Johannes Richard zur Megede
Die Tugendgans
Johannes Richard zur Megede

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Ostern.

Ostern. Eine kleine Stadt. Ein kleines Haus weit draußen. Ueber dem Klingelgriff ein frischgeputztes Messingschild: Willy Wehrmann, Ingenieur.

Die Scheiben an der kunstvoll vergitterten Hausthür funkelten, das Holzwerk blinkte. Selbst der Depeschenbote, der eben angeläutet hatte, freute sich, wie proper, neu und festtäglich alles an dem kleinen Hause war.

Die junge Frau öffnete selbst. Sie lächelte freudig überrascht, während sie das Telegramm las:

»Kommen mit dem Vieruhrzug – Käthe auch. Bleibt jedenfalls zur Nacht. Gruß!

Willy.«

In der Aufregung vergaß sie dem Boten ein Trinkgeld zu geben.

Erna Wehrmann war ein hübsches, junges Geschöpf, sehr schlank, braun, mit einer Kinderstirn und hellen Augen. Der Mund weich und eigensinnig zugleich – ein Mund zum Küssen und zum Schweigen. Das unbeschreibliche Parfüm von hausmütterlicher Sauberkeit umfloß sie und lieh den etwas schüchternen Bewegungen geheimen Reiz. Die junge Frau war allein im Haus. Sie hatte das Mädchen für den Feiertag aufs Land beurlaubt und sich eigentlich selbst auf ein süßes Ausruhen gefreut. Denn trotz ihrer Jugend ermüdete sie leicht, doch ein sicheres Pflichtgefühl stärkte die zarte Natur. Auch jetzt. Sie war 196 im Augenblicke wieder frisch und inspizierte noch einmal voll geheimen Stolzes das Haus. Die treulose Aprilsonne lag freundlich lächelnd auf den bunten Fliesen des Flurs, auf den blanken Messingstangen des Herdes und schien dieselbe naive Kinderfreude zu empfinden an der Ordnung, der Ruhe.

Wehrmanns bewohnten das Haus allein. Ein neues, einstöckiges Haus. Doch die Räume waren klein, fast winzig, und alte Mahagonimöbel mit steifen Lehnen und eingesetzten Fournierstücken füllten sie – der früh Verwaisten einzige Mitgift.

Aber den Reiz der Gemütlichkeit, den Zauber kleinen Glückes geben gerade diese alten Möbel den modischen Zimmern. Der jungen Frau waren sie ein Heiligtum, an dem sie unermüdlich glättete, staubte, so daß die spärlichen Nippes wie neu glänzten und thöricht erstaunt dem dünnen Pendelschlag der Stutzuhr und dem leisen Bohren des Holzwurms lauschten.

Selbst Willy Wehrmann, der als Ingenieur und Moderner das Neue liebte, ward zuweilen von dem altmodischen Duft berauscht, so daß er gemütlich meinte: »Weißt du, Ernachen, in so 'ner ollen Einrichtung lebt sich's doch höllisch mollig! . . . Nur mit dem Schlafzimmer – das ging nicht. Dazu bin ich auch zu lange in England gewesen . . .«

Die junge Frau war über diese Anerkennung kindisch glücklich gewesen. Sie dachte noch einmal daran, während sie durch die Stuben ging, hier eine Vase zurechtstellend, dort eine Teppichfranse zur Raison zupfend. Die Hand an der Schlafzimmerklinke, fiel es ihr plötzlich ein, daß das Logierzimmer doch eigentlich das wichtigere sei. Sie eilte rasch durch den Flur, die Treppe zur Mansarde in die Höhe. Es war nur eine kleine Treppe – und Erna nahm immer zwei Stufen auf einmal –, aber oben war sie atemlos. Daß sie Steigen jetzt immer so todmüde 197 machte! Der alte Medizinalrat murmelte von Bleichsucht und Nachwehen eines schweren Kindbettes. »Also nicht steigen und überhaupt Anstrengungen meiden!« – Erna war nicht im mindesten beunruhigt, sie moquierte sich sogar heimlich über den Uebervorsichtigen. Sie war ja noch so jung und sah so rosig aus und hustete nie.

Das Logierzimmer befriedigte sie sehr. Es war recht bescheiden – ein Feldbett, ein gebeizter Schrank, der Waschtisch eine mit Kattun und Wachsleinwand malerisch drapierte Kiste –, aber das Fenster ging nach dem Garten heraus, man konnte die Stadt sehen und daneben das rauchgeschwärzte Walzwerk, das bei Sonne wie Regen immer dasselbe schmutzige Arbeitsgesicht zeigte, das sie aber trotzdem liebte, weil es ihnen eigentlich die Ehe ermöglicht hatte. Und das Zimmer roch so angenehm nach frisch gebohnten Dielen und Oelfarbe – nicht etwa aufdringlich, nur ein wenig, wie um dem Gaste zu sagen, das habe man alles eben erst für ihn und mit Liebe hergerichtet. Erna sah noch in den Kleiderschrank, dessen Thüren knarrten, drehte die kleine Waschschale, daß die schadhafte Stelle in der Glasur nicht den Ausschuß verrate. Sie gedachte auch noch ein paar Krokus aus dem Garten in die sehr überflüssige Puppenvase auf dem Nachttisch zu stellen. Sie wurde beim Inspizieren ganz stolz. Das erste Logierzimmer, der erste Logierbesuch! Eine Prinzessin konnte hier ruhig wohnen, wie sie überzeugt war. Und eine Prinzessin erwartete sie ja eigentlich auch. Denn nach Willys orakelhaften Andeutungen mußte diese Cousine in den zehn Jahren, wo er sie nicht gesehen, eine vollendete Weltdame geworden sein – sehr wohlhabend, sehr hübsch, Großstädterin mit raffinierten Ansprüchen und fremden Allüren. Ein wenig graute auch der jungen Frau vor diesem Wundertier, das 198 sich zu diesem Besuch herabließ, vielleicht nur aus Laune, aus Langweile. Denn die Dame war trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre unvermählt. Entweder weil sie das Leben noch genießen wollte oder weil sich der nötige Graf noch nicht gefunden . . . Jedenfalls war sie eine Verwandte ihres Mannes, und Erna gedachte sie mit der Liebe und Herzlichkeit einer jüngeren Schwester zu empfangen. Wie sie aber auch war, ob weit überlegen oder nicht – in einem fühlte sich die junge Frau schon jetzt als Siegerin. Sie war Mutter – glückliche Mutter! Alle Freude des Reichtums, alle Triumphe der Schönheit konnten der andern doch nicht den kleinen Willy ersetzen, das geliebte, siebenmonatige Ungetüm, das bald thöricht jauchzte, bald gewaltig schrie, ein Tyrann, der von seinem Kinderbett aus eigentlich das ganze Haus regierte. Erna hielt jeden Gedanken, der mit dem kleinen oder großen Willy nicht mittelbar zusammenhing, für eine große oder kleine Sünde, die an beiden mit einem Ueberfluß von Zärtlichkeit sofort abgebüßt werden mußte.

