Johannes Richard zur Megede
Die Tugendgans
Johannes Richard zur Megede

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Pfingsten

Pfingstsonnabend.

Das Fest sehr spät im Jahr. Der volle Blütensommer war schon eingezogen. Warme, weiche Lüfte fächelten die grüne Ebene. Frau Erna saß im Garten. Ein kleiner Garten, der sich um das ganze Haus zog. Schmale Gemüsebeete mit Mohrrüben, Schnittlauch – die weiße, keck wuchernde Schmetterlingsblüte der Schoten und Bohnen, die sich an den dünnen Stangen noch nicht recht ranken wollten. Im Goldregenbusch ein alter Kirschbaum. Die Spatzen saßen begehrlich auf den Zaunspitzen und piepsten frech und aufgeplustert nach der Höhe, wo die grünen Früchte sich verheißungsvoll rundeten. Auch ein Rotkehlchen sang. Es mußte wohl sein Nest in der Nähe haben. Aber die junge Frau wollte den Familienfrieden nicht gern stören und beschwor auch den kleinen Willy, ja nicht nach der jungen Brut zu fahnden. Am Hause kletterten 226 weiße und blaue Winden empor, und auf der Blumenrabatte in der Gartenmitte duftete der Goldlack. Erna liebte den Garten sehr – er erinnerte sie an die eigne Kindheit, die Heimat. Sie pflegte ihn wie etwas Lebendiges. Herr Wehrmann selbst hatte im Frühling die Beete umgegraben, sehr vergnügt und unter scherzhaften Ausfällen gegen seine sparsame Hausfrau, obgleich er bei der ungewohnten Arbeit redlich schwitzte. Auch jetzt pflegte er zuweilen Wasser in einer alten Gießkanne nach Feierabend eifrig zu schleppen, und sie freuten sich dann beide, wie die Pflanzen unter dem erfrischenden Rieseln aufatmeten und wie die Blumen dankbar flüsterten. Der große Willy hatte nur für einen Ziergarten plaidiert, doch der hausmütterliche Sinn seiner jungen Gattin lehnte sich gegen den Luxus auf. Zu dreiviertel gehört der Garten der Küche! Sie liebte es auch nicht, wenn er die Blumen rücksichtslos zu Sonntagsbouquets niedersäbelte, ihr erschien's natürlicher, wenn von den stets geöffneten Fenstern der feine Duft der lebenden Pflanzen die ganze Wohnung durchströmte.

Es war alles so gekommen, wie sich's ihre Mädchenphantasie gemalt. Der kleine Willy, der schon herzhaft plapperte, und die Beine schwankend und possierlich setzte, spielte neben ihr auf einem Kieshaufen. Auf dem Gartentisch stand das Abendbrot – frugal, aber sehr appetitlich. Die frischen Eier mit der Serviette bedeckt, der Aufschnitt lecker hergerichtet. Auf der Landstraße gingen Städter spazieren, guckten neugierig über das Staket, Bauernwagen ratterten, ein Bengel pfiff. Es war fast halb acht. Der große Willy hätte eigentlich schon zu Hause sein müssen, und der kleine Willy gab nicht mißzuverstehende Anzeichen von Uebermüdung und Ungezogenheit. Die Mutter streichelte ihn mit der einen Hand und fühlte mit der andern unter die Serviette nach den Eiern 227 im Salz. Die waren noch ganz heiß. Darauf lehnte sie sich in Feierabendstimmung träumerisch in den Gartenstuhl zurück.

War sie glücklich? Ohne nachzudenken antwortete sie sofort hastig: ›ja!‹ Die Sonne blinzelte durchs Gesträuch und zeichnete wunderliche Schatten. Der Abendwind machte sich auf, die Winden nickten. Es war alles so schön und friedlich – und morgen Feiertag. Wer sollte da nicht frohgemut sein? Aber die hellen Augen der jungen Frau sahen schärfer als der weich eigensinnige Mund wahr haben wollte. Seit den fünfviertel Jahren, die nach dem Besuch der Cousine verflossen, hatte sich doch manches geändert. Erna dachte kaum mehr an die hübsche blonde, vornehme Dame. Sie hatte ja auch nichts mehr von ihr gehört. Im Anfang hatte sie Willy wohl noch erwähnt, spöttelnd und doch bewundernd. Darauf war er plötzlich ganz verstummt. Als einmal später wie zufällig der Name Käthe fiel, sah er erst nachdenklich auf seine Fingerspitzen, dann zuckte ein rascher, mißtrauischer Blick zur Frau. Er schwieg und blieb den ganzen Abend einsilbig. Herr Wehrmann war übrigens noch immer lustig, liebenswürdig, die kleinen Zärtlichkeiten einer glücklichen Ehe fehlten nicht. Aber er war doch ungleich in seinem Wesen, bald heißer, bald kühler. Etwas Unruhiges, Hastendes war über ihn gekommen. Lag das an dem aufreibenden Beruf, an der wachsenden Sorge für die Familie? Oder war in sein Leben etwas Neues getreten, und schwankte er unsicher zwischen zwei Polen, bald von diesem angezogen, bald von jenem abgestoßen? Er schien sich dieser Veränderung wohl bewußt. Er erklärte sie auch. Die kleine Stadt sei ihm gründlich über, er sehne sich hinaus in die große Welt. Und dann gab's ein schweres Geheimnis, das er der Frau natürlich gebeichtet hatte und das sie angstvoll bewahrte. 228 Irgend in einem großen Werk war eine Stelle frei. Er bewarb sich darum, machte geheimnisvolle Reisen. Erfuhr man von seinen Absichten hier, setzte man ihn natürlich an die Luft. Willy Wehrmann hatte sich auch nur widerwillig zu einer Aufklärung herbeigelassen nach einer großen, plötzlichen Reise, über die sie in schwere Angst geriet wegen der Heimlichthuerei und des tiefen Griffs in die gemeinsame Kasse.

»Na, weißt du's nun?« sagte er fast ärgerlich am Ende einer ziemlich mysteriösen Erzählung. »Aber nie einem Menschen ein Wort davon! Keine Andeutung, um Gottes willen!« Als wenn die Bewerbung um eine bessere Stelle Hochverrat gewesen wäre!

Erna begriff auch willig. Sie hatte wohl Angst wegen dieses Geheimnisses, aber sie fand den großen Willy doch auch wieder so väterlich, fast anbetenswert. Trotzdem litt sie unter der Unsicherheit, dem ewigen Hinundher. Monate waren darüber vergangen. Er verreiste fast jeden Sonnabend und kam abgespannt, nervös erst am Montag früh zurück. Der Aufsichtsrat dort zögerte noch immer, hatte einen andern provisorisch mit den Funktionen betraut. O, diese großen Herren schacherten so kleinlich! Aber Herr Wehrmann war nun einmal für kein Butterbrot zu haben. »Entweder sehr viel oder gar nichts! Und wenn's ein Jahr dauert . . . dann bleib' ich eben hier!« Und ihn selbst regte die Angelegenheit schließlich furchtbar auf. Morgens, mittags, abends erwartete er fast fiebernd den Briefboten. Bittere Enttäuschung, einmal auch trunkene Freude malten sich dann so deutlich in dem hübschen Gesicht, das Verstellung noch nicht gelernt hatte. Und die sehnlichst erwarteten Briefe kamen so selten. Den einen überbrachte ihm Erna herzklopfend selbst. Er sah gar nicht aus wie ein Geschäftsbrief, weit eher schien er von einer männlich sicheren 229 Frauenhand. Der große Willy schloß sich gerade mit diesem Brief sofort ein, behauptete, nichts verraten zu können. Sie wunderte sich darüber. Sonst hatte er doch wie selbstverständlich erlaubt, daß sie alle Briefe öffnen könne, da er keine Geheimnisse habe – wie er ja auch seine Korrespondenz mit den Verwandten ihr allein überließ. Und jetzt hatte er fast bei Todesstrafe verboten, selbst den gleichgültigsten zu öffnen. Mißtrauisch ward sie darum nicht, ihr that es nur weh, daß er ihr, die so gut schweigen konnte, so wenig vertraute.

Aber das waren ja alles nur Wölkchen. Jede Ehe hat sie. Man muß nur sorgen, daß sie mit den Jahren nicht zu Wolken werden. Hier war noch keine Gefahr. Die Sonne des Glücks schien so warm, nur daß ihre Strahlen manchmal brannten.

Heute verspätete sich der große Willy außergewöhnlich. Er kam in demselben Augenblicke, als sie in die Küche gehen wollte, resigniert, neue Eier zu kochen.

»Kein Brief da?« fragte er hastig. Dann küßte er sie. Er trug heute einen neuen, eleganten Sommeranzug, der ihm gut stand.

Sie sah ihn etwas befremdet an.

»Ach so!« meinte er. »Ich war noch mal beim Schneider. Der Kerl muß auch tausendmal anprobieren, ehe es leidlich sitzt. Du wunderst dich wohl über den Luxus? Man kann doch nicht ewig in der fünften Garnitur rumlaufen!«

»Aber du bist doch immer sehr anständig angezogen, Willy. Ich wäre auch die letzte . . . Und wenn ich etwas sage – du weißt doch, warum« . . .

Er hielt die Hände an die Ohren. »Um Gottes willen! Auch das noch . . . natürlich! Als ob ich ein Verschwender wäre! Und wegen lumpiger siebzig Mark! Anstatt dich zu freuen, daß man zum Fest 230 mal ein chices Kleidungsstück hat, giebt's Vorwürfe, gekränkte Gesichter. Ich arbeite doch wahrhaftig genug! Und wenn einem alles abdisputiert wird . . .«

»Aber ich freue mich ja auch, Willy,« begütigte sie.

»Das sieht mir viel eher nach dem Gegenteil aus! Ich habe auch mit Absicht nicht den Stoff von dir aussuchen lassen. Du hättest selbstverständlich nur so was Urpraktisches genommen, das zweimal gewendet werden kann und dann noch sieben Jahre hält . . . Hellgrauer Anzug? Jawohl! Das fleckt leicht und wandert vierzehn Tage eher in die Papiermühle!«

»Morgen ist Pfingsten, Willy!«

»Und das ist die Vorfreude dazu!«

Der kleine Willy, der nur mit einer leichten väterlichen Liebkosung bedacht worden war, rächte sich jetzt, indem er heimtückisch an dem Tischtuch riß. Ein Eierbecher kippte in den Sand. Da lachte das Kind. Der Vater gab ihm sofort einen scharfen Schlag. Der kleine Tyrann heulte empört auf.

»Warum ist der Bengel eigentlich noch nicht zu Bett?«

»Ich werde ihn gleich bringen,« antwortete sie ruhig und wollte aufstehen.

