte sie. Es schien ihr, als wäre sie für ihn die Repräsentantin einer Schicht, für die er verloren war, zu der durchzudringen es ihm an genügend unnachgiebigen Antrieben mangelte. Während seiner Zigeunerfahrten waren sie gebrochen worden. Mit dem selbständigen Spürsinn des weiblichen Gemütes fühlte sie das sehr bald deutlich; sie fühlte, ohne daß er es aussprach, daß er von ihrer Weiblichkeit nichts mehr für sich erwartete, noch begehrte. Ihre einstige nahe Begegnung lag zwischen ihnen wie eine Brücke, die um eines lebhaften Gewässers willen geschlagen worden war; der Fluß aber war versiegt, seine Quellen waren verschüttet, – nur die Brücke war noch da. Und sie führte immerhin über die Niveauhöhe des gemeinen Tages und wölbte sich gangbar über die trockene Erdfläche, die das einstige Flüßlein ihrer Liebe mit lebendigem Geplätscher erfüllt hatte.

Sie wußte, daß die wenigen Stunden, die er bei ihr zubrachte, für ihn friedvoll waren, und sie gönnte sie ihm. Aber nur, wenn ihn während dieser Rast nichts an sein eigenes, dunkles Dasein mahnte, bewahrte sie für ihn den Frieden. Er kam wie einer, der sich von einer ihm nicht zugänglichen Welt erzählen lassen will, – der der beste Hörer und ein kluger Versteher ist, ohne von sich selbst auch nur ein Geringes preiszugeben. So war er das gerade Widerspiel zu Hoffmann, der, von sich selbst übermächtig erfüllt, formende Aufnahme suchte. – Wäre ein anderer vor jeder Berührung seines Schicksals so zurückgewichen, wie Koszinsky es tat, – es hätte ihr Mißtrauen erregt und sie zu gleicher Verschanzung gemahnt. Hier aber wußte sie, daß es das Hoffnungslose war, das sich scheu vor Berührung barg. Seine Augen, deren Flackern stiller wurde, wenn er längere Zeit bei ihr saß, entzündeten sofort, wenn sie an das gefährliche Thema seiner Existenz auch nur rührte, ihre unruhig tanzenden Funken. Das gefaßte Lächeln verschwand, der Mund wurde hilflos und eckig. Sie solle ihn nicht verscheuchen, – indem sie ihm »helfen« wolle, – um Gottes willen nicht! Er sprang auf und begann in dem kleinen Stübchen, das er mit seinen langen Schritten schnell durchmaß, hilflos, wie ein gefangenes Tier, auf und nieder zu gehen. So war es gewesen, als sie ihm einmal, mit gutbedachten Worten, zuzureden begann, daß er versuchen möge, seine musikalische Kaffeehausexistenz durch eine andere abzulösen.

»Was soll ich Ihnen darauf antworten?« fuhr er gequält auf.

»Warum Ihnen das so unmöglich scheint. Sie sprechen mehrere Sprachen, Sie könnten eine Stellung suchen, wo Sie die verwerten können, – vielleicht vorher noch etwas Kaufmännisches dazu lernen –«

»Buchhaltung, Stenographie, – wie Ihre famose, davongerannte Erika, wie?« Sie hatte ihm von ihr erzählt. – »Den Kontorstuhl drücken, – das wäre ein Heil, – was?«

Sie schwieg, traurig. Und sie brachte es fertig, ihm unter der schwersten Bedingung, die einem Weibe gestellt ist, ihre Güte zu wahren: wissend, daß sie sie einem gab, über den sie jede Macht verloren, zu dem weder Wunsch noch Rat von ihr einen Weg hatten. –

*

»Meine Liebe und Verehrte! Haben Sie die Güte und lassen Sie mich auf einliegendem Bogen wissen, ob ich den morgigen Nachmittag mit Ihnen verleben kann. Es würde mich über die Maßen freuen, dies im Anschluß an ein interessantes, wenn auch nicht schmerzloses Ergebnis tun zu dürfen. Morgen ist nämlich mein letzter Scheidungstermin. Außerdem trifft es sich glücklich, daß ich im Kündigungsmonat bin und gleichzeitig eines rheumatischen Anfalls halber Krankenurlaub genieße. So habe ich sattsam Zeit, erstens für meine Privatangelegenheit, und zweitens für Sie, meine sehr Verehrte! Meine neue Stellung, die ich auf Grund von neunundsechzig beantworteten Annoncen errungen habe, scheint leidlich zu sein. Vielleicht ist sie sogar angenehm. Nur zu lange Bureauzeit, – von morgens ½ 8 bis abends ½ 8, in einer Orgelfabrik in Lichtenberg. (Kennen Sie es? In der Richtung Hoppegarten – Osten!) Mein Wohnungsumzug dahin wurde opportun. Und so kam es, daß ich nicht eher Zeit fand, mich hier bei Ihnen zu präsentieren; die Stellungsuche, dann der Umzug, dazwischen die Verhandlungen mit Herrn Dr. Bergmann belegten mich mit Beschlag. Sogar meine Passion litt unter diesen turbulenten Störungen, – mißverstehen Sie mich nicht, ma chérie, nicht die große Passion, jamais de la vie, – die kleine, ich meine mein Geklimper. Mein Handgelenk war steif vom Schreiben der Offerten, und meine Füße waren wund gelaufen. So wurden sogar meine allmittäglichen und allabendlichen Etüden vernachlässigt. Sollte ich Sie morgen, gegen 4 Uhr nachmittags, nicht antreffen,

so bin ich,
nach wie vor –
mit herzlichsten Grüßen von Haus zu Haus
Ihre allerergebenste

Erika Bergmann.

P. S. Rückporto einliegend. –

Est-ce que je pourrais venir vous prendre, sinon demain, – dimanche prochain? Toute à vous.

E. B.«

 

Wenn Koszinsky von Olgas neuer Freundin hörte, so murmelte er immer, mit spöttischem Gesicht, vor sich hin: »Die Äffin halb, halb Heldin war.« Und indem er sie auf diese Art boshaft zu einer neuartigen, mythologischen Erscheinung machte, traf er beinahe das Richtige.

