Johannes Richard zur Megede
Die Tugendgans
Johannes Richard zur Megede

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Weihnachten.

Die Woche vor Weihnachten.

Seit jenem schrecklichen Pfingstfeste waren anderthalb Jahre verflossen. Fast ebenso lange hatte Erna Wehrmann die kleine Stadt und das kleine Haus nicht wiedergesehen. Sie war von Kurort zu Kurort geschleppt worden – von den Bergen ans Mittelmeer, vom Mittelmeer in die Berge. Sie hatte sich nicht gewehrt. Sie war noch immer so müde. Es kostete viel, und sie wußte nicht, aus welchem geheimen Fonds die Gelder flossen. Aber sie sah die Rechnung nie. Sie durfte auch nicht fragen, sie mußte jede Aufregung vermeiden. Man behandelte sie wie ein Kind, und sie ließ es geschehen.

Seit dem Herbst war sie in einem Luftkurort, hoch in den Waadtländischen Alpen. Ein schmales Hochthal 269 im tiefen Schnee. Kein Wind – nur reine Luft, leuchtende Sonne.

Es war Nachmittag. Die junge Frau ruhte auf ihrem Liegestuhl im Hotelgarten unter einem Leinwandzelt, neben sich ein Glas Milch und ein Buch, rechts und links lasen und husteten die Schwindsüchtigen in denselben Lufthütten. Vom See unten wand sich eine breite Chaussee in langen Serpentinen zur Höhe, Schlitten klingelten, und junge Engländerinnen sausten die Abhänge jauchzend hinab. Aus dem Thaleinschnitt lachte der See blau und sommerlich zwischen glitzernden Firngipfeln. Hinter dem Kurort der Jaman, eine einsame, wundervoll starre Felsnadel – ein Alpenbach stürzte in schäumenden Kaskaden hinab. Ein schönes, warmes Bild trotz der Kälte, des Schnees. Seit Monaten lag die junge Frau jeden Nachmittag hier. Sie hatte den Herbst über den Eisspitzen der Dent du Midi verglimmen sehen, den ersten Schnee gegrüßt. Die Menschen kamen, gingen – Sterbende, Genesende. Sie war's nachgerade gewöhnt. Sie trank gehorsam die Milch, aß den Schinken. Es schmeckte ihr eigentlich nichts. Beim Wägen wurde sie immer zu leicht befunden. Dennoch schmiedete sie Zukunftspläne. Am Abend kam ja doch die Kraft, das Fieber, die Augen wurden glänzend, die Wangen wie geschminkt. Sie hatte keinen Blutsturz mehr gehabt dank ihrem blinden Gehorsam, der Pflege, der Ruhe.

Heute hatte sie einen Brief vom großen Willy bekommen – einen langen, zärtlichen Brief mit vielen Neuigkeiten. Der kleine Willy sehnte sich natürlich nach der Mutter. Die Geheimrätin war plötzlich am Herzschlag gestorben. Der Direktor, der ihm nie wohlgewollt, sei zum Betriebschef eines Riesenwerks am Rhein ausersehen. Ihn beginne man jetzt erst zu würdigen. Man wolle ihn durch Zulagen, 270 Versprechungen halten – aber er wisse noch nicht . . . Denn man wünsche ihn jetzt überall. Seine neue Idee über Heizungsanlagen habe Aufsehen gemacht, ein Patent sei eben verkauft. Im Hause Wehrmann brauche von jetzt an das Geld keine Rolle mehr zu spielen. Sie solle sich um Gottes willen keine Sorgen machen – und bleiben, bleiben . . . Es müsse jetzt auch so schön in diesem Schneeparadies sein.

Von einem etwaigen Kommen zu Weihnachten schrieb er nichts. Heimlich hatte sie doch darauf gehofft, vielleicht auch, daß er den kleinen Willy mitbrächte – den kleinen Willy, der doch so groß geworden sein mußte und den sie so lange nicht gesehen hatte. Sie sah ihn nach dem letzten Bild deutlich vor sich in seinem Matrosenanzug, den goldenen Glücksanker auf allen Knöpfen. Er mußte dem großen Willy sehr ähnlich werden. Sie liebte die beiden ja noch so sehr! Es war Schwäche, elende Schwäche, sie wußte das wohl.

Im Anfang war's ihr gewesen, als wenn sie den großen Willy nur durch einen Schleier sähe. Dann hatte der hübsche Mensch so schmerzlich geschluchzt, als sie wegging. Und wenn er sie besuchte – er besuchte sie oft – immer die sanfte Zärtlichkeit, das Liebevolle, fast Brüderliche. Nicht mit einem Wort wurde das Schreckliche zwischen ihnen erwähnt. Er schonte sie, und sie schonte ihn. Er ahnte wirklich ihre Wissenschaft nicht. Und er hatte sich gewiß gebessert in den anderthalb Jahren, er dachte in der Ferne nur noch an sie, wie sie nur an ihn dachte. Die Frau war allein schuld an dieser traurigen Verirrung. Es war jetzt eine ganz andre Zärtlichkeit bei ihm, eine stumme Sorge, ein milder Ernst. Er war nicht mehr der alte, böse und doch unwiderstehliche Leichtsinn, so wenig wie sie noch die Tugendgans war, die das Unmögliche verlangte. Sie war klüger geworden, klarer. 271 Ein fast mütterliches Gefühl zog sie zu den beiden Willys. Was damals zerriß, war nicht wieder zusammengeheilt – dennoch wollte sie bleiben, gesund werden. Die beiden großen Kinder brauchten sie ja. Und sie war vierundzwanzig Jahre!