Aber diese sanfte Ruhe reizte des Mannes Nerven erst recht. »Thu mir den einzigen Gefallen und gewöhne dir diese Taubenart ab! Dies ewige, sanfte ›Ja!‹ Das macht einen ganz wild! Widersprich doch mal! Trumpf auf! Behandle mich auch meinetwegen schlecht! Ich bin nun einmal ein Mensch, der Anregung bedarf. Das Einerlei, auch das beste, tötet mich! Eine Frau, die für mich paßt, die muß fünfe gerade sein lassen. Ich bin kein Heiliger, und ich will auch keine Heilige!« In seinen dunkeln Augen ackerte es böse.

Sie sah ihn starr an. Es war der erste brutale Ausbruch derart. Sie mußte die Theetasse, die sie 231 hielt, hinsetzen, so sehr zitterten ihr die Hände. Und sie sagte mit zuckender Lippe: »Willy, Willy, wenn ich das gewußt hätte, ich hätte dich wahrhaftig nicht geheiratet!« Sie stand auf, bebend. aber mit trockenen Augen, und ging.

Er sah ihr betroffen nach. Sie ging rasch, schwankend. Als sie in der Thür verschwunden war, erinnerte er sich an sein besseres Selbst und eilte ihr nach. Im Schlafzimmer erreichte er sie. Die dicken Thränen rannen ihr langsam und schwer über das blasse Gesicht.

Er umarmte sie zärtlich. Sie stieß ihn zurück.

»Aber Schatzchen, sei doch nicht so!« bat er. »Ich mein's doch nicht schlimm! Ich bin dir doch gut – und wenn man sich lieb hat . . .^

»Du hast mich nicht mehr lieb!«

»Aber ich habe dich ganz gewiß lieb! Und ich bin auch schlecht. Das durfte nie vorkommen. Ach, wenn du wüßtest! Ich bin gar nicht der, der ich bin, ich bin viel schlechter. Ich bin ein gewissenloser Mensch und leichtsinnig bis zum Verbrechen. Ich verdiene eine so engelsgute Frau gar nicht.«

Er war reuig, zerknirscht; er vergaß völlig, daß jede andre als diese liebe Thörin aus seinen wirren Anklagen sehr merkwürdige Schlüsse gezogen hätte.

Diesmal ließ sich die sanfte Erna sehr lange bitten. Ihr thränenüberströmtes Gesicht an das seine pressend, sagte sie endlich: »Ach, wenn ich dich nur nicht so lieb hätte, Willy! Ich weiß nicht . . . aber sag, bin ich dir auch genug? Ich habe heute zum erstenmal direkt das Gefühl, daß ich es dir einmal nicht sein könnte. Aber dann will ich lieber sterben, viel lieber.«

»Du bist mir genug, Erna,« tröstete er. »Du bist die einzige, die beste! Du bist mein guter Engel. Aber weißt du, du mußt mich schärfer anfassen, nicht 232 bloß alles gut finden, was ich thue. Du darfst mich auch nicht mehr verreisen lassen – diese Geschichte macht mich noch verrückt. Also hörst du? Du darfst nicht mehr!« Er sprach die letzten Worte gepreßt, undeutlich, er flüsterte fast.

Und sie streichelte dafür dem großen, leichtsinnigen Jungen das Gesicht. »Warum sollte ich dich eigentlich nicht reisen lassen? Wenn's auch viel kostet, du thust es ja doch nur für uns – für mich und das Kind.«

Da wandte sich der große Willy jäh von ihr. Seine Wangen glühten dunkelrot. Vor Scham? Er sah unsicher zur Seite und antwortete nicht.

Nachher wurde der verlassene kleine Willy aus dem Garten geholt und nachträglich noch für seine Unart mit Kringeln belohnt.

Die junge Frau war von der Scene sehr mitgenommen. Nachdem die Erregung vorüber, saß sie apathisch im Lehnstuhl.

»Was habe ich nun mit meiner Nervosität angerichtet? Ich glaube wahrhaftig, daß ich an Wahnsinnsanfällen leide.«

»Sag doch nicht so was Häßliches! Ich hab's ja längst vergessen, Willy.« Sie lächelte müde. »Ich bin nun einmal so schwach, daß mich jede Gemütserregung angreift.«

Er kniete vor ihr und küßte ihre Hände. »Du bist mir gut, Erna! Und gerade deine Schwäche habe ich so lieb. Wenn du nur immer bei mir wärst!«

Sie streichelte ihm den Kopf wie einem reuigen, geliebten Kinde. Als wenn von diesen lieben Händen magnetische Strahlen ausgingen, die den Sünder beruhigten, seinen Geist freimachten!

Dann stand er plötzlich auf, eilte hinaus und kam nach einer langen Weile wieder, strahlend, eine 233 verstaubte Weinflasche in der Hand. »Die letzte!« rief er lustig. »Du hattest sie gut versteckt, aber ich habe sie doch gefunden. Sie muß unbedingt dran glauben. Damit werden wir dich schon wieder hoch kriegen, Schatz!«

Sie richtete sich auf: »Aber für mich nur einen Schluck, Willy! Ich vertrage doch keinen Wein. Ich werde aus deinem Glase mittrinken!«

»Aber selbstverständlich! Und dann schmeckt dieser saure Brauneberger sicher wie Nektar. Weißt du noch, wie ich als Bräutigam so manches Mal unsre Gläser vertauschte? Es war natürlich der reine Zufall! Aber ich hatte mir sehr genau die Stelle gemerkt, die kurz vorher zwei reizende Lippen berührt hatten.«

»Ich weiß, ich weiß!« antwortete sie, in glückliche Erinnerungen verloren.

»Und Versöhnungen müssen unter allen Umständen gefeiert werden!« sagte er, während er mit Kennermiene den Korkzieher ansetzte. Der Pfropfen glitschte. Willy füllte vorsichtig das Glas. Darauf hob er die leichte Gestalt auf starken Armen aus dem Lehnstuhl, setzte sich selber hinein und nahm sie zu sich auf den Schoß. Dabei küßte er sie und sagte ihr viel Liebes. Es war wie in den ersten Tagen ihrer Ehe. Die Dämmerung schlich ins Zimmer, die alten Möbel blinkten traulich. Nachdem der große Willy das letzte Glas eingeschenkt hatte, überkamen ihn wieder graue Stimmungen. »Ja, Erna, das ist eben die kleine Stadt, wo man notwendigerweise auf schlechte Gedanken kommen muß. Und das verfluchte Walzwerk! Immer in dem ekelhaften Rauch zwischen den schmutzigen Blusen. Und der scheußliche Geruch und der Schweiß! Das muß einem ja auf die Nerven gehen. Ein Verschwender bin ich auch. Aber so wahr ich Willy Wehrmann heiße, ich schwöre dir hiermit, daß ich nie mehr, nie mehr . . .« 234

Erna hielt ihm den Mund zu. »Sprich nicht zu Ende! Warum gleich alles verschwören?! Ich werde schon auskommen. Und wegen des hellen Anzuges, der eigentlich an allem schuld ist? Denkst du vielleicht, ich sehe es nicht auch gern, wenn mein Mann sich hübsch und elegant anzieht? Es steht dir so gut! Und uns Frauen schmeichelt's ganz gewiß. Wenn ich dir gleichgültig wäre, würdest du dich gewiß auch im Anzug vernachlässigen.«

Darauf begann der große Willy nervös etwas zu erzählen, schwieg aber plötzlich und trank das letzte Glas auf einen Zug hinunter.

Das Mädchen kam und fragte, ob sie die Lampe bringen solle.

Wehrmann sah seine Frau fragend an, die aber rief sofort: »Ja, ja, Dorette, bring nur Licht!«

Die Lampe kam. Die beiden standen auf und blinzelten sich in der ungewohnten Helle an wie zwei Erwachende. »Ich wollte dir noch etwas zeigen, Willy,« sagte sie geheimnisvoll und ging zu dem Bureau, dessen ausgediente Klappfeder nur noch stöhnend funktionierte. Sie setzte eine Attrappe auf den Tisch, eine Schachtel mit einem lächerlichen Männerkopf in Relief und der Unterschrift: Doktor Meyers Wundersalbe.

»Was ist drin?« fragte sie.

»Irgend ein Unsinn.«

»Das nennst du Unsinn?« rief sie lachend und schüttete den ganzen Inhalt der Schachtel auf die Tischdecke. Thaler rollten dumpf, Pfennige klimperten, Groschen, über einem hochmütigen Tresorschein kreisten zwei blanke Goldstücke.

»Bist du eingebrochen oder hast du geerbt?« fragte er zwinkernd.

»Vom Wirtschaftsgeld und der Schneiderin hab' ich's abgespart. Eigentlich ist es für unsern Jungen – und du solltest nichts von dem Reichtum wissen. 235 Hundertachtundfünfzig Mark dreiundsiebzig Pfennige! Ich zähl's jeden Tag zweimal durch. Nun, bin ich ein schlechter Finanzier?«

»Hm.« Herr Wehrmann verdrehte die Augen listig, holte das Portemonnaie umständlich aus der Tasche, wog es in der Hand, als sei es furchtbar schwer. Dann öffnete er es rasch über dem Tisch und schüttelte es. Es war leer. Nur ein vergessener Pfennig fiel nachträglich heraus. »Leer gebrannt ist die Stätte,« sagte er feierlich.

Da umschlang sie ihn mit leuchtenden Augen. »Du armer Willy! Da würde ich auch schlechte Laune bekommen.« Sie schob das Geld zusammen: »Nimm alles! Nur den Pfennig von dir laß mir. Es ist sicher ein Heckpfennig.«

Der große Willy schüttelte den Kopf.

»Aber so nimm doch!« bettelte sie. »Es gehört dir doch. Du hast es doch mit deiner Hände Arbeit allein verdient. Bis der Junge groß ist, kriege ich noch das Zehnfache spielend zusammen.«

»Das fehlte noch gerade, Erna! Mündelgelder angreifen.«

»Oder du giebst's mir zurück, wenn aus der neuen Sache was wird.«

Herr Wehrmann räusperte sich, strich langsam den Schnurrbart und sah zuletzt sehr ernst auf das Geld. »Aus der Sache wird nichts, Erna – ganz sicher nicht. Es ist auch besser so.« Er sprach mühsam, in Absätzen. »Aber ich verspreche dir, Kind . . .« Er vermochte den Satz nicht zu vollenden. Die echte Rührung schnürte ihm die Kehle.

Dann gingen sie zu Bett.

Das Ehepaar erwachte erst spät, als die Pfingstsonne mit Lichtwogen ins Zimmer strömte. Die Luft köstlich, der Garten in Festdüften. Geputzte Landleute gingen bereits zur Kirche. Sie schämten sich ein 236 wenig, den schönen Morgen so verschlafen zu haben. Dann freuten sie sich wieder über den kleinen Willy, der jauchzend sein Bettgitter zu übersteigen versuchte. Sie nickten dem Kinde zu und nickten sich zu und waren sehr glücklich. Es war ein unvergleichlich schöner Tag – wie nach einem schweren, reinigenden Gewitter. Sie fühlten sich beide klarer, heiterer, seitdem sie sich so wiedergefunden.