»Es ist das große, lemurische Zwischenreich, dem sie angehört«, warf Olga hin, in Erinnerung an jenes letzte Gespräch mit dem Wiener Cousin. Und, da er eine Erklärung forderte, gab sie sie:

»Es fehlt irgendwo – an entscheidender Stelle – ein entscheidendes Etwas. Irgendeine Kraft, die zur vollen Bewältigung einer höheren Lebensform unbedingt nötig ist, ist nicht da, oder nicht genügend entwickelt; darum ein Versagen an wichtigen Stellen; dabei eine absolute Auflehnung gegen primitivere – gewöhnlichere – Daseinsformen, die als überwunden empfunden werden. – – – So ungefähr verstand mein Cousin Art und Schicksal jener Schicht, die er › lemurisch‹, gespenstig, halbäffisch nannte.«

»Also eine Rückbildung – bis in die Nähe vom Gorilla?«

»Falsch verstanden. Unter den Ganzaffen, die noch hinter den Lemuren zu denken sind, meinte er natürlich nicht unsere braven, zoologischen Ahnen.«

»Sondern?«

»Sondern die überwundene Bürgerschicht, – deren nächste Fortsetzung jene intellektuell Gesteigerten sind, bei denen aber die wichtigsten Impulse, die zur Orientierung der ganzen Art unentbehrlich sind, – noch nicht im gleichen Grade mit gesteigert sind.«

»Und was würde das alles bedeuten? Denn kein Sein ist ohne Bedeutung.«

»Vorderhand: ein Sichaufbrauchen zwischen zwei Existenzstadien.«

»Und nachher?«

Sie sah gedankenverwoben vor sich. Ihre Augen bekamen einen nebligen Schleier.

»Es muß einen Weg geben aus diesem – Zwischenreich,« sagte sie suchend, »einen Weg, der wahrhaftig – ja wahrhaftig – hinausführt.«

»Und wohin sollte dieser Weg wohl führen?«

Erstaunt sah sie ihn an. »Wohin anders als zum Menschen? – Zum gesteigerten Menschen? – – – Wohin anders?!« – – –

Und der neblige Schleier über ihrem Blick zerteilte sich, und ihr Auge strahlte klar.

*

Erika war als junges Mädchen bei einem älteren Arzt und Witwer als Erzieherin seiner Kinder im Hause gewesen.

Nach kaum einem Jahr hatte ihr der stattliche Herr, der sich den Sechzig näherte, Herz und Namen geboten. Stabsarzt Dr. Bergmann war eine echt militärische Erscheinung, groß und massig, mit vollem fleischigen Gesicht, das die etwas ins Bläuliche spielende Röte des Zechers zeigte, weißen Bartkoteletten, schwer und stapfend im Tritt, mit einer Atmosphäre um sich, die an einen leichten Dampf und an den Geruch von Juchten erinnerte. Überzeugt, daß sie seinen Antrag als unverhofft glückliche Wendung ihres Gouvernantendaseins betrachte, hatte er ihre Antwort kaum abgewartet und sie gleich bei seiner Werbung kräftig an sich gezogen.

Während der folgenden Monate, in denen die junge Frau Stabsarzt ihr Kind erwartete, glaubte auch sie an das unverhoffte Glück. Zwar entsprach der massige, ältliche Herr nicht ganz den Träumen, die ihr in ihrer Mädchenzeit das Bild des künftigen Gatten umwoben hatten. Daß er um 35 Jahre älter war, als sie, beängstigte sie ein wenig. Aber sie war schon bange gewesen, ihr Frauenschicksal zu versäumen … Mit all ihrer Begier nach dem »Wunderbaren« erwartete sie nun das Kind. Es kam, – und kam zu früh und starb, nachdem es wenige Tage in künstlicher Wärme vom rauhen Leben abgesperrt gehalten wurde, an den Folgen eines Luftzuges. Eine zweite Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt, eine dritte brachte ein dürftiges Geschöpfchen, das drei Jahre seine Mutter in Atem hielt, bis es seinen Geschwistern folgte. Dann kam noch ein viertes Kind, ein kleines Mädchen. Es wurde mit Widerwillen empfangen und ausgetragen und in Erbitterung geboren. Aber es fristete sich am Busen einer kernigen Amme weiter und blieb am Leben, ohne daß seine Mutter sich wesentlich um seine Existenz mühte.

Indessen begehrte der Fünfundsechzigjährige noch immer Zutritt zur Tür seiner Frau. Aber während sie sich seiner greisen Begier überließ, arbeitete die mißhandelte, schwer vergewaltigte Phantasie mit krankhafter Hartnäckigkeit ein Bild aus, das der maßlos gereizte Glückshunger gewalttätig ins tatsächliche Schicksal seiner Trägerin projizierte. Zug für Zug erweiterte sie dieses Tableau, schweifte dabei umher, glücksbegierig, lebenshungrig – und suchte das Modell für die Hauptgestalt. Einen jungen Arzt, der auf der Fläche ihres Lebens irgendwo auftauchte, erwählte sie sich endlich. Sie stellte ihn an den großen, freien Platz in ihrem Bild – und sich selbst, in entsprechender Pose, daneben. Ganz im Bann ihrer Manie, begann sie jetzt die Aktion. Aus der Welt des Wahnes ging es nun heraus in die der harten Tatsachen, – zum gewaltsamsten Zusammenstoß mit der Wirklichkeit.

Er begann damit, daß sie plötzlich jeden Zusammenhang mit der Familie unerträglich fand. Sie sperrte sich stundenlang ein, ließ sich ihr Essen auf ihr Zimmer bringen. Die bloße Nähe ihres Mannes verursachte ihr physische Störungen, – sie konnte, wie sie sich ausdrückte, das Essen, das sie in seiner Gegenwart einnahm, nicht mehr verdauen. Eines Tages war sie entschlossen. Unter Mitnahme ihrer geringen Ersparnisse verließ sie das Haus. Dann trat sie vor den unfreiwilligen Helden ihrer Träume und sagte ihm unverzagt: »Ich liiiebe Sie!«

Daß der Erwählte sich gegen jede Beziehung zu ihr verwahrte, störte nicht den Ablauf ihres Wahns.