Und die junge Frau war so gar keine Sünderin! Den ganzen Vormittag hatte sie bei dem Kleinen gesessen, das energische Strampeln bewundert, das schalkhafte Augenblinzeln. Und jetzt, nachdem sie alles revidiert, das Kaffeegeschirr geordnet, den Osterkuchen geschichtet, flog sie sofort wieder zu dem kleinen Willy. Der residierte natürlich noch im Schlafzimmer und entlockte dem großen Willy manches nächtliche Verwünschungsbrummen. Eben als Erna wieder zurückkam, geruhte der verwöhnte Tyrann der Sonne zum Trotz, die schelmisch auf dem ausdruckslosen Kindergesicht spielte, herzhaft zu schlummern, den Daumen im Mund, ein Bein über dem Zudeck. Erna setzte sich lautlos an das Kinderbett und stichelte eifrig an der Handarbeit weiter, der sie das Telegramm 199 entrissen. Eigentlich liebte sie das Schlafzimmer nicht. Es war das größte des Hauses, neu, modern, hygienisch. Aber den beiden Willys zum Trotz, die es vor allem hochhielten, betrachtete sie selbst noch immer mit einer gewissen Scheu diese großen, niedrigen englischen Betten, an denen sie noch heute abzahlten, die riesigen Waschschalen, den Stehspiegel. Das war alles für reiche Leute – und sie waren doch arm! Es mochte gewiß gesünder sein in dem hellen großen Raum, die Matratzen federten so angenehm, und die sehr appetitliche Nachttoilette der jungen Frau präsentierte sich einladender inmitten dieses Komforts – aber es lag etwas Fremdes, Kaltes, Herzloses in dieser unverhältnismäßigen Eleganz; die Patchouliseife ihres Mannes berührte ihre Nerven noch immer unangenehm. Das kleine Mißbehagen legte sich jedoch schnell. Sie brauchte nur den kleinen Willy anzusehen oder den großen, der in Kabinettformat ihren Nachttisch zierte. Das Bild zeigte einen Offizier in Pionieruniform – ein hübsches, lebenslustiges Gesicht, sehr brünett, mit keck aufgesetztem Schnurrbart und scharfer Nase. Und kein Apoll konnte mehr bewundert werden als dieser Reserveleutnant des 36. Geniebataillons. Erna betrachtete das Bild nach anderthalbjähriger Ehe noch mit demselben Entzücken. Sie sah es auch heute voll Liebe. Sie nahm es und ließ die Handarbeit in den Schoß gleiten. Sie war reizend, wie sie so lächelte. Ein Frauengesicht von lieber Unschuld und weicher Schwärmerei. Auch der Schalk blitzte ein wenig aus den hellen Augen. Denn eine kleine Spitzbübin war sie vielleicht doch gewesen, als sie den hübschen Schmetterling fing. Ihre Liebesgeschichte fiel ihr ein.

Diese Liebesgeschichte hatte wie ihr ganzes Leben bis zur Ehe in einer kleinen ostpreußischen Stadt gespielt. Sie war Katasterkontrolleurs Tochter, er 200 Pfarrers Sohn. Sie hatten beide keinen gebogenen Heller. Aber sie hatte früh, sehr früh an dem großen Jungen Feuer gefangen. Sie war schrecklich rot geworden, als sie der Sekundaner zum erstenmal grüßte, sie hatte dem Studenten nachgeseufzt, wenn er mit einer andern tanzte. Und Willy Wehrmann war keineswegs einseitig. Sein heller Kopf hatte mit Genugthuung die vielen Liebesflämmchen konstatiert, die lustige Augen und ein kleiner Schnurrbart in Mädchenherzen entzünden. Und er selbst hatte auch einen hübsch geräumigen Altar voll Lichte – und Erna war durchaus nicht das einzige oder größte. Aber das hübsche Mädchen, das immer zart und appetitlich aussah, hatte doch seinen besonderen Reiz. Sie war anständig, fast prüde, sie mochte planloses Courmachen nicht leiden und hieß bei intimen Tanzstundenkränzchen: die Tugendgans. Doch in ihrem Gefühl war sie sicherer und tiefer als die Hübscheren und Klügeren. Sie pflegte eben nicht die hundert Mädchenträume, sie pflegte einen einzigen. Und eines Tages – es war in einem kleinen Seebad an der Ostsee – versuchte der Kandidat Wehrmann, was er schon bei andern glücklich versucht hatte – er küßte die Kleine. Sie wehrte sich nicht – sie küßte ihn wieder. Auf der Düne, in der Kiefernschonung war kein Mensch, der Horizont schwamm in rosigem Licht, und die hellen Mädchenaugen lächelten dem Verliebten ein ruhiges Glück. Natürlich sollte es ein heimlicher Scherz sein, wie früher auch, aber dem Gewandten wurde verlegen, ja ängstlich zu Mute, je länger und je glücklicher ihm die Augen zulächelten. Er fühlte, daß es Ernst war – und er fühlte wohl auch das Glück. Zum Abschied küßte er ihr die Hand – es war sehr ritterlich, aber er konnte nicht anders. Im Nachhausegehen überlegte er: ›Ob du nicht doch lieber abreist?‹ . . . Aber er blieb. Und 201 Erna sagte noch an demselben Abend zur Tante, die sie ins Seebad mitgenommen hatte und wegen der starken Verspätung sich schon trüben Ahnungen hingab: »Sei mir nicht böse, Tantchen! Ich konnte wirklich nicht eher. Ich habe mich eben mit Willy Wehrmann verlobt.« – Ihr kam es gar nicht in den Sinn, daß er mit ihr gescherzt haben könnte wie mit den andern. Und Willy Wehrmann bereute es nicht. In den hellen Augen der Braut glänzte das Glück. Er fühlte, daß er in diesem Herzen der einzige war und daß er das große Los gezogen, ohne eigentlich gesetzt zu haben. Er war gutmütig, und die große Liebe dieses schüchternen Geschöpfes schmeichelte ihm und that ihm wohl. Natürlich mußten sie noch lange warten bis zur Ehe. Der Bräutigam ging kurze Zeit darauf nach England in ein großes Hüttenwerk. Er schrieb viele nette Briefe und freute sich wirklich auf die kleine Frau. Mit dem Heiraten ging's übrigens schneller als sie gedacht. Er war vierundzwanzig und sie neunzehn, als sie in das kleine Haus zogen – arm, aber glücklich.

Ja, sie hatte wirklich Glück gehabt, die Tugendgans! Und wie genau sie sich an alles erinnerte, jeder Stunde, jedes Briefes! Konnte man überhaupt das holde Abendrot vergessen, das damals so wunderbar die flüsternde Düne vergoldete, und das schläfrig murmelnde Meer? Oder gar den Tag in Berlin auf ihrer Hochzeitsreise, die eigentlich keine Hochzeitsreise war? Wo zum erstenmal auf die Kleinstädterin das mächtige Leben einflutete wie eine Woge, die sie umbrandete, verwirrte, so daß sie sich ängstlich an ihn schmiegte, der so sicher und gewandt durch das Gewühl steuerte, an kalten Palästen, an fabelhaften Schaufenstern vorüber, bis zu dem eleganten Restaurant im reinsten Empire mit der unergründlichen Speisekarte, den blitzenden Spiegeln, dem Bratenduft, 202 die Kellner sämtlich lautlos und blaß wie Attachés. Ein ultravornehmer Garde du Corps hatte ihnen freundlich Platz gemacht, wie Erna wähnte, weil er den Kameraden, den Pionier, auch im Reisezivil sofort erkannte. Willy widersprach nicht, obgleich er gerade in dem Moment die bängliche Kluft gespürt hatte, die königliche Leibwache von Provinzialscharnier trennt. Es war ein wunderbares Souper, trotz aller Neulingsangst. Und obwohl Erna im Grunde ihres Herzens fast befreit aufatmete, als sie dem feinen Gläserklirren, den parfümierten Toiletten entfliehen durfte, um bescheidentlich dritter, mit äußerst geschwächter Reisekasse der neuen Heimat zuzudampfen – der Tag und der Pionier erstrahlten noch immer im hellsten Lichte.