Der Jaman begann weiß zu glühen. Drüben vom Savoyer Ufer reckte sich der Riesenschatten des Grammont fast bis Glion. Ueber die Schneefelder huschten stumpfe Schatten. Die junge Frau blieb liegen, obgleich die andern aus den Zelten längst mit der sinkenden Sonne geflohen waren. Erna hielt mit niemand Kameradschaft, dennoch hatten sie alle gern. Heute war sie eigensinnig. Sie zwang den dumpfen Husten zurück. Sie wollte bleiben!

Weihnachten war nahe. Von dem Lärchenwalde zog Nadelgeruch, die weißen Schneemauern rings starrten feierlich. Die Dämmerungspoesie – die Abendstille . . . Die Kranke überkam ein süßes Heimweh. Ach, noch einmal Weihnachten zu Haus unter einem kleinen Christbaum mit dem Jungen!

Da nahten schnelle Schritte: der Arzt. Ein kräftiger, gesunder Mann mit roten Backen und lustigen Augen. Das Metier, sterben zu sehen, erhält manche besonders jung.

»Gnädige Frau, Sie noch draußen? Das fehlt noch! Sie sind ja auf einmal eine ganz unbotmäßige Patientin.«

Doch Erna erhob sich nicht so gehorsam wie sonst. Sie stützte nur den Kopf auf den Ellbogen und sagte: »Ich möchte nach Hause reisen, Herr Doktor. Ich halt's nicht mehr aus vor Heimweh.«

Der Arzt sah sie scharf an, fühlte den Puls und meinte dann langsam: »Ja, wenn Sie durchaus wollen – ich habe nichts dagegen. Ich habe sogar neulich Ihrem Herrn Gemahl geschrieben, daß Ihnen ein bißchen Zerstreuung not thäte, Theater, Gesellschaften. 272 Reisen Sie nur! Ich werde noch heute depeschieren, daß Herr Wehrmann Sie abholt.«

»Weihnachten zu Hause!« rief sie glücklich.

»Gewiß. Ihr Kräftezustand hat sich ja auch so gehoben . . .« Er sprach freundlich, hoffnungsvoll wie gute Aerzte an Sterbebetten.

Nach zwei Tagen kam Wehrmann. Er wollte Erna wohl überraschen. Doch sie merkte es, weil der Platz zu ihrer Linken bei der Abend-Table d'hote frei blieb. Vor Erwartung konnte sie nichts essen. Und Willy verspätete sich sehr. Sie wußte nicht, daß er inzwischen eine lange Unterredung mit dem Hotelarzt hatte. Als endlich die hübsche schlanke Gestalt im Saal erschien, empfand sie eine unsinnige Freude. Doch er war gedrückt, einsilbig, und sie ertappte ihn immer, wie er sie ängstlich von der Seite ansah.

»Sehe ich schlecht aus, Willy?«

»Im Gegenteil, du blühst wie eine Rose!« Er, der Gesunde, begriff es doch nicht ganz, daß es Totenrosen waren, die so schrecklich üppig in Winterkurorten blühen. Am Ende sah der Arzt doch zu schwarz. Willy hatte Sekt bestellt, um das verkaufte Patent zu feiern, wie er angab – in Wahrheit, um eine trübselige Stimmung wegzuschwemmen. Er trank schnell und wurde dabei lustig. Und Erna war so stolz auf ihn. Er war sehr sicher, sehr elegant, sie hatte das Gefühl, daß alle sie beneideten.

Der große Speisesaal hallte wieder von dem heiseren Lachen, dem unterdrückten Husten, der lauten, unbegreiflichen Lustigkeit von siechen Menschen, die immer schwächer werden und immer leidenschaftlicher hoffen, denen die rosige Blutwelle des Fiebers, das stechende Leuchten der Augen Gewähr für das Leben scheint und nur Gewähr für den Tod ist. Durchsichtige Hände griffen mit der Gier Verhungernder nach den Speisen. Diese Leute lachen, sie lieben, sie trinken, 273 sie haben eine so tolle Lebenskraft – und wenn je einer verstummt, weil die rasselnden Lungen versagen, wenn einer hinausstürzt, weil ihn der schreckliche Hustenkrampf schüttelt, so tuscheln die andern nur: »Der macht's auch nicht mehr lange!« Aber wer fragt: »Wie lange machen wir's noch?« – Solch Winterhotel ist ein Familienhaus. Alle kennen sich, alle klatschen übereinander. Man wußte, daß Frau Erna Wehrmann nach Hause reisen durfte, man beneidete sie vielleicht darum und empfand es doch wieder als Trost. In dieser wunderbaren Luft werden ja alle gesund, die nicht sterben. Und die junge Frau schaute heute wirklich so blühend, so gesund aus! Sie schauten alle gesund aus.