Nach dem Abendessen setzte sich der große Willy an die Arbeit. Er war heute ganz Pflicht, ganz Familienvater. »Wer wie ich so viel nachzuholen hat, Erna!« Er schleppte seine Reißbretter ins Wohnzimmer – zum erstenmal seit Monaten suchte er wieder der jungen Frau beruhigende Nähe.

Sie hatte noch das alte Grauen vor der Technik. Aber als er sie zärtlich zu sich aufs Knie zog, hörte sie doch beseligt zu, wie er ihr seine Maschine zu erklären suchte. Seine Maschine! – Er war ein kluger, praktischer Kopf, der gern durch eine große Erfindung plötzlich hochgekommen wäre. Seit Jahren beschäftigten ihn vor allem Heizungsanlagen, ein neues, geniales System, dessen Idee er im Kopfe ganz fertig zu haben glaubte. Bei der Ausführung auf dem Papier stockte es immer wieder. Dieser helle und doch seichte Geist stieß sich wund an den kleinen Kanten des Problems. Aber er hatte beschlossen, die Arbeit mit einem Riesenfleiß wieder aufzunehmen. Was bedeuteten Bessemerstahl und Walzeisen, die ihn dienstlich beschäftigten, diesem Problem gegenüber, das den Techniker mit einem Schlage in die Reihe der Bahnbrecher, der wirklichen Ingenieure hob! Er erklärte, wurde warm und hatte einen Augenblick die Ueberzeugung, daß das zarte Wesen auf seinem Schoß dem Fluge leicht zu folgen vermöchte. Ihr Blick hing an seinen Augen, seinen Fingern, kontrollierte ängstlich aufmerksam jeden Gedanken. »Nicht wahr, Ernachen, 237 du verstehst, was ich will?« fragte er zum Schluß und sah sie, vom Erfinderwahn hingerissen, mit fiebernden Augen an.

Doch sie wurde purpurrot und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. »Ich verstehe nichts davon – garnichts!« stieß sie weinerlich hervor. »Warum bin ich keine Frau, die mit dir denken, fortschreiten kann? So eine brauchst du – und ich bin nur dumm! Ich habe dich lieb – und wenn Gebete und der Glaube an dein Genie Berge versetzen könnten, sie wären längst versetzt!«

Er starrte finster vor sich hin. Da war die Ernüchterung wieder, die kleine Stadt. Er hörte ihre letzten Worte gar nicht mehr, er sagte nur, kühl geworden: »Ihr habt eben nur Interessen für eure alten Möbel, das Haus – höchstens noch für den Gemüsegarten und das elende bißchen Natur. Von allen Frauen, die ich kenne, weiß ich nicht eine . . . oder diese eine . . .« Er verstummte jäh und sah an der jungen Frau vorüber angelegentlich auf die Landstraße.

Sie schluchzte bei seinen Vorwürfen leise. Ein Tropfen fiel auf die Bleistiftzeichnung. Er wollte schon etwas Häßliches sagen – aber er war nicht schlecht, er dachte gleich wieder an die feinen Nerven, die eben so schmerzlich zuckten, an den zarten Körper, den die Thränen so schwer erschütterten. Nein, er hatte das Gestern noch nicht vergessen. Und in der lieben Schwäche, der sanften Hingebung der Frau lag doch etwas Reines, Heiliges, das ihn mit Reue und doppelter Zärtlichkeit erfüllte. Er küßte sie auf das schlichte braune Haar und flüsterte: »Nicht gleich wieder so nervös! Du kannst doch nichts dafür. Vielleicht liebe ich deine Thorheit am meisten.«

Aber als das thränenfeuchte Gesicht dankbar lächelte, ließ er sie doch sanft von seinem Schoß gleiten. Er 238 sah eben auf die Thräne, die seine schöne Zeichnung fast verdarb.

Er arbeitete den ganzen Abend angestrengt, fiebernd, als wenn er etwas niederarbeiten wollte. Er sah nur einmal auf zu ihr – und das gerade in dem Moment, als ihre Augen vor Müdigkeit zufielen. Er lächelte freundlich und schickte sie ins Bett. Sie schlief auch gleich ein. Es waren die Nachwehen der gestrigen Scene.

Nach Mitternacht erwachte sie von einem Angstgefühl. Sie horchte auf – kein Atemzug; sie tastete vorsichtig mit der Hand hinüber nach dem andern Bett – es war leer. Jetzt zündete sie Licht an. Die Weckuhr tickte übereilig. Es war bereits halb zwei Uhr. ›Wo er nur bleiben mag?‹ Der kleine Willy schlief sanft, den rosigen Hauch auf dem Kindergesicht. Aber dem großen Willy mußte solche Nachtarbeit die gereizten Nerven unfehlbar ruinieren! Im wallenden Nachthemd schlich sie hinaus, das weiche Haar offen, eine reizende Somnambule. Das Wohnzimmer, wo sie gesessen, war dunkel, doch durch eine Thürspalte fiel Licht. Da saß ihr Gatte über seinen Schreibtisch gebeugt – den alten Schreibtisch von Ernas Vater. Er war eingenickt. Vor ihm ein Brief – zerknittert, alt. Ein Geschäftsbrief. Sie erkannte sofort die Hand, dieselbe Hand – vielleicht derselbe Brief, den sie ihm einst herzklopfend überbracht. Diese alte Sorge hielt ihn also noch immer! – Er that ihr so leid. Und doch, als sie sich über ihn bog, ihn zu wecken, hatte sie das vage Gefühl, als sei es vielleicht besser, sie läse auch den Brief. – Sie hätte es nie gethan!

»Willy, komm doch zu Bett!« Sie sprach es leise, liebevoll. Er zuckte zusammen, richtete sich im Stuhl auf, sah sie schlaftrunken an. Und langsam, wie wenn er erst jetzt erwachte, glitt ein Leuchten 239 über sein verschlafenes Gesicht – ein eigenes, verstohlen glückliches Leuchten. »Also du kommst doch . . . kommst doch! Ich wußte es ja . . .«

Sie küßte ihn auf die Stirn. Da umschlang er sie leidenschaftlich, fest. Er drückte sie an sich, wie er sie nie an sich gedrückt. Er that ihr weh, der Atem wollte ihr ausgehen.

»Komm doch zu Bett, Willy!« hauchte sie.

Da ließ er sie plötzlich los – sah sie an – schob sie von sich. Dann faßte er nach dem Brief, zerknitterte ihn in der Faust. »Ich hatte einen wüsten Traum,« sagte er mühsam. Er stand auf, dehnte sich. Auf einmal lachte er kurz. »Seit wann hast du eigentlich blondes Haar? – Es war übrigens gut, daß du mich wecktest!«

»Ich blond?« Sie lachte. Dabei fiel ihr Blick auf den Spiegel. In dem scharfen, gleißenden Lichtstreifen leuchtete ihr Haar wirklich tizianblond.

*

Am zweiten Feiertage sollte großer Damenkaffee in der kleinen Stadt sein. Die gesamte Honoration. Frau Wehrmann hatte nur zögernd zugesagt, sie verkümmerte sich Feste ungern. Aber es war ja Muß! Eine Geheime Kommerzienrätin aus der Residenz, die Frau des Vorsitzenden des Aufsichtsrates, war bei dem ersten Direktor einige Tage zum Besuch. Der Geheime Kommerzienrat war allmächtig – also mußte der Frau geschmeichelt werden.

Herrn Wehrmann interessierte die Angelegenheit sehr. Er bestimmte die Kleider, den Schmuck seiner Frau und erwies sich als sehr gewiegter Kenner in Toilettenangelegenheiten. »Einfach, aber chic! Du kannst so bleiben. Und gieb dich ganz wie du bist, Erna. Die alte Geheime soll ihren Schafkopp gänzlich unter dem Pantoffel haben – und vielleicht gefällst du ihr gerade mit deiner gewissen Schüchternheit.« 240

Erna war sehr glücklich, als er sie beinahe von Kopf bis zu Füßen anzog. Sie hatte gewiß Geschmack – aber er hatte doch weit mehr. »Wie kommst du eigentlich zu dieser Wissenschaft?« sagte sie zum Schluß, sehr zufrieden mit ihrem Spiegelbilde.

»Gott, das lernt sich so! Wenn man viel 'rumgekommen ist und überhaupt Blick fürs Elegante hat . . .«

»Du hast ihn mehr wie früher. Heute begreife ich erst eigentlich, daß die kleine Stadt und das kleine Haus dir auf die Dauer gar nicht behagen können.«

»Kommst du endlich dahinter!«

»Ja, Willy – aber nicht gern. Wenn man die kleine Stadt und das kleine Haus nun einmal so lieb hat!«

Das war sehr hübsch gesagt von ihr. Und der große Willy erlag gern dem Zauber des kleinen Glücks.

»Ich sollte nie, ich sollte nicht eine Minute ohne dich sein, du liebes, thörichtes, besseres Selbst . . . Aber wann werde ich endlich einmal vernünftig und zufrieden werden? – Ich geb's nächstens auf!«

Und weil die Festsonne so schmeichelte und der kleine Willy so tief schlief, wollten sie vorher noch einen Spaziergang machen in der Ebene.

Sie gingen denselben Weg wie damals am Ostertag. Ueber den Feldern der Silberglanz, der Aehrenduft, auf der Straße der weiße Sonntagsstaub, das frohe Menschengewimmel im Festkleid. Der Pfingstkorso der kleinen Stadt ging hier hinaus. Arbeiterscharen drängten sich neben dem Pfahlbürger. Im Moor, wohin sie abbogen, ab und zu ein geputztes Paar, eine Familie mit Kinderwagen und Hund. Sonst eine köstliche Stille, ein warmes, geheimnisvolles Brüten. Der Fluß schlich lau und leise zwischen seinen niedrigen Ufern. Seerosen trieben, grünes, 241 hohes Schilf säuselte. Ein freundliches Wasser, ein freundliches Blinken. Das Moor, das sich sanft und zärtlich anschmiegte wie eine unendliche Wiese mit zarten Gräsern, gelbsaftigen Blumen ohne Zahl. Es lag im tiefsten Frieden. Als wenn es sagen wollte: ›Ich heimtückisch? – ich gefährlich? – ich todbringend? Sieh doch selbst, wie die Sonne mich kost, wie meine Blumen leuchten!‹

Die beiden gingen schwatzend, scherzend. Die Augen freuten sich an dem hellen Grün, dem weichen Licht. Es ist zuweilen gut, an der Oberfläche zu weilen, den Sumpf zu vergessen . . . Zuweilen gluckste es, ein Moorhuhn schrie. Dann sahen sie sich verwundert an. Das Heimliche, Ekle wurde ihnen bewußt, das sie umgab – das Nachtleben des Moors am hellen Tag. Sie wandelten auf ganz sicherer Straße, und doch hatte die junge Frau das Gefühl, als könne jeden Augenblick ein schwarzer, schlüpfriger Arm sich lautlos aus der Tiefe recken, sie hinabziehen in sein Reich des Schweigens . . . Was hatte das Moor nicht schon alles erlebt? Was lag nicht alles unter dieser falschen, schwankenden Decke? – Was lebte da unten, immer wachsend, immer gärend wie ein Polyp, dessen Fangarme sich überall hinschmiegen – ein Polyp, der nichts herausgiebt, nichts verrät?!