Indes sie den großen Willy bewunderte, schlummerte der kleine. Er konnte am Tage so wundervoll schlafen! Er erwachte auch nicht, als der schrille Pfiff einer Lokomotive durch die Osterstille drang, so daß die junge Frau erschreckt aus ihren Träumen auffuhr. Mann und Cousine mußten bald da sein. Erna ging voll Erwartung hinaus und sog, auf der Hausthürschwelle stehend, den frischen Erdgeruch ein, der lenzesjung und stark den schwarzen Gemüsebeeten entströmte. Die Spatzen piepsten trunken, die hellgrünen Sprossen am Fliedergebüsch nickten verheißungsvoll. Als zwischen den niedrigen Hecken der Landstraße zwei hohe Gestalten sichtbar wurden, flüchtete die junge Frau geniert ins Haus zurück und lugte neugierig durch den Thürspalt. Die beiden kamen langsam näher. Er glich dem Bilde frappant. Ein liebenswürdig pfiffiger Zug gab dem Gesicht die Eigenart. Sie war eine sehr große, volle Blondine mit sicheren Bewegungen und kalten Augen. Im Anblick des kleinen Hauses kräuselten sich die blassen Lippen zu leisem Spott – und die Aprilsonne 203 schimmerte auf wundervoll reichem Tizianhaar. Sie paßten gut zusammen, die großen, hübschen Menschen.

Willy Wehrmann hatte seine Frau in dem Thürspalt schnell entdeckt und drohte liebenswürdig: »Versteck dich nicht, Erna!«

Die junge Frau eilte darauf etwas ungelenk entgegen.

Der Hausherr stellte vor: »Meine Frau – Cousine Käthe.«

Erna hob die Arme zu einem schüchternen Zärtlichkeitsversuch, der aber mit freundlichem Lächeln und freundlichem Händedruck freundlich abgewehrt wurde.

»Willkommen, willkommen, liebe . . .«

»Willkommen, liebe Frau Wehrmann! Man merkt doch gleich die liebenswürdige Ostpreußin.«

Herr Wehrmann sah abseits stehend der ungleichen Begrüßung zu und sagte gemütlich lächelnd mit seiner tiefen, hübschen Stimme: »Na, Kinder, habt euch doch nicht! Ihr seid doch jetzt Verwandte – und seit wann nennen die sich so steif . . .«

Der Besuch ließ ihn nicht aussprechen. Die Cousine hielt ihm rasch die Hand vor den Mund, die er auch sofort mit spöttischer Galanterie küßte. Die saloppe, sichere Art stand den beiden gut. »Nur nicht gleich ›du‹! Davon kommen immer Unannehmlichkeiten. Wissen wir beiden Frauen denn schon jetzt, ob wir uns so überaus sympathisch sein werden? Daß Sie es mir sein werden, davon bin ich fest überzeugt, Frau Erna. Ihnen muß, glaube ich, jeder gut sein. Aber ich! Woran es liegt, ist mir schleierhaft – Freunde habe ich die Menge, doch nicht eine einzige Freundin.«

Herr Wehrmann bohrte sich die Schnurrbartspitzen bis in die Augen und schaute mißmutig drein.

»O William, sei du nur ganz ruhig!« fuhr sie lachend fort. »Mit der Verwandtschaft ist es wohl recht weit her? Cousine zwanzigsten Grades! Ich 204 habe mich sogar gewundert, daß du mich gleich ›du‹ zu nennen wagtest – dann fand ich es aber auch wieder ganz forsch.« Sie trat zu ihm und sah ihm mit kühlen, spöttischen Augen ins Gesicht. »Weißt du noch, mein Junge?« Dann wandte sie sich ebenfalls lächelnd zu der jungen Frau: »Ich bin eben so alt wie er – und die Geschichte war nicht gefährlich. Als er nämlich einmal bei uns zu den Sommerferien war, wollte mich dieser Frechdachs in unserm Garten durchaus küssen. Er überfiel mich etwas hinterlistig und kam leicht so weit. Dafür gab ich ihm nachher eine ordentliche Ohrfeige. Und darüber hat der lange Junge geheult wie ein Kind – es war herzbrechend, als wenn die Ehre ganz futsch wäre, so daß mir dummem Dinge nichts andres übrig blieb, als ihn zur Tröstung wirklich zu küssen. War das nicht nett von mir?«

Die junge Frau war leicht errötet und lächelte verlegen.

»Aber es war doch nur eine Kinderei, Frau Wehrmann! Nachträglich weiß ich allerdings doch nicht . . . die Ohrfeige war jedenfalls verdient.« Und als Erna noch immer schwieg, bat der Gatte scheinheilig: »Aber liebe Käthe, jetzt bin ich doch nur noch Gatte, Vater – und diese kleine Unschuld vom Lande glaubt dir den Scherz wirklich.«

»Deswegen sage ich's ja, William! Ehe ich in dieses Familienhaus eintrete, muß ich doch unsre Beziehungen klarlegen – selbstverständlich war's eine Kinderei und nicht der Rede wert. Doch hätte ich's nicht gesagt, so hättest du wahrscheinlich deiner Frau heut nacht die Geschichte von Kissen zu Kissen erzählt – und sicher ganz anders!«

»O, Willy erzählt mir gewiß alles – aber nicht anders als es ist, nicht wahr, Willy?« verteidigte die junge Frau. 205

»Natürlich, liebe Erna, natürlich!« lachte er tief.

Die hohe Blondine zuckte die Achseln.

Sie gingen ins Haus. Cousine Käthe, den Arm liebenswürdig um Frau Ernas schlanke Taille gelegt, flüsterte, die blassen Lippen an dem kleinen Ohr: »Sie sind doch nicht etwa eifersüchtig wegen dieser Thorheit? Aber Sie können es sein! Ich merk's an dem kleinen Ohr, wie das jetzt so siedend heiß wird. Sie sind eine liebe, kleine Frau – und ich bin so viel älter, so viel älter, trotz meiner Jungfräulichkeit! Aber Sie dürfen auch nicht thöricht sein. Eifersüchtige Frauen haben gleich verspielt.«

Erna Wehrmann schüttelte energisch den Kopf. Sie versuchte sogar überlegen zu lächeln. Dennoch hatte sie das dumpfe Gefühl, daß sich hier ein paar Großstädter über eine Kleinstädterin lustig machten.

Der große Willy folgte den Frauen mit einem zufriedenen Siegerlächeln: ›Ja, den Deuwel! was kann ich dafür, daß mich die Weiber alle so gern haben!‹

Die Fremde war so sicher, so überlegen. Sie gefiel Erna eigentlich gar nicht. Ihr Frauenstolz lehnte sich gegen diese lächelnde Bevormundung auf. Und doch war sie sich ganz klar, daß wenn Fräulein Käthe Lofka es beliebt hätte, zweimal zwei in fünf aufzulösen, es eben so sein mußte. Sie sagte stets nur, was war. Und während der Gatte sich verpflichtet fühlte, wegen des kleinen Hauses, der alten Einrichtung etwas wie Entschuldigungen vorzubringen, fühlte die junge Frau den Trotz der Armut in sich erwachen.

»Wir sind sehr einfach, aber vielleicht grade darum sehr glücklich,« erklärte sie mit eigensinnigem Munde.

Der Kaffeetisch wirkte etwas versöhnend. Die Cousine konnte doch nett sein! Sie lobte ehrlich den selbstgebackenen Kuchen, bewunderte das altmodische Porzellan. »O ich habe gar nichts gegen alte Sachen, 206 Frau Erna! Ich liebe sie sogar sehr – und bin stets auf der Suche nach Antiquitäten. Natürlich müssen sie hübsch sein, originell. Ist das Porzellan hier eigentlich hübsch? Ich weiß es nicht . . . ich glaub's auch nicht mal. Jedenfalls ist es sehr selten, denn ich sah das Muster noch nie. Ich möchte Ihnen sogar vorschlagen – natürlich Scherz – mir dieses Service zu verkaufen und einen fabelhaften Preis zu fordern. Für verwöhnte Menschen, zu denen ich leider gehöre, ist nichts prickelnder, als von allen Seiten gefragt zu werden: ›Wo haben Sie das her? Das ist gewiß etwas sehr Seltenes.‹ . . . Ich gebe mich immer wie ich bin, Frau Erna,« schloß sie. Sie lachte dabei und klopfte der Hausfrau die Hand.