Auch Herr Wehrmann, vom Wein bethört, flüsterte seiner Frau ins Ohr: »Wenn man nicht wüßte, daß du und alle diese Leute der Gesundheit wegen hier sind . . . Die schauen ja aus wie's liebe Leben!«

Am nächsten Morgen reisten sie ab. Es war eine lustige Schlittenfahrt das Thal hinab, mit festlichen Glocken und leuchtendem Schnee. In Montreux kauften sie noch Andenken für den kleinen Willy – eine bemalte Kuhglocke, einen Holzbären. Es waren noch sehr viel hübsche Sachen im Laden, und der große Willy drängte, sie möge ja nicht knausern, und er ließ die Ecke eines Tausendmarkscheins aus der Brieftasche gucken. »Alles da! Es ist ja nicht wie bei einem armen Leutnant.«

Aber jetzt war Erna wieder Gattin, Mutter, sie mußte sparsam sein. Und als er im Kursaal bei den kleinen Pferden noch schnell ein Fünffrankenstück setzen wollte, mahnte sie leise: »Laß doch, laß! Gieb's mir lieber für . . .« Sie sprach das letzte Wort nicht aus und wurde auf einmal schweigsam. »Meyers Wundersalbe« war noch nicht vergessen.

Der große Willy that ihr jeden Gefallen. Er 274 war wirklich wie in den ersten Tagen einer glücklichen Ehe. Er war so jung, so kräftig, so sehr Mann, die schweren Zeiten hatten ihn ernster gemacht, zielbewußter – und sie, die kinderleichte Person, kaum mehr als ein rosiger Hauch, meisterte ihn wieder so leicht. Es freute sie doch, es schmeichelte ihr doch, sich wieder der Macht bewußt zu werden. – Gegen die dritte Klasse zur Heimfahrt hatte er sich anfangs gewehrt – er stieß sich noch immer leicht an Aeußerlichkeiten, und dann waren sie ja nicht mehr arm; ihre Gesundheit bedurfte Schonung – aber er gab doch freundlich nach, als sie ihm gestand, daß die blasse Internationalität, der traurige Luxus der großen Kurorte ihrem Herzen doch fremd geblieben, daß sie sich wieder nach der Armut, dem kleinen Glück sehne.

»Ich hatte mich schon geändert, Willy – und ich ändere mich doch nicht!«

Und die Reise mußten sie in einer Tour machen. Nur nicht die vielen Ausruhestationen, Basel, Frankfurt und was er sonst noch vorgeschlagen: »Ich werde schon aushalten. Ich sehne mich so sehr nach Haus und muß vor dem heiligen Abend dort sein, noch alles besorgen. Gerade darauf freue ich mich kindisch. Kämen wir zum Fest selbst, ich würde mir wie ein fremder, kalter Besuch in der eignen Familie vorkommen. Zum Gesundwerden fehlt mir weiter nichts als die Heimat – das fühle ich genau.« Während sie das mit lächelnder Zuversicht sagte, an seine Seite geschmiegt, mußte sie alle zehn Schritte stehen bleiben, Atem schöpfen. »Es ist nur die Erwartung, Willy, weiter nichts!«

Er drängte seine ehrlichen Sorgen, seine schwere Angst zurück. Er dachte nur, daß er sie wirklich liebe, daß sie die beste Frau sei – und daß ihm der Arzt noch beim Abschied flüsternd wiederholt hatte. »Lassen Sie sie alles und jedes thun, was ihr irgend 275 Freude macht! Es ist das beste . . . Und man weiß ja nie . . .«

Sie fuhren ab. Erna sah noch lange zum Coupéfenster hinaus: wie der Jaman scharf in den Frosthimmel starrte, wie der See frühlingswarm blaute, wie der stolze Schneedom der Dent du Midi sich blendend klar aus dem Rhonethale hob! Ein Winterparadies – aber viel mehr noch ein Gefängnis, dem sie aufatmend entfloh. Er stand hinter ihr, und sie drückte seine Hand. Er sah auch – aber es war mehr die ruhige Schönheit des Bildes, die ihn bezauberte. Als die Zugluft einen dumpfen Hustenanfall weckte, zwang er sie liebevoll auf die Bank, hüllte sie in Tücher ein, bettete sie auf weichen Kissen. Da saß sie nun wieder, willenlos und glücklich wie ein Kind, und sah ihn immer an.

Sie waren ganz allein. Dennoch sagte sie leise: »Willst du es mir nun sagen, wie du das alles möglich gemacht hast, du guter Mann? Du hast gewiß die Nächte durchgearbeitet und alles entbehrt? Aber trotzdem – ich verstehe doch nicht . . . Krank sein ist schrecklich teuer!«