Auf der Brücke, an der alten Mühle blieben sie wieder stehen und sahen in den Kolk. Das alte Rad hing bewegungslos über der Tiefe, das Haus lag altväterisch stumm. Das dunkle Wasser flüsterte kaum hörbar, Blätterschatten spielten. Der Sumpffluß meinte es so gut! Eine Schwalbe schwang sich anmutig über der Flut – und die Flut blinzelte neckisch, wenn sie der schmale Fittich streifte. Von der andern Seite kam ein Pärchen und blieb auch stehen, sah auch hinein. Es war ein Arbeiter aus dem Walzwerk mit einem sehr hübschen, kichernden Schatz. Herr 242 Wehrmann sprach leutselig mit ihnen, und Erna sah derweilen das Spiegelbild der drei im Wasser und amüsierte sich, wie die Gesichter schwankten, sich verzogen in der leisen Strömung. Sie beugte sich dabei weit über das Geländer. Unter der Brücke kroch der faulige Wasserdunst herauf, die Sumpfluft. Und jetzt sah sie auch, wie die blaßgrünen Gewächse aus der Tiefe emporwucherten, glitschig, zahllos. Es war ein unaufhörliches sanftes Wallen und Wogen. Da waren sie wirklich, die tausend Fangarme, die der Kolk herausschickte, den thörichten Schwimmer zu umschmeicheln, zu umschlingen, bis der wehrlos Gewordene matt und lautlos versinkt. Die junge Frau hatte gar nicht den Wunsch der andern von damals, hineinzuspringen, das Geheimnis des Sumpfes zu ergründen. Sie wollte gar nicht wissen, was da unten lebte. – Sie trat scheu zurück und sah lieber in die Sonne.

Bei dem Rückwege mußten sie vor der Stadt das Bahngeleise passieren, die Station. An dem Uebergang hatten sich Menschen gesammelt, die gestikulierten, lachten. Es zeigte sich, daß eine Kurierzuglokomotive hier einen Radreifenbruch erlitten hatte und nicht weiter konnte. Die eleganten Waggons standen fast bis auf die Landstraße. Die Passagiere sahen neugierig und ängstlich aus den Coupéfenstern. Einige waren ausgestiegen und schlenderten auf und ab. Wehrmanns hatten natürlich auch Halt gemacht. Ihn kümmerte weniger der Zug, er sah nur unverwandt das Geleise entlang, wie es sich schnurgerade, silbrig hinzog, bis es zu ungewissem Blinken verschwamm. Er mußte dabei seine besonderen Gedanken haben, denn er schlug zuweilen mit dem Spazierstock auf die Schienen, und die Lippen waren gepreßt. Erna interessierte als richtige Kleinstädterin viel mehr der vornehme Train und die Menschen, die hier so unfreiwillig rasten mußten. Besonders hatte es ihr 243 eine elegante Dame angethan, die in Staubmantel und Kuriertasche hochmütig vor ihrem Erstenklassencoupé flanierte. Sie war sehr schön gewachsen und hatte blondes, reiches Haar.

»Du, Willy, sieht die nicht aus wie Käthe?«

»Wer?« fragte er hastig.

Sie zeigte auf die Dame. »Sie ist es natürlich nicht! Deine Cousine hat ein ganz andres Gesicht – aber es ist derselbe Chic, dieselbe Figur und dasselbe Haar. Und um das Blond beneidete ich Käthe doch.«

Er starrte mißtrauisch auf die Dame. »Nein, Käthe ist es nicht.« Dann sagte er plötzlich: »Wir wollen gehen, Erna.« Aber als ein Bahnbediensteter vorüberkam, fragte er doch rasch: »Wohin geht der Zug?«

Der Mann hatte es eilig und rief nur im Laufen zurück: »Residenz! Aber frühestens in zwei Stunden, Herr Wehrmann. Eben nach 'ner Lokomotive telegraphiert.«

Darauf gingen sie in die Stadt hinein. Sie waren schon weit, da drehte sich der große Willy noch einmal um. Die elegante Dame flanierte noch immer. – »Das richtige Posemuckel!« sagte er ingrimmig. »Da steht nun alles und hält Maulaffen feil . . .«

»Aber Willy, das ist doch nicht so schlimm, und Spaß macht es mir auch.«

Er zuckte die Achseln: »In gewissen Punkten werden wir uns nie verstehen, liebe Erna.«

Es war eine ziemlich enge, winklige Straße, die sie gingen. Die Hauptstraße mit alten Giebelhäusern, die Fenster gedrückt, oben Speicherluken – der einzige Neubau dazwischen wie ein Schloß. Vor den Thüren Maien – ein lustiger Pfingstwald. Es roch nach Laub und Torf, der richtige Kleinstadtgeruch. Wehrmanns gingen ziemlich einsilbig. Vor der Thür des neuen Hauses blieb sie stehen; er wäre sicher weiter gegangen. 244

»Du bist auf einmal so zerstreut, Willy!«

»Ach nein . . . Uebrigens, was ich noch sagen wollte . . . Also amüsier dich gut!« Er nickte etwas flüchtig.

»Was hast du?«

»Ach, mir geht noch immer im Kopfe 'rum, daß die Sache – du weißt schon, zu gar keinem definitiven Ende kommen will . . . Ich möchte 'raus aus dem Nest.«

Sie legte warnend die Hand auf den Mund. Er konnte doch recht unvorsichtig sein. Es war des Direktors Haus.

»Ich werd's mir doch aus dem Sinn schlagen . . . Adieu.«

*

Der Kaffee – der große Kaffee einer kleinen Stadt.

Die Gesellschaft war schon ziemlich vollzählig versammelt. Die schiefe Bürgermeisterin, die Apothekertöchter, von denen die blonde schäumend, die braune gekniffen klatschte, zwei Richterfrauen. Die Würde der Justiz wurde durch eine gutmütige Latte und ein rundliches Stück Menschenfleisch mit Prachtaugen repräsentiert. Wie sie nebeneinander standen, glichen sie ganz den Stettiner Sängern auf den Anschlagsäulen. Aber sie waren die sehr respektablen Gattinnen eines unausstehlich unliebenswürdigen und eines biederen ältlichen Mannes. Die Post, die Medizin – alles war vertreten, sogar eine weltlich hübsche Pfarrfrau, die jedem erzählte, daß sie lange zwischen einem kräftigen Leutnant und diesem jungen, blassen Eiferer geschwankt hatte. Darüber ging die kleine Stadt mit Liebe hinweg, doch sie vergaß ihr nie, daß sie sündhaft hellgrüne Plüschportieren in die Diakonuswohnung eingeschmuggelt hatte. – Der Frauensenat tagte an einer Riesentafel, in einem gemütlich eleganten Zimmer. 245 Der Kaffee dampfte, die Kuchenschüsseln wanderten so gewaltig und abwechslungsreich, wie es nur Kadetten und ältere Damen zu würdigen verstehen. Frau Wehrmann saß in der Mitte, eingepreßt zwischen den Grazien, sonst auch Parzen genannt. Obgleich sie nur für ihren Mann ehrgeizig war und ihre anmutige Bescheidenheit immer angenehm ausfiel, fühlte sie sich doch als vierte in dem Kleeblatt etwas unbehaglich. Die Grazien – eine Witwe und zwei Jungfrauen im kräftigsten Mannesalter – wandelten täglich untergefaßt die Landstraße am kleinen Haus vorüber. Sie kneipten Natur und grüßten freundlich wieder; aber unter dieser harmlosen Maske bargen sich Ehrabschneiderinnen niedrigster Art, die sich auch gegenseitig haßten, verleumdeten und dennoch unzertrennlich waren. Das Geheimnis – der Mann, ein reicher Junggeselle, den sie alle drei gleich glühend liebten und den jede in bangen Träumen in den Armen der andern erblickte. Er war ein Schlauberger, der es heimlich mit allen dreien hielt, sogar noch mit einer vierten, der Frau seines besten Freundes. Das letztere Geheimnis erzählten sich die Straßenjungen über den Rinnstein weg. O, die kleine Stadt hatte auch ihre Schrecken, und unter den niedrigen Stuben, dem niedrigen Horizont brütete zuweilen eine gemütliche Lasteratmosphäre!

Die Parzen beachteten die junge Frau wenig. Darum blickte sie unsicher die Tafel entlang, wo an der Spitze »die Geheime« zwischen den Direktorinnen thronte. Die Technik war zwar den Philistern ein Dorn im Auge, und Medizinalrats galt sie niemals als ganz ebenbürtig, aber an solchen Tagen ging sie selbstverständlich vor.

»Das ist ja ein Monstrekaffee!« sagte Erna freundlich zu ihrem Gegenüber, einer kurztailligen Kaufmannsschwester von Jahren. 246

Als Antwort wackelte die erst verlegen in der Taille und rief dann pikiert: »Monstrekaffee?! Das soll doch nicht etwa heißen, daß wir hier alle Monstrums sind?«

Die Parzen, die aus einem andern Bildungslager waren, lachten laut auf, und die blonde Apothekerstochter lehnte sich weit herüber: »Was . . . Was . . . Was?« lispelte sie neugierig. Sie hatte sich bis dahin nur mit Kuchengutachten beschäftigt, zum Schaden ihres Magens, aber Kritik mußte ja sein, und der Kleinstadtklatsch machte keineswegs vor den Süßigkeiten Halt.

Es kreisten darauf noch süßere Torten, Ungarwein. Doch als ein lecker zitternder Weingelee ins Zimmer getragen wurde, machte »die Geheime« auf ihrem Ehrensitz verzweifelte Armbewegungen. Darauf peinliche Stille, Stuhlrücken – die Gesellschaft mußte für diese Genüsse wirklich erst Kraft in der frischen Luft des Gartens schöpfen. Dort wurde Erna der »Geheimen« vorgestellt. Sie machte einen Mädchenknicks und wollte die Hand küssen, aber die alte, resolute Dame mit Scheitel und Häubchen rief: »I, was machen Sie für Narrenspossen! Sie sind doch ebenso verheiratet wie ich.«

Erna knickste wieder. Die Dame lachte.

