Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.
Zwei Frauen

 

»Frauen! Richtet nur nie des Mannes einzelne Taten!
Aber über den Mann sprechet das richtende Wort!

Schiller.

 

Mit einem zur Eile drängenden Gefühl beschleunigte Olga ihre Reisevorbereitungen. Erst als sie ihre Koffer, die, bis auf geringes Handgepäck, ihre gesamte nur zu bewegliche Habe bargen, fortgeschickt hatte, wurde ihr freier zumute.

Sie wunderte sich selbst, daß sie nichts mit dieser Stadt verband, – daß sie hier fast so fremd geblieben war, wie »daheim«, in dem schlesischen Winkelstädtchen. War es die Wurzellosigkeit ihrer Rasse, deren Träger sich Kulturen zueigen gemacht hatten, die nicht ihrem Blute entstammten, – war es die besondere Atmosphäre gerade dieser Stadt, die die Konturen der Dinge weichlich ineinander wob, wie die Formationen der umliegenden Hügellandschaft? – Olga hatte in den Jahren ihres hiesigen Aufenthaltes keinen Kreis gefunden, mit dem sie echte und notwendige Vertraulichkeit verband. Nur einer einzigen Person war sie näher gekommen. Gerade heute, am Tage nach der »Abschiedsfeier«, die sie mit ihren Freunden im Champagnerkeller abgehalten hatte, fühlte sie, wie wenig lebendig die Beziehungen waren, die sie mit ihnen einten. Und doch war sie diesen Verwandten gut. Aber es war nicht der starkfließende Strom verwandter Willenskräfte, – es war nur, wie eine wachsame Teilnahme an dem noch nicht erfüllten Maß ihres Geschickes, die sie mit ihnen und wohl auch jene mit ihr verband.

Gerade die Öde, mit der der heutige Tag sie umgab, mit der er sie, wie durch einen luftleeren Raum, fernhielt vom lebendigen Anteil an ihm, war mehr als ein gewöhnlicher Katzenjammer nach einer durchwachten Nacht. Es war das deutliche Bewußtsein des inneren Versagens, das uns dort, wo wir gütige Gefühle zu schulden glauben, peinvoll bedrückt. Der Augenblick, in dem das Gefühl eines Abschlusses erschreckend deutlich wird, war gekommen. Hier war eine Epoche, deren verschiedene Etappen dem Gedächtnis, scharf umzeichnet, entsprangen, deutlich beendet. Ihr war, als wäre der Additionsstrich unter die einzelnen Posten zu machen und es verbliebe nur noch, die Summe zu ziehen.

An solchen Tagen, wie dieser, – sie waren in der letzten Zeit immer häufiger gewesen, – richtete sich ihre Aufgabe riesengroß und wie unerklimmbar vor ihr auf.

Ihre Aufgabe? Wußte sie sie denn?

Ohne ein deutliches Lebens- oder gar Berufsprogramm zu haben, fühlte sie doch, daß es irgendwo in der Zeit ein Feld gab, auf dem sie und gerade sie ihre Kräfte auszubreiten hätte. Wie dunkle, durch Jahrhunderte vorbereitete Erfahrungen, drängten Erkenntnisse durch sie ans Licht, – wollten durch sie Gestalt bekommen.

Olga war in der verflossenen Nacht durch jene unerwartete und außergewöhnliche Begegnung an das schmerzlichste Erlebnis ihrer Jugend erinnert worden. Diese »Jugend« schien für sie selbst hinter ihr zu liegen, und, was das Seltsame war, sie beklagte das nicht. Denn ihr war, als hätte sie sich all ihre »Jugend« hindurch gegen niederziehende, schwerlastende Mächte zur Wehr gesetzt, als hätte sie ihre ganze, junge Kraft gegen den Druck eines dunklen Schicksals stemmen müssen, bis es endlich, endlich ein wenig lichter und freier um sie geworden war. Aber an solchen Tagen wie dieser, – den sie bis zum späten Nachmittag in ihrem Zimmer verbrachte, abwechselnd mit der Ordnung ihrer letzten Gepäckstücke beschäftigt, dann wieder auf das harte, steiflehnige Sofa ausgestreckt und von trübem Erinnern schattenhaft umwebt, – an solchen Tagen rückten Bilder aus ihrer Jugend dicht an ihre Seele. Sie sah sich wieder, in dem grauen, alten Haus mit den steinernen Treppen, den fleckigen Wänden und den tiefen, düsteren Zimmern, in die die Sonne nie recht hineinfiel, deren Fenster nach Norden auf den Ringplatz hinaus und auf den schmutzigen Hof gerichtet waren, der vier Hausmauern mit Mühe auseinander zu zwängen schien. Und dieses Haus stand in einer Provinzstadt, die der Himmel niemals blau und fröhlich belichtete, in der die Luft zumeist feucht und scharf in die Kehle kroch, wenn man auf die Straße trat, – auf diese meist ungepflasterten Wege, wo der Fuß im nassen Kot einsank. Dieses Städtchen, mit seinen kurzen, dampfend heißen Sommern, seinem langen, naßkalten, stürmischen Herbst und den eisigen, dunklen Wintertagen war ihre Heimat. Hohe Schlote, mit langen, im Sturm zur Seite gebogenen Fahnen von schwarzem Qualm, stiegen ringsherum auf. Kohle und Eisenerz wurden da zutage gebracht und in den Hütten schlackenfrei gemacht; schwarz berußte, zerlumpte Gestalten, die beim Ertönen des schrillen Signals der Arbeitspause aus den Toren der Industriewerke herausströmten, überfüllten die Stadt; außer der zumeist slawischen Arbeiterbevölkerung waren die Juden da. Es schien, als wären es zwei verschiedene Stämme der Rasse, die hier vertreten waren. Neben den langen, hageren Gestalten, mit schwarzen Ohrlöckchen und gebogenen Rücken, scharfen Hakennasen und vorspringendem Kinn, steckten auch sehr blonde, sehr blauäugige Leute im Kaftan, bei denen nur der charakteristische Gesichtsausdruck, ihr bewegliches Mienen- und Händespiel die immer wiederkehrenden Vorstellungen ihrer Schicht verrieten und die Verwandtschaft mit ihren dunkelhaarigen Brüdern zum Ausdruck brachten. Die Juden hielten den Handel, besonders den Pferdehandel, der hier betrieben wurde, in den Händen; und dann die Schänken. Und diese Branntweinschänken waren jeden Abend überfüllt, und der grellbeleuchtete Ringplatz und die große »Breslauerstraße« hatten ihren Korso von betrunkenen Arbeitern, die von früh gealterten Weibern, mit verzehrten Elendsgesichtern, in ihre Behausung gezogen wurden. Zwischen dieser Masse von Juden und Arbeitern verschwanden fast die anderen Einwohner dieser Stadt. Es waren da noch ein paar alte, polnische Familien und einige Verwaltungsbeamte; auch ein Bataillon Infanterie lag da, dessen Offiziere ihr Dasein hier als Verbannung trugen. Als Abwechselung gab es im Frühling große Pferdemärkte. Dann waren alle Quartiere voll besetzt, und die große Wiese vor der Stadt, die im Winter als Eisbahn diente, sowie der Ringplatz selbst waren dann voll von langmähnigen, zu Koppeln zusammengeschirrten Rossen, deren Gestampfe und Gewieher die Luft erfüllte.

Olgas Vater gehörte immerhin zu den Honoratioren der Stadt. Er hatte die Fremde kennen gelernt, hatte in Deutschland »konditioniert«, lange in Breslau gearbeitet, bis er das Geschäft, das samt dem Haus seit mehreren Generationen seiner Familie gehörte, übernahm. Den Jargon seiner Heimat hatte er auch in der Fremde nicht verloren, wohl aber die zelotische Gesinnung, die er vielleicht nie stark besessen hatte. Er lebte zwar »rituell«, aber ohne die fanatische Anteilnahme an den »Bräuchen«, die noch seine Eltern mit eiserner Strenge befolgt hatten. Er trug den Kaftan aus Bequemlichkeit im Geschäft, legte aber den »europäischen« schwarzen Rock an, wenn er beim »Doktor« oder beim »K. K. Stationsvorstand« zur Tarokpartie eingeladen war. Er galt als ein Mensch, mit dem sich ein vernünftiges Wort reden ließ, und war besonders dafür bekannt, geleistete Dienste munifizent zu entlohnen. Seine Kinder ließ der alte Diamant die besten Schulen besuchen, die hier zur Verfügung standen. Stanislaus absolvierte das Realgymnasium und dann einen Handelskursus. Zum Militär kam er nicht, und so nahm ihn der Alte dann gleich ins Geschäft. Seine Flucht nach Berlin beschloß seine geschäftliche Tätigkeit. Erst hatte der Alte gehofft, er werde dort, von der Entbehrung gezwungen, einen kaufmännischen Posten annehmen und dann eines Tages wiederkommen, um sein eigener Herr zu sein. Aber als der Sohn durchaus vom »Kommerziellen« nichts hören wollte, sich in eine armselige Stube einsperrte und da mit erstaunlicher Beharrlichkeit Bogen um Bogen beschrieb, – Tagesfragen mit besonderer Betrachtung ihres ursächlichen Wesens für die Zeitungen bearbeitete, dann sich weiter wagte und Probleme von längerer Dauer und weiterem Interesse auf seine Art, die den Gegenstand geduldig und scharf bis an seine Wurzeln bloßlegte, zum Stoffe nahm, – dann nach Hause meldete, er wolle Schriftsteller werden, vielmehr bleiben, und hoffe, von dieser Tätigkeit leben zu können, – da war es dem alten Händler klar geworden, daß dieser Sohn den stabilen Grund und Boden, der für ihn bereit lag, nicht zu schätzen wußte und ihn preisgab.

