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Die Krise der Väterlichkeit

Es ist eine im menschlichen Kulturleben allgemeine Erscheinung, daß intellektuelle Erwerbungen den Höhepunkt ihrer schöpferischen Wirkung bald nach der Zeit ihres ersten Auftretens erreichen und dann allmählich in dem Maße an Einfluß verlieren, als sie den nachfolgenden Generationen keine neuen Eindrücke mehr zu bieten haben. So darf man auch die höchste sozialschöpferische Macht der Väterlichkeit in jene Epoche verlegen, in der aus dem Wirrsal von Aberglauben und Unwissenheit über die natürlichen Vorgänge der Zeugung die erste klare Erkenntnis auftauchte, welcher Anteil dem Manne an der Entstehung und Beschaffenheit der Sprößlinge zukommt. Diese intellektuelle Erwerbung scheint mit der Ausbildung des Eigentumsbegriffes zeitlich zusammenzufallen; durch die Verknüpfung mit ihm wird sie zur Grundlage der Einzelfamilie, die, auf patriarchalischer Verfassung ruhend, die matriarchalische Rechtsordnung verdrängt und dem Mann alle Rechte in die Hand gibt.

Der Vater alter Zeit hat Gewalt über Leben und Tod. Noch an den erwachsenen Kindern kann der römische Pater familias frühen Datums die Todesstrafe aus eigenem Ermessen vollziehen; bei den alten Deutschen muß das neugeborene Kind zu Füßen des Vaters auf den Boden gelegt werden und empfängt das Recht zu leben erst, wenn er es aufheben läßt. Weigert er sich deß, so wird das Kind getötet. Das gleiche Recht über Leben und Tod als Schutzmaßregel des Alleinbesitzes genießt der Mann gegenüber der Frau; er bestraft den Ehebruch mit dem Tod und erfindet die mannigfaltigsten Sitten und Vorstellungen, um der Unsicherheit, dieser empfindlichsten Geißel der Vaterschaft, vorzubeugen.

Mit dem Eigentumsrecht übernahm der Vater auch die Verpflichtung im weitesten Umfang, seine Kinder zu ernähren und zu beschützen. Nicht mehr allein durch die vorübergehende Beschwerde des Männerkindbettes bezeugt er sein väterliches Identitätsgefühl mit der Nachkommenschaft, sondern durch die viel langwierigere, viel mühevollere Aufgabe der ihr zu gewährenden ökonomischen Sicherstellung; und man kann wohl sagen, daß ein Mann, der diese Leistung gegenüber einer zahlreichen Familie vollbringt, durch die Ansprüche des Gattungsdienstes nicht weniger schwer belastet ist als das Weib, das die Kinder zur Welt bringt. Die Sorge für diese wird Sinn und Zweck seiner ganzen Lebensarbeit, das Ziel seiner äußersten Kraftanstrengung. Und der Drang, die Früchte dieser Leistung seiner Nachkommenschaft über das eigene Dasein hinaus zu sichern, ihr damit eine Stufe zu erleichterter und erhöhter Lebensführung zu bauen, scheint bei der Entstehung einer der bedeutsamsten sozialen Schöpfungen ausschlaggebend mitgewirkt zu haben – bei dem Erbrecht. Eigentumssinn und Identitätsgefühl verbinden sich zu einer Wechselwirkung: Besitz befeuert den Wunsch nach Leibeserben, und das Dasein der Leibeserben erhöht den Wert und Nutzen des Besitzes. Auf diesem Wege steigt der Pater familias als eine, von Ehrfurcht und Unterwerfung getragene Gestalt in der Menschheitsgeschichte herauf; pater familias sein, heißt für jeden einzelnen Mann, so unfrei er im übrigen seiner sozialen Stellung nach sein mag, ein kleines Königreich an unbeschränkter Machtbefugnis über Frau und Kinder besitzen, ein Gebiet, wo sein Wille selbstherrlich walten kann.

Ja nicht bloß auf die Dauer seines Lebens erstreckte sich diese unbeschränkte Autorität und Willensvollmacht; hatte er durch das Erbrecht die Vorteile seiner Leistungen seiner Nachkommenschaft für die Zukunft gesichert, so bemächtigte er sich in Gestalt des Ahnenkultus ihrer Dankbarkeit und Untertänigkeit über sein Leben hinaus. Er blieb Hausgott, der die Schicksale des Hauses auch als Abgeschiedener bestimmte, der zu fürchten, zu verehren und zu bedienen war. Noch bei den Römern genießen die Vorfahren in Gestalt der Laren und Penaten diese Vorrechte. Immerhin hat die europäische Vaterschaft mit ihren Ansprüchen an Dankbarkeit und Entgelt sich nicht so weit verstiegen wie die asiatische, der bei Chinesen und Japanern sogar alle Ehren und Auszeichnungen des Sohnes zufallen, so daß, was ein Mann erringt, nicht ihm selbst, sondern seinem Vater gilt.

Jahrtausende lang, seit einer so fernen Vergangenheit, daß nur mehr Spuren auf eine vorhergehende andere Verfassung der menschlichen Zustände weisen, behauptet der Mann als Vater seine überragende Stellung. Bis in die letzten Jahrzehnte ist die Familie mit geringen Veränderungen die unbestrittene Domäne der Vatergewalt geblieben. Nun aber häufen sich Anzeichen, daß die Väterlichkeit als soziale Macht im Schwinden begriffen ist. Noch vor wenigen Generationen eine unangetastete Erscheinung, beginnt der pater familias, der eine unbeschränkte Anzahl von Kindern als Stolz und Inhalt seines Lebens betrachtet, der mit eiserner Faust über diese seine selbstgeschaffene Welt die Herrschaft führt, allmächtig und nicht selten despotisch, eine anachronistische Gestalt zu werden. In ländlichen Verhältnissen unter einfachen und stehengebliebenen Lebensbedingungen ist er noch am ehesten zu finden, auch dort gehört er aber schon zu den Ausnahmen, weil äußere und innere Einflüsse das Leben immer mehr zu seinen Ungunsten verändern. Alle Umstände der modernen Großstadtexistenz, die der Aufzucht von Kindern so abträglich sind, ökonomisch-technische Wandlungen, die den Mann in eine andere Richtung drängen, wirken von außen dahin, seine Stellung zu erschüttern. Aufgerieben durch einen gesteigerten Konkurrenzkampf, durch die unmäßigen Ansprüche, die das großstädtische Getriebe an die Nervenleistung stellt, bleibt dem modernen Manne weder Zeit noch Lust, die Regierung einer großen Familie zu übernehmen: sie ist ihm nicht mehr ein Stolz, sondern eine Last.

Es leuchtet ein, daß sich die Stellung des Einzelnen zur Nachkommenschaft ganz anders gestaltet, solange Kinder Nutzen und Macht für ihn bedeuten, als wenn sie eine seine Kraft übersteigende Bürde bilden. Schon rein äußerlich verliert der pater familias der modernen Familie durch die Beschränkung der Kopfzahl an Macht und Bedeutung; ein Dutzend Kinder führen und versorgen, das will unvergleichlich mehr sagen als bei zweien oder dreien die Aufgaben des Vaters erfüllen.

Allein viel bedeutsamer sind die ideellen Umwertungen, die dazu beitragen, die Vatergewalt zu untergraben. Sie war ohne Ansehung