»Ich sehe, Sie sind unverbesserlich! . . . Sie sind aus Ostpreußen?«

»Ja. Aus Insterburg.«

»Da heulen ja noch die Wölfe!« Und als Erna etwas unwillig errötete: »Liebes Kind, das kommt bei mir so 'raus, aber es ist nicht schlimm gemeint . . . Aus dem Osten bin ich auch. Stettinerin. Jenseits der Weichsel allerdings – würde mir doch etwas ungemütlich sein . . . Aber erzählen Sie mir, wie es Ihnen hier gefällt! Das Himmelreich ist es ganz sicher nicht.. Uebrigens sagen Sie mal, essen die Leute hier immer so viel Kuchen? Dazu gehören 247 Magen – Magen! Es ist ja ganz gewiß gut gemeint . . .« Darauf hob sie die Nase nach einem Nachbarschornstein, aus dem dicker Rauch quoll. »Sie heizen hier natürlich alle mit Torf? Mir liegt der Geruch wie ein Alp auf der Brust.« Sie atmete schwer. »Das weckt mir nämlich schreckliche Erinnerungen. Mein einziger Junge ist mir bei einer Kahnfahrt im Moor erstickt . . . Ich möchte nicht weinerlich werden . . . Reden Sie also 'n bißchen! Sie sind ja auch noch so etwas Blutjunges – und das Alter hat die Jugend nötig.«

Darauf erzählte Erna, durch die offene Art vertraulich gemacht, wie einsam sie hier sei und wie wohl sie sich dennoch fühle. Die beiden Willys wuchsen zu Heroen.

Die alte Dame hörte aufmerksam zu und sah die junge Frau immer von der Seite an. »Sie gefallen mir, liebes Kind! Aber sagen Sie, bekommt Ihnen die schwere, feuchte Niederungsluft eigentlich? Sie sehen so beängstigend zart und rosig aus.«

»O gnädige Frau, das Leben hier bekommt mir so gut, daß ich gar nicht wieder fort möchte! Mir fehlt nichts . . . In letzter Zeit soll ich ein bißchen husten, aber ich weiß es selbst gar nicht. Ich kann nur nicht sehr weit gehen . . . Allerdings, mein Mann, der ist an große Verhältnisse gewöhnt.«

Die alte Dame machte eine wegwerfende Bewegung. »Ach was – Mann! Wenn einer so eine nette Frau hat und so rasend verwöhnt wird, da sollte er Gott auf Knieen auch in Posemuckel danken . . . Und, liebes Kind, gewöhnen Sie sich's bei Zeiten ab, immer nur an andre und nicht an sich zu denken! Die Männer sind schon gerade genug Egoisten. Auch in der Güte kann man zu weit gehen.. – Als wenn's die Männer schwerer hätten als wir! Einer hat's so schwer wie der andre . . . Ich bin keine 248 Moderne und habe meinen Mann herzlich lieb, aber es empört mich: wenn eine Frau ein Kind kriegt, wird der Mann bedauert. Hat er vielleicht die Schmerzen ausgehalten? Macht ihm vielleicht das Kind die tausend Steckbettsorgen und Mühen bei Tag und bei Nacht? Schuld an dem Wurm ist er doch genau so wie sie . . . Neulich habe ich mich mit einem Herrn direkt gezankt. Seine Frau bekommt das erste Kind – allerdings eine Sache auf Leben und Tod –, und als alles glücklich überstanden ist, muß er schleunigst nach Hamburg zu Pfordte fahren, um sich mit Austern und Hummern für die furchtbaren Aufregungen und Qualen zu entschädigen. Und die Frau soll ganz gerührt sein, weil sie sechs Wochen unbeweglich im Bett liegen darf . . . Ich erinnere mich jetzt, daß wir gestern, als die kleine Stadt durchgehechelt wurde, auch über Ihren Mann gesprochen haben, Frau Wehrmann. Der Direktor hält scheinbar große Stücke auf seine Begabung – aber ein Haken war . . . Ja . . .«

Erna wußte, daß ein Tadel kommen würde. Sie wollte ihn nicht hören. Und im schönen Eigensinn erwiderte sie rasch: »Gnädige Frau, mein Mann ist der beste Mann.«

Die »Geheime« nickte vor sich hin. »Warum soll er auch nicht? Schließlich, liebes Kind – und Sie sind es wirklich –, das ist ja alles gut und schön, aber halten denn solche Ideale in der Ehe aus? Können sie überhaupt aushalten? Was sich täglich nebeneinander an- und auszieht . . . Das Alltägliche soll man nicht unnötig vergolden. Denn wenn Kindern die Augen aufgehen, tagt's meistens fürchterlich . . . Sie sehen mich ganz entsetzt an! . . . Liebe Frau Wehrmann, plötzlich sollen Ihnen die Augen gar nicht aufgehen! Werden Sie nur zehn, zwanzig Jahre älter und lernen Sie an ihrem eignen Jungen, aus welch 249 unverständlichen Gegensätzen jeder Mensch zusammengesetzt ist.«

Die beiden waren allein in einem Buchsbaumgang des Gartens auf und ab gegangen, und die Apothekerstöchter vermuteten schon, daß mit Willy Wehrmann etwas sehr Großes im Werke sei. An der Glaskugel im Mittelrundell trafen sie wieder mit der Gesellschaft zusammen. Die erste Direktorin, die schwimmende Blauaugen hatte und nur Hausfrau war, lächelte Erna sehr gnädig zu. Aber Erna blieb kühl. Die Leute kamen ihr alle vor wie der Versucher. Sie wäre am liebsten heimgegangen. Doch der Aufschnitt und die Pfirsichbowle waren nicht zu umgehen. Es wurde im Garten serviert. Aus den Hinterhäusern sahen Leute neugierig zu.

Die »Geheime« erzählte von der Residenz und gab sehr drastische Daten über den Herzog und das Ballett. »Er ist zwar ein alter Kerl, aber er wird doch wissen, warum sich jede neue Tänzerin bei ihm präsentieren muß. Ob hübsch oder häßlich, sie bekommt bei dieser Vorstellung einen Hundertmarkschein in die Hand gedrückt. Das ist doch noch ein Landesvater! . . .« Viele Namen wurden genannt. Durch Zufall auch der von Käthe Lofka. Die alte Dame kannte sie nur ganz oberflächlich, aber weil sie ihr gegenüber wohnte, war sie sehr orientiert. »Ein extravagantes Frauenzimmer, das viel Unheil anrichtet. Wenigstens sagt man's allgemein. Sie hat ein Faible für hübsche, kluge Männer, aber heiraten will sie nur einen ganz Alten. Sie weiß offenbar, was sie will – und sie weiß es doch nicht. Mir macht es viel eher den Eindruck, als wenn sie suchte und nicht fände. Sie ist sicher kokett und eitel – doch nicht eigentlich schlecht. Und gerade die Art geht über die meisten Leichen, ohne es eigentlich zu merken. Zurzeit pausiert sie wohl mit der Liebe. Den letzten 250 Anbeter habe ich wenigstens sehr lange nicht gesehen. Er ist nicht aus der Stadt und kam immer sehr geheimnisvoll. Das ist schon das Richtige!«

»Die Lofka ist doch eine Cousine Ihres Mannes?« fragte eine Parze.

»Ja. Aber ich habe sie nur ein einziges Mal in meinem Leben gesehen,« antwortete Erna.

Zum Abschied drückte die alte Dame Frau Wehrmann die Hand und sagte mit einer Freundlichkeit, die allen Groll hinwegschwemmen mußte: »Sie haben mir so sehr gefallen, liebes Kind. Ich bleibe vielleicht noch ein paar Tage hier, und wenn ich an Ihrem Heim vorbeikommen sollte, möchte ich mir gern mal die beiden Prachtkerls, die Willys, ansehen. Wenn nicht – dann leben sie recht, recht wohl!«

*

Beim Heimgang dämmerte es bereits licht.

Die kleine Stadt wallte in langen, müden Zügen zu dem Torfherd zurück – die Bürger ehrbar, die Arbeiter trunken. Erna hatte immer ein leichtes Grauen vor den Blusen des Walzwerks. Und wenn sie erst draußen war auf der einsamen Chaussee . . . Sie schaute darum scharf nach dem großen Willy, der doch vielleicht gekommen war, sie abzuholen. Sie sehnte sich nach seinem Schutz und hätte ihm auch am liebsten gleich gesagt, daß eigentlich alle Menschen gegen ihn einen Soupçon hätten, und daß sie ihn gerade darum um so lieber habe. Aber weder unter den schwankenden Arbeitern noch den schleichenden Familienvätern war die hohe Gestalt im hellen Sommeranzug zu entdecken. Erna bog deshalb von der Chaussee ab, um auf einem Seitenpfade das kleine Haus zu erreichen. Der Kurierzug war längst abgedampft, der Perron leer. Als sie das Geleise überschreiten wollte, hörte sie hinter sich ihren Namen rufen. Es war der Portier. 251

»Ein Brief, Frau Wehrmann!«

Der Brief war von ihrem Mann, das Couvert fleckig, die Adresse mit Bleistift gekritzelt. Sie öffnete ihn nur zögernd. Es mußte etwas Unangenehmes sein.

»Lieber Schatz!

Ich muß es noch ein letztes Mal versuchen. Vielleicht ist ein hoher Verwaltungsrat an Festtagen zugänglicher. Ich habe natürlich lange geschwankt, aber als ich nach drei Stunden hier wieder vorbeikam und der Kurierzug endlich flott war, hielt ich das für einen Fingerzeig des Schicksals und hab' ihn benutzt. Meyers Wundersalbe hat beim Reisegelde aushelfen müssen . . . Du verzeihst doch? . . . Morgen im Laufe des Tages bin ich wahrscheinlich zurück. Habe indessen die Güte, gleich früh zum Direktor zu gehen und ihm mitzuteilen, daß ich in Familienangelegenheiten plötzlich hätte abreisen müssen . . . Erfinde irgend etwas Plausibles!

In höchster Eile

Willy.«

Sie las den Brief zweimal. Er gefiel ihr gar nicht. Warum heute auf einmal diese plötzliche Wandlung, nachdem er noch gestern alles verschworen? Sie hatte zum erstenmal im Leben die bange Empfindung, daß ihr der große Willy absichtlich etwas Wichtiges verheimliche. Doch das war eine Stimmung, über die sie bald hinwegkam. Darauf überlegte sie pflichtschuldig die Lüge. Sie war ihr schrecklich – aber sie mußte sein! . . . Wenn sie plötzlich die gute alte Tante, die sie damals ins Seebad mitgenommen hatte, und die sich der besten Gesundheit erfreute, sterben ließ? . . . Nein, nicht sterben! Das wäre doch der schwärzeste Undank einem Menschen gegenüber, der eigentlich ihr Glück begründet . . . Dann wenigstens schwer krank daniederliegen – sie 252 konnte ja schnell wieder gesund werden! Aber auch das war häßlich. Und während sie ungeschickt nach andern Gründen suchte, stieß sie im schmalen Heckenwege beinahe auf einen Herrn. Es war der erste Direktor, der eben vom Walzwerk kam, ein hagerer, zugeknöpfter Herr mit Inquisitorenblick.

»So allein und so traumverloren, gnädige Frau? Wo steckt Ihr Gatte denn?«

Die junge Frau schrak zusammen, aber sie erinnerte sich sofort, daß dieser gefürchtete Despot gerade sie stets mit großer Liebenswürdigkeit behandelt hatte.