Am meisten wunderte es ihn, daß Stanislaus für seine »Schreibereien« Geld bekam. »Wer gibt für solche Sachen ä Kreuzer?« fragte er sich kopfschüttelnd, wenn er die Zeitungsblätter, in denen die Artikel des Sohnes erschienen, und die er sich immerhin erbat, in Händen hielt. – – –

Was ihm blieb – war die Tochter!

Wenn Olga an ihre »Jugend« dachte, dann graute ihr besonders vor einer Erinnerung; die fiel in jene Jahre, die man als die holdesten, blühendsten eines Mädchens zu bezeichnen pflegt. Mit 15 Jahren war sie zuerst vor ihrem Spiegelbild stutzig geworden … Unter den kurzen Backfischkleidern sahen die Füße, in plumpen Stiefeln, lang hervor. Die Gestalt schien eckig und stämmig, nichts saß, wie es sitzen sollte. Die Blutarmut machte das Gesicht blaß, den Teint unrein, häufig von leichten Ausschlägen bedeckt, dazu sommersprossig, wie bei Rothaarigen gewöhnlich. Eine fast immer gedrückte Stimmung preßte die Züge nieder, senkte die Mundwinkel, ließ die Muskeln schlaff hängen und legte um die Augen etwas Trostloses.

Mit Grauen gedachte sie immer wieder dieser besonderen Häßlichkeit ihrer ersten Jugend.

Später, als ihr Temperament, welches unter einem fast grüblerischen Verstand seine lebendige, wenn auch verdeckte Strömung hatte, manchmal diese Oberschicht sprengte, – da hatte es auch dieses Dunkle, Schwere, welches auf ihrem Körper lag, mitgerissen und fortgeschwemmt. Sie erinnerte sich, wie ein zufälliger Blick in den Spiegel ihr manchmal ein beinahe fremdes Geschöpf zeigte, das etwas Strahlendes im Gesicht hatte, – ein Geschöpf, von dem sie verwundert und frohlockend fragte, – »das bist du?«

Aber damals, in ihren ersten »Blütejahren«, in dem düstern Haus, – da hatte sie sich mehr als einmal, weinend und verzagend, mit dem Bibelwort auf den Lippen gefunden: »Dein Leib ist der Tempel Gottes«. Und ihr schien es, als wäre es der Verzicht des Lebens, den sie annahm, wenn sie es duldete, daß ihr Leib diesen Worten Hohn sprach, wenn sie diesen Körper nicht zwang, schöner zu werden. So sann sie denn oft über die Möglichkeiten günstiger Kleidung, die ihr aber durch ihr geringes Taschengeld und ihren wenig geübten Geschmack ziemlich unerreichbar blieben. Auch vermochte sie keinerlei beengenden Zwang an ihrem Körper zu dulden, und die charakterlose, mitteleuropäische Frauentracht der bürgerlichen Kreise, Rock, Bluse und Gürtel, paßte sich ihren widerspenstigen Körperformen wenig günstig an.

Als sie achtzehn und neunzehn wurde, tauchten die ersten Freier auf; Kaufleute, die in die »Branche« und noch lieber in das gute Geschäft »einheiraten« wollten. Sie kamen, gewöhnlich Freitag abends, aus irgendeiner österreichischen Provinzstadt, zumeist aus Schlesien selbst, wurden am Feiertag – Samstag – im Hause Diamant splendid bewirtet und fuhren Sonntag früh wieder ab. Das Urteil, das sie über die Tochter des Hauses fast einstimmig abgaben, lautete ungefähr dahin, – das sei eine »miese Mad«, – dabei arrogant – »tut sich was« – und, was das Schlimmste sei, – »überbildet«. Keine drei Worte hätte sie geredet, und gehört hätten sie im Ort, daß sie sich mit lauter »Lesereien« den »Kopp einnehme«, anstatt sich um die Küche zu bekümmern und ins Geschäft zu gehen. So mancher äußerte, trotz dieses Eindrucks und dieser wenig empfehlenden Nachrede, den Mut, »sich das Madel zu erziehen«.

Aber die Abwehr der Tochter war unbeeinflußbar, und der Alte zwang sie zu nichts, außer zu ihrer Anwesenheit an dem Tage der »Beschau«. Ihrer flehentlichen Bitte, sie für einige Zeit fort zu lassen, nach Wien oder nach Berlin, widersetzte er sich mit der Begründung, sie hätte dort »nix zu suchen«. Sie bat, ein Lehrerinnenexamen machen zu dürfen, er schlug es rundweg ab; das seien »Flausen«, die seine Tochter »nicht nötig hätte«.

So verstrichen ihre Jahre, – ohne eine Ahnung, welche Richtung ihr Wille nehmen sollte, da ihre ganze Umgebung allen seinen Regungen feindlich war; – bis eines Tages das Schicksal bei ihr deutlich anklopfte.

Sie war eine hervorragende Eisläuferin und verbrachte im Winter ihre besten Stunden auf dem großen Eisplatz, der draußen vor der Stadt lag. Sie besuchte auch die meisten Feste, die auf dem Eis veranstaltet wurden, – und an denen die höheren Schichten der Juden, die Beamten, die Familien der polnischen Industriellen und die Offiziere, die hier in Garnison lagen, teilnahmen.

Bei einem Maskenfest auf dem Eis erschien sie als Teufelin, in schwarzrotem Sammetkostüm, die rostroten Haare gelöst über dem Rücken, auf dem Kopf ein schwarzes Sammetkäppchen, mit zwei festen, kleinen Holzhörnern, dicht verlarvt. An diesem Abend machte sie die Bekanntschaft eines jungen Offiziers, der ebenfalls einer der besten Läufer war und mit ihr die schwierigsten Figuren lief. Er war in Uniform, nicht verkleidet. Sie war schon öfters mit Offizieren gelaufen, war aber über die flüchtigsten und leersten Reden mit ihnen nicht hinausgekommen. Anders diesmal. Der hochgewachsene Offizier, mit den feinen Profillinien, dem blonden Schnurrbart, der hohen, ein wenig zurückweichenden Stirn und dem etwas nervös schweifenden Blick der blauen Augen, war nicht nur ein glänzender Eisläufer. Leutnant Koszinsky unterhielt sich mit ihr über Dinge, die seinen Kameraden sonst fernlagen. Sein heißes Interesse an Fragen der Kunst, der Literatur, der Philosophie, der Musik, begegnete hier endlich dem ersehnten Echo. Er hatte von dem Mädchen gehört und ihre Bekanntschaft gesucht. Trotz der Maske hatte er sie bald herausgefunden, – er kannte sie vom Sehen, – und die Freiheit des Festes gestattete ihm die schnellste Annäherung.

Kasimir Koszinsky war Pole, gehörte einer ganz verarmten Familie an und war als Knabe der Erziehung der Kadettenschule übergeben worden und so dem Militär »verfallen«, wie er es nannte. Er betrachtete das als ein Unglück. Er hielt sich für einen geborenen Künstler und hätte sich der Philosophie und der Musik ergeben, wäre sein Weg frei gewesen. So aber blieb ihm nichts übrig, als die für ihn bedeutende Mühsal des militärischen Berufes weiter zu schleppen.

Es dauerte immerhin Wochen, bevor diese beiden jungen Leute aus dem Bereiche gespanntester, schöngeistiger Interessen in jenes andere der persönlichen Wünsche zusammen eintraten. Es war fast immer zuviel zwischen ihnen zu erledigen. In den kurzen Stunden, in denen sie einander sahen, überstürzten sie sich, um von dem neuesten Buch, von irgendeinem bedeutenden, allgemeinen Ereignis »aus Europa« zu sprechen und hitzig ihre Meinungen gegeneinander zu führen. Seine Auffassung der Dinge hatte zumeist etwas Verschlungenes, wogegen sich ihre direkt auf den Kern der Sache zusteuernde Art nicht selten heftig auflehnte. So kam es, daß sie sich erst nach Wochen mit entscheidenden Wünschen, die eine gemeinsame Zukunft suchten, gegenüber standen.

Diese Wünsche fanden weniger Gegnerschaft, als sie befürchtet hatten. Der Vater Diamant erklärte sich bereit, die Kaution zu erlegen, falls seine Tochter sich nicht »schmarren« zu lassen brauchte. Die Heirat eines Offiziers mit einer ungetauften Jüdin, – in Österreich häufig genug, – ließ sich wohl machen. Und dann war Kasimir auch bereit, wenn es sein müßte, den bunten Rock auszuziehen.

Der Alte runzelte die Stirn. Wovon gedachte er zu leben? Daß er in sein Geschäft nicht eintreten würde, war ihm genügend klar.

Dann zog der alte Diamant den »europäischen« Rock an und ging aus, »Referenzen« einzuholen über den Leutnant Kasimir Koszinsky. Und damit erst trat die Angelegenheit in ein unerwartetes Stadium. Denn der Alte hörte Dinge, die selbst in jenem Winkel der Monarchie, wo die triste Situation die größte Duldsamkeit beim Militär mit sich bringt, – die Grenze des »Möglichen« überschritten.