Er streichelte ihr Gesicht und Haare und antwortete mit scherzhaften Bemerkungen, als habe er diese Zeit leicht, fast spielend durchgehalten. Er blickte dabei etwas unsicher. Noch vor acht Tagen hätte er offen gesagt, wie erbarmungslos Leben und Not ihn gefaßt, wie er in unsinniger Arbeit die Erniederung niedergekämpft hatte, unter der er noch heute stöhnte. Von einer fremden Frau, die allein um unsre Schuld weiß, das Almosen nehmen – von einer bösen alten Frau, die uns verachtet, die mit einem Blick, einem gehobenen Finger uns zum Kuschen zwingt! Freilich, er hatte wenigstens die Genugthuung noch gehabt, der Sterbenden das glühend heiße Geld zurückzugeben. An den anderthalb Jahren klebte so viel Schweiß, beinahe 276 Herzblut; wenn er die Geschichte ein wenig änderte, hätte er seiner ahnungslosen Frau alles erzählen können. Die Lebende hätte ihre helle Freude daran gehabt und die Tote den Dank, der ihr trotz alledem gebührte. Und Willy Wehrmann schwieg – schwieg aus Scham. Warum mußte dieser Pfuscher von Arzt neulich den hoffnungslosen Brief schreiben? Warum mußte gerade an dem Tage eine andre Hand sich mitleidig dem Verzweifelnden entgegenstrecken? O, er hatte diese Hand nicht gewollt, nicht gesucht! Aber die Hand war so stark, hatte immer eine so unheimliche Gewalt über ihn gehabt. Er hätte ihr dankbar sein sollen, dieser Hand. Und während er zärtlich scherzte, fluchte er der Hand und der andern Frau. Warum gab's in seinem Leben immer nur Halbes? Warum wurde ihm auch das Beste wieder zur Lüge?

Der Zug war ein Courierzug und hatte es sehr eilig, aus der schönen Schweiz zu kommen, so eilig wie die junge Frau, die ein thörichtes Sehnen trieb. Sie schaute immer hinaus. Bei Bern grüßte noch einmal der Hochfirn in seiner starren Schönheit, in seiner kalten Majestät. Sie schaute immer zurück. Sie lächelte, als die Bergformen milder wurden, die Linien weicher und weiter. Das flache Baseler Land mutete sie heimatlich an. Auch in der Nacht schlief sie nicht, so müde sie war, so sehr er auch bat. Im Vollmond glitten die bleichen, langen Ketten des Schwarzwaldes schemenhaft vorüber. Dann tauchten die Vogesen auf, wundervoll malerisch, die bizarren Kuppen, jeder Berg wie eine Burg. Dahinter Frankreich. Die funkelnde Lokomotive raste über eine blutgetränkte Erde. Aber die junge Frau interessierte nichts. Nicht der Rhein bei Mainz, nicht die Türme von Frankfurt. Sie sah nur, wie hüben und drüben die Gebirge versanken, der Horizont sich weitete. – 277 Herr Wehrmann war eingenickt. Sie stand vorsichtig auf und öffnete das Fenster. Die eisige Morgenluft strömte ins Coupé, die kalte, feuchte Luft der Tiefebene. Die Kranke witterte die Heimat. Sie lehnte sich weiter und weiter hinaus. Es war Todesluft für kranke Lungen – und doch schlug das Herz voller, die Brust atmete freier. Sie hatte sich lange nicht mehr so wohl gefühlt! Das Wunder – der Heimathauch!

Plötzlich erwachte er fröstelnd, hustend, von der scharfen Kühle – und er war doch gesund. »Bist du toll, Erna?« fuhr er auf.

Und als Antwort öffnete sie durstig die Lippen und sog die Eisluft gierig ein. »O, das bekommt mir so gut! Mir hat nichts gefehlt als gerade diese Luft.« Er schloß mit einem ärgerlichen Ruck das Fenster, aber sie war so unruhig geworden, daß sie stehen blieb, die rote Wintersonne über der weißen Ebene emporsteigen zu sehen. –

In Hannover mußten sie umsteigen. Im Wartesaal drängten sich viele frohe Menschen, die zum Fest reisten: Soldaten, Gymnasiasten, Schulkinder. Ein kleiner Junge strich immer um Erna neugierig herum. Sie nickte ihm freundlich zu, und er dienerte ungelenk wieder. Sie hatte dabei ganz phantastische Vorstellungen, wie groß und hübsch ihr kleiner Willy in der Zwischenzeit geworden sein müsse. Sie konnte das Wiedersehen kaum erwarten. Dennoch schlief sie in der eklen, warmen Luft, dem Bahnhofslärm plötzlich auf ihrem Stuhle ein. Es war nur ein Moment der Schwäche. Dann erwachte sie wieder und freute sich, daß der Zug schon bereit stand und daß alle Menschen so liebenswürdig beflissen waren, ihnen beim Einsteigen zu helfen. Ein alter Herr, der bereits im Coupé saß, schloß sofort das Fenster, er sah sie immer verstohlen an und grüßte beim Aussteigen fast wehmütig. 278 Als gegen Abend die kleine Stadt auftauchte – die beiden häßlichen Kirchen – das Walzwerk, dunkel, unförmig, von Feuerströmen durchloht wie Vulkans Esse – und das kleine Haus im Schnee fast verloren: da weinte die junge Frau vor Freude.