Erna war wirklich einen Augenblick in Versuchung gewesen, den Vorschlag ernst zu nehmen. Das alte Porzellan, das bis jetzt niemand besonders wertvoll gefunden hatte, war ihr nichts besonders Heiliges. Aber das Sparkassenbuch des kleinen Willy war gewiß etwas Heiliges! Nachher schämte sie sich dieser Regung und sah die alten Tassen zärtlich an. Der große Willy zwinkerte ihr zu, als ob er sagen wollte: ›Na, was sagst du nun zu unsrer Armut?‹

Darauf wünschte Käthe Lofka auch die andern Zimmer zu sehen. Die Visitation war nicht so gründlich, wie es die junge Frau gewünscht hätte, aber sie war freundlich. Die Cousine schnippte einen Porzellanengel gegen die Stupsnase, daß er torkelte, horchte auf den dünnen Schlag der Stutzuhr und sagte: »Hübsch!« Sie sah mit Wohlwollen die Speisekammer, den Herd. »Mit einem Mädchen allein – das ist alles mögliche, Frau Erna! Keller und Boden heben wir uns wohl bis morgen auf? Ich weiß, daß sie ebenso tadellos sein werden wie alles andre. Ich fühle mich auch etwas geknickt.« Aber sie sah gar nicht geknickt aus. 207

Auf der Rücktour im guten Zimmer zögerte sie, sah interessiert bald auf ein nachgedunkeltes Porträt in Oel, das einen Freiheitskämpfer darstellte – und bald auf Herrn Wehrmann. »Könnte dir ähnlich sein, William. Ganz interessanter Kopf!«

Willys lustige Dunkelaugen leuchteten zwar vor Befriedigung, aber als Gesellschaftsmensch begnügte er sich, gleichmütig zu erklären, daß es in der That sein Urgroßvater sei, ein Offizier von Anno dreizehn. »Wurde an der Katzbach zum Krüppel geschossen. Sonst hätte er es jedenfalls noch sehr weit gebracht.«

»Erzähl mehr von ihm, William! Ich höre so was gern.«

Und Willy erzählte eine sehr hübsche, kleine Geschichte von einem genialen Durchgänger, die nur einen Fehler hatte, daß sie nicht wahr war. Die Cousine sah dabei unverwandt auf ihn mit kalten, grauen Augen.

»Das Erzählen hast du noch nicht verlernt, William! Du bist dir überhaupt sehr gleich geblieben. Früher übertriebst du leicht.«

Willy machte eine Handbewegung nach dem Herzen.

»Na, na!« drohte Käthe liebenswürdig. »Bei den meisten Menschen muß doch alles durch zwei dividiert werden.«

»Erna, nicht wahr, ich habe dir doch oft genug grade von dem . . .?« Er blickte etwas unsicher.

Erna nickte und schwieg. Ihr hatte er in traulichen Stunden eine ganz andre Geschichte erzählt, wonach der geniale Urgroßvater nur ein verbrecherischer Leichtfuß gewesen, den der Lungenschuß noch grade vor einer schimpflichen Kassierung bewahrt hatte. Aber ob ihr auch solch anmutige Seitensprünge von der Wahrheit weh thaten, sie hatte doch den richtigen Instinkt, daß sich nichts zwischen sie drängen dürfe, nicht einmal die Wahrheit, darum hätte sie jede Prahlerei von ihm auch auf dem Schafott beschworen. 208 Käthe schien auch durchaus nicht inquisitorisch aufgelegt. Sie fuhr mit der sehr gepflegten Hand wie liebkosend über das Oel, hielt dann die Finger an die Nase und meinte kopfschüttelnd: »Ich könnte nicht mal sagen, daß es unangenehm riecht. Es ist eben das gewisse, alte Parfüm, das hier alles bei euch durchdringt: Großmutters Spitzenhaube! Es ist gar kein übles Parfüm. Viele würde es sogar entzücken. Gut bürgerlich. Und wer das mag . . .«

»Mögen Sie es nicht?« fragte Erna rasch.

»O warum nicht!« Sie hob die Nase. »Ich weiß nicht recht. Magst du es eigentlich so sehr, William?«

Und während Willy sich verpflichtet fühlte, der Gemütlichkeit, dem Alten ein begeistertes Loblied zu singen, hörte Erna kaum zu. Sie sah feindselig auf die große Dame. Und jetzt faßten auch ihre Nerven zum erstenmal deutlich das Parfüm dieser Frau, den durchdringenden Geruch nach feinstem Juchten – und sie empörten sich sofort. Sie hatte die unklare Empfindung, daß sie über alles bei dieser Frau hinwegkommen könne, nur über dieses Parfüm nicht.

Die Cousine hatte zu dem Loblied zerstreut genickt. »Ihr seid wirklich glückliche Menschen. Hier erkenne ich dich allerdings nicht wieder, William. Es ist geradezu ein Wunder, was deine kleine Frau aus dir gemacht hat. Ich gratuliere von Herzen, Frau Erna.«

Sie wollte noch das Schlafzimmer sehen.

»Aber der Junge schläft.«

»O, dann lassen wir es!«

»Und wenn der Junge auch zehnmal aufwacht!« rief Herr Wehrmann lustig.

»Ich will auch nur einen Blick hineinwerfen und das Kind unter keinen Umständen stören,« sagte Käthe. 209

Die junge Frau öffnete behutsam die Thür. Die Fremde schaute hinein – und lächelte.

»Warum lachst du, Käthe?«

»Weil ich dich hier endlich ganz wiederfinde, William.«

»Wieso?«

»Patschuli – nur viel zu stark.«

»Chambre séparée und so . . . Was?« spöttelte er.

»Du nahmst mir das Wort von der Zunge, William.«

»Na, du bist auch höllisch modern, Käthe!«

»Bin ich auch. Du vielleicht nicht?«

»Höchstens mal gewesen. Jetzt bin ich, wie gesagt, nur Gatte, Vater, Großvater.«

»Das wollen wir auch hoffen, lieber William!« Dann legte sie ihm die Hand kameradschaftlich auf die Schulter und sagte spöttisch: »Kleiner Vokativus! Bist noch genau, was du warst. Patschuli und englische Betten!«

Die Sonne lachte noch immer ins Gemach, von draußen piepsten die Vögel. Das helle, große Zimmer mit seinen bequemen Möbeln, seiner Sauberkeit schien so recht das Zimmer einer glücklichen Ehe. Aber Frau Erna war auf einmal ernst geworden – sie wußte eigentlich nicht warum. Sie sah immer nur die breiten, modernen Betten – sie waren so groß, sie hatten so viel mehr Platz als für zwei.

Die Schlafstubenthür schloß sich wieder. Die Fremde hatte nach dem Kinde nicht mal hingesehen.

Willy Wehrmann zog sich bald darauf zur Arbeit zurück. Die Frauen blieben im Wohnzimmer zurück – Erna mit einer Handarbeit, Käthe mit hübschen, thatenlosen Händen.