»Mein Mann hat plötzlich verreisen müssen.«

»Hm.« Die Augen bekamen einen kalten Glanz, und Erna fühlte, daß sie die Tante ganz opfern müsse.

»Herr Direktor, unsre Tante ist heute gestorben . . . Ich wollte erst morgen früh zu Ihnen . . .«

»Hm . . . hm . . .« Er malte mit dem Stock Figuren in die Coaksschüttung. »Hm . . .« Darauf fuhr er unangenehm langsam fort: »An diesen Tod glaube ich – aber nur, weil Sie es mir sagen, die ich einer Unwahrheit nicht für fähig halte . . . Darf ich Sie ein Stück begleiten? . . . Es ist mir ganz angenehm, daß ich Sie mal allein treffe . . . Sagen Sie mal, warum verreiste Ihr Herr Gemahl in dem letzten Jahre so oft? Selbstverständlich kümmern mich die Privatangelegenheiten der Herren nicht. Aber wenn diese unbekannten Privatangelegenheiten die Berufsthätigkeit eines Ingenieurs so nachteilig beeinflussen, habe ich als der verantwortliche Leiter eines großen Werks die Verpflichtung, reinen Tisch zu machen. Ich stehe beinahe auf dem Punkte, Herrn Wehrmann zu kündigen . . . Ich lasse ihm alles Gute. Er ist ein sehr intelligenter Kopf, mit Ideen, einer raschen Auffassung, geboren für hervorragende Positionen. Aber er ist erst sechsundzwanzig Jahre alt – 253 und da hat er zu allererst an die reelle Handwerksarbeit, durch die wir alle durchmüssen, und an das ordinäre Pflichtgefühl der subalternen Stellung sich zu gewöhnen. Ich habe mich in ihm sehr schwer getäuscht. Als er hierherkam, war er ein Mensch der Pflicht, der Arbeit. Und jetzt? Heute leistet er viel, morgen nichts. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist – denn er ist nur noch ein zerstreuter, eitler Leichtfuß . . . Das ist sehr hart, und Sie, gnädige Frau, kränke ich gewiß ungern. Aber in großen Verhältnissen muß man scharf und unerbittlich sein . . . Und nun die Reisen! Sagen Sie mal selbst: ›Bitte um Urlaub in Familienangelegenheiten‹ – Gern. ›Bitte um Urlaub in Familienangelegenheiten‹ – Bitte. ›Bitte um Urlaub . . .‹ – Ja. ›Bitte um Urlaub in Familienangelegenheiten‹ – Wenn es durchaus sein muß, Herr Wehrmann! . . . Deutlicher kann ich's ihm doch nicht markieren. Und hinter so etwas steckt immer eine Unwahrheit. Schließlich dachte ich: der Mann bemüht sich um eine andre Stellung und will das möglichst kaschieren, obgleich es Eisenwerke in der Nähe gar nicht giebt. Er müßte schon ins Rheinland oder nach Westfalen reisen. Im übrigen wäre ich der letzte, ihm den Wunsch nach einer bessren Stellung zu verdenken . . . Und wenn man dann den Mann in der Residenz 'rumflanieren sieht – einmal, zweimal! Und er giebt mir einen ganz andern Ort an . . .«

»Er war nie in der Residenz – niemals!« fuhr sie auf.

»Frau Wehrmann – er war doch da! Er hat mich nicht gesehen, aber ich habe ihn gesehen.«

»Aber, Herr Direktor, ich schwöre Ihnen, er war nie da,« sagte sie verzweifelt. »Er war ganz wo anders!« Sie rang die Hände. »Jetzt darf ich Ihnen ja auch sagen, daß er sich allerdings um eine andre 254 Stellung beworben hat. Die Sache schwebt noch. Und das nimmt ihn so mit. Ich habe selbst darunter gelitten. Ich begreife nur nicht, daß er vor Ihnen solche Angst hatte, da Sie doch wohlwollend sind . . . Es ist also eine ganz andre Stadt – ich weiß sie . . . aber er war nie in der Residenz, nie!«

Der Herr machte eine kurz abwehrende Handbewegung. »Gut. Die Angelegenheit ist damit erledigt. Meine Augen haben sich geirrt. Es ist mir auch schließlich lieber so . . .« Dann fuhr er freundlicher fort: »Man wird mit den Jahren gallig und ärgert sich ein – jetzt thut es mir leid, daß ich so offen zu Ihnen gesprochen habe . . . Es ist aber auch wiederum ganz gut. Ich hielt wirklich viel auf ihn! Eines muß ich Ihnen übrigens noch sagen: die ewigen Vorschüsse, die er nimmt. Es ist ja nicht die Welt! Aber wenn man nur zwölfhundert Thaler Gehalt hat und davon eine Familie ernähren muß, darf man seine Finanzen nicht aus dem Lot kommen lassen. Schulden bringen 'runter . . . Sie, meine gnädige Frau, verstehen mich gewiß! Sie drehen doch gewiß jeden Groschen siebenmal um, ehe sie ihn ausgeben . . . Meine Ansicht über Herrn Wehrmann kann ich vorläufig nicht ändern, aber ich wünsche Ihnen, daß die andre Angelegenheit bald zu gutem Ende kommt. – Machen Sie von dem Gesagten Gebrauch oder nicht, aber vergessen Sie, bitte, nie, daß ich es trotz allem mit Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl immer sehr gut gemeint habe.« Er verabschiedete sich und kehrte um.

Die junge Frau war ganz wirr im Kopf. Es war alles so plötzlich Schlag auf Schlag gekommen. Hatte sie ihren Willy auch warm genug verteidigt? Als der Direktor schon um die nächste Heckenbiegung war, lief ihm die junge Frau rasch nach.

»Was wünschen Sie?« 255

Und atemlos sprach sie: »Ich wollte Ihnen nur das eine noch sagen – mein Mann mag die Familienangelegenheit als Vorwand genommen haben, weil er eben nicht anders konnte, einer wirklichen Unwahrheit ist er jedoch nicht fähig. Aber ich habe vorhin gelogen! Meine Tante ist nicht tot, nicht mal krank.«

»Steckt's an?« fragte er verwundert. Er schüttelte langsam den Kopf. »Wozu? Warum? Die Lügen haben nicht nur in Sprichwörtern kurze Füße. Die Geschichte wird mir immer rätselhafter. Aber ich werde in der Geschichte schon noch klar sehen. Verlassen Sie sich drauf!«

Die junge Frau machte einen großen Spaziergang durch die Felder. Dabei wurde sie sich vollkommen klar, daß es aus sei mit der kleinen Stadt, mit dem kleinen Haus. Sie mußten weg! Sie durfte sich das nicht gefallen lassen – das war sie schon dem Willy schuldig. Sie hatte den ganzen Glauben an den Gatten wiedergefunden und den ganzen Stolz der Armut. Dazwischen betete sie inbrünstig: »Ach lieber Gott, mach doch, daß die Sache noch heut zum Abschluß kommt! . . . Herr Gott, hilf uns doch!«

Als sie nach Hause kam, war es Nacht. Im Garten flanierte das Dienstmädchen mit dem Grenadierbruder, der übrigens schon zum Vetter degradiert war. Erna wollte dem Paar die Festfreude nicht stören. Sie ging selbst in die Küche und steckte die Lampe an. Der Goldlackduft floß durch das Schlafzimmer, und der kleine Willy schlief dabei den wonnigen Kinderschlaf. Insekten zirpten aus dem Garten. Es war alles so friedlich, so warm in dem alten Heim! Erna fühlte erst jetzt, daß sie todmüde war. Aber sie durfte noch nicht schlafen gehen – sie hatte ja noch so viel zu denken. Sie ging ins Wohnzimmer zurück und zog die Vorhänge zu. Als sie die Lampe auf den Mahagonitisch stellte, bemerkte sie einen Brief 256 – einen Expreßbrief. Er lag neben »Meyers Wundersalbe«, die Willy in der Eile vergessen hatte wieder ins Bureau zu schließen.

Der Brief war die Entscheidung – mußte es sein. Sie erkannte sofort diese weibliche Männerhand wieder. Die junge Frau fühlte, daß sie nicht warten konnte, bis ihr Mann zurückkam. Sie wäre vergangen vor bangen Zweifeln. Sie mußte den Brief lesen! . . . Was auch darinstand, ob Willy auch schalt – sie war doch seine Frau, das Stück von ihm. Ihr beider Schicksal lag in ihrer Hand. Es war so schwer – und es wog so leicht! . . . Mit einem Ruck wilder Energie zerriß sie das Couvert und las. Sie las . . . las wieder. Dann schwankte sie nach dem Lehnstuhl, wo sie am Pfingstsonnabend gläubig auf seinem Schoß gesessen. Sie hielt die Hände vor die Augen, saß bewegungslos – nahm die Hände weg. Es war ein gespenstisches Gesicht, und leere Augen fragten: ›Bin ich noch ich selbst? Ist das noch das alte Zimmer?‹

Der Brief lautete:

»Lieber Willy!

Ich schreibe per Expreß, weil ich noch immer fürchte, Du könntest auf den thörichten Gedanken kommen, mich doch wieder aufzusuchen. Ich reise morgen nach Interlaken – nicht der Zerstreuung wegen, sondern weil ich mich müde fühle, elend. Ich wünsche Dich nie wiederzusehen – verstehst Du? – nie! . . . Ich will auch nicht rechten. Aber warum mußten wir einmal wahnsinnig sein – warum? Wenn Du wahnsinnig warst, warum war ich's auch? Ich hasse doch sonst das Heimliche. Wenn ich sündigte, sündigte ich offen. Wir aber haben heimlich und gemein gesündigt.

Dies ist mein letzter Brief. Aber heute thut es mir fast leid, daß ich die Chiffre poste restante, die Du durchaus für unsre Korrespondenz wünschtest, 257 nicht angenommen habe, weil solches Versteckenspiel meinem Hochmut in der Seele zuwider war. Denn jetzt wäre es mir furchtbar, wenn gerade dieser letzte Brief durch einen unglücklichen Zufall in die Hände Deiner armen, bethörten Frau geriete. – Wir sind wahrhaftig nicht wert, ihr die Schuhriemen zu lösen! Und wenn Du noch einen Funken von Ehre und Gefühl besitzest, so kehre ganz zu ihr zurück, die in ihrer Herzenseinfalt nichts ahnt und, wie sie nun einmal ist, an der Wahrheit elendiglich zu Grunde gehen müßte . . .

Du wunderst Dich über diese fremde, leidenschaftliche Sprache? O, ich habe doch noch ein besseres Selbst, wenn ich mich auch nur selten daran erinnere! Versuche es also niemals wieder, an mein Frauenmitleid zu appellieren, bis ich selbst schwach werde und nur noch Mitleid verdiene.