Koszinsky hatte den Ruf eines skrupellosen Verschwenders, eines genußsüchtigen Menschen, der durch immer neue Exzesse seine Situation unhaltbar gemacht hatte. Der Major versicherte dem alten Juden, dessen Besuch er huldvollst angenommen hatte, Koszinsky werde demnächst seine Charge »springen« lassen müssen. Eine nicht ganz aufgeklärte Affäre rückte diese Katastrophe nah. Koszinsky hatte mit unbegreiflicher Leichtfertigkeit Wechselschulden auf Beträge, die er niemals aufbringen konnte, aufgenommen. Die ziemlich beträchtlichen Summen hatte er, wie ermittelt, in wüstester Gesellschaft in Krakau verlumpt. Man erzählte von ein paar Variétédamen und deren männlichem Anhang, die Koszinsky nächtelang traktiert haben sollte, bis der letzte Gulden fort war. Er habe wahrscheinlich auf einen reichen Schwiegervater gehofft, – den er ja nun auch gefunden hätte, wie der Major halb bedauernd, halb ironisch hinzufügte.

Aber das Schlimmste war damit noch nicht gesagt. Diese Wechsel sollten in einigen Tagen protestiert werden. Koszinsky hatte, gehetzt von seinen Gläubigern, seine Zuflucht zu einem Kameraden genommen, zu einem Leutnant Karl Stiller, der kürzlich etwas Vermögen geerbt hatte und gerade seinen Abschied nehmen wollte. Stiller, mit dem ihn eine nähere Kameradschaft verband, hatte sich mit Koszinsky in der Abneigung gegen den militärischen Beruf gefunden; er wollte den Sprung aus der Bahn wagen. Er arbeitete seit langem, heimlich, politische Artikel für ein Blättchen seiner Heimat, einer kleinen deutschen Stadt in Südungarn. Von dort winkte nun ein festes Amt beim Blättchen, und Stiller wollte die Kette zerbrechen. Zum Unterschied von dem vielseitig zerstiebenden Koszinsky war Stiller schwer, zäh, bäurisch beharrlich und, vor allem, emsig auch in seinen literarischen Versuchen. Dabei war er eigentlich »ärarisch« gesinnt, behütete seine Ideale vom frischfröhlichen Krieg trotz seiner persönlichen Abneigung, beim Militär zu bleiben. Koszinsky hatte ihn Olga als einen braven Kerl, aber »mit einem flachen Unterbewußtsein« geschildert. Er war ein Mensch, dem eine tiefe Furche zwischen den Augenbrauen einen besonders düsteren Gesichtsausdruck gab und der mit redlichen, aber gequälten Blicken dreinsah. Koszinsky hatte ihn seine bewegliche Geistigkeit reichlich spüren lassen. Er verhöhnte seine »journalistischen Missetaten«, – er selbst hielte sich von solchen Sünden wohlweislich fern, – er verspottete Stillers primitive Ideale, die in einer Gemeinschaft mit Weib und Kind in einer Wohnung von Stube und Küche – bei sonstiger Unabhängigkeit – gipfelten. So hatte aus der ehemaligen Freundschaft der beiden Ausnahmsoffiziere manchmal der Haß herausgeschlagen, – bis Stiller das kleine Kapital erbte, welches seinen sehnsüchtigen Wünschen nach Freiheit die Wege ebnete.

Kurz darauf, als die schon einmal prolongierten Wechsel Koszinskys sich dem Fälligkeitstermin näherten, nicht mehr erneuert werden konnten und er sich von seinen Gläubigern bedrängt sah, hatte er Stiller, der, wie er sich ausdrückte, nun »gefaßt« habe, bestürmt, er möge in dieser äußersten Not für ihn einspringen.

Stiller schlug dieses Ansuchen glattweg ab. Kurz und finster erklärte er, daß er nicht so töricht sein werde, die geringen Hilfsmittel, die ihm das Schicksal zugebilligt habe, zu so unwürdigem Zweck, – einen Entgleisten noch weiter in einer ihm nicht gebührenden Situation zu halten, – zu vergeuden.

Wenige Tage später ereignete sich ein böser Zwischenfall: aus der verschlossenen Tischlade Stillers waren einige Wertpapiere verschwunden.

Diese Affäre war nun gerade in jenes Stadium getreten, in welchem sich eine Reihe von Verdachtsmomenten so zusammenschloß, daß Koszinsky als der Dieb angesehen wurde …

Ohne einen bestimmten Beweis zu haben, beschuldigte Stiller, fest und finster, unter vier Augen, den Kameraden der Tat.

Koszinsky fuhr auf, – griff an den Säbel, – ließ ihn aber stecken – und gab seiner Empörung über diese Beschuldigung in einer Flut von Beschimpfungen Ausdruck.

Stiller ließ sich ruhig von ihm Idiot und Schmutzian nennen und sich sein »primitives Gehirn« von ihm vorwerfen. Er entgegnete dem Tobenden nur, – ob er denn noch niemals von einer anderen Art von Idiotie als der gewöhnlich so genannten gehört habe? Und er nahm ein Lehrbuch der Pathologie vom Regal und schlug einen Abschnitt auf: »Über moralische Idiotie, – auch ›Moral Insanity‹ genannt.«

Wieso es ihm denn beliebe, ihn in diese Kategorie einzurangieren, höhnte Koszinsky. Worauf ihm Stiller trocken erklärte, in diese Kategorie gehörte jene Sorte von Übeltätern, die, ohne besondere Not und ohne Bedacht der Folgen, mit Vorliebe solche verfemte und schädliche Handlungen begingen, die unweigerlich für sie selbst die schlimmsten Folgen haben müßten. Trotz der absoluten Sicherheit der Enthüllung und der Strafe ihres Tuns setzten sie irgendeinen gierigen, unerlaubten Wunsch, der sich immer fester und zwingender in sie einbohre, in Tat um. Gewöhnlich ohne jede Rückzugsmöglichkeit den Folgen gegenüber. An den Augenblick des Sturzes dächten sie kaum, bevor er da sei, drückten sozusagen ein inneres Auge zu und scheuchten die Gedanken von diesem sicher daher kommenden Ereignis fort. Auch fehlte ihnen das Gefühl der Auflehnung gegen das Böse. Ob das nicht mit Recht als eine Art Idiotie betrachtet werde?

Koszinsky hatte ausgerast. Stöhnend warf er Arme und Kopf über die Tischplatte.

Ob Stiller denn bedacht habe, wie seine, – Koszinskys – Zukunft sich nun gestalten solle?

Das habe er wohl, entgegnete der. Er würde es nur für ein Übel halten, wenn Koszinsky, durch Hilfe von außen, noch länger beim Militär über Wasser gehalten würde. Nur das, was er seinen »Sturz« nenne, könne ihn retten. Hinaus in den Dienst des gemeinen Lebens, – das sei sein Weg.

»Und Olga«, kam es ächzend zwischen Koszinskys Händen hervor, in denen er den Kopf vergraben hatte.

Stillers Gesicht wurde noch einen Schein dunkler und ernster. Die Furche zwischen seinen Brauen, die ihm einen so finsteren Ausdruck gab, vertiefte sich.

»Frage sie«, gab er zur Antwort. »Sage ihr die Wahrheit von dir, – die ganze Wahrheit«. Er bohrte seinen finsteren Blick scharf in das flackernde Auge des anderen, der die Hände sinken gelassen hatte und zu ihm aufhorchte. »Sage ihr alles – und frage sie, ob sie trotzdem den Mut hat, mit dir zu gehen.«

Der Trotz rührte sich wieder in Koszinskys Brust. Wenn sie sein war, – ihm bestimmt, – zu ihm gehörig, – würde sie ihn, trotz alledem, nicht lassen.

*

Gebeugt, als wäre ihm eine schwere Last auf den Rücken geladen worden, kam der alte Diamant nach Hause. Vielleicht zum erstenmal geschah es ihm, daß er sich seinen Kindern gegenüber als besiegt fühlte. Er wußte, – sie gingen ihre Wege ohne ihn, über ihn, und er hatte keine Macht, in ihre Schicksale einzugreifen. Auf dem Heimweg war es ihm zur Sicherheit geworden, daß Olga von Koszinsky nicht lassen werde. So würde er denn sie und den Lumpen zu halten haben, bis – ja bis – sie alle untergingen. Verloren waren sie alle.

Er kam nach Hause.

Die alte Salke, die Wirtschafterin, die die Kinderfrau gewesen war, kam ihm entgegen. »Gott der Gerechte, – gnädiger Herrleben, – wie sehen Se aus?!«

Er ließ Olga in sein Kontor rufen. Ruhig, mit tonloser Stimme berichtete er ihr, was er über ihren Freier erfahren hatte. Er ereiferte sich nicht, er verlangte nichts von ihr, er befahl nicht, – er berichtete. Während sie dem Vater zuhörte, schien es ihr, als ob seine Gestalt sich vor ihren Augen dehne, wie ein riesenhafter, dunkler Fleck. Sie sah plötzlich nichts mehr, – sie hörte nur seine Stimme in dieses tiefe, tiefe Dunkel hinein. – – –

Er war lange fertig mit seinem Bericht, den er in kurzen, dürftigen Worten gegeben hatte. Er hatte Koszinskys Treiben nicht schwärzer gemalt, kein kommentierendes Wort dem nackten Tatsachenmaterial hinzugefügt.

Mit zitternder Hand strich er sich durch den grauen, wirren Bart. Er saß, wie gewöhnlich, im schwarzledernen Lehnstuhl am Fenster, vor seinem Schreibpult. In der Dämmerung schien sein Gesicht grau. Knochig sprang die Nase aus diesem scharfen Profil. Olga sah ihm ähnlich, – die Nase und die blanken, schwarzen Augen hatte sie von ihm. Zum erstenmal sah sie, wie alt der Vater wurde, – wie gebeugt, wie müde sein Rücken schien, wie gramvoll gefurcht sein Gesicht war. Zum erstenmal erinnerte sie sich, daß er morgens um sieben Uhr schon bei diesem Pult zu sitzen pflegte und abends um elf noch immer. Und auf dieses Greises Schultern lag ihre Existenz, – ihre Kraft und Jugend zehrte von dem, was er erarbeitet hatte und noch weiter für sie erwarb.