Auf dem Bahnhof stand ein Wagen bereit. Aber Erna wollte nicht fahren. »Ich will viel lieber gehen! Es ist doch unser alter Weg, jeder Stein interessiert mich.«

Sie gingen. Und die Leute sahen mehr verwundert als freundlich dem hübschen Paar nach. Sie schritt heute so elastisch, so rasch, das feine Gesichtchen schien den ganzen Mädchencharm wiedergefunden zu haben. Zwischen den alten, gedrückten Häusern wallte der brenzlige Torfgeruch, das Parfüm des Ackerbürgers, des Handwerkers; nur zuweilen trug der Wind den dicken, fauligen Steinkohlenrauch vom Werk herüber, ein mächtiger Schwaden, der gleich all die andern Gerüche verschlang. Das kleine Haus glänzte in festlichen Lichtern, obgleich es draußen noch hell war, um die Hausthür wand sich eine Tannenguirlande. Im Flur duftete es nach Weihnachtsstollen und Christbaum. Der kleine Willy kam entgegengestolpert in Pluderhöschen und Sammetkittel. Ehe die Mutter ihn recht küssen konnte, begann er schon das Begrüßungsgedicht. Er sprach ganz ungeniert und fließend und sah dem großen Willy schon sehr ähnlich. Und nachher das Küssen und Herzen auf ihrem Schoß, das liebe Fragen, ob es ihm im Kindergarten gefiele, ob er gern spiele, ob er schon einen Freund habe oder gar eine Freundin. Er benahm sich sehr manierlich, stand Rede und Antwort. Der schlanke, hübsche Junge schaute wie die Gesundheit selbst aus, ihm hatte in der Zwischenzeit nichts gefehlt – nicht einmal die Mutter. Und wie der kleine Kerl begehrlich wurde, als der Vater den Handkoffer hereinbrachte und bald 279 darauf der braune Holzbär seinen Zottelkopf herausstreckte. Von dem Moment teilte der kleine Willy seine Gefühle gewissenhaft zwischen der Mutter und dem Spielzeug. Das Haus war noch ganz das alte, die Möbel blinkten traulich, der Kachelofen strahlte. Es war, als sei die Hausfrau nie fortgewesen! Willy erzählte ihr noch einmal, was sie schon längst wußte, daß verschiedentlich Verwandte zum Rechten gesehen hatten, selbst die Tante. Alles Frauen mit derselben Hausmütterlichkeit, derselben Freude am Kleinen, Alten. Nur um das Bild des Freiheitskämpfers war ein kostbarer, türkischer Shawl drapiert. Ein modischer Geschmack, eine sichere Künstlerhand. Die Dekoration stand dem alten Leichtfuß gut – und doch that es Erna wohl, als der Gatte den Shawl wegriß und verdrießlich murmelte: »Das paßt ja gar nicht hierher!« – In der Küche waltete eine etwas anmaßende Fee, die ein Hamburger Häubchen trug, im Kochbuch blätterte und die Wiedergekommene nur widerwillig estimierte. Frau Wehrmann begrüßte alles, freute sich an allem, sie wäre vielleicht noch zur Gaststube und zum Boden hinaufgestiegen, wenn nicht schon die drei Stufen vor der Hausthür sie belehrt hätten, daß Steigen vorläufig eine Unmöglichkeit sei. Auch das Schlafzimmer heimelte sie heute mehr an. Es war geheizt, die großen Betten einladend geöffnet.

Die erste Nacht im eignen Hause schlief sie wie eine Tote. Sie konnte sich zuerst kaum zurechtfinden, als am späten Morgen der große Willy sich lachend über ihr Bett beugte und der kleine Willy, den Bären im Arm, sie neugierig befühlte. Es war ja Weihnachtsabend heute. Und sie hatte so tief in den Tag hinein schlafen können! Der geputzte Baum stand schon im guten Zimmer, Diamantine glitzerte, der Weihnachtsengel schwang seine himmelblauen Flügel.

Geschenke lagen umher: ein Pionierhelm, eine 280 Phantasieflinte, ein Schokoladenmann – alles für den furchtbar aufgeregten Jungen. Auf dem Sofa verlockende Pakete, ein geheimnisvoll winziges darunter, von denen der große Willy seine Gattin mit pfiffigem Lächeln zurückdrängte. Der Gute hatte doch an alles gedacht, und ihr fiel es schwer aufs Herz, daß sie zu diesem Feste eigentlich nichts andres mitbrachte als sich selbst. Während sie mit ihm kramte und bunte Teller belegte, wurde sie selbst festfreudig und erwartungsvoll wie ein Kind. Der Herzensjunge war ihr sehr verständlich, der schon jetzt am Mittag gegen die verschlossene Thür hämmerte und zum zwanzigsten Male fragte, ob denn noch nicht einbeschert würde.