»Posiert er?« fragte sie. »Oder ist er wirklich ein solcher Pflichtenmensch?« 210

Erna war ganz rot geworden über den Argwohn. »Willy arbeitet sehr viel für sich – auch an Festtagen. Wir wollen doch vorwärtskommen! Der technische Direktor hat noch neulich gesagt, daß Willy sein bester Ingenieur sei. Ich habe mich so darüber gefreut! Und auch die Leute haben ihn gern. Denken Sie,« fuhr sie vertraulich fort, »er möchte später Abteilungschef bei Krupp oder Stumm werden. Es ist natürlich sehr schwer, dort anzukommen – aber Willy ist so klug und gewandt. Ihm glückt's immer. Dann hätten wir fünfzigtausend Mark und mehr jährlich. Fünfzigtausend Mark! Mir schwindelt bei dem Gedanken. Ich würde, glaube ich, rasend vor Freude. Nicht etwa für mich! Ich bliebe lieber hier. Ich bin nun einmal Kleinstädterin, ich spinne mich leicht ein und gewinne gleich alles lieb. Aber ich freue mich für ihn! Er ist doch der beste Mann! Ja, lachen Sie nur! Was ich auf Erden für ihn wünschen kann, das wünsche ich.«

»Aber liebe Frau Wehrmann, ich lache ja gar nicht! Es fällt mir nicht ein.« Sie sah nachdenklich auf ihre Fingerspitzen. »Wie gut Sie doch sind – viel zu gut!«

»Das kann man gar nicht sein!« opponierte die junge Frau.

»Ein gefährlicher Standpunkt!«

»Ich wüßte nicht warum.«

»Ich sollte es eigentlich auch nicht wissen, Frau Erna, denn ich bin ja nicht verheiratet. Mein Rezept für glückliche Ehen heißt: die Fingerspitzen – nichts mehr! Solange man hübsch und jung ist, muß man sich zollweise verkaufen, auch in der Ehe.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Weil Sie nicht wollen – vielleicht auch, weil Sie nicht können. Sehen Sie mal – ich sehe leidlich aus, ich hätte fünfzigmal heiraten können, und 211 nicht etwa, weil ich reich, sondern weil ich kalt bin. Je höher die Trauben, desto unsinniger springt der Fuchs. Hängt auch die besten tief, und sie werden nur im Vorbeigehen und gar nicht als was Besonderes goutiert. Es ist die alte Geschichte.«

»Sie können einem grauen machen!«

»Das thäte mir leid. Ich möchte Sie nur vor allzugroßer Vertrauensseligkeit im Leben warnen. Was nutzt schließlich angenehm zu träumen, wenn man unbedingt zu einer häßlichen Wirklichkeit erwacht?«

»Gnädiges Fräulein,« sagte Erna steif, aber mit bebenden Nasenflügeln, »das mögen Ihre Erfahrungen sein – ich habe andre.«

»Haben Sie?« fragte die Fremde langsam.

»Allerdings. Und wie ich mein Kind nur mit Liebe und Güte zu erziehen gedenke, ebenso würde ich mich auch schämen, jemals nur den kleinsten Verdacht gegen die Treue oder die Aufrichtigkeit meines Mannes zu haben.«

»Wer verlangt etwas andres von Ihnen? Ich kenne William doch nur als richtigen dummen Jungen. Meine Ansichten betreffen eben alle Männer.« Sie griff freundlich nach der Hand der jungen Frau. »Sie zittern ja! Sie regen sich wirklich unnötig auf. Gerade ich habe nicht das mindeste gegen William. Er ist ein hübscher, kluger Mann, der seine reizende Frau so glücklich macht, wie sie es verdient. Sind Sie nun zufrieden?«

Frau Erna drückte darauf stumm die kühle Hand, die sich in die ihre gelegt hatte. Dennoch war ihr das Weinen näher als das Lachen. Sie war eben immer noch ein großes Kind.

Die Fremde ließ die Erregung vorübergehen. Dann löste sie ruhig ihre Hand. Sie stand auf. »Ja, das hat man von der überflüssigen Offenheit. Ich sagte es Ihnen ja gleich: Frauen mögen mich 212 nie.« Sie ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, während Erna nervös an einem Kinderhäubchen stichelte. Endlich trat sie wieder zu der jungen Frau in ihrem altmodischen Lehnstuhl, und die Hände auf ihre Schultern gelegt, die blassen Lippen am kleinen Ohr, flüsterte sie: »Sind Sie mir noch immer böse? Ich möchte ja so gern mit Ihnen tauschen – so gern und in allem! Wähnen Sie vielleicht, daß wir Menschen glücklicher sind, die überall zerbrochene Töpfe sehen wollen? Wir haben höchstens Sinne, vielleicht heiße Sinne – aber wir haben ganz sicher kein Herz.«

Bei diesen Worten legten sich zwei feine Arme um das volle, weiche Tizianhaar, und Ernas liebe Stimme sagte leise und voll Mitleid: »Sie Arme! Aber versuchen Sie doch wenigstens jemand lieb zu haben aus ganzem Herzen. Es wird schon gehen!«

Die Fremde küßte leicht die reine, eigensinnige Kinderstirn und richtete sich auf. »Ich kann wohl lieben. Doch immer nur auf Augenblicke. Und den Augenblick habe ich oft gekostet. Was nützt's, wenn nur der schale Nachgeschmack zurückbleibt? Wir wollen niemals wieder davon sprechen, Frau Erna!«

Seitdem ruhten die Vertraulichkeiten vollständig. Die Frauen sprachen Gleichgültiges: die Stadt, die Gesellschaft, das Dienstmädchen, das immer noch nicht kam. Später forderte der kleine Tyrann im Nebenzimmer befehlshaberisch die Milchflasche. Erna eilte ins Schlafzimmer zum Soxhletapparat, indes die Fremde müßig zurückblieb. Es war immer wieder eine Wonne für die junge Mutter, wenn der kleine Willy in so unheimlich großen Zügen lutschte. Und er war auch ganz sicher ein Wunderkind, namentlich wie er so altklug auf die Flasche schielte und mit den Beinen schrecklich ungeschickt den Takt zu einer selbstkomponierten Säuglingsmelodie strampelte. Erna 213 konnte sich gar nicht losreißen – und sie wollte auch nicht. Als er endlich befriedigt die Flasche wegschob und mit frohem Lallen nach den spielenden Sonnenlichtern haschte, klang plötzlich aus dem Wohnzimmer lustiges, helles Lachen.

Erna überließ den Tyrann seinem thörichten Spiel und ging zurück. In der Mitte des Zimmers standen die Cousine und ihr Mann, beide schwer atmend, mit blitzenden Augen.

»Sie hat eine Riesenkraft!« rief er.

»Was habt ihr gethan?« rief Erna befremdet.

»Ach, Unsinn haben wir gemacht! Wir waren wirklich ganz kindisch. Ich wollte ihr nämlich das Handgelenk umbiegen im Scherz, und Käthe meinte, ich sollte es nur versuchen! Sie würde sich von mir eher das Handgelenk brechen lassen, als vor einem Manne je den bekannten Kniefall thun . . . Sie hat auch nicht gekniet – aber ich beinahe . . . Wer sollte der weißen Hand die Kraft ansehen!«

Erna blickte etwas verwundert, erst auf den Mann, dann auf die Frau. War ihnen die Kinderzeit wieder so lebendig geworden, daß mit ihr alle alten Thorheiten erwachten? Dieses Ringen war doch wohl nicht ganz passend. Aber dann dachte sie wieder, daß es ja eine Verwandte, daß Willy immer zu Scherzen aufgelegt war, und wie oft er sie selbst so niedergezwungen hatte. Sie knickte dann immer rasch ins Knie. Da war sie gern schwach – denn er küßte die Knieende immer sofort und sagte ihr tausend Zärtlichkeiten ins willige Ohr.

Der Besuch schien andrer Ansicht. Jetzt, wo die Aufregung des Kampfes vorüber, waren die blassen Lippen aufeinander gepreßt, die Augen blickten kalt. Käthe glättete stumm die rotgewordene Haut an den Knöcheln.