»Nu, mei Kind?« fragte der Alte mit müder, leiser Stimme. Seine Ruhe erschütterte sie. Sie hatte, als er begann, von Koszinskys Treiben zu berichten, erwartet, er werde drohen, befehlen, fluchen, wenn sie nicht von ihm ließe. – Er aber fragte sie mit der Ruhe der Hoffnungslosigkeit, was sie zu tun gedenke. Ob sie den Menschen sehr liebe, fragte er mit zitternder Stimme, und sie sah die tiefe Angst in seinem Blick.

Und sie hörte – zu ihrem Erstaunen, – ihre eigne Stimme – die da antwortete, – – sie glaube nicht, den Menschen, der ihr da geschildert wurde, zu lieben. Aber sie wolle noch einmal mit Koszinsky sprechen, – um zu sehen, ob das alles auch wirklich so sei.

Der Alte versuchte sie zu hindern: »Mei Kind, – da is ka Broche (Segen) dabei!« Da erwachte gleich ihr Trotz und rief ihr Herz auf. Sie wolle und müsse von ihm selbst erfahren, ob das alles wahr sei, – vielleicht war er nur durch Unglück gesunken, – würde sich erheben, – wenn sie ihm beistünde. Sie begann sich zu ereifern, als ob sie gegen den Vater zu kämpfen hätte, wie gewöhnlich, – brach aber plötzlich ab, – als sie bemerkte, daß er in sich zusammengesunken war und keine Worte gegen sie vorbereitete.

Schweigend saßen sie eine Weile in der Dämmerung, – – bis der Vater mit der Hand winkte. Da verließ sie leise das Zimmer.

*

In der Nacht, die diesem Gespräch folgte, versank für Olga diese neue Vertraulichkeit, die in ihr Leben gekommen war. Der Mann, mit dem sie so leichtfüßig dahingeflogen, wurde ihr durch dieses unerwartete Dunkle, das von ihm kam, fremd, – so fremd, wie die Bewerber, die in das Geschäft ›hineinheiraten‹ wollten. – Einsam war sie, wie nur jemals früher. In die warme Nähe ihres Herzens konnte dieses Dunkle niemals dringen. Und doch war es vielleicht gerade jenes heimlich in ihm Wirksame gewesen, – jener Trieb, der zur Hemmung und Störung aller lebenerhaltenden Impulse führte, – der sein Wesen so vielfältig gegliedert hatte, daß es sie anzog und bannte. – Nein, sie hatte die Liebe nicht erfahren; schauernd empfand ihr junges Herz diese Erkenntnis in der Einsamkeit und Finsternis dieser Nacht. Aber es war wie eine Hoffnung in ihr, – als müßte sich jene Vertraulichkeit wieder einstellen, wenn sie Koszinsky erst wiedersah. Vielleicht kam dann irgendein Begreifen über sie, – ein Begreifen dessen, was ihr jetzt so drohend fremd erschien, daß es sie schauern machte.

Als sie ihn dann am andern Tag traf, in einem Wirtshaus der Umgebung, wo sie, um allein zu sein, in einem schlecht gelüfteten, ungeheizten, leeren Tanzsaal saßen, – da wuchs ihre Kenntnis von ihm bis zur Hellsichtigkeit. Mit vielen, sich überstürzenden Worten bestätigte Koszinsky, daß diese »Wechselaffäre« über ihm schwebe, – berührte auch die »absurden Beschuldigungen«, die gegen ihn laut geworden waren und für die er blutige Rechenschaft fordern werde; aber er zweifle nicht, daß sie trotz allem, was über ihn hereinbrach, treu zu ihm stehe. Ja, er begrüße diese Katastrophe als eine Art Feuerprobe für ihre Liebe.

Als er diese Worte sagte, durchschoß sie jäh, grell und vernichtend der Gedanke: Ich weiß genug. Sie lehnte sich in ihre Sofaecke zurück und sah starr auf diese feinen Profillinien. Die etwas zurückweichende Stirn verbarg sich unter der Kappe, die er nicht abgenommen und tief ins Gesicht gedrückt hatte; er hatte auch die schwarze Offizierspelerine nicht abgelegt, wie auch sie in Hut und Jacke blieb. –

Er sprach und erklärte. Sie müsse begreifen: wenn er sie gehabt hätte, wäre nichts von all den Lumpereien geschehen; so aber mußte er sich in die Öde des Soldatenlebens ein wenig Farbe und Freude hineintragen …

»Farbe und Freude«, ging es zackig durch ihren Kopf, und sie starrte unverwandt auf das bekannte Profil.

So sei es zu diesen leichtsinnigen Streichen, – die Schulden betreffend, – gekommen. Im übrigen läge ihm nicht so viel daran, seine Charge springen zu lassen. Freilich, in Ehren müßte es geschehen, schon um ihretwillen. Darum werde wohl ihr Vater helfend eingreifen müssen; quittieren müßte er dann doch, da der Karren schon zu tief verfahren war. Aber – – er hätte einen Plan: irgendwohin wollten sie zusammen gehen, wo man in all diese unreinlichen Beziehungen, – dabei warf er verächtlich den Kopf zur Seite, – nicht verwickelt werden könnte.

In diesem Augenblick schoß wieder ein einziges Wort durch ihr Hirn und brannte darin auf: nie.

Er fuhr fort: seine Vorfahren wären Grundbesitzer gewesen, – wenn ihnen der Alte nun ein Stück Geld gäbe, – so – so – – kurz gesagt, – er hätte die Idee, sich auf einer der kanarischen Inseln, die ein paradiesisches Klima hätten und wenig besiedelt seien, niederzulassen. Dort könnten sie eine kleine Farm betreiben. – – Und er malte, – so wie er da saß, verfolgt, in seinen Mantel gehüllt, in dem dunstigen, leeren Tanzsaal eines Dorfwirtshauses, – während draußen die naßkalte Nacht des schlesischen Winters lag, – er malte ein paradiesisches Bild, von einer Insel mit ewigem Frühling, umgürtet vom blauen, schimmernden Meer, – auf der, in einer stattlichen Ansiedelung, sie und er als wohlbegüterte Farmer saßen.

In ihr aber wuchs das Eine, das Deutliche: nie, nie. Nicht eines seiner Worte führte sie irre. Immer genauer wußte sie, was auch Stiller wußte, – daß das Leben diesen da erst noch tiefer drücken müßte, bevor er nüchtern würde. Mit starken, harten Worten sagte sie sich los von ihm.

Es kam ihm unerwartet, – und er begann sie zu schmähen. Sie stand auf und ging durch den langen Saal der Türe zu. Er rief ihr immer wildere Worte nach. Plötzlich schwieg er.

War es eine Ahnung, die ihren Kopf noch einmal zu ihm zurückwandte? – – –

Im trüben Schein der Lampe und durch den wolkigen, rötlichen Dunst, der sich vor ihre Augen legte – sah sie, – daß er seinen Revolver mit gestrecktem Arm nach ihr hinhielt. Da durchzuckte es sie mit plötzlicher Klarheit: sie wußte, daß ihre Hände die Türschnalle nicht berühren durften … Sie wandte sich ihm vollends zu und lehnte sich, scheinbar ruhig, – während sie das Pochen ihres Blutes hörte, – mit gewölbtem Kreuz und vorgedrängter Brust an die Tür, – hob langsam die Arme zu beiden Seiten und hielt sie wagerecht von sich. – So schien sie ihrem Schicksal die Brust zu bieten.

Da zerteilte sich der blutige Nebel vor Kasimirs Augen, und er ließ den Revolver sinken. – – –

*

Olgas Vater, der im Hause und seinen Kindern gegenüber karg zu sein pflegte, war in geschäftlichen Angelegenheiten und bei entscheidenden Transaktionen verschwenderisch. Seine Angestellten kannten diese Munifizenz, die sich ganz unerwartet dann zu verbreiten pflegte, wenn es galt, rasch »abzuschneiden«, irgendeine kritische Situation schnell zu erledigen, – und nützten sie tüchtig aus, konstruierten nicht selten Krisen und Schwierigkeiten, bei deren Abwickelung dann ein Stück Geld in ihre Taschen floß. Der alte Händler war für einen Kaufmann beinah zu schnell, zu large mit dem Gelde. Er gab Reisenden leichtherzig Vorschüsse, zahlte an Agenten Provisionen für Aufträge, die sich oft als faul erwiesen, gliederte seinem Geschäft manches Nebenunternehmen an, das es schwächte, anstatt es zu fördern, und übte, vor allem, seinen Angestellten gegenüber nicht genügend scharfe Kontrolle, aus Furcht, Personen, die er für unentbehrlich hielt, vor den Kopf zu stoßen und zu verlieren. Als rechnerische Kraft hatte Stanislaus Disziplin in das Geschäft gebracht, und, als er aussprang, verbreitete sich der Mangel einer strammen Geldgebarung immer mehr in dem sonst so guten Unternehmen. »Ich bin ka Mathematiker«, pflegte der Alte zu sagen, wenn er, bedrückt und hilflos, vor gesunkenen Bilanzen stand, die, nach einem regen Jahresumsatz, schwer erklärlich schienen. Und in die Bitterkeit, mit der ihn dieser Rückgang erfüllte, mischte sich ein Gefühl wie Rache gegen den Sohn. »Warum is er gegangen?! – Ich plag' mich – und fremde Leit' tragen mich weg.«

Die Angelegenheit zwischen seiner Tochter und dem Leutnant betrachtete er als »Transaktion«, die schnell »abgeschnitten« werden müßte und bei der man aufs Geld nicht sehen dürfte.