Willy Wehrmann hatte sorgfältig eingekauft, dennoch fehlten Kleinigkeiten, an die nur Frauen denken. Auch die Christbaumlichter hatte er vergessen. Er gedachte schon das Mädchen zu schicken, aber Erna wollte lieber selbst nach Tisch in die Stadt gehen. Denn die Lichter mußten wie bei ihr zu Haus von einem Wachsstock abgeschnitten sein wegen des Weihnachtsgeruchs. Erna tanzte um den Baum herum: »Ach, was doch die Luft der Heimat macht!«

Sie war gar nicht mehr müde. Sie wollte sogar noch einen großen Spaziergang machen – den alten Weg durchs Moor. Der kleine Willy trabte hinter den Eltern her und schleifte den Bären mit einem Strick über den Schnee. Hier draußen in der Ebene war nichts von dem klirrenden Frost des Gebirges zu spüren – er war ein weicher, feuchter Frost. Die neblige Wintersonne lag auf stumpfweißen Flächen. Das Moor schien ein unendliches Bahrtuch ohne Laut, ohne Vogel, ohne Spur von Leben. Der Fluß dazwischen von der Kälte gebannt, mit schwärzlichem Eise, eingefrorenem Schilf. An der alten Mühle hing das Rad wie erstarrt voll langer Zapfen; der Kolk heimtückisch, stumm; eine warme Strömung am Ufer 281 entlang wellte die Eisfläche, und fettiger Tauglanz warnte. Unter der Brücke kroch der faule Wasserdunst nur leise herauf. An den Holzpfeilern rauhte sich die Eiskruste, bröckelte. Ueber dem Westen hing wie ein Flor gelbdunstiger Schimmer. Rings, so weit das Auge schaute, das Moor mit seiner müden Monotonie auf der Oberfläche, seiner ekeln Wärme in der Tiefe. Aber im Winter hat ja der Sumpf keine Schrecken.

Sie waren über eine Stunde gegangen, und sie wären noch weiter gegangen, wenn nicht der kleine Willy gemahnt hätte. ›Die Aerzte sind doch keinen Schuß Pulver wert,‹ dachte Herr Wehrmann. ›Warum ängstigten sie mich eigentlich so? Wer noch so viel Kraft hat!‹ Die junge Frau wunderte sich selbst.

Nachdem sie den kleinen Willy heimgebracht hatten, gingen sie noch nach der Stadt. Die Eltern mußten ihm größte Eile versprechen. Aber in der kleinen Stadt glänzten die Läden so hell und freundlich, daß Erna über den vielen hübschen Nichtigkeiten einer Weihnachtsausstellung den Wachsstock fast vergaß, den sie kaufen wollte. Der große Willy wurde sogar auf die Straße verbannt. »Und nicht durchs Fenster sehen!« rief sie ihm nach. Sie hatte etwas sehr Reizendes für ihn entdeckt.

Herr Wehrmann war nun freilich ungehorsam und beobachtete seine wiedergefundene Frau von der Straße aus sehr genau. Von dem Geschenk sah er nichts. Der anmutige Schatten hinter dem beschlagenen Fenster, der so grotesk hin und her schwebte, interessierte ihn mehr. Er liebte sogar diesen Schatten. Er verstand gar nicht, daß es Stunden gegeben, wo ihm dieser liebe Schatten gleichgültig, ja verhaßt gewesen, weil sich zwischen ihn und ihr ein andrer Schatten hob. Wie gut, daß sie nichts ahnte! Er hatte jetzt den festen Glauben, daß sie ganz gesund werden würde. 282 Es war ja Weihnachten, die Zeit der Wunder, und sie sollte von jetzt an ganz gewiß allein in seinem Herzen herrschen.

Als sie endlich glückstrahlend herauskam mit einem großen Paket, das er nicht tragen durfte, weil seine Finger, indiskret tastend, vielleicht doch das Geschenk erraten hätten, drückte er ihren überschlanken Arm zärtlich an sich, fühlte sich ganz Gatte, Vater, mit allen guten Vorsätzen, allen reinen Weihnachtsgefühlen. Er war so recht in der Stimmung, glücklich zu sein und andre glücklich zu machen, daß er einem Jungen mit Hampelmännern den ganzen Rest abkaufte, obgleich der nicht zudringlich bettelte, sondern in seiner Straßenecke nur das geschäftsmäßig weinerliche: »Kaufen Sie, kaufen Sie!« eines Bettelkindes herleierte.

Zu Hause schlossen sich die beiden sofort wieder in die gute Stube ein, kramten, packten aus. Auch eine große, neue Sparbüchse kam dabei zum Vorschein, die der große Willy schon früher gekauft hatte, und in die er jetzt heimlich einen blauen Lappen hineinstopfte. Er that's ganz abseits – und Erna sah es doch. Diese neue, große Sparbüchse erschien ihr so hübsch, so rücksichtsvoll! Der große Willy war doch ein andrer geworden – er hatte das richtige Gefühl gehabt, daß Meyers Wundersalbe und ihre schreckliche Geschichte aus seinem Leben verschwinden mußten. Diese neue Sparbüchse war wie der Schwur eines neuen Lebens. Und weil die junge Frau jetzt völlig verziehen hatte, schlich sie leise hinter ihn, umschlang zärtlich seinen Nacken. Er blickte sich um, lächelte etwas verlegen. Dann aber umfaßte er, einem plötzlichen Impulse folgend, das liebe Geschöpf und zog sie ans Herz und sagte feierlich: »Erna, ich bin ein Leichtfuß. Aber nicht wahr, wir trennen uns nie wieder?«

Erna verstand gar gut, was in den paar Worten 283 lag, die das Vergangene ganz auslöschen sollten. Jetzt schlug der kleine Willy wieder verzweifelt gegen die Thür und drohte seinen Eltern mit Entziehung sämtlicher Liebe, wenn es nicht sofort losginge.