»That ich dir so weh?« fragte Herr Wehrmann heuchlerisch. »Ich machte es sehr milde.« 214

»Aber es thut mir weh! Man merkt doch, daß man bei euch auf dem Lande ist.« Sie schien pikiert.

Darauf ging der Cousin zu ihr, streichelte die Hand und machte ein komisch zerknirschtes Gesicht: »Arme, kleine Hand! Ich will's ja auch nie wieder thun« – bis Käthe wider Willen lachen mußte. »Und jetzt noch ein bißchen geklopft – und noch ein bißchen – und zuletzt 'n Kuß – und dann noch einen –«

Die Hand zuckte zwar sofort zurück, aber die Fingerspitzen berührte der Schnurrbart noch gerade. Frau Erna wandte sich weg, sie liebte solche Scherze nicht. Aber Willy lachte amüsiert auf, und die Cousine sagte ganz ruhig: »Sehen Sie, schon die Fingerspitzen genügen, um einen Mann glücklich zu machen!«

»Na, na, Käthe!«

»Na, na, William!« –

Der Rest des Nachmittages sollte mit einem Spaziergang ausgefüllt werden. Herr Wehrmann hatte das angeregt, und seine Frau stimmte begeistert zu. Nur der Gast schien unschlüssig. »Spaziergänge zu dreien? Da sind immer zwei gegen einen. Und wenn wir uns nun zankten! Wir wollen lieber losen. Einer muß das Haus bewachen.«

Das war natürlich Scherz. Die junge Frau nahm es auch durchaus nicht übel. Es erinnerte sie nur zur rechten Zeit, daß sie eigentlich doch sehr weltlich und unbesonnen. Natürlich wollte sie zurückbleiben, sie mußte es sogar. Der kleine Willy war zu hüten, das Abendbrot herzurichten.

Gegen solche hausmütterliche Ketzereien wehrte sich der Besuch entschieden. »Heute kann der große Willy den kleinen warten! Entsagung thut allen Männern gut. Und wenn die ganze Gesellschaftsordnung schon umgekrempelt wäre, gäbe es ja überhaupt keinen Unterschied der Geschlechter mehr . . . Ich 215 werde dich noch an einem Waschfaß sehen, schöner Mann, mit einer Bluse, oder am Herde mit einer Küchenschürze. Heute machst du den Anfang: Mehlsuppe für den Jungen, Rührei für uns. Taugt's nichts, mußt du alles selber essen.«

Willy war sofort bereit, doch Frau Erna wahrte ihre Küchenehre. So entstand ein anmutiger Wettstreit, und der Spaziergang wäre wahrscheinlich nie zu stande gekommen, wenn nicht zu guter Stunde das Dienstmädchen erschienen wäre mit einem Grenadierbruder auf Urlaub im Gefolge – obgleich der blonde Riese der schwarzhaarigen Dirne so unähnlich wie möglich war. Aber er stand stramm, als ihn Herr Wehrmann militärisch anredete, und grinste später vertraulich, als die Speisekammerthür knarrte.

»Eigentlich schade!« sagte Käthe. »Erst hätten wir einen Spaziergang gemacht, und dann hätten wir alle drei gekocht. Sie würden nicht aus dem Lachen herausgekommen sein, so ungeschickt hantiere ich mit dem Kochlöffel – direkt wie eine höhere Tochter aus den ›Fliegenden‹.«

Willy lachte, Erna lachte, Käthe lachte. So gingen sie im besten Einvernehmen. Die Sonne stand schon tief, und die Schatten dehnten sich träge. Aber ein Hauch von jungfräulicher Reinheit, von festtäglicher Stille ging durch die Natur. Er schaute so sanft-freundlich, der junge Frühling! Und eigentlich war es eine reizlose Gegend. Eine unermeßliche Ebene zur Rechten mit schwarzen Brachen, taufeuchten Saaten. Zur Linken Moor. Eine Windmühle auf einem Hügel, vereinzelte Gehöfte mit träge wirbelndem Rauch. Am fernsten Horizont etwas Blaues, weich Umrissenes – das Gebirge. Mittendurch eine schnurgerade Chaussee, ohne Menschen, die Obstbäume zu beiden Seiten in endloser Regelmäßigkeit. Aber über allem wogte ein Duft nach Erde und keimender Kraft. Die drei 216 Spaziergänger atmeten auf, die Brust weitete sich in der reinen, feuchten, jungen Luft. Erst wandelten sie auf der weißen Landstraße, dann wurde ihnen das zu langweilig, und sie bogen an einem kleinen Hause ab. Es war ein Weg zwischen Hecken, mit dem schwarzen Coaks des Walzwerkes bestreut; der Fuß knirschte – ein köstlicher Weg für Liebende, der sich geheimnisvoll schlängelte, versteckte. Auf einmal wichen die Hecken. Der Fluß schimmerte, der Fluß der Ebene. Träge, schwarz, unheimlich wand er sich durchs Moor. Kein Plätschern, kein Rieseln, nur das tückische Blinken. Am Ufer ein paar vermorschte Weiden, trockenes Schilf, in dem der Abendwind zischelte. Hüben und drüben der Sumpf. Dann eine Biegung, als habe das Moor den Fluß verschlungen. Man reckt sich höher, schaut – da zuckt wieder eine dünne Wasserader auf – verschwindet . . . Sumpf, Moor. Und während das Auge den Verschwundenen in der Ferne sucht, blitzt es auf einmal auf, breit, tief, ein See, von dem man nicht begreift, daß er sich verstecken konnte. Dann schleicht der Fluß weiter durch Sumpf und Moor. Auf einer alten Holzbrücke gingen sie herüber. Sie wandelten schweigend und schauten auf die Ebene. Rings helles Wiesengrün, jungfräulich, lockend. Gelbe Blumen beginnen zu sprießen. Wo zwischen den Gräsern Wasser gleißt, ist es, als schwanke der Grund unter dem Frühlingshauch. Dunkle Abzugsgräben ziehen dahin, Kiebitze kreischen.

Willy Wehrmann erzählte von den Schrecken des Moors. Wie es den Ahnungslosen unerbittlich hinabziehe und wie es seine Toten dann so treulich bewahre. Noch nach Jahrhunderten seien die Leichen ganz frisch. Die Frauen schauerten dabei etwas zusammen.

»Erzähl doch nicht so grausige Geschichten!« bat Erna. 217

Die Fremde schwieg. Sie sah von Zeit zu Zeit den Mann aus kalten, grauen Augen forschend an. Als die langen Schatten gespenstisch über den Sumpf krochen, erreichten sie wieder den Fluß. Eine alte Mühle lag da. Der Fluß weitete sich zum Teich, zum trüben Kolk. Das schwarze glitschige Mühlenrad hing tot über dem faulen, tiefen Wasser.

Frau Erna wollte rasch die Brücke passieren. Die letzten Sonnenlichter zuckten über den Kolk, und der Sumpfteich gab das Licht mürrisch zurück. Doch die Fremde beugte sich interessiert über das Holzgeländer und schaute hinab. Wasserpflanzen trieben mit der Strömung, an den Eichenpfählen murmelte es.

»Ist das nun bodenlos tief oder lächerlich flach?« sagte Käthe. »Ich hätte die größte Lust, hineinzuspringen, bloß um das zu ergründen. Es zieht mich . . .«

»Um Gottes willen!« warnte die junge Frau. »Sie würden rettungslos ertrinken.«

»Ich halte schon fest!« rief Wehrmann lachend und wollte die Hand um die schöne Frauenhüfte legen.