Nachdem er das schriftliche Ehrenwort Koszinskys, – daß er Olga frei gebe und nichts mehr unternehmen werde, die alten Beziehungen wieder herzustellen, – in Händen hatte, bezahlte er seine Wechselverbindlichkeiten – und legte noch ein Stück Geld, mit welchem die geheimnisvoll verschwundenen Wertpapiere Stillers »auf alle Fälle« ersetzt werden sollten, dazu …

Seiner Tochter aber bewilligte er den Aufenthalt in Wien, – teils aus Dankbarkeit, daß sie ihn vor dem gefürchteten Unheil bewahrt hatte, teils weil er jetzt selbst wünschte, sie solle sich »verändern«, damit sie über das Vorgefallene leichter hinweg käme.

Koszinsky mußte quittieren und verschwand irgendwo in Österreichs bunter Provinz.

So beantwortete das Schicksal Olgas ersten Anruf nach dem ihr gebührenden Frauenlos. Der Wunsch, der aus dieser Seele herausgebrochen und aufgeflogen war nach der großen, hellen Sonne des Glücks, brach, mißhandelt und flügellahm, am Wege zusammen.

*

Olga hatte keinen Beruf; eine Wirksamkeit im Sinne der großen Bewegung ihrer Zeit, welche die Frau auf Selbständigkeit verwies, war ihr verlegt worden, sie hatte diesen Weg versäumt. Als sie nach Wien kam, hatte sie keine Lust mehr, jetzt noch eine Lehrerinnenprüfung anzustreben, all die Schulen durchzumachen, die dazu nötig waren, eine Menge von Lehrstoff, der ihr gleichgültig und langweilig war, in sich aufzuspeichern. Die Jahre, in denen man gern lernt, – büffelt, – waren eben vorbei. Sie konnte nichts anderes tun, als hinhorchen, – und von der Fülle dessen, was sie über die zusammenwirkenden Kräfte des Lebens erfuhr, das herausgreifen, was den lebendigen Fragen in ihr selbst entgegenkam. Sie suchte Anknüpfung an die Zeit, Aufschluß über Triebkräfte, die die Strebungen ihrer Epoche bewegten und das neue Werden entstehen ließen.

Fast drückend lag die Freiheit vor ihr. Ob sie der ungelösten Kräfte ihrer Seele jemals habhaft werden und wohin sie sie führen würden, – sie wußte es nicht. Sie schien sich eingeklemmt zwischen zwei Kulturen, – dem gewöhnlichen Schicksal anspruchsloser Gatten- und Mutterschaft ebenso verloren, wie dem der neuen, in sich selbst wurzelnden Weiblichkeit.

Aber sie ahnte wohl in guten Stunden, daß es ein Maß innerer Sicherheit gab, welches das Merkmal hoher und freier Menschlichkeit und das Ziel alles befreienden Strebens war. Mit dieser Sicherheit in sich, blieb man Herr in jeder Situation, besiegte man jede scheinbare Erniedrigung. Es konnte kein Mißbehagen geben, keine Angst vor dem Dunkel, keinen Ekel vor dem ewig Unzulänglichen, keine Verlassenheit im unendlichen All, – wenn diese innere Helle erst erstrahlte. Und glühte nicht der Funke, aus dem diese Flamme, – dieses organische Verstehen des Lebens, – herausschlagen konnte, zu Zeiten auch in ihr?

In Wien war sie einer Frau begegnet, die von diesem Licht, das sie, die Beladene, so sehnsüchtig suchte, erfüllt schien. Frei ging sie, die bewußt Geborene, – keine Situation, kein Milieu schien diese starke Sicherheit brechen, dieses innere Leuchten verschütten zu können. Und, wie das Erhabene gewöhnlich neben Lächerlichkeit und Unwürdigkeit gestellt ist, so war es auch hier. Diese Frau, die Olga als eine Ganze unter Zerrissenen, als eine naturhaft Starke unter Verbogenen und Beschädigten erschien, – war die Frau eines Menschen von unverkennbar geringer Art, des Vincenz Reisenleitner.

Niemals war Olga bei Geneviève gewesen, ohne gekräftigt, gesammelt, stärker und sicherer von ihr zu gehen. Sie war eine von jenen, die die Beladenen erleichtern, die Bedrückten erheben, ohne ihnen bestimmte Tröstungen oder gar Satzungen auf den Weg zu geben, – einfach durch den Anblick, den sie selbst bieten.

Ihre Ehe mit Reisenleitner war das Produkt einer für ihr Wesen sehr bedeutsamen Absichtslosigkeit, mit der sie sich, ihrem innersten Glauben gemäß, den Fügungen und Schiebungen des Schicksals überließ, ohne mit gefährlichem Willensaufwand dem rollenden Rad in die Speichen zu fallen.

Sie hatte Vincenz Reisenleitner in ihrer Heimat, in Stuttgart, kennen gelernt, wo ihr Vater ein höheres juridisches Amt bekleidete. Die Mutter entstammte einer alten normannischen Adelsfamilie, die, emigriert, in der Schweiz lebte. In Genf lernte die junge, schöne Tochter dieser Familie den deutschen Regierungsrat Nestor kennen, der sie bald als seine Frau ins Schwäbische verpflanzte. Ihr Kind nannten die Eltern, in froher Erinnerung an den Ort ihres Sichfindens, Geneviève; im täglichen Umgang blieb nur des stolzen Namens Endsilbe bestehen und ève wurde bald zur deutschen Eva. So wuchs sie auf, Eva Nestor, ein Schwabenmädel mit normannischem Blut in den Adern – »eine köstliche Legierung«, wie der Vater stolz zu sagen pflegte.

Kurz nachdem er gestorben war und die Witwe und Eva mit einer für ihre bisherigen Lebensgewohnheiten geringen Pension zurückließ, geschah es, daß Eva die Bekanntschaft des Wiener Fabrikanten Reisenleitner machte, der hierher gekommen war, um sein bei einer Stuttgarter Fabrik bestelltes Automobil abzuholen. Reisenleitner verliebte sich stürmisch in das »riesig interessante Mädel«, und seine Werbung befreite sie von ungewissem Los.

Es wäre ihr wie eine Vermessenheit erschienen, diese Werbung nicht anzunehmen. Erwartungsvoll stand sie vor jeder entscheidenden Veränderung ihres Schicksals, und darum nahm sie auch diese – aufhorchend – hin. Ihr Herz hatte noch nie seine strenge Gebundenheit erschüttert gefühlt, nichts hinderte sie, dem fremden Mann zu folgen, und darum erschien es ihr, als ob es sein sollte, sein dürfte. Was kommen mochte, – es ließ sich nicht ergrübeln, – sie würde es erfahren. Und erfahren hieß – leben.

*

Zwischen Olga und Eva, die sich bei den gemeinsamen Verwandten, Professor Diamant und Frau Edda, bald begegneten, hatte sich ein Verhältnis angesponnen, das eine behütende Reserve nie verlor und doch an unausgesprochenem, aber deutlich empfindbarem Interesse stetig zunahm. Es war die Zuneigung zweier Naturen, die die Bestimmung, zu wachsen, aneinander ahnen und dabei von Freude erfüllt sind über diese Entdeckung. Das Verhältnis behielt alle Formen der Zurückhaltung, war seinem Wesen nach aber vertraut.

Olga kam nicht oft hinaus in die Cottage-Villa, die sich Vincenz eingerichtet hatte, – aber immer wurde ihr froh zumute, wenn das eiserne Vorgartentürchen, auf ihren Klingeldruck, aufsprang und sie über den kiesbestreuten Gartenweg dem Hause zuging, während ihr Eva schon vom Fenster zuwinkte oder ihr entgegenkam, aufrecht und zierlich, mit ihrem leichten, sichern Gang eines Bachstelzchens.

Evas Ehe bestand in äußerer Ordnung, aber Olga merkte bald, daß es hier so war, wie bei einer elektrischen Anlage, in der der Strom fehlt, – tot, ausgebrannt, durch irgendeinen schlimmen Kurzschluß vernichtet, – ein komplizierter Apparat ohne die treibende Kraft, um deretwillen er errichtet wurde.

Was vorgegangen war, – ob eine wachsende Entfremdung oder eine plötzliche Katastrophe hier ein Ende gemacht hatte, – das wußte sie nicht und fragte nicht danach, weil ihr war, als müßte Eva eines Tages selbst ihr diesen Einblick geben, wenn sie sie wissen lassen wollte, wo ihr Lebensschiff fest lag, – oder wohin es steuerte. Ein kleines Mädchen, Evas Abbild, war das Licht in diesem Hause. Eva ging nur selten in die Stadt. Dafür war sie mit dem Kind viel im Freien draußen, in den Feldern, die sich als riesige Karos auf den Hügeln des Wiener Waldes, in einer weit übersehbaren, an Höhen und Mulden wechselvollen Landschaft ausstreckten. Seit längerer Zeit trieb Eva Sprachstudien, die sie durch Prüfungen abschließen wollte, – eine »Marott« wie Vincenz sagte, die seinen Kredit schädigen könne, denn am Ende würde man noch glauben, seine Frau »habe das nötig.«

Der letzte Besuch, den Olga in Wien zu machen hatte, galt der Frau, die sie hier am liebsten sah. Und so fuhr sie denn zum letztenmal hinauf, in das hochgelegene Cottageviertel. Die Luft war hier frei und frisch, und Olga atmete immer wohlig auf, wenn sie aus den »Niederungen«, wie sie es nannte, hierher kam. Die Blätter der Bäume waren nun schon fast gelb, und das dürre Laub bedeckte die Erde und raschelte unter den Tritten. Aus den Gärten, in deren Tiefe man hie und da durch ein Gitter einen Blick werfen konnte, strömte der feuchte, süßliche Duft herbstlichen Welkens, und Olga atmete ihn tief ein. Sie machte absichtlich einen kleinen Umweg, überstieg den Hügel des Türkenschanzparkes und kam bei dem Tor, das der Ackerbauhochschule gegenüber liegt, wieder herunter. Um den stolzen Palast dehnte sich freies Ackerland, nur ein paar vereinzelte Villen standen da, zumeist ganz neu, im modernen Landhausstil. An solch einem Häuschen machte sie Halt. Das große, schmiedeeiserne Gartentor, das sich nur öffnete, um das Automobil aus der Garage oder dahin zurück zu lassen, war verschlossen, und sie klingelte an dem kleinen Nebenpförtchen. Als sie den Garten durchschritten hatte und auf dem Podest unter dem Vordach stand, öffnete Eva, – bevor sie noch geklopft hatte, – selbst die Entreetür der Wohnung.