Sag, was wollt Ihr Männer alle gerade von mir? Seht Ihr denn nicht, daß ich nur Sinne und kein Herz habe, daß ich meiner ganzen Natur nach nur dem Augenblicke gehören kann? Warum glaubt Ihr nicht, was ich Euch allen kalt lächelnd so oft sagte? Oder seid Ihr auch alle wie ich, sinnlich und herzenskalt? – Du bist außerdem noch schwach, und das ist vielleicht Deine ganze Stärke . . . Ich will Dir den Abschied leicht machen. Ich habe Dich genau so geliebt, wie ich hundert andre kluge und hübsche Menschen auch geliebt habe. Und daß ich Dir ein einziges Mal gab, was ich bis da noch keinem Manne gegeben – das war Zufall, Gelegenheit, Raffinement, weiter nichts, Du unverbesserlicher Schmetterling mit ewig schmutzigen Flügeln, der Du die Frauen so gut und mich so schlecht kennst!

Ich mache mich vielleicht schlechter als ich bin und stärker als ich bin. Ich thue es mit gutem Grund. Kenne ich mich doch . . . O, ich bin schlecht . . . Aber warum laßt Ihr Euch berauschen von meinem schönen 258 Körper und meinen kalten Augen? – Mir ist's freilich eine schreckliche Lust, Euch anzulocken, zu umstricken – denk an den Himbeerbusch im Garten damals! – Aber wenn Ihr mich habt, bin ich schon längst weg. Ich stehe kühl vor Euch, verlache Euch und mich. Es mag nicht bloß der angeborene Jägerinstinkt sein, vielleicht bin ich im innersten Grunde meines Herzens selbst die gläubige Thörin, die immer müde sucht und nimmer findet. – Denn Ihr seid alle schal und leer. Der Ekel kommt mir, wenn ich Euch genau ansehe. – Lieber Willy, ich kenne auch Dich, ich weiß, was Du bist. Eine schwache Judasnatur, die sich an einem großen Verrate ausrichten möchte. Und weil ich eine große Verräterin bin, darum liebst Du mich – nur darum! . . . Doch ich bleibe wenigstens unter meinesgleichen. Aber sag, Du, wie bringst Du es vor Deinem elenden Gewissen fertig, immer wieder zu ihr zurückzukehren, deren Anblick Dich schon schamrot machen muß, weil sie die Güte, die Großmut selbst ist? – Die Arme, die im Judas den Heiland sieht! . . . Du beichtest dann wohl regelmäßig, bittest ab, büßt? – Ha! – Doch nur um die Kraft zu sammeln zu neuem Sündigen. Das ist das schrecklich Halbe auch an Dir, das mich von Anfang interessierte, reizte – das ich von Herzen verachte und das lächelnd zu wecken mich doch immer wieder reizen wird.

Du bist, wie Du bist! Du liebst Deine Frau herzlich, Du liebst Deine Geliebte herzlich, Du wirst noch viele andre herzlich lieben. Du liebst nämlich im Grunde niemand als Dich selbst. Du denkst, was der Mensch braucht, das muß er haben . . .

Ich bin sehr offen, ich war immer sehr offen, Ihr glaubt's mir nur nicht . . . Wie hast Du Dir eigentlich das Verhältnis mit mir auf die Dauer gedacht? – So lange mich belügen und Dich belügen lassen, 259 bis Du eine dritte gefunden hast? – Es würde mich interessieren . . . Ich habe mit Dir nur gespielt, wie ich eben mit allen spiele, und das Herz schlug mir auch im Sinnenrausch kalt. Und Du Thor bildetest Dir vielleicht ein, ich, die Kühle, Kluge, würde Dir glauben, als Du mir proponiertest, wir wollten zusammen durchgehen? Das war doch weiter nichts als die alte Flagge aller Männer auf dem Wege zu dem gewissen Ziel. Und ich kenne Euch. Ihr wollt gar nicht von Muttern los, Euch ist der feige, gemütliche Ehebruch sympathischer . . . Aber selbst wenn Du es ehrlich mit der Flucht gemeint hättest, glaubst Du vielleicht, ich wäre mitgegangen? Von dem Augenblick wäre ich ja in Deiner Hand gewesen – der verbotene Reiz war aus –, Du hättest mich erst recht gewissermaßen zur Buße verraten, wie Du jede angetraute Frau verraten wirst, wenn's Dir gerade paßt . . . Nein, nein! Da verrate ich Dich schon lieber und behalte die Macht.

Nun habe ich genug gepredigt. Ich mein's ehrlich, obgleich ich diese Ehrlichkeit vielleicht schon morgen bedauern werde. Aber mein Freund, wenn eisige Duschen Dich noch heilen können, dann geh wirklich in Dich, thu wirklich Buße. Versuche das Schwerste – etwas zu scheinen, was Du nicht bist: ein anständiger Mensch! Mit dem Schein wird ein armes, gutes, blindes Wesen zufrieden sein, das ich verehre, wenn ich's auch verachte, das ich liebe, wenn ich's auch hasse. – Da ist noch ein Herz, ein ganzes, großes Herz. Denk mal, mein Junge: ein ganzes, großes Herz! . . . Wenn ich doch auch mal solch ein Herz fände! . . . Und wenn ich's fände, würde ich's verstehen? . . . Ich fürchte, ich fürchte – ich bin Deiner würdig. Schluß.

Ich wünsche Dich nie wiederzusehen.

Käthe Lofka.« 260

Erna Wehrmann saß noch immer. Was thun? – Gehen? – Wohin? – Sie waren ja so arm! . . . Ihr Herz wollte sie auch niemand öffnen. Eigentlich blieb nur noch der Tod. Aber sie dachte nicht einmal daran. Der große Befreier hätte zu ihr kommen müssen, sie selbst hätte ihn nie gesucht. Diese Natur war keines dumpfen Verzweiflungsentschlusses fähig. Sie duckte sich unter dem Schlage tiefer, immer tiefer. Es war so traurig! Dabei sah sie ganz klar. Auch nicht ein Fetzen von dem rosigen Schleier, der ihre Schönheit, ihr Glück gewesen, blieb zurück. Sie sah den Mann wie er war. Doch sie haßte ihn nicht, sie verachtete ihn nicht, sie fühlte sich nur beschmutzt, unsagbar beschmutzt. Diese Empfindung war auch körperlich. Sie wollte aufstehen, sich die Hände zu waschen, die den Brief berührt. Dabei fiel ihr Blick auf die kleine Tischdecke in der Mitte, das glänzende, festliche Weiß des alten Damasts. Der Brief und Meyers Wundersalbe lagen wieder nebeneinander, berührten sich. Sie begriff die teuflische Ironie des Schicksals, die den Ehebruch mit der Kindersparbüchse paart. Da zuckte durch den stumpfen Schmerz zum erstenmal der wehe, scharfe Stich . . . Wenn er das Geld zu dieser Reise doch lieber gestohlen und es nicht aus dem Heiligenschrein genommen hätte! Sie starrte lange. In ihrem Herzen zerriß etwas langsam, qualvoll, etwas, das nie wieder heilt.

Dennoch stand sie auf und ging ins Schlafzimmer. Der Mond war aufgegangen. Sein fahles Licht grüßte in dem hohen Stehspiegel, umschmeichelte die Waschschalen, lag milde auf den großen, niedrigen, modernen Betten, in denen so schrecklich viel Raum war. Der Instinkt hatte sie also doch nicht betrogen. Sie gehörte nicht in dieses Schlafzimmer. Der Kopf erkannte nur, was das Herz längst gefühlt – und dennoch überflutete sie bei dem Gedanken eine eisige Kühle, 261 die Hoffnungsleere that sich auf. Das unglückliche Weib suchte verzweifelnd nach dem festen Punkt im übermächtigen Raume.

Da schrie das Kind im Schlaf. Sie fuhr zusammen, – der Erlösungsschrei! Seltsam genug, hatte die Mutter bis jetzt kaum an das Kind gedacht. Aber sie stürzte im selben Moment nach der Stelle, beugte sich über das kleine Bett, sank in die Kniee und bedeckte den Erwachenden mit ihren Thränen und mit ihren Küssen. Erst wehrte sich der kleine Willy gegen diese wilde Zärtlichkeit, gegen diese fassungslose Frau, die ihn fast erdrückte und immer wie sinnlos murmelte: »Rette du mich – rette du mich!« Dann umschlang er ihren Hals mit seinen ungeschickten Armen und drückte sie wieder und jauchzte und hielt es nur für Spiel.

Und über diesem Kinderbette, an diesem Kinderherzen kam der Mutter wirklich die Erleichterung, der Trost. Was auch verloren, ihr blieb noch genug. Sie mußte bleiben, ausharren, schweigen, diesem Kinde zuliebe, dem sie den Vater nicht nehmen durfte, indem sie den Gatten verließ. Von jetzt an war ihr Leben ein Martyrium, doch das Kreuz, an das sie sich selbst schlug, stand auf Golgatha.

Eine Stunde später zerriß Erna Wehrmann den unseligen Brief. Und während sie selbst gewissenhaft Fetzen für Fetzen an dem Wachsstock verbrannte, fühlte sie nur den Haß gegen die Frau. Der Brief war nie geschrieben, nie angekommen! Schweigen, leiden, das ist der Frauen Beruf. Auch als die große Erregung einer tiefen Abspannung gewichen war, lag Erna schlaflos die ganze Nacht in ihrem Bette zusammengekauert, den Rücken gegen das seine. Sie sah das Leben vor sich wie ein dunkles Labyrinth und tastete gläubig nach der Kinderhand, daß die ihr den Ariadnefaden reiche. Sie wußte nicht, wie sie's 262 durchhielte, ob sie Heuchlerin genug sei, ein ganzes Leben durch zu lügen, und Thörin genug, vielleicht doch wieder zu lieben. Sie fühlte den Schmutz, den Ekel, und daß sie das Gestern doch nie ganz verwinden könne. Ratlos murmelte sie: »Es giebt einen Gott . . . es giebt einen Gott . . .«

Ja, es giebt einen Gott!

Die schreckliche Sonnenhelle des Morgens flutete ins Gemach. Die Umrisse aller Dinge zeichneten sich so scharf und so häßlich . . . ›Wenn er nur heute nicht käme!‹ dachte sie. ›Ich kann ihn nicht mehr küssen, nicht mehr neben ihm schlafen! . . . Vielleicht morgen . . . Aber auch morgen nicht! – Auch über ein Jahr nicht – überhaupt nicht! . . . Was soll werden? . . . Gott, zeige mir doch einen Ausweg!‹ Sie begann krampfhaft zu schluchzen und schluchzte sich in einen kurzen Fieberschlaf.

Sie erwachte nur müder, mutloser. Aber sie stand doch auf. Sie wollte arbeiten – sie konnte nicht. Die Füße wie Blei, der Kopf leer. So blieb sie apathisch fast den ganzen Tag im Lehnstuhl sitzen. Von Zeit zu Zeit schüttelte den zarten Körper ein trockener Husten, die Brust that ihr weh. Einmal setzte das Herz aus – es war ein qualvoller Moment – und doch that es ihr fast leid, als es wieder so gewissenhaft zu ticken begann.