»Thu's lieber nicht!« sagte Käthe ruhig. »Ich brauche wirklich keinen männlichen Schutz.«

»Ja, warum willst du denn durchaus da 'rein springen, wenn man fragen darf?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich springe ganz sicher nicht, William. Im April ist das Wasser unangenehm kalt. Vielleicht ist's auch wirklich tief.« Sie schien mit sich selbst zu sprechen. »Solches Wasser hat etwas von uns. Sind wir tief? Sind wir flach? Wer sagt's?! Ich möchte es gerne wissen.«

»Vielleicht nur kalt, teure Cousine,« spöttelte Wehrmann.

Sie drehte sich langsam nach ihm um und sah ihn an. »Vielleicht nur kalt,« wiederholte sie. 218 »Damit macht man sich selbst unglücklich und andre nicht glücklich.«

Dann gingen sie rasch nach Haus. Ueber dem Moor begannen sich die weißen Nebel zu ballen. Sie wallten, woben. Wo sie zerrissen, starrte der schwarze Fluß.

»So mag ich den Fluß gar nicht!« erklärte Frau Erna. »Er sagt mir nichts Gutes, er macht mich nur frösteln. Er ist ein häßlicher, tückischer Sumpffluß. Im Sommer merkt man das weniger. Da ist das Wasser so warm, es lächelt sogar – und da hab' ich ihn gern.«

»Ich werde im Sommer mal wiederkommen, Frau Wehrmann, der Fluß reizt mich.«

Als sie zu Hause ankamen, war es bereits Nacht. –

Am nächsten Nachmittag reiste der Besuch. Käthe Lofka hatte bis tief in den Tag hinein geschlafen. »Man wird dick und häßlich davon,« sagte sie selbst, »aber ich kann es mir nun einmal nicht abgewöhnen.«

Das Ehepaar brachte sie nach der Bahn und versprach baldigen Besuch in der großen Stadt.

*

Nachher machten sie einen großen Spaziergang um die Stadt. Herr Wehrmann war sehr angeregt durch den Besuch.

»Nicht wahr, Erna, sie ist doch höllisch chic und nie um eine Antwort verlegen? Wenn ich nur wüßte, warum sie noch nicht geheiratet hat! Sie ist nämlich wirklich reich und lebt ganz allein mit einer Gesellschafterin in einer reizenden Häuslichkeit. Ich habe mich erkundigt. Man könnte sie Pfingsten besuchen. Es sind nur ein paar Stunden mit dem Schnellzug. Was meinst du?«

»Aufrichtig gesagt, Willy, ich möchte nicht.«

»Sie ist dir zu modern und zu ironisch?« 219

»Auch das. Ich will ihr übrigens nichts Schlimmes nachsagen. Für mich aber hat sie vor allem etwas Eisiges. In ihrer Nähe würde ich mitten im Sommer das Gefühl haben, es könne jeden Augenblick reifen. Und sie ist gefährlich. Glaub's mir! Sie zerpflückt alle Gefühle – und was bleibt da noch? Sei mir nicht böse, Willy! Wenn sie uns wieder besuchen will – gern. Aber wir wollen nicht zu ihr. Ich mache mir aus Luxus nichts, ich bin gern arm – und sie ist gewiß so luxuriös eingerichtet. Und am Ende beneidete ich sie dann doch! Was ich aber an ihr physisch nicht lange ertragen kann, das ist dies Juchtenparfüm. Du kennst meine Empfindlichkeit gegen Gerüche. Ich habe mich selbst an deine Patschuliseife nur schwer gewöhnen können. Und nicht wahr, du reist auch nicht allein hin?« Sie zögerte, wurde rot. Darauf sagte sie rasch: »Sie verdirbt dich! Sie wollte mich auch verderben, obgleich sie's vielleicht nur gut meinte.«

»Was hat sie gesagt, Erna?«

»O, nichts, Willy, nichts! Von dir jedenfalls nur Gutes. Aber sie hat so ganz andre Ansichten von der Ehe, vom Leben.«

»Sie kennt die Welt.«

»Aber ich will diese Welt gar nicht kennen!« antwortete sie heftig. »Denn diese Frau ist kalt und eitel und hat nie einen Menschen geliebt.«

Es war ein etwas schlüpfriger Weg, und sie gingen dicht bei einander. Herr Wehrmann lächelte pfiffig und beugte sich zu seiner jungen Frau.

»Aha! Da hätten wir ja etwa Nagelneues entdeckt. Eifersucht! – Schämen Sie sich, gnädige Frau!«

Sie zuckte nur leicht die Achseln. »Ich war nie eifersüchtig. Das ist ja die Hölle auf Erden. Und wir sind doch so glücklich miteinander. Und sieh mal, 220 Willy, wenn du mich wirklich mal hintergingst und ich merkte es – sagen würde ich dir's nicht können, aber ich würde daran kranken, mehr wie jede andre, eben weil ich dich mehr geliebt habe. Und nicht wahr,« sagte sie weich, »du könntest mich auch gar niemals hintergehen?«

»Schatzchen, am hellen Tage Gespenster! Wie sollte ich eigentlich darauf kommen, meine hübsche, liebe Frau je betrügen zu wollen?« Er streichelte ihr dabei zärtlich die rosigen Wangen und zog die kleine, schwache Hand an sein Herz.

Sie dankte ihm mit fieberndem Druck.

Dann gingen sie eine ganze Weile schweigend, nachdenklich.

»Du hast übrigens recht,« hub er endlich an, »aus dem Mädel ist nicht klug zu werden. Ist sie heiß – ist sie kalt? Ich weiß auch nicht. Aber ich kann mir ganz gut vorstellen, daß sie mit ihrer Art einen Mann ganz rasend machen kann. Man will dahinter kommen – man will sie haben – koste es, was es wolle.«

»Sprich doch nicht so, Willy!«

»Ach, Erna, mir ist doch ganz gleichgültig, was dahinter steckt! Ich versetze mich nur in die Seele eines andern. Und was die sogenannte Kälte anbetrifft, da möchte ich doch nicht darauf schwören. Denn die Geschichte mit dem Kuß war in Wirklichkeit ganz anders. Ich erinnere mich noch so genau! Es war an einem ganz heißen Nachmittage im Garten, in den Himbeeren – und ich der richtige Bengel! Wir futterten auch ganz einträchtig. Nur sie sah mich manchmal mit den grauen, kalten Augen so eigentümlich an und lächelte – und sah wieder weg. Deuwel auch! Ich war immer ein bißchen scharf auf die Weiber. Ich denke, was will sie eigentlich? Und dann – sie mußte sich wohl an einem 221 Himbeerstachel geritzt haben – schiebt sie ganz langsam den Batistärmel in die Höhe bis über den Ellbogen. Uebrigens ein schöner, voller Arm! Ob sie ihn jetzt noch hat? Man sollte wenigstens annehmen . . . Da war denn auch wirklich ein kleiner Riß und ein winziger Blutstropfen. Ich bedauerte sie natürlich. Und da lächelte sie wieder so eigentümlich, zur Abwechslung mit niedergeschlagenen Augen. Und da hab' ich sie selbstverständlich abgeküßt! Ein schöner Arm – ein sehr schöner Arm! Ich sehe ihn noch jetzt. Und eine Art, wie sie den Aermel hochstreifte, die einen ganz verrückt macht! Nachher hat sie sich gethan und sich die Lippen abgewischt, als wenn Gift drangekommen wäre. So albern! Dann hätte sie doch nicht fünf Minuten still halten sollen! Mit der Ohrfeige, das muß ein andermal gewesen sein, jedenfalls bin ich nie wieder zu den Ferien eingeladen worden.«

»Warum erzählst du mir das eigentlich, Willy? Es war von euch beiden nicht hübsch.«

»Kinderei!« lachte er. »Und leidenschaftlich ist sie noch heute. Es gehört eben der rechte Kerl dazu.«

»Sie wird immer wissen, was sie thut.«

»Käme auf den Versuch an. Soll ich's mal versuchen und sie so verliebt machen, daß sie aus der Hand frißt?«

Erna löste ihren Arm aus dem seinen und ging auf die andre Seite des Weges.