Sie war nicht, was man im landläufigen Sinn eine Schönheit nennt, – sie war weit mehr. Auf dem zarten, in seinen Maßen vollkommenen Körper saß ein Kopf, den die Bildhauer »durcharbeitet« zu nennen pflegen. Im Gegensatz zu der Verschwommenheit der Züge, die man sonst nicht selten bei hübschen Frauen findet, waren die Linien dieses Gesichtes deutlich festgelegt. Ein unverkennbarer Ernst lag auf diesem Gesicht und kontrastierte seltsam mit der roten Blüte ihres Mundes, der sehr klein war, dessen Oberlippe fast herzförmig schien, und einen tiefen Schatten, eine Art Furche, in ihrer Mitte barg. In diese kleine Grube, inmitten der geschweiften Oberlippe, – »in der der Amor nistet«, wie Herr Reisenleitner festgestellt hatte, – hatte er sich seinerzeit verliebt … Sie sah zugleich ernst und klug und dabei pikant und sonnig aus, mit ihren flimmernden, braunen Augen und dem hellbraunen Haar mit seinen goldenen Reflexen, das sich in zarten Löckchen an diese gerade, hohe Stirn schloß und am Wirbel in einen bescheidenen Knoten geschlungen war. Was ihr den Ausdruck besonderer Frische gab, das war das Aufwärtsstreben aller Linien der unteren Gesichtspartie. Die Mundwinkel und die Wangenmuskulatur schienen leicht gehoben, als ob sie die Schläfen und die Augenwinkel suchten, die sich ihnen zusenkten, während sich die Nase, die mit der Stirn mehr als zwei Drittel des Gesichtes in Anspruch nahm, – fein und steil abwärts streckte. Von ihrem Ende bis zu dem kräftig umrissenen Kinn konnte man eine gerade Linie ziehen, die der zurücktretende Kiefer, trotz der Üppigkeit jener herzförmigen Oberlippe, auch nicht annähernd berührte. –

Das Beisammensein der beiden Frauen war heute von besonderer Wärme getragen, – Olgas Scheiden half ihnen, ihre bisher fast uneingestandene, fein verdeckte Gefährtenschaft zu klarerem Gefühl zu bringen. Als sie im dämmerigen, traulichen Zimmer beim Tee saßen, erzählte Eva, daß sie nun, nach nur einjähriger Vorbereitung, eine Staatsprüfung als französische Lehrerin abgelegt habe. Da französisch ihre eigentliche Muttersprache war, – zumindest die viel gehörte Sprache der Mutter, – so hatte die kurze Vorbereitung genügt. Von jetzt ab würde sie sich eifrig mit der Pflege skandinavischer Sprachen befassen.

Olga ahnte, daß dieses systematische Vorgehen einen Zweck haben müßte, und sie fragte danach.

Eva sah mit ihren braunen Augen ernst vor sich hin, und die Goldpünktchen hörten auf, darin zu tanzen.

»Es ist möglich, daß ich einmal mich und mein Kind erhalten muß.«

Das Wort, das an das Geheimnis ihrer Ehe rührte, war gefallen. Olga fragte nicht weiter, sie wußte, die Stunde, in der die Freundin sprechen wollte, war da. Und mit ihrer dunkel gefärbten, unsagbar wohllautenden Stimme, von der einmal Professor Diamant gesagt hatte, wenn Mutter Natur sprechen könnte, so würde sie so sprechen, – berichtete Eva, wo und wie ihr Schifflein festlag, wie gefährlich es aufgefahren war.

Diese Ehe war bereut worden, und nicht nur auf einer Seite. Eva hatte sich, ihrem Mann gegenüber, bald vor einer Leere gefunden, die sie nicht unbedingt erwartet hatte; sie hatte vermutet, daß, weil die Bahnen, in denen sich das geistige Leben ihres Mannes bewegte, einfache waren, – daß die Fähigkeiten geheimer Gefühlskräfte bei ihm desto stärker sein müßten. Vincenz aber hatte die Rolle verborgener Herzensbiederkeit, in welcher er zuerst werbend vor ihr aufgetreten war, nicht lange gespielt. Das ihm nicht ganz verständliche Wesen seiner Frau war ihm bald nicht mehr »riesig interessant«, sondern eher unbequem. Nach und nach konnte er seine Reue über die unüberlegte »Liebesheirat«, die er, als Geschäftsmann, sich »nicht hätte leisten dürfen«, schlecht verhehlen. Er klagte über den Mangel einer soliden, metallenen Basis, an dem diese Heirat litte, und machte sich Vorwürfe, die »nie wiederkehrende Gelegenheit«, sich eine solche gut gemünzte Fundierung zu verschaffen, verpaßt zu haben. – »No ja, – wann der Amor schießt, rutscht der Verstand in die entern Gründ'!« erklärte er sich selbst seine Verirrung. Dabei verfügte er über ein gutes, gesundes Geschäft, das ihm eine sehr auskömmliche Familienexistenz bot, war auch geschäftlich nicht unfähig, – hatte aber Luxusbedürfnisse, die seine Einnahmen überstiegen.

Eva sah ihre Ehe mit nüchternen Augen – und kam mit sich ins Reine: Ihr Schicksal, so fühlte sie, ruhte in ihr selbst. In ihren Wirkungskreis sollte ja auch bald eine Aufgabe gestellt werden, die wohl der triebhaft geheime Zweck dieser scheinbar sinnlosen Verbindung war. In ihrem Schoß regte sich junges Leben, und fromm erwartete sie die Frucht, für deren Entstehen ihre Ernte an persönlichem Glück von Mächten, die in ihrem eigenen Willen wirkten, – geopfert worden war.

Auch Vincenz war von dieser Hoffnung merkwürdig befeuert. Seine Freude, als sie ihm die Erwartung mitteilte, überraschte sie. Staunend beachtete sie die Lehre, die ihr das Leben gab, indem es ihr einen scheinbar »einfachen« Charakter in unerwarteter Vielspältigkeit zeigte. Aber die Lehre war noch nicht deutlich genug: sie sollte noch mehr erfahren.

Seit Vincenz wußte, daß sie guter Hoffnung war, sprach er nur noch von seinem »Sohn«. In Gesellschaft, im Geschäft, überall erzählte er mit familienväterlichem Schmunzeln, daß »a Bua« auf dem Weg sei. Sie fand diese vorzeitige Verkündigung ihres Zustandes wenig geschmackvoll, – die sichere Erwartung des »Bua'm« aber stellte sich beinah als eine Art fixer Idee dar. Auch lag kein besonderer Grund vor, warum ein Sohn für Vincenz Reisenleitner so dringend erwünscht sein sollte; war doch kein noch so bescheidenes Thrönchen, dessen Erbfolge durch das salische Gesetz für Frauen gesperrt gewesen wäre, – noch auch ein Majorat zu vergeben; das Geschäft sei auch eine Art von Majorat, erklärte Vincenz. Da er aber die Grundlage dieses ererbten Besitzes durchaus nicht befestigte, eher durch seine Passionen unterwühlte, erschien diese Sorge um den Erben wenig natürlich.

Vincenz aber tummelte sich, nach wie vor, in der Idee, daß ihm ein »strammer Stammhalter« geboren werden sollte. Er hatte sich in diese feudale Pose förmlich verrannt. Mit derselben zähen Hartnäckigkeit, mit der er sich bei einem Automobilrennen oder bei einer Golfpartie ganz in die Situation versenkte, nichts sah und hörte, als was mit dem Match zusammenhing, – mit diesem unzugänglichen Furor des Sportsmannes, gemischt mit der Sucht, den »Träger eines alten Namens« zu spielen, der einen »Erben« dringend brauchte, – verrannte er sich in die neue Idee von »seinem Sohn«, als ob die Tragik des Gedankens, der letzte Reisenleitner zu sein, seit jeher seine Hauptsorge gewesen wäre.

Die Stunde, in der dieser Traum Wirklichkeit werden sollte, kam. Evas Entbindung ging schwerer vor sich, als man erwartet hatte. Eine halbe Nacht und einen ganzen Tag schon hatte sich ihr Körper im Krampfe des Gebärens gezerrt und gekrümmt. Röchelnd lag sie auf ihrem Schmerzensbett, bis wieder eine neue Wehe ihr gellende Schreie erpreßte und sie glauben machte, das Ende sei da. Und noch immer war die Frucht, die in diesem gemarterten, aufgetriebenen Leibe atmete, sich bewegte, lebte, – nicht abgelöst vom Stamm.