Frohlockend erzählte sie Olga, an die sie sich mit derselben Energie anschloß, mit der sie ihre Liebe gegen alle Bedenken verteidigte, – wie »seine« Boten und Späher jeden ihrer Schritte bewachten. Der Geliebte sorge auch dafür, daß sie ihn nicht vergesse. – Wie er denn das mache? fragte Olga. Nun, – sie wurde ernst und geheimnisvoll – heute sei ihr ein Mann gefolgt, der ihm entschieden ähnlich sah. – Was sie denn damit sagen wolle? – Nun, das sei doch klar zu durchblicken. Er sei reich, für Geld sei alles zu haben, und so habe er Sorge getragen, einen Detektiv ausfindig zu machen, der ihm ähnlich sei, – damit sie sich seiner erinnere, wenn sie jenem begegnete … Ein andermal zeigte sie einen Brief vor, den sie an den Geliebten geschrieben und der mit dem Vermerk »Retour, nicht angenommen« an sie zurückgelangte. »Sehen Sie,« sagte sie leuchtenden Auges, – »das hat er selbst geschrieben, – damit ich seine Handschrift sehen soll …«

Und diese Frau war nicht wahnsinnig, wie Olga zuerst glaubte; ihr Geist war – bis auf dieses eine, geheimnisvolle Gespinst, das ihr verfehltes, schwer lädiertes Frauenschicksal in ihrem Hirn erzeugt hatte, – nicht umnachtet, ihr Orientierungsvermögen nicht gestört. Wunderbar aber war, was aus dem erschütterten Boden dieser Seele, aus der undämmbaren Lava ihres Wahnes, die sich aus den Tiefen undurchdringlich und schwarz über sie gebreitet hatte, – an Tatkraft erwuchs. Gerade jenes Kampfes, in dem sie sich als Heldin bewährte, schien sich Erika am wenigsten bewußt. Es war ihr Kampf um Brot, von dem sie Olga zwar mit der gewohnten, freundlichen Bereitwilligkeit auf ihr Befragen berichtete, den sie selbst aber nur als nebensächlich, – als eine kleine Schwierigkeit, die eben zu bewältigen war, – betrachtete.

An jenem Nachmittag, zu dem sie sich angesagt hatte, – an dem sie vor ihrem letzten Scheidungstermin kam, beide Arme mit Blumen für Olga beladen, die die Freude über ihre »Freiheit« ausdrücken sollten, – berichtete sie, in bester Laune, und in einer Darstellung, die die scharfe Beobachtung nicht verkennen ließ, von den »kleinen Plackereien«, mit denen sie zu schaffen hatte, seit sie dem Gehege der versorgten Ehefrau, vollkommen ungerüstet, entsprungen war.

Ganz unvermittelt begann sie, nachdem sie sich an einer Tasse Tee gelabt hatte, von der Anomalie ihrer linken Gesichtshälfte zu sprechen.

»So wurden die Hexen dargestellt,« bemerkte sie, nicht ohne Stolz, – »auch große Künstlerinnen zeigen zuweilen solche Unregelmäßigkeiten. – Haben Sie mal ein Bild der Lagerlöf gesehen? Nun, da finden Sie das eine Auge in derselben Art, wie bei mir, ein wenig höhergestellt.« Und dabei lugte sie in den Spiegel und funkelte ihr eigenes, pikantes Hexengesichtchen herausfordernd an. »Aber ich bin auch linkshändig,« fuhr sie fort und verrührte mit der Linken den Zucker in der Teetasse, – »wie die meisten künstlerisch begabten Menschen oder doch solche, die – mit künstlerischen Anfechtungen« – sie zögerte und schloß dann, mit munterer Entschiedenheit, – »sagen wir belastet sind.«

»Und Ihre – Belastung?«

»Ich habe eine unglückliche Liebe zum Klavier, – das ist meine kleine Passion«; und sie berichtete, daß sie, trotz ihres Mangels an Zeit, regelmäßig in den zwei Stunden ihrer Mittagspause und jeden Abend von 9 bis 10 Uhr auf einem gemieteten Pianino übe.

»Wann treten Sie Ihre neue Stellung an?«

»Zum Ersten natürlich, und bis dahin genieße ich meinen Kündigungsurlaub.«

Was denn das für ein Urlaub wäre.

»Das ist eine Freiheit von zwei Stunden täglich, die jedem Angestellten im Kündigungsmonat gewahrt werden muß, damit er sich eine neue Stellung suchen kann. Außerdem habe ich mir meine Neuralgie mal ausnahmsweise nicht verkniffen und habe mich für ein paar Tage krank gemeldet. Scheidung und Offertenschreiben – das nahm viel Zeit weg.«

Und als Olga Näheres über die Art, wie sie sich ernähre, wissen wollte, erfuhr sie von einer seltsamen Odyssee, die wohl geeignet war, ihr Schauer einzuflößen.

Als Gouvernante, wie zu ihrer Mädchenzeit, mochte sie nicht ihr Brot suchen. Die vollkommene Abhängigkeit im Hause einer fremden Familie wäre ihr jetzt unerträglich gewesen, auch hätte sie in ihrer Lage einer in Scheidung befindlichen Frau kaum eine solche Stellung gefunden. Sie hatte sich also, nachdem sie ihr Haus verließ, mit ihren Ersparnissen in eine einfache Pension eingemietet; hier bezog sie das billigste Zimmer – die Mädchenkammer. Wenn man hier auch von dem Brausen der Wasserleitung und anderen unangenehmen Geräuschen des benachbarten Raumes gestört wurde, so konnten einem solche Kleinigkeiten, – wenn man sie für eine große Liebe erlitt, – nichts anhaben … Hals über Kopf stürzte sie sich in einen Kursus für Buchhaltung, Stenographie und Schreibmaschine. Daneben trieb sie, allein, an der Hand kaufmännischer Sprachbücher, französische und englische Handelskorrespondenz. Sie hatte berechnet, daß ihre Mittel für ein Vierteljahr reichten. Nach sechs Wochen war der »Handelskursus« beendet, und sie ging auf die Stellungssuche. Sie schrieb, lief, annoncierte. Bei einer neugegründeten Zeitung »zur Verbesserung des Wohnungswesens« fand sie ihre erste Stellung. Hier sollte sie die Bücher einrichten. Nachdem sie dies mit Hilfe ihrer jungfräulichen Kenntnisse getan, wurde ihr vom Fünfzehnten zum Ersten gekündigt. Mit großer Freundlichkeit erklärte ihr der Chef, ein blutjunges, korpulentes Herrchen, daß der noch kleine Betrieb es ihm ermögliche, die Bücher nun selbst weiter zu führen. Aber er werde auf sie »zurückkommen«, wenn er ihrer bedürfen sollte.