»Was hast du, Kind?«

»Ich mag dich so gar nicht! Da bist du wie sie – sinnlich und doch kalt! Du könntest am Ende wirklich . . .«

Herr Wehrmann lachte hell auf. »Du fällst wahrhaftig darauf rein! Ich denke auch nicht im Traum daran.« Er wollte wieder ihren Arm fassen, doch sie wich geschickt aus. Auf ihrer Stirn lag eine eigensinnige Falte. Darauf pfiff Willy gekränkt 222 Soldatenlieder. Aber als sie vor der Stadt wieder auf ihre Landstraße einbogen, kam sie selbst herüber und bot ihm den Arm. An einem Baum saß ein blinder Leiermann und ächzte gewerbsmäßig; um ihn eine Schar neugieriger Kinder. Willy griff sofort in die Tasche und schnippte ein Fünfzigpfennigstück geschickt in den schmutzigen Hut. »Soll sich auch mal einen vergnügten Abend machen, der arme Kerl!«

»Du bist so gut, Willy,« sagte sie reuig und sah zu ihm auf, gerade weil sie die Gabe unverhältnismäßig hoch fand.

»Und so ein lächerlich gutmütiges Luder möchtest du nun durchaus zum Mephisto stempeln – du kleine, eifersüchtige Erna!«

Da schmiegte sie sich an ihn und gab ihm einen Kuß. Der Schatten war verflogen. Die Frühlingssonne strahlte ja auch noch so hell! Und Erna Wehrmann war es jetzt, als wenn sie dem Mann etwas abzubitten habe – und auch der Frau.

*

Zu Hause ging Herr Wehrmann sofort an die Arbeit. Er habe die Festtage doch zu stark gebummelt und müsse viel nachholen. »So ein Besuch bringt einen doch immer gleich aus dem alten Geleise!«

Die junge Frau wunderte sich ein wenig. Sonst war das gar nicht seine Art. Er war ein so pünktlicher, gewissenhafter Arbeiter, aus Ehrgeiz, aus Trieb. Die Arbeit häufte sich bei ihm nie. Erna hatte sich eigentlich auf einen gemütlichen Abend gefreut. Doch es war auch so gut. Er schleppte die Reißbretter ins Wohnzimmer und breitete die Zeichnungen auf dem alten Mahagonitische aus. Da saß er emsig bis in die Nacht. Sie hatte keine Ahnung von Technik, und beim Gedanken an Maschinen drehte sich schon alles in ihr, aber sie saß doch gehorsam dabei und hatte der Form halber ein aufgeschlagenes Buch vor sich. 223 Die Lektüre gedieh nie über die ersten Seiten. Denn die junge Frau schielte immer verstohlen nach den hübschen, kräftigen Männerhänden, die gar geschickt mit Zirkel und Lineal hantierten, und nach der klugen, schmalen Stirn, die sich bald nervös krauste, bald befriedigt glättete. Wenn er zuweilen aufsah, begegneten sich immer ihre Augen. Sie lächelte, und er nickte. Es war ihm dann, als arbeite sie mit. Als er endlich fertig war, überkam ihn die alte Lustigkeit. Er faßte seine Frau um die Taille und drehte sie ein paarmal im Kreise nach dem Daisywalzer, den er wie ein Virtuos pfiff.

»Wir werden doch noch mal Geheimer Kommerzienrat!« rief er. »Nun muß ich noch rasch ins Walzwerk – höchstens eine halbe Stunde – und du kommst mir entgegen. Nicht wahr?«

Es war bereits halb elf. Die Frühaufsteherin fühlte sich todmüde. Aber sie hätte es für den elendesten Egoismus gehalten, ihm das zu gestehen oder ihn gar daran zu erinnern, daß der Medizinalrat Nachtspaziergänge seiner zarten Patientin direkt verboten hatte. Als er gegangen war, räumte sie noch rasch den Tisch auf, weckte das Dienstmädchen, das, von der Bruderliebe bedenklich mitgenommen, über den Küchentisch gebeugt, ganze Arien schnarchte. Der kleine Willy, der in seinem Wagen eingeschlafen war, wurde ins Wohnzimmer gerollt. Die junge Mutter küßte noch zärtlich die rosige Kinderhand, die aus den Kissen herausbaumelte. Dann machte sie sich auf den Weg.

Es war eine köstliche Frühlingsnacht – hell und still. Auf den jungen Trieben glänzte der Tau; der schmale Feldweg war schlüpfrig, feucht. Aber es ging ein Raunen durch die Nacht, der geheimnisvolle Atemzug der erwachenden, keimenden Erde. Ganz fern, verschwommen, das Hämmern und Pochen des 224 Hüttenwerkes. Ganze Feuergarben lohten gen Himmel und sanken knisternd nieder. Drüben lag die Arbeiterkolonie, die niedrigen, regelmäßigen Häuser im dürftigen Garten. An einem Pfosten lehnte eine dunkle, unförmliche Masse, eine Zigarre glimmte. Erna hatte schon Angst, vorüberzugehen. Als sie näher kam, ein leises Kreischen, ein dumpfer Fluch – es waren zwei gewesen. Das Mädchen huschte ins Haus, der Schlüssel drehte sich behutsam.

An der nächsten Wegbiegung kam Willy. Er küßte sie sofort. Er brachte gute Nachricht. Der Direktor hätte ihm eben gesagt, daß er beim Aufsichtsrat ruhig um eine Gehaltserhöhung einkommen könnte, das Gesuch würde sehr warm befürwortet werden. Und Willy, ganz glücklich, baute gleich seine Luftschlösser. »Das ist nämlich der Vorzug der Technik, daß wir durch und durch modern sind. Daß es bei uns nach der Befähigung geht, nicht nach dem Alter. Bin ich noch drei Jahre hier, habe ich die Kerle alle in der Tasche. Und grüßen soll ich dich von dem alten Despoten auch. Du wärst die charmanteste kleine Frau, die ihm je vorgekommen. Im Grunde seines Herzens fürchtet der gute Mann nämlich, daß ich ihn eines Tages aus dem Sattel heben könnte. Ach, Ernachen, liebes Ernachen – wenn wir erst die Fünfzigtausend jährlich haben und die eigne Villa und die Equipage, dann tauschen wir nicht mit dem lieben Gott!«

Sie fand das zwar etwas lästerlich, aber sie erhitzte sich doch auch mit an den Phantasien. Sie sah sich in einer Spitzenrobe, den großen Willy mit diversen Orden auf seiner Pionieruniform, und der kleine Willy mit nagelneuen Stulpstiefeln und einer nie geflickten Sammethose lief durch ein Prunkgemach. Es waren hoffärtige Gedanken, und sie dachte sie doch nur ihm zuliebe! 225

So ward ihnen der Rückweg erstaunlich kurz. Aus dem kleinen Hause grüßte traulicher Lampenschein. Es lag fast poetisch in der weichen, kühlen Frühlingsnacht. Und als sie in das Wohnzimmer traten, in das gemütliche Heim mit den alten Möbeln, dem Kinderwagen, dem Heimatsduft, da umarmte sie den großen Willy gerührt und sagte liebevoll: »Wir wollen nicht mehr vom Reichtum sprechen – nie mehr! Eigentlich können doch nur arme Menschen wirklich glücklich sein.«

Und er, gefangen von dem Zauber des kleinen Heims, des stillen Familienglückes, antwortete weich: »Ja, wir wollen wirklich nicht mehr! Du allein hast das richtige Gefühl. Wenn einem das doch nie verloren ginge!«



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