Halb sinnlos vor Pein, hörte sie doch, wie man von der Notwendigkeit eines Einschnittes sprach, und wie die Ärzte zur Narkose rüsteten. Sie vernahm ihr Geflüster, hörte, wie der Hofrat, – der große Accoucheur, der die Prinzessinnen des kaiserlichen Erzhauses entband, – mit seinem Assistenten und ihrem Schwager Diamant beratschlagte, ob Ätherrausch oder Chloroformnarkose hier vorzuziehen sei. Und während wieder jene Schmerzen, die ihr das Hirn zu zersprengen drohten, in breiten Wellen anfluteten und ihr Bewußtsein übergossen, sah sie noch die Geburtshelferin mit dem intelligenten, kurz geschorenen Kopf und die Pflegeschwester, – beide, gleich den Ärzten, in weißen Leinenkitteln, – durchs Zimmer eilen. Und sie sah nun auch, wie durch blutige Schleier, einen Augenblick lang die Gestalt ihres Mannes, – gerade ihrem Bett gegenüber an der Tür, die ins Nebenzimmer führte, – sah, wie er die schwarze Sammetportiere hob und gleich wieder verschwand. Und sie hörte nun auch seine Stimme in dem Geflüster der Männer, – hörte, wie die Worte fielen – – – »Kind oder Mutter« – – – und diese Worte streckten und vereisten ihr die Glieder; und unter den Stimmen war eine, – die, die sie am besten kannte, – und die zischte Worte heraus, die sich in Schlangen wandelten, in häßliche, geringelte Tiere, die über den Fußboden zu ihrem Bett krochen … »das Kind – den Sohn – – – den Sohn« – – sagten diese Worte, – und es waren abscheuliche, züngelnde, feuchtglatte Schlangen, die nach der Bettdecke hinaufzischten. – Und plötzlich schien es ihr, als ob die Stimme des Hofrats sich aus dem Geflüster erhöbe, sich furchtbar und dröhnend darüber ergoß und die Schlangen, die aus jener andern Stimme gekrochen waren, mit Abscheu zertrat.

Dann kamen Schritte an ihr Bett, – ein süßlicher Duft überströmte sie, und guter, rosiger Friede senkte sich langsam auf sie nieder. – – –

Als sie erwachte, war das neue Leben aus ihr herausgerettet. Und trotz der schweren Übelkeiten, trotz der tödlichen Mattigkeit fühlte sie doch, wie leise und stetig die Kräfte zu ihr zurück rannen … Die Frau im weißen Kittel, mit dem kurz geschnittenen Haar und dem klugen Gesicht, beugte sich über sie: »Ein Mädchen, – und es lebt.«

Da kam die Erinnerung an jene Stimme, – »der Sohn – – der Sohn.« – – – Hatte sie jene Worte geträumt, – hatte sie sie wirklich gehört?

Und ein Glücksgefühl schoß heiß in ihr auf, – daß es ein Mädchen war, – ihr Kind, ihres allein.

Und da war der Hofrat mit dem grauen Bart und sah munter durch die Brillengläser, und neben ihm stand der Schwager, Professor Diamant, mit einem guten, guten Grinsen in seinem sonst so maliziösen Gesicht, – und sie hörte seine etwas gequetschte, böhmelnde Stimme ganz glücklich sagen: »No allßo, – fein heraus hamm' mr ßi!«

Ihren Mann aber sah sie nicht, und begehrte nicht, ihn zu sehen. – – –

– – Das hatte Eva erlebt, und sie erzählte es der Freundin in jener Abschiedsstunde. Es war dunkel geworden, und sie hatte das Licht nicht aufgedreht. Nun erhob sie sich und ließ ein paar matte, elektrische Lampen aufleuchten.

Ohne Pathos, mit den einfachsten Worten, hatte sie erzählt, und ihr schlichtes Vertrauen hatte diese Stunde mit wunderbarem Leben erfüllt.

Olga durfte nun fragen, und sie tat es.

»Warum sind Sie,« sagte sie, – »nach alldem noch bei Ihrem Mann? Würde er Ihnen das Kind verweigern, wenn Sie von ihm gehen würden?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Eva und stellte eine Schale mit Früchten auf das runde Tischchen vor dem Eckdiwan, auf dem sie saßen. »Er hat zu der Kleinen so gut wie keine Beziehungen, wenn er sie auch ab und zu mal auf seine Knie setzt, – besonders wenn Gäste dabei sind.« Ein leichtes Lächeln milderte die Schärfe ihrer Bemerkung. Und dieses Lächeln schien hinein zu leuchten in die versteckten Tiefen jener fremden Natur, von der sie sprach, und Olga überkam das Gefühl, daß etwas in dieser Frau lebte, das sie befähigte, die dunklen und treibenden Mächte in anderer Menschen Seelen zu erkennen, – ahnte, daß sie in jenen »Abgrund«, in dem die Wahrheit wohnt, unerschrockener und klarer hineinblickte, als viele andere.

»Nein, – es ist nicht, weil ich fürchte, daß er mir das Kind nehmen würde. Es ist etwas anderes, was mich hier festhält, etwas viel näher liegendes, das Ihnen aber vielleicht« – wieder lichtete ein Lächeln ihr Gesicht, und diesmal war eine Spur von Schalkhaftigkeit darin – »sehr befremdlich erscheinen wird.«

Olga horchte gespannt.

»Ich habe geheiratet,« sagte Eva, – »weil ich eine günstige Veränderung meiner Lage darin sah; und ich werde nicht eher die Ehe lösen, als bis ich zumindest die Gewißheit habe, nicht in eine schlimmere, schwerer erträgliche Lage zu kommen, als die es ist, in der ich bin. Das ist alles.«

In Olgas Gesicht malte sich eine nicht zu verbergende Verblüffung.

»Ich dachte mir, daß es Sie überraschen würde, diese einfache Tatsache so unverkleidet aussprechen zu hören.«

»Ich verstehe Sie wahrscheinlich nicht ganz,« sagte Olga. »Wie – wie – kann das gemeint sein?«

Eva sah lächelnd und ruhig vor sich hin. »Sehen Sie,« sagte sie, »es ist so bezeichnend, daß Sie, als eine rein empfindende Frau, verwundert sind über dieses Bekenntnis. Es ist bezeichnend, sage ich; denn es gibt jetzt so viele Menschen, wie mir scheint, – denen – wie soll ich es nennen – bei der Vertiefung ihres geistigen und moralischen Lebens das abhanden gekommen ist, was nun einmal die Voraussetzung eines geistigen und nicht geistigen Lebens überhaupt ist – nämlich –« sie stockte, schien nach dem richtigen Wort zu suchen, – »nämlich der – Instinkt – gewisse Taten, die einen ins Verderben stürzen, – bleiben zu lassen;« – und ruhig fügte sie hinzu: »also wohl einfach eine Art von deutlichem Selbsterhaltungstrieb.«

Olga horchte verwundert, belebt.

»Ich weiß nicht,« fuhr Eva fort, – »ob Sie dieses Gefühl kennen – dieses Gefühl, – daß man gewisse entscheidende, schicksalsschwere Dinge erst dann tun darf, wenn ihre Notwendigkeit so deutlich geworden ist, daß man sich wahrhaftig geschoben fühlt, indem man sie tut, – daß es so geschieht – nun so – als ob man überhaupt nichts zu wollen hätte dabei.« – – Nachdenklich sah sie vor sich hin. »Ich selbst habe immer nur getan – was ich auf diese Art tun mußte

»Und so lange?«

»So lange? Sie meinen – was zwischen diesen Taten geschieht? Man lebt – man wartet! Und die größte Versuchung des Lebens scheint mir, daß es Situationen um uns aufstellt, die uns dieses Warten lehren sollen, – daß es eine Art von passiver Energie von uns verlangt, die vielleicht schwerer ist, als die aktive der Tat.«

Schritte wurden laut, Eva, hingegeben an das, was aus ihr sprach, überhörte sie, aber Olga sah durch die halb zurückgezogene Portière ihren Bruder, der sie abholen sollte, im Nebenzimmer eintreten. Sie wollte das Gespräch nicht unterbrechen lassen und winkte ihm zu, drin zu bleiben. Dabei hatte sie das Gefühl, daß die Freundin nicht zürnen würde, wenn er mit anhörte, was sie berichtete.

In Evas Gesicht war während des Sprechens eine zarte Röte gestiegen, ihre Augen strahlten in weichem Glanz, und sie sprach weiter, so ernst, als hätte sie ein Glaubensbekenntnis abzulegen.

»Sehen Sie – dieses Gefühl, das mich von einem Tun, zu dem mich vielleicht starke Neigungen drängen, oftmals abhält, habe ich so deutlich, daß ich es in Worten benennen könnte.«

»Und diese Worte wären?«

Sie hob lebhaft den Kopf. »Ich möchte sagen: Wenn – wenn dir zum Zögern zumute ist – nun, – so zögere!« – – – Sie lachte. »Eine tiefe Weisheit, wie? aber diese Sentenz ist doch nicht so banal, wie sie klingt.«

»Nein,« sagte Olga, »das ist sie nicht; denn diese Sentenz ist vernünftig, und das Vernünftige ist nicht banal.«

Eva sprach stark und ruhig weiter. »In jede sogenannte kritische Situation kommt früher oder später eine entscheidende Änderung; sie kommt von innen oder von außen, von den Beteiligten selbst oder von Seiten Dritter; aber sie kommt. Und wenn sie kommt, – dann heißt es – hinhören, hinsehen und dann darf man – tun; und dann – dann ist auf einmal alles, was verworren und schwer zu lösen schien, – unendlich einfach. Man braucht dann nur nach dem Nächstliegenden zu greifen, um dort, wo man früher nicht eine Handhabe seines Willens sah, hundert zu finden.« Und, als müßte sie von diesen Erörterungen, die von der Geschichte ihres Schicksals scheinbar abzweigten, wieder auf diese Geschichte selbst zurückkommen, fuhr sie fort:

»Wenn ich aus meiner Ehe – die freilich keine wahre Gemeinschaft, aber immerhin ein erträgliches Los bietet, fortgestürmt wäre, hinaus in das Schicksal einer zum Kampf nicht genügend gerüsteten, »ausgesprungenen« Frau, die sich und ein Kind ernähren soll, – so wäre mein und des Kindes Schicksal kaum ein Ungewisses zu nennen; es gehört nicht viel Vorstellungskraft dazu, sich diesen Weg auszumalen.« Schatten senkten sich über ihr Gesicht, hoben und zerteilten sich wieder. »So tue ich – was ich tun kann und wohl auch tun soll, – das, was man, um es recht profan auszudrücken und keine schöneren Worte für mein Tun zu gebrauchen, als ihm gebühren: profiter de la situation nennt. Ich benütze diese geschützte Lage, um mir Kenntnisse anzueignen, die mir eines Tages, wenn – wenn alles so deutlich geworden ist, daß das, was jetzt noch einer Herausforderung des Schicksals gleichkäme, dann einfache Selbstverständlichkeit wird – weiter helfen sollen; … heute«, – sie schwieg und blickte nachdenklich vor sich hin – »heute sehe ich den Weg noch nicht deutlich genug, aber ich glaube,« fügte sie leise hinzu – »ich werde bald sicherer sein.«

Olga saß wortlos. Schlicht, alltäglich, ja verdächtig war, was sie gehört hatte. Warum überwältigte sie diese einfache Geschichte, als wäre sie – angewandt an dem Schicksal dieses Menschen – der vollkommenste Ausdruck wunderbarer Wegsicherheit? –

Die Portière des Nebenzimmers wurde zurückgeschoben. Stanislaus trat ein.

»Ich darf nicht länger hier Zeuge von Gesprächen sein,« sagte er, während er die Frauen begrüßte, – »die nicht für mich bestimmt sind, und die ich aus Furcht, sie zu unterbrechen, dennoch zum Teil gehört habe.«

»Mein Bruder«, sagte Olga.

»Wir beide kennen uns schon wohl aus Olgas Erzählungen, und darum hat mich hier kein Fremder belauscht.«

Stanislaus fiel es schwer, die richtige Antwort zu finden, – die besagen sollte, wie sehr er sie belauscht hatte! Und so sagte er nur leise, – schüchtern, von einem Gefühl der Verehrung durchbebt: »Was ich belauscht habe, wird in meiner Erinnerung bleiben.«

Man hörte die Klingel der Gartentür, das elektrische Licht glühte draußen über dem Kiesweg auf, und die drei sahen durchs Fenster Evas kleine Tochter mit ihrer Bonne. In ihrem weißen Mäntelchen kam sie durch den Garten dem Hause zu. Sie hatte denselben Gang wie die Mutter, diese eilige und doch zierliche Art, die Füße zu setzen, hielt sich sehr aufrecht und in der Mitte des Weges. Gleich darauf war sie im Zimmer und brachte einen frischen Luftstrom mit herein. Sie glich der Mutter in ungewöhnlicher Vollkommenheit, nur war das Haar des Kindes noch lichter und goldener, das Auge schien dunkler und größer und das Gesichtchen rosiger. Vollkommen unbefangen begrüßte sie, nachdem sie die Mutter umarmt hatte, die Gäste, und ging gleich wieder der Türe zu: sie müsse »auf ihr Zimmer«, ihre Kleider abzulegen, sie wollte nur erst »Mama sehen«.

Und Stanislaus, der Lauscher, dachte: wie kann es etwas Falsches sein, was sie – die Mutter – getan hat? War diese ungleichwertige Vermischung nicht zu ihrer Zeit gerechtfertigt, da sie so herrliches Leben fortsetzte? Wissen wir denn, – so dachte er, – warum wir so gehorsam in die Falle gehen, die uns das Schicksal, in Form einer unausweichlich erscheinenden Verbindung, stellt? Um wie vielfacher »zureichender Gründe« willen kann dies nicht geschehen! Und wäre einer dieser Gründe der, ein neues Leben, das ohne diese Verbindung niemals würde, heil und schön ins Licht zu rufen, so wäre das genug, uns Ergebenheit zu lehren.

Ihm war das Kind die wunderbare Erhöhung, die, über das eigene, arme Ich, der Vollkommenheit näher rückt, – und sein Begehren, ein Kind lieben zu dürfen, war so stark, daß er oftmals glaubte, ohne diese Liebe nicht leben zu können. Und gerade über dieses Begehren hatte er strenges Gericht gehalten – und sein Urteil selbst gesprochen.

Die Erkenntnis, die ihm Vernunft und Gewissen mit unbarmherziger Nüchternheit diktierten, sprach zu ihm, – daß er selbst verzichten müßte, die ewige Substanz des Lebens weiter zu bauen. Er durfte nicht aus dem Schoß eines geliebten Weibes einen Menschen erwachsen lassen, der die Lasten seiner eigenen, beladenen Körperlichkeit mitbekam; er war streng und unerbittlich in diesem Punkt. Sollte er in edles Ackerland kümmerlichen Samen streuen?

Gerade er träumte – zart, heiß und in gebändigter Begier, – von einer jener heilen, arttüchtigen Frauen, die ihr Geschlecht stolz verpflanzen, und in seinen einsamen Träumen sank er vor dieser unbekannten Gestalt, als vor dem hochgelobten Bildnis der Anbetung, in die Knie. Er träumte, – ohne zu begehren. Es wäre ihm auch ein müßiges Begehren erschienen; denn würde je ein Weib, das er lieben könnte – ihn lieben? Aber er verehrte. Er erglühte in Ehrfurcht, wenn ihm ein Weib »bestimmt zur Hochzucht«, wie er es nannte, begegnete; und er erkannte solche Art scharf und schnell.

Wunderbar war die kurze Zeit gewesen, die er hier im Nebenzimmer verbracht hatte, während diese Frauenstimme, voll und dunkel, wie gedämpfter Glockenklang, zu ihm geklungen war. Und was sie sprach, – es schien ihm wie die Weisheit der Fruchtbaren, der auf Erhaltung Bedachten. Ihr starkes Herz hatte er hören dürfen, und, wie die grünen Pflanzenblätter der Sonne zuwachsen, sich ihr zubiegen und -dehnen, so hatte er heile Instinkte dem Lichte arterhaltender Vernunft sich zuwenden sehen, jener tiefsten Vernunft der Natur, die, ohne zweckhaft zu sein, mit unberechenbarem Drang den Weg der Erhaltung der tauglichen Arten sucht, Sonne, Regen und Wind zu ihnen dringen läßt und, in geheimnisvoller Chemie, das Böse und das Gute tief im Kelch dieser Wesen verarbeitet, zu keinem andern »Zweck«, als um neue Nahrung, neues Wachstum für sie daraus zu gewinnen.

Eine tiefere Logik als die durch Ideenreihen zu beweisende, ein unbewußtes, aber instinktstarkes Vertrauen in den logischen Sinn des eigenen Seins, war ihm aus diesen Frauenworten gekommen, – und so unvollkommen der Teil des Gesprochenen gewesen, den er belauschen durfte, so vollkommen klar war ihm der Zusammenhang dessen, was er hörte, mit dem, was ihm seine Schwester berichtet hatte, und ließ ihn die scharf umrissenen Linien eines Schicksals und einer Persönlichkeit erkennen.

Die Geschwister blieben nicht mehr lange. Evas Gatte wurde zum Abend zuhause erwartet, und keiner von den dreien empfand den Wunsch, ihr Beisammensein in seiner Gegenwart fortzusetzen. So schieden sie.

Schweigend gingen die Beiden durch die Anlagen des Villenviertels, das in tiefer Abendstille, die nur selten vom Rollen eines vereinzelten Wagens unterbrochen wurde, dalag. Ihr Sinn war erfüllt von dem Bilde der Frau, der sie heute nahe gekommen waren, um, vielleicht für immer, von ihr zu scheiden.

Und Stanislaus schien es, als ob diese Frau ihre große Prüfung schon bestanden hätte, und als ob ihr das ausgleichende Schicksal nun die Erfüllung schulde – die Erfüllung ihrer persönlichen, noch verdeckten Bestimmung. Denn mußte nicht solcher Art, wie dieser, Verstärkung werden? Hatte sie nicht die verschleierte Versuchung mit ahnendem Auge erkannt und überwunden? War sie nicht, indem sie, unanfechtbar von triebhaftem Drang, und nüchtern bedacht, äußerlich in der Falle einer mißlichen Situation verblieb, an der wahren Falle vorbeigegangen, – jener, die ihrer letzten zweckhaften Bestimmung vielleicht gesetzt war? Und diese Bestimmung, sie konnte bei ihr, wie bei jedem andern, der da auf dem Weltplan seine Rolle bekam, keine von außen gesetzte sein, – es war nichts, als die letzte, unerbittlich logische Folge der Wirkung der gestalteten Substanz, gemäß jener Gesetze, die ihr jeweilig eigneten.

Tief in solche Gedanken verloren, ging Stanislaus wortlos neben der Schwester des Weges; und ihr Herz war ähnlich erfüllt wie das seine und sandte stumme Fragen in das Dunkel, das über jener Frau – wie über ihnen selbst lag.


 << zurück weiter >>