›Wenn er nur nicht kommt, wenn er nur nicht kommt!‹ Es war wie eine fixe Idee, über die sie nicht hinwegkam. Und Willy Wehrmann kam nicht. Sie kannte genau die Züge, die ihn bringen konnten, sie hörte den Lokomotivenpfiff, der durch das Vogelgezwitscher draußen schrillte. Das Schicksal war barmherzig.

Gegen vier pochte es plötzlich an der Thür. Ehe Erna rufen konnte, trat schon jemand ins Zimmer. Es war die Geheimrätin von gestern. Noch auf der Schwelle rief die alte Dame lustig: 263

»Sehen Sie, Frau Wehrmann, da habe ich Sie doch überfallen! Garten revidiert – die Küche stand auch offen. Es ist alles wie die Hausfrau: sauber und hübsch. Auch hier . . .«

Erna saß wie gelähmt.

»Sie sind nicht wohl?« fragte die alte Dame und bog den Körper der jungen Frau scherzend aus dem Schatten des Lehnstuhls ins volle Licht.

»Nein, ich fühle mich gar nicht wohl.«

Die alte Dame stand ganz starr.

»Liebes Kind, Sie sehen ja schrecklich aus!«

»Ich bin gestern zu weit gegangen . . . Ich weiß auch nicht . . . Aber das giebt sich wohl. Verzeihen Sie, gnädige Frau, daß ich nicht aufstand!« Sie versuchte müde zu lächeln.

Der Besuch schüttelte den Kopf.

»Sie müssen etwas Schreckliches erlebt haben . . . Sie haben es erlebt!«

»Aber wirklich nicht, gnädige Frau.«

Die alte Dame zog resolut einen Stuhl heran und faßte Ernas kalte Hände.

»Liebes Kind, seien Sie mal ganz ehrlich! Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich glaube nicht, gnädige Frau.«

Aber die andre sprach dringend weiter: »Ich will ja gar nicht in Ihr Geheimnis dringen – aber wenn ich Ihnen in irgend etwas helfen kann, ich thu's so herzlich gern! Wir alten Menschen sind doch eigentlich nur noch für die jungen da . . . Sie könnten beinahe mein Großkind sein.«

Erna sah dabei ins Leere, sie mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht loszuweinen. Es war ihr die schwerste Nervenqual, wie die alte Dame zärtlich ihre jungen Hände streichelte.

»Oder soll ich lieber gehen?«

Erna fühlte wieder den aussetzenden Herzschlag, 264 die Beklemmung, sie wollte schon sagen: ›Ja, gehen Sie!‹ – da schrillte aufdringlich ein Lokomotivenpfiff durch die Sommerluft, und die Kranke sagte hastig:

»Nein, bleiben Sie, gnädige Frau, bleiben Sie!«

Die »Geheime«, deren Blick unruhig durch das Zimmer irrte, erzählte indessen freundlich beflissen, wie hübsch sie das Haus fände und wie gepflegt den Garten. Erna hörte nichts . . . Sie horchte auf einen andern Laut . . . Da, ein rascher Schritt im Flur. Sie fühlte es widerlich warm in der Kehle aufsteigen, ein fader, salziger Geschmack kam in den Mund.

Herr Wehrmann trat schnell ins Zimmer, wie ein Mensch, der vor allem zur Toilette eilen will, sich den Reisestaub abzuwaschen. Er sah grau aus, angegriffen, die Augen flackerten hohl.

»Tag, Erna! Ich will gleich schnell . . .«

Die alte Dame war langsam aufgestanden und musterte den Mann feindlich von Kopf bis zu Fuß. Er schien's nicht zu merken, sagte aber doch als Gesellschaftsmensch, der sofort das Gleichgewicht findet: »Wehrmann. Ich habe wohl die Ehre . . .«

»Frau Geheimerat Hinrichs,« murmelte Erna.

Die alte Dame nickte kaum, das Gesicht war eisig. Herr Wehrmann nahm einen Stuhl und sagte über den Tisch weg zu seiner Frau: »Die Sache – du weißt schon – ist endgültig aus.« Er sprach eigentümlich unsicher, als wenn er nicht ganz nüchtern wäre. »Ist kein Brief in der Zwischenzeit gekommen?«

»Nein, Willy, für dich keiner.«

Herr Wehrmann stand auf.

»Hm . . . Verzeihung, gnädige Frau, daß ich so sonderbar bin! Ich habe etwas sehr Unangenehmes hinter mir.« 265

Die alte Dame räusperte sich und sah an ihm vorbei.

»Was hast du übrigens, Erna?«

»Ach, es ist nur, weil ich so sicher gehofft hatte . . .«

Er war rasch zu seiner Frau getreten.

»Ernachen!«

Der bittersalzige Geschmack wurde stärker. Willy beugte sich erstaunt über den Lehnstuhl.

»Aber Ernachen, was ist dir denn? Die Sache ist doch nicht so schlimm! . . . Höchstens für mich . . .«

Er wollte sie küssen. Der ganze Frauenkörper bebte, vor ihren Augen schwankte es. Da war ja endlich der feine, durchdringende Juchtengeruch, das Parfüm des Ehebruchs, das er noch nicht Zeit gehabt hatte in Patschuli zu ertränken.

Ihre Lippen berührten sich fast. In dem Augenblicke zuckte sie zusammen.

»Laß mich!« röchelte sie und tastete nach dem Herzen. Dann sank sie mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl zurück. Aus Nase und Mund brach ein Blutstrom.

*

Die alte Frau und der junge Mann hatten die Ohnmächtige ins Schlafzimmer aufs Bett geschleppt. Nachsickerndes Blut färbte das weiße Linnen. Die alte Frau hielt den wachsbleichen Kopf, der junge Mann die eiskalten Hände. Das Dienstmädchen stand ratlos dabei.

»Ich will zum Doktor laufen,« sagte der Mann endlich.

»Schicken Sie das Mädchen!« befahl die Frau.

Als das Mädchen weg war, sagte die Frau wieder leise und bestimmt: »Ich will Sie sprechen, Herr Wehrmann. Kommen Sie in ein andres Zimmer.«

Er sah ängstlich auf die Ohnmächtige, aber er ließ doch die Hände los. 266

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Herr Wehrmann!«

Da stand er auf.

Die beiden gingen hinaus, sie voran. Erst in dem guten Zimmer, unter dem großen Ahn aus den Befreiungskriegen, machten sie Halt. Er schaute etwas verwundert. Doch die alten Augen glänzten hart und entschlossen. Die Dame sprach mit bebender Stimme:

»Ich habe die Ehre schon viel länger, Herr Wehrmann! . . . Ich wohne nämlich Fräulein Käthe Lofka gegenüber.«

Herr Wehrmann verfärbte sich: »Das ist meine Cousine.«

Da ging die alte Frau zitternd vor Erregung auf ihn los, daß er unwillkürlich zurückwich.

»Lügen Sie nicht noch, Sie junger, verdorbener Mensch, Sie! Was sie auch sonst Ihnen sein mag, vor allem war sie Ihre Geliebte . . . Ich erkenne Sie sehr genau wieder! . . . Ihr Pech, daß Sie hübscher sind als andre – aber ich hätte wahrhaftig nicht geglaubt, daß der neueste Geliebte der Lofka hier zu suchen wäre. Versuchen Sie nicht etwa zu lügen! Ich bin sehr au fait! . . . Die paar zufälligen Andeutungen Ihres Direktors über Ihre geheimnisvollen Reisen in Familienangelegenheiten würden auch einem Kinde plausibel machen, was das für schmutzige Familienangelegenheiten sind.«

Er zuckte zusammen. »Gnädige Frau, ich erlaube niemand . . .«

»Soll ich vielleicht Ihre Frau fragen, ob diese Besuche auf ganz besonderen Wunsch . . .« Sie lachte hart und höhnisch auf.

Er schwieg und starrte mit gekniffener Lippe auf einen Fleck, aber die Hand, die sich auf eine Stuhllehne stützte, zitterte so, daß der Trauring hart gegen das Holz schlug. 267

»Aus Ihrem Schweigen sehe ich, daß Ihre beklagenswerte Frau bis jetzt nichts weiß, höchstens ahnt.«

Er schwieg noch immer wie ein verstockter Sünder.

Die alte Dame begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Es ist mir sehr gleichgültig, was aus Ihnen wird . . . Ich weiß auch nicht, ob man dem armen Wurm da drüben nicht besser den Tod wünschen sollte als das Leben, aber ich weiß, daß meine Menschenpflicht hier darin besteht, dies junge Leben zu erhalten.« Sie sah lange und ernst auf den stummen, hübschen Mann. »Nein, ich verstehe euch Männer doch nicht, daß ihr nur gierig deshalb im tiefsten Schmutz wühlt, weil ihr das ganz Reine selbst zu Hause habt . . . Daß alles verstehen alles verzeihen hieße, schien mir immer eine geistreiche Lüge . . .« Sie überlegte stehen bleibend. »Morgen wird Ihnen ein Check über tausend Mark zugehen. Sie sind arm, wie ich höre, und haben höchstens Schulden – aber wenn Sie noch einen Fetzen von Ihrer sogenannten Ehre besitzen, dann weisen Sie das Darlehen nicht zurück. Sobald Ihre Frau transportabel ist, muß sie weg, ins Gebirge, an die See, was weiß ich – aber sie muß aus Ihrer Nähe. Wird sie noch einmal gesund, will sie es später noch einmal mit Ihnen versuchen, das ist ihre Sache. Ich thät's nicht! . . . Jedenfalls muß sie fort – und das bald. Ich will auch später gern weiter helfen. Es wird Ihnen allerdings bitterschwer ankommen, gerade mein Schuldner zu sein. Aber ich will Sie auch nicht unnötig reizen, dieser Frau zuliebe. Also, nehmen Sie das Geld und versuchen wenigstens ein anständiger Mensch zu sein, so verspreche ich Ihnen unverbrüchliches Schweigen. Lehnen Sie aus sündigem Hochmut ab, so soll alle Welt wissen, was Sie wert sind. Ich halte Wort. Adieu.« 268

Als sie die Thür zum Flur öffnete, klang das helle Jauchzen des kleinen Willy von seinem Sandhaufen. Die alte Frau machte eine Handbewegung, als wenn sie sagen wollte: ›Hörst du?‹, und er hörte.

Eine Stunde später kam der Arzt. Er schüttelte den Kopf.

»Sie war nie sehr stark, aber daß sie so schwach ist! . . . Wir müssen alle Aufregungen vermeiden. Wenn sie noch Widerstandskraft genug hat, bringen Sie sie dann in ein Sanatorium. Das ist das einzige.«

Es war eine furchtbare Nacht, die Willy am Bette seiner Frau verbrachte. Er dachte, es könne nie wieder Tag werden. Am nächsten Morgen kam der Check. Er nahm ihn. Es war die schwerste Buße.



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