Die Umarmung löste sich. Herr Wehrmann rief: »Gleich, mein Junge!« Er hob den Weihnachtsbaum auf einen kleinen Tisch. »Erna, was sind wir aber zerstreut!« sagte er kopfschüttelnd. »Die Lichter . . . Gieb doch den Wachsstock!«

»Ja, gleich.« Sie kramte hastig. »Aber ich hatte doch . . . nein, ich habe doch nicht . . .«

»Also den Wachsstock richtig vergessen – das ist schrecklich!« spöttelte er. »Der Junge wird also noch eine halbe Stunde länger warten müssen.«

»Aber Schatz, wie konnte ich das nur vergessen!«

»Das Mädchen holt ihn schnell.«

»Das ist doch zu dumm, Willy! Uebrigens warte mal. Auf dem Fremdenzimmer könnte noch ein Wachsstock sein.«

»Ich hole ihn!«

»Du findest ihn nicht. Er ist noch von Weihnachten vor einem Jahr so gut versteckt, daß ihn kein Mensch außer mir finden kann. Ich gehe selbst.«

»Auch noch!« Herr Wehrmann zündete rasch ein Licht an, gab es ihr in die Hand. Dann umschlang er ihre Hüften und hob sie auf seine Arme. »Du leichte Person!« scherzte er. »Ich trage dich 'rauf.« Es war wirklich keine schwere Last. Unterwegs küßte er sie. »Ekkehard trägt die Herzogin Hadwig ins Kloster.« Und sie freute sich ihrer Schwachheit und seiner Kraft.

Oben auf dem Treppenabsatz ließ er sie hinabgleiten: »Das Steigen lernst du auch schon wieder, Ernachen!«

»O, ganz sicher!« bestätigte sie.

Sie traten in das kleine, kahle, kalte Zimmer. 284 In der Thür blieb sie stehen. Der Atem verging ihr. Da war ja wieder der feine, durchdringende Juchtengeruch, das Parfüm des Ehebruchs, vor dem ihr graute. Auch er war nachdenklich stehen geblieben.

»Seltsame Frau!« murmelte er.

»Wer?« fragte sie tonlos.

Er zuckte leicht zusammen und antwortete dann gleichgültig: »Ach, die Cousine Käthe. Ich vergaß dir wohl zu sagen, sie war vor acht Tagen zum erstenmal wieder hier; sie wollte dich eigentlich besuchen.«

»Auch die Nacht?«

»Ja, auch die Nacht,« sagte er zögernd. »Wir hatten den letzten Zug versäumt.« Während er sprach, hatte er zum Fenster hinaus gesehen, nach einem kleinen Arbeiterhause, das in der Zwischenzeit den Nachbargarten besetzt hatte. Im Giebelzimmer flimmerten die Lichter eines Weihnachtsbaumes.

Der Leuchter in der Hand der jungen Frau schwankte, die Glasmanschette klirrte. Herr Wehrmann drehte sich um, sah sie an, machte ein paar Schritte: »Was ist dir denn auf einmal? Du siehst ja wie der Tod aus! Ernachen, Ernachen!« Er wollte ihre Hand fassen.

Sie trat zurück: »Nein, es ist wirklich nichts,« stammelte sie. Dabei fühlte sie wie damals die ekle Wärme in der Kehle hochsteigen. »Es ist nur die Luft.« Sie steckte den Finger in den Mund und biß darauf: »Es ist nur die Luft . . . das Juchten . . . das Parfüm von ihr.« Sie schwankte und wollte fallen.

Er faßte sie und trug sie auf das kleine Feldbett. Da lag sie, leichenblaß, mit offenen, leeren Augen. Er kniete vor ihr und rieb die abgestorbenen Hände. 285

»Auch die Nacht, Willy?« fragte sie röchelnd.

Da ließ er ihre Hände fallen und starrte sie an. Im Moment hatte er begriffen. Sie wußte alles. Die lähmende Wahrheit rann ihm durch die Glieder. »Erna, ich schwöre dir . . .« sagte er endlich. »Was ich auch gethan habe – ich bin nicht mehr der Alte, bei Gott, nicht mehr!«

»Schwöre nicht . . .« antwortete sie. Dann wandte sie den Kopf nach der Wand. »Laß mich allein!«

Er stand auf, ratlos, mit losen Knieen, er hatte auch keine Kraft mehr. Er wollte sich über sie beugen.

»Laß mich allein!« wiederholte sie.

Er trat zurück.

»Hol den Arzt! Aber geh du selbst. Und niemand soll kommen, niemand – verstehst du?«

»Ja, Erna.«

Sie schwieg. Er stand noch immer.

»Geh doch! Ich will deine Nähe nicht.« Der Abscheu durchrieselte sie, ein ohnmächtiger Ekel. »Nimm auch das Licht mit. Ich will im Dunkeln sein.«

Er nahm das Licht vom Nachttisch und ging.

Als er die Thür hinter sich schließen wollte, rief sie leise: »Willy!«

Er stürzte zurück. Sie hielt ihm matt die Hand hin. »Adieu, Willy!«

Er kniete nieder und faßte die Hand und bedeckte sie mit stummen Küssen. Er konnte nicht weinen – und er hätte doch gern geweint!