Bei der »Deutschen Stahlzentrale für die gesamte Metallwaren-Industrie« war ihr nächster Posten. In einem kleinen, schmalen Zimmerchen eines Hinterhauses wurde der stolz betitelte Betrieb geführt. Die Zentrale der Metallwaren-Industrie lieferte während ihres Dortseins einige Roststäbe für eine Gasanstalt. Nach kurzer Zeit erklärte der Chef, er habe sie unter der stillen Voraussetzung engagiert, daß sie sich mit etwas Betriebskapital beteiligen werde; Heirat nicht ausgeschlossen. – Sie ging.

Ein neuer Posten fand sich in einer »Fabrik zur Verwertung von Sägespänen«. Eine neuerfundene Maschine, die den märkischen Sand und die Sägespäne zusammen zu Bausteinen preßte, sollte hier verwertet und vertrieben werden. Die märkischen Gutsbesitzer sollten die Maschine kaufen, weil sie sowohl Sand als Sägespäne hatten. Der Chef hatte Verbindungen in aristokratischen Kreisen, besonders in denen des Landadels. Er sah sehr stattlich aus, glich einem Offizier in Zivil, war groß und kräftig, trug ein feines, englisches Bärtchen, einen sorgfältig geglätteten Offizierscheitel, eine diskrete Perle in einfarbiger Krawatte, hatte ein schneidig schnarrendes Organ und besaß einen kapitalen, echt russischen Windhund »Barseu« – dessen Leben auf 5000 Mark versichert war und mit dem er täglich mittags und abends persönlich auf den belebtesten Korsostraßen des feinen Westens spazieren ging, um auf diese Art für den »Barseu« eine seiner Rasse würdige Gefährtin zu finden. – Es waren noble, große Räume in einer Prachtstraße, die er gemietet hatte. Das Direktionsbureau sollte romanisch eingerichtet werden; vorderhand war es allerdings noch fast leer, – ein alter Tisch, zwei Hocker, eine Kiste und eine Matratze für den »Barseu« bildeten das Inventar … Erikas Kündigung erfolgte hier, weil sie angeblich zu langsam stenographierte und ungenügend die Schreibmaschine beherrschte. Die letzten vierzehn Tage peinigte sie der Chef, so erzählte sie, mit Vorsatz. Er diktierte viel zu schnell, zankte mit ihr, wenn sie die Sätze mit dem richtigen Kasus schrieb, während er Akkusativ und Dativ manchmal verwechselte. Zum Schluß kam es zu einer heftigen Szene. Als sie einem galoppierenden Diktat seiner schnarrenden Stimme nicht folgen konnte und er sie auf der Stelle zu entlassen drohte, empfahl sie ihm, sich einen Reichstagsstenographen zu engagieren. Der schneidige Chef erklärte ihr wütend, die Geschichte mit ihr sei »mau«, – worauf sie ihm erwiderte, sein Geschäft sei mau.

Er wies ihr auf der Stelle die Tür. Sie klagte vor dem Kaufmannsgericht um den Restgehalt und »verglich« sich mit ihm auf zwanzig Mark.

Damit stand sie im Monat Juli auf der Straße. Eine neue kaufmännische Stellung konnte um diese Zeit nicht gefunden werden, trotzdem sie täglich im Zigarrenladen, an der Ecke, die Zeitung durchsah und Annoncen herausschrieb, was ihr der Besitzer des Ladens gutmütig gestattete. Natürlich befragte er sie um den Zweck dieses Tuns, und sie klagte ihm ihr Leid. Nachdem sie immer elender aussah und schließlich auf seine Frage gestand, daß sie hungerte, bot er ihr einen Ausweg aus ihrer Lage. Seine Familie sei auf dem Lande, er sei Strohwitwer und entbehre »seine Ordnung«, besonders aber die gewohnte »Hausmannsküche«. Ob sie denn kochen könnte? – Nun, wenn man acht Jahre Hausfrau gewesen war, so sei das wohl selbstverständlich. – Ob sie täglich zu ihm kommen wolle, für ihn und sich zu kochen? Natürlich müßte sie gleichzeitig das Aufräumen der Wohnung besorgen, denn »zwei zu halten«, würde nicht lohnen. Dafür wolle er ihr die Kost und drei Mark wöchentlich geben. – – – Als sie das erstemal mit dem Mülleimer in den Hof ging, begegnete ihr die Portierfrau und sah ihr mißtrauisch nach. Am anderen Tag, als sie früh in den Hausflur des Vorderhauses trat und eben die Treppen hinaufgehen wollte, vertrat ihr die Portierfrau den Weg: »Wenn Se hier oben Aufwartefrau sind, denn jehen Se man hintenrum!« Und sie ging hintenrum. – – – Der neue Herr erzählte ihr, während der Mahlzeiten, die sie mit ihm zusammen einnahm, vertrauensvoll seine Geschichte. Er hätte einmal studieren wollen, für die Gewerbeakademie. Leider habe er seine Kariere durch Heirat zerstört. Seine Geliebte, eine Blusennäherin, sei in andere Umstände gekommen, und da habe er als »Schentelmann« gehandelt, als »Kavalier« und sie geheiratet. »Ein Kavalier ist kess«, schloß er. – Sein Äußeres schilderte Erika als das eines Menschen von »zwerghaftem Typ« mit O-Beinen, einer »Stubsnase«, in die es hineinregnen konnte und bürstenartig geschorenem Haar. Eines Abends, als sie sich nach dem Abendbrot anschickte, nachhause zu gehen, und ihm vorher noch das Bett abdeckte, begann er, wie sie sich ausdrückte, – »sexuelle Gespräche zu führen«. Wie eine Frau in ihren Jahren denn ohne Mann leben könne, – was ihn betreffe, so leide er unter der Abwesenheit seiner Frau schon so, »daß es nicht mehr schön sei« usw. Sie, mit ihrer naiven Art, alles buchstäblich und ernst zu nehmen, antwortete ihm in wohlwollend aufklärender Weise »wissenschaftlich« und hielt eine Abhandlung über die Phänomene geschwächter Willenskraft, die dazu angetan wären, Libido zu steigern.

Die Stubsnase blieb verblüfft und behandelte sie aus Verlegenheit grob.

Mitten in diese Situation, an der sie täglich immer schwerer schleppte, kam eine Wendung, die sie als das »Wunderbare« empfinden mußte.

»Zum Ordnen der Bibliothek wird gebildete Dame gesucht.« Sie ging an die Adresse.

Es war ein vornehmes Grundstück im Grunewald, das sie betrat. In einem weiten Park, in dem ein kleiner See eingeschlossen war, auf welchem Schwäne und wilde Enten schwammen, und an dessen Ufern graue und rosenrote Flamingos spazierten, – inmitten eines kleinen Haines herrlicher Kiefern mit pinienartigen Kronen, zwischen denen vereinzelte Buchen rauschten, – lag ein schloßartiges, altes Landhaus. Hier wohnte die Herrschaft, die eine gebildete Dame zum Ordnen der Bibliothek suchte.

Sie war in ungewöhnlich zeitiger Morgenstunde gekommen, um die erste der Bewerberinnen zu sein. Betaut lag der Park, und zart und morgenfrisch wölbte sich der Himmel über dem märkischen Walde. Der frische, leichte Wind spielte mit dem Kiefernduft, trug ihn bald stärker vorwärts und wehte ihn dann wieder zurück. Auf dem Wasser kräuselten sich kleine, silbrige Wellen …

Während sie in der Halle wartete, fürchtete sie schon, zu so früher Stunde nicht angenommen zu werden.

Aber da kam der Diener zurück und forderte sie auf, ihm zu folgen. Sie wurde in einen weiten Bibliothekssaal geführt. Während sie mit vor Erwartung gespannten Nerven um sich blickte, trat aus der Portiere des Nebenzimmers eine alte Frau, im dunklen Morgenkleid, mit geradem, strengen Faltenwurf, – mit weißen Locken, die silbrig schimmernd bis zur Schulter fielen und leuchtenden Blauaugen, die sie auf Erika ruhen ließ, – der unter diesen Blicken leichter zumute wurde.

Und Frau Dr. Wallentin fand Gefallen an Erika und behielt sie zum Ordnen der Bibliothek …

Einen ganzen Monat lang durfte sie ihr neues Amt versehen. Es galt, den Inhalt der großen Bücherkisten, welche die beiden Söhne von Frau Dr. Wallentin nach Hause sandten, zu ordnen. Weit über Meere und Länder kamen diese Kisten; und sie brachten nicht nur Bücher, sondern Aufzeichnungen, Aktenmaterial, photographische Aufnahmen, Sammlungen aller Art. Manfreds Material sammelte Tatsachen der sozialen Kultur in Indien, Japan, Amerika, Neuseeland, – Florian, der Jüngere, sandte neue Kundschaft aus den dunklen Gegenden der Erde, berichtete über unzivilisierte und halbzivilisierte Völkerstämme. Die beiden Brüder, der älteste und der jüngste, waren auf Weltreisen, – jeder auf einer anderen Tour. Der eine durchforschte an den Rändern der Erdteile fremde Kulturen, der andere drang mit einer Expedition ins Innere zu Naturvölkern. Der mittlere Sohn, Justus, war zu Hause, als Rechtsanwalt in Berlin tätig und überwachte mit seiner Mutter und seiner Frau, einer schönen Schwedin, die Sendungen. Es schien Erika, als würde da ein gewaltiges Werk vorbereitet, – und ihre geschickten Hände griffen zu, ohne daß sie die Bestimmung ihres Tuns und jenes, dem sie diente, überblickte. Sie hörte nur, daß Manfred, der Älteste, bald erwartet wurde.

Als in einem Monat die Arbeit getan war, sie nicht mehr, allmorgendlich, als Helferin der Familie hinaus, nach dem Grunewaldhaus, pilgern durfte, – da führte sie ihr Schicksal wieder in die Wüste. Wie ein wunderbarer Traum, geträumt im Schatten eines spendenden Baumes, von zärtlichen Lüften umweht, – so blieb ihr die Erinnerung an das Eiland der Schönheit, auf dem sie auf ihrer Wanderung hatte rasten dürfen.

Frau Wallentin hatte ihr beim Abschied freundlich über das Haar gestrichen, das so spröd und eigenwillig um die Stirn herumstand. Sie kannte ihr Schicksal, – auch hier hatte es sich aus dem gepreßten Herzen über die Lippen gedrängt, – und sah ihr ernst und still in das tieferrötende Gesicht. – – Sie lud sie ein, im Herbst die Versammlungen des »Bundes« zu besuchen, und gab ihr die Eintrittskarte für das nächste Jahr. – Ihre Mithilfe am ordnenden Werk entlohnte sie so reichlich, daß Erika ruhig und vorsichtig ihre neue Stellung suchen konnte.

Zum Unterschied von ihren bisherigen Posten kam sie nun in einem Riesenbetrieb unter. Es war ein Hüttenwerk, »Zum Eisenhammer«, in dessen Bureau sie aufgenommen wurde. Sie sah sich da einer komplizierten Buchführung gegenüber und hatte große Mühe, sich zwischen Wechselklagen, Zollberechnungen und komplizierten Kalkulationen zurechtzufinden. Ein Recambio, das ihr präsentiert wurde, machte sie ratlos. Seitenlange Zinszahlenauszüge bekam sie von ihrem unmittelbaren Chef, dem Prokuristen, durchrissen zurück. Dieser Chef behandelte das ganze Personal mit einer Grausamkeit, die Erika »sadistisch« nannte. (Sie wendete mit Vorliebe der Pathologie entlehnte Ausdrücke an, die ihr, als Arztesfrau und als langjähriger Leserin medizinischer Zeitschriften, geläufiger waren als die doppelte Buchführung.) Dieser sadistische Chef überhetzte das Personal, peinigte es auf jede Art. Nach ihrer Beschreibung hatte er ein mächtiges, brutales Gesicht, einen Schädel, dessen Dimensionen dazu herausforderten, sich über die Grenzverhältnisse von Genie und Wasserkopf zu unterrichten, – und kleine, scharfe Augen, die sich in die Opfer einbohrten. Er beobachtete die neue Buchhalterin genau. Nach einiger Zeit bemerkte sie, zu ihrem Staunen, eine Veränderung seines Verhaltens. Er sah ihre Fehler beinah milde nach und half ihr über die Schwierigkeiten durch Belehrung. Es traf sich auch, daß er manchmal, nach Bureauschluß, ein Stück Weges mit ihr zusammenging.

»Ach, – hätte ich mich nur in ihn verlieben können«, berichtete sie seufzend. »Aber ich kann nicht, – kann nicht!« Es lag so wenig Entrüstung oder Widerwillen in diesem Teile ihrer Schilderung, der sich mit den Annäherungen des Prokuristen befaßte, – daß man an ihrem guten Willen, ihn zu lieben und »jenen anderen zu vergessen«, nicht zweifeln konnte. In ihrer überstürzten Art verriet sie mehr, als sie wollte. »Schließlich – bei einem Ausflug an den Scharmützelsee – sagte ich Ihnen das? – wollte er mich küssen – – aber – er roch so wild, so animalisch – – – oh, es war unmöglich. – – – Zudem sah ich plötzlich, – im freien Feld – ein Auto stehen – – und da wußte ich gleich, – daß ich von da aus beobachtet wurde.« – –

Nach ihrer fluchtartigen Rückkehr vom Scharmützelsee war ihre Stellung im Bureau des »Eisenhammers« unmöglich geworden. Der Prokurist behandelte sie wieder mit Grausamkeit, – was blieb ihr übrig, als wieder zahllose Offerten zu schreiben, – jedes handschriftlich, sauber und akkurat. Endlich kamen zur näheren Auswahl zwei Stellungen in Betracht. Bei einer Versicherungsgesellschaft sollte sie mit dem Gehalt von 130 Mark pro Monat angestellt werden, – als Agentin. Dafür war sie verpflichtet, für 13 000 Mark monatlich Geschäfte abzuschließen; für jedes Tausend, das von dieser Summe fehlte, sollten zehn Mark abgezogen werden. Dieser Honorarsatz galt aber nur für die Erwerbung von Policen für direktes Ableben. Bei Er- und Ableben (Lebensfall) mußte sie um ein Drittel mehr Geschäfte machen.

Sie wählte die zweite Stelle, in einer Orgel- und Harmoniumfabrik in Lichtenberg. Beim Engagement sagte ihr der Chef, ein kleiner, dicker Ostberliner:

»Det sach ich Ihnen jleich – pünktlich müssen Se sind.«

Erika: »Wir leben in einer Großstadt, – die Elektrische kann doch mal überfüllt sein.«

Er: »Wenigstens müssen Se Jrund haben.«

Morgens um halb acht Uhr hatte sie anzutreten, die Orgeln und Harmoniume abzustäuben, – dann die Abzahlungskunden zu besuchen, um »Reste anzumahnen«. Nachmittags waren die Bücher und die Kontorarbeiten zu erledigen. Sie bekam 120 Mark Gehalt, außerdem zahlte der Chef die Krankenkasse und die Invalidenmarken. Um auch die Fahrkarte nach dem äußersten Osten zu sparen, war sie dahin – in den düstersten Proletarierbezirk Berlins, – übersiedelt.

Hier hielt sie jetzt.

*

Die Abende begannen lang und trüb zu werden. Olga verbrachte sie zumeist zuhause, in ihrer Mietsstube. Sie hatte einen Plan gefaßt, der einen Versuch darstellte, sich eine Existenz zu schaffen. Sie wollte eine Korrespondenz für die Frauenbewegung herausgeben. Hoffmanns Chef war als Verleger für den Plan gewonnen worden und hatte sich bereit erklärt, den Druck zu besorgen. Den Vertrieb sollte sie selbst übernehmen. Zu diesem Zweck würde ihr Zimmer nicht genügen und eine eigene, kleine Wohnung notwendig werden. Sie suchte schon fleißig, natürlich im Vorort, da sie nicht zwischen den vier Mauern eines Gartenhauses, das in Berlin selbst allein in Frage kam, leben wollte. Im Vorort konnte sie wohl eine kleine Wohnung mit freierem Ausblick finden.

Der Vater war von dem Plan verständigt worden, und sie hatte um eine Summe gebeten, mit der sie die ersten Unkosten und die einfachste Einrichtung der Wohnung bestreiten konnte. Ohne weiteres hatte er das Geld gesandt. Es war ein Geschäft wie jedes andere, das sie begann, – warum ihr nicht helfen? Ja, zu ihrem Erstaunen war er erfreut gewesen von dem Plan, denn es hatte ihn gequält, daß das Mädchen, ohne verständlichen Zweck, fern von zuhause, in der fremden Großstadt saß. Nun hatte ihr Dortsein einen Zweck, und darum half er ihr, ihren Plan auszuführen.

Sie begann Verbindungen mit Autoren und Redaktionen anzuknüpfen, wollte nicht eher beginnen, bevor ein fester Kreis von Mitarbeitern und auch von »Abnehmern« gewonnen war. Dabei hieß es erkennen, was die Tagespresse brauchte, vielleicht neue Anregungen geben und Bedürfnisse wecken; andererseits galt es, die Autoren zu interessieren, sie zur Arbeit anzuregen, sie auf Probleme der Frauenkultur, wie sie sich in der Zeit meldeten, aufmerksam zu machen, mit Geschick die geeigneten Persönlichkeiten heranzuziehen. Die Korrespondenz, wie sie ihr vorschwebte, sollte nicht wahllos Artikel, die der Zufall auf den Tisch wirbelte, aneinanderreihen, – sie sollte der Ausdruck einer in sich geschlossenen Anschauung werden.

Bei dieser Arbeit half ihr Lore Wigolski. Lange hatte sie eine passende Helferin für die Erledigung der vielen schriftlichen Arbeiten gesucht. Und da sie noch keine eigene Schreibmaschine besaß, war es schwer geworden, eine Kraft zu finden, die ihr nur stundenweise und doch sicher zur Verfügung stand, so oft sie sie brauchte. Sie hatte es mit verschiedenen, kleinen Tippmädchen versucht, – aber die pünktliche und sichere Lieferung der zumeist eiligen Briefe klappte nicht, wie sie mußte. Auf gut Glück war sie, begleitet von Stanislaus, auf eine Annonce hin, auch zu Frau – oder Fräulein – Wigolski gegangen. In einer kleinen Gartenhauswohnung in Schöneberg, vier Treppen hoch, wohnte sie. Ein junges, eben schulentlassenes Dienstmädchen öffnete und führte die Besucher gleich in eine große, lichte Stube, die mit behaglichem Altväterhausrat ausgestattet war. Da standen prächtige, alte Biedermeierkommoden, tiefe Fauteuils und ein bequemes Sofa, wie es in die »gute Stube« einer alten Berliner Familie gehörte, aber mit braunem Tuch neu bezogen; da war auch ein großer, moderner Arbeitstisch, von rotgebeiztem Holz, fast so groß wie ein Zeichentisch, mit Papieren und Maschinenschriftmanuskripten bedeckt. Daneben war ein kleines Tischchen, auf dem, auf einem dicken Schalldämpfer von Kork, die Schreibmaschine stand. Und da war noch ein Möbelstück, das eigentlich nicht in dieses Zimmer paßte: ein weißes Kinderbett, mit einem Betthimmel von hellblauem Tüll, stand nahe einer schmalen Tapetentür in der Ecke. Über das ganze, behagliche Zimmer waren Blumen verteilt, – auf den Kommoden standen Vasen mit Herbstlaub, Astern und Georginen, und grüne Blattpflanzen reckten sich im Erker der Sonne zu.

Eine schlanke Frau, in knappem, dunklen Tuchkleid, trat ein. Ihr Kopf erinnerte Stanislaus an die Modelle moderner Maler: große, scharfgezeichnete Züge, ein etwas breiter Mund mit zwei prächtigen Zahnreihen, lebhafte, graue Augen, deren äußere Winkel etwas schräg gestellt waren und einen wendischen Einschlag im Blute verrieten, dem man in alten Berliner Familien oft begegnet. Sie sprach mit kräftiger, sicherer Stimme, und der reservierte Zug in ihrem Gesicht verschwand bald. Zwischen den beiden Frauen spann fast augenblicklich, über die geschäftlichen Beziehungen, die sie anknüpften, ein persönliches Interesse seine Fäden, – es war wie eine Ahnung, die die kämpfenden Frauen dieser Zeit oft blitzschnell zu schwesterlichem Erkennen führt.

Man einigte sich rasch. Lore Wigolski sollte schon am nächsten Tage zum Diktat kommen. Stanislaus und Olga erhoben sich.

Da hörte man Kinderweinen im Nebenzimmer. Die Tapetentür wurde geöffnet, und das kleine Dienstmädchen rief herein: »Ach bitte, – Frolain, – kommen Se doch mal! Lörchen is so unnütz!«

Aber da drängte es sich schon durch die Tapetentür, – das unnütze Lörchen, – vierjährig mochte es sein – schön, wie ein kleiner Cherub, mit roten Bäckchen, großen, grauen Strahlenaugen und dunkelblonden Locken.

»Mutti – is will mal die Leute sehen«, – damit zappelte sie geradewegs auf die Geschwister zu.

Lore Wigolski lächelte. Es war, als ob über die herben Züge eines Kliemtschen Kopfes das uralte, das ewige Licht – aus dem Antlitz der Kindesmutter genommen – gebreitet würde. So lächelt – besitzfroh – die Mutter, Madonna divina – die das Pfand empfangen, geboren, gerettet weiß …

Freundlich beugte sich Olga zu dem Kind.

Für Stanislaus aber war die Stube mit dem Altväterhausrat verwandelt. Flammend hatte das Licht hineingeschlagen, und im göttlichen Glanz sah er das Püppchen, das Lörchen, die Arme breiten, sah er ein Kind auf kleinen Beinchen schwanken, hörte er das Stammeln der jungen Sprache … Er durfte die Verklärung erleben, die den Frommen und Gläubigen wird, wenn sie der Mutter mit dem Kinde begegnen, – denn er war einer von ihnen.

*

In diesen langen, einsamen Herbstabenden, die Olga allein verbrachte, irrten ihre Gedanken, wandermüde, als wollten sie rasten, zu den Bildern der Freunde, die vor ihre sehnsüchtig ausblickende Seele traten. Aber da war keines, dem sie hätte frohlockend zuwinken mögen: Tritt näher – du bist es – ich erkenne dich!

Hoffmann hatte wieder geschrieben und seine nahe Rückkehr angezeigt. Als er eines Abends bei ihr eintrat und sie sein Gesicht wiedersah – bleich, länglich, bartlos, mit dem sanften und doch glühenden Blick der dunklen Augen, – schien er ihr, wie ein alter Bekannter. Er warf die Lodenpelerine und den Filzhut ab und berichtete, daß er sich erholt hatte, weil er sein Gehirn so richtig hatte ausschlafen lassen. Willig hatte er sich in das Räderwerk des Sanatoriums gefügt und hatte den Tag abschnurren lassen, wie das Uhrwerk es wollte. Ein immer gleicher Turnus von physischen Aktionen, bestimmt, die Muskeln zu üben, die Haut anzuregen, die Gewebe zu festigen und das Blut zu erneuen, – das waren diese Wochen für ihn gewesen; und sie hatten ihr Werk gut getan. So war das Leben eine Weile überlistet worden, man hatte Ohren und Augen verschlossen, um nicht zu merken, wie es hinging.

Aber in den kurzen Intervallen des wachen Wissens – war sie dagewesen, war plötzlich und immer wieder vor ihm gestanden. Und diese sehnsüchtige Spannung, in die ihn dieses Bild, das ihre Züge trug, versetzte, war immer stärker geworden. Dennoch … er stockte, zögerte, bangte, – senkte den Blick, der sie heischend umfaßt hatte.

Sie begriff – und wie Nebelschwaden, die immer dichter, trüber, schwerer, aus abendlichen Auen steigen, – so stieg Schwermut aus ihrer Seele und breitete sich aus. Wie waren die Worte seines ersten Briefes gewesen? … »Verwirrung im Felde der Voraussetzungen, – Verwirrung im Gebiete der Objekte«. – Und dann war das Einfältige und Eindeutige dennoch gekommen: die Wünsche, die Wünsche … Scheu nahten sie sich, – wie er es verheißen – doch unabweislich in ihrem Fordern. Ja, diese scheuen, begierlichen Wünsche umrankten sie liebkosend, – und weckten sie stärker als Taten. Und auch sie hatte Wünsche: – einschläfern, was immer wach lag, sich durchdringen lassen mit jenem köstlichen Frieden der halben Betäubung, den ihr einmal, als sie schwer krank gelegen, das Morphium gebracht, – zum Schweigen bringen, alles – was nicht lügen konnte, – alle diese gesprächigen Zellen ihres so wahrhaftigen Leibes, – die da riefen: »Nein, nein!« … Diese Rufenden – überschütten – mit einer einzigen, schweren, roten Welle – daß sie verstummten … Sie sprach mit ihm, ohne den Rhythmus der Stunde zu beschleunigen, und sie fühlte, wie sie mit jedem ihrer gedämpften Worte die Hecke der Wirrnis verdrängte, die sie beide schied. Und sie fühlte, daß sie ihn in Bande schlug …

Es war tiefe Nacht geworden. Das breite Fenster des Berliner Zimmers war geöffnet, denn der Tag war mild gewesen. Ein paar Straßen weiter war eine Hauptstraße; gedämpft, durch die Gruppen der Häuser, drang ein leises Brausen durch die stille Nacht, – der Atem der nächtlichen Stadt.

Sie traten zum Fenster. Vom blauschwarzen, mondbeleuchteten Himmel hoben sich die dunklen Massen der Dächer ab, und an einigen Stellen flimmerten die Schiefer, wie die vom Mondlicht übersilberte Fläche eines nächtlichen Sees. Man hörte einen verspäteten Singvogel unten im Garten einen kurzen Ton aus der Kehle stoßen, wie im Schlaf.

Hoffmann sagte: »Welch ein seltsames Ding ist es doch, – eine Melodie oder eine Dichtung, eine Skulptur oder ein Gemälde zu finden! Zu finden, jawohl«, wiederholte er. »Denn sie sind da, diese Harmonien … Im Weltenraum warten sie unser. Im All wartet eine Harmonie, – wie die Figur im Block; und es heißt: wegsprengen, was sie birgt … Dazu bedarf es – bezauberter Hände,« – seine Stimme sank in ein weiches Geflüster, – »bezauberter Hände! … Wie schön ist diese Nacht, meine Liebe! … Ja, – wegbeschwören – – was eine Harmonie verbirgt, – das ist es – – was auch wir tun müssen …« Sein Arm bebte, als er ihn zagend um ihre Schultern schlang. Er begann leise die Melodie der Barcarole aus »Hoffmanns Erzählungen« zu pfeifen … die in die Nacht hinein schwoll und wiegend in Dunkel und Schweigen glitt …

*

Als er sie im Morgengrauen verließ, blieb sie in den Kissen wach. Ermattende Schwere lag über ihren Gliedern … Und was sie in die entlegensten Winkel der Seele gedrängt, – es meldete und regte sich und kroch heran. Das Bewußtsein, das stark, wie das helle Licht des Tages, über ihren Weg geleuchtet und ihr unzweifelhaft gezeigt hatte, daß er es nicht war, den sie erwarten sollte, – sie hatte es fortgeschoben, verschüttet, mit ihren und seinen Wünschen; – ja vor allem mit seinen Wünschen, die ihre reife Jungfräulichkeit begehrten … Bedrängt von Scham, gestachelt von stolzem Trotz, der ein ihr bisher unbekanntes, fast verächtliches Gefühl resignierten Ergebens in ihr schuf, versank sie endlich, als der Tag anbrach, in unruhigen Halbschlaf. Sie hörte, im Traum, ein Gefährt rasseln und träumte, daß es auf einer breiten, einsamen, nächtlichen Straße dahinfuhr, und sie dachte, – im Traum – es müsse jene Charette sein, die die Verdammten zum Richtort führte. Und dieses Rasseln erschien ihr, im Traum, in unlöslichem Zusammenhang mit der gespenstigen Verlassenheit ihres Lebens. – –

Sie erwachte, am späten Vormittag, als ihre Wirtin ihr das Frühstück brachte. Und da lag auf dem Tablett ein Rohrpostbrief. Hastig strich sie mit einem in Wasser getauchten Lappen den Schlaf aus den Augen und las, am Bettrand sitzend, Hoffmanns Brief:

»Mädchen! Du weißt nicht, was Du mir gegeben hast. Du tatest das Herrliche, ohne darum zu wissen. Und auch ich werde eines Tages vielleicht nicht mehr darum wissen, werde es, mit Blindheit geschlagen, vielleicht vergessen können, eines Tages. Aber heute weiß ich … Und so sei es gesagt, – wie glitzernd ich bin und befreit und sprudelnd, wie ein Bach, der im ersten Frühling durch den Tannenwald jagt … Seine Wellen überspringen einander und verstäuben Diamantengesprühe in die selige Luft. Mädchen, das hast Du mir gegeben, Du stolze Spenderin; mir, dem Gedemütigten, der bislang nur, mit verbissenen Zähnen und schamrotem Gesicht, im Schoße der Schande von seiner Mannheit erfuhr … Nun bin ich so ohne Sorge! Warum bist du nicht da, daß diese Herrlichkeit über Dich auch käme? Und denke ich an Dich, so mahnt es mich, an den Duft der schwarzen, bergenden Frühlingserde, an das Flüstern der bedächtigen Blätter, wenn der Wind über sie streicht, – an das Klirren der weißen Kieselsteine, am Grunde des Baches, wenn die frohen, stürmenden Wasser sie überfluten … Ach und nie – nie noch war das alles in mir – wie jetzt! – – – Vergiß es nicht, Mädchen, was heute in mir ist, – auch wenn ich es vergesse! Vergiß es nie, – daß heute meine Seele fromm in der Deinen war …

Ich küsse Deine Lippen, Deine Hände, Deine Knie … Werner.


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