Sie ließ ihn gewähren, sie rührte sich nicht. Ein dumpfes Gefühl umfing sie. Nicht Liebe, nicht Haß. Sie begriff nur, daß sie lebend den beiden schon tot gewesen war. In ihren Ohren begann es zu brausen, das salzige Naß füllte den Mund.

Als sie erwachte, lag sie im Dunkeln – in ihrem Blut – allein. 286

Sie war ganz klar, ganz ruhig. Sie wußte genau, daß sie sterben mußte, – und sie lächelte doch. Der Tod hatte ihr eine letzte Gnadenfrist gegeben – warum? Sie grübelte nicht. Jenseits von Liebe und Haß, jenseits von Gut und Böse – sie war endlich so weit! Liegen – einschlafen – nie mehr gestört werden – allein sterben: das war ihr letzter Wunsch.

Sie horchte. Kein Laut. Als wenn das große Schweigen schon begonnen hätte!

Und wie allen bewußt und schmerzlos Sterbenden zog noch einmal das Leben an ihr vorüber. Das Kind – sie hatte nie schmerzlich gerungen, sie hatte gläubig gehofft wie alle glücklichen Kinder. Die Jungfrau – sie hatte nur einen geliebt und diesen einen bekommen. Und die Frau – war sie nicht lange glücklich gewesen, wunschlos? Wie wenige können das auch nur von einer einzigen Stunde ihres Lebens sagen! Und als sie das Leben doch einmal hart, ja erbarmungslos anfaßte, da waren es nur wenige Stunden des höchsten Schmerzes gewesen. Ein wohlthuender Schleier zog auch über das. Sie war ihrem Manne nicht mehr böse, sie fühlte weder Haß noch Abscheu, auch nicht Mitleid – sie liebte ihn nur nicht mehr. Schließlich konnten sie beide doch nicht dafür, daß sie nicht zu einander gehörten innerlich. Er war er, sie war sie. Ihre Güte war Schwäche, ihre Schwäche Güte; die lieben Feen, die an ihrer Wiege gestanden, hielten Versuchungen zeitlebens von ihr fern. Er war modern, ein Mensch der Kraft und der Launen, des Genusses und der Reue. Die Starken und Klugen sündigen ja am meisten. Aber reicher hatte ihn die Sünde auch nicht gemacht – nur ärmer, vielleicht war er von jetzt an sogar ganz arm. Sie konnte ihm nicht helfen. Jeder lebt sich aus, wie er muß. Das Leben ist ein so kleiner Kreis, daß jeder unfehlbar zu denselben Punkten immer 287 zurückkehrt. Auch die Frau haßte sie nicht mehr. Die schwamm wie Kork auf den Wogen des Lebens, sie kannte die häßlichen Tiefen und tauchte doch immer wieder hinab; sie war wissend und vielleicht gerade darum nicht glücklich. Und wenn die es nicht war, so war es eben eine andre. Zu seinem Charakter gehörte die Liebe ebenso wie die Untreue. Sie verstand auch das – und auch das war Schwäche. Jetzt war sie nach Hause gekommen zu sterben, einem dunkeln Triebe folgend. Alle wußten's wohl – sie nicht. Die Leute wunderten sich vielleicht und sahen kopfschüttelnd dies letzte Aufflackern einer Lebenskraft, die kein Recht mehr hatte. Die Tugendgans! Der Spitzname aus der Mädchenzeit, der sie manchmal gekränkt hatte, fiel ihr ein. Und war's nicht doch der richtige Name? Nun ging sie schmerzlos, ohne Bedauern, die Pforten des Lebens schlossen sich einem großen Kinde. Oben empfing sie Gott und grüßte sie freundlich. Sie glaubte so fest an Gott! An den kleinen Willy mochte sie nicht denken. Es ging ihm gut, und es war vielleicht besser, wenn er über einer zweiten Mutter bald die erste vergaß. Wenn sie den Sohn ihres Mannes später auch nicht verstanden hätte, obgleich sie ihn so sehr geliebt?! Welchem Schmerz, welcher Enttäuschung entging sie vielleicht. Es würde alles kommen, wie es kommen muß, auch für das Kind. In alle Zukunft sah sie ruhig. Das Leben ist so geheimnisvoll kompliziert, wenn es vor uns liegt, und so lächerlich einfach, wenn wir darauf zurückblicken.

Die Sterbende lag auf dem kleinen Bett in dem kleinen Zimmer. Die Christbaumlichter des Nachbarhauses spielten an der Wand, und hoffnungsfrohe Kinder jauchzten drüben. Die junge Frau starb in der kleinen Welt, in der Armut, in der sie geboren, der Kreislauf des Lebens führte sie zu demselben 288 Punkte zurück, wo sie glücklich begonnen. Und es war gut so! Sie hätte nie in die Welt der Sünden, der Leidenschaften gepaßt, wo jede Welle so viel Schlamm aufwühlt. Und darum hatte sie instinktiv die großen, bequemen Betten gehaßt, in denen noch so viel Platz ist für andre.

Die Gartenthür ging. Erna Wehrmann hörte Stimmen. Da schloß sie die Augen und murmelte: »Ich will allein sterben!« Und sie starb.

 


 


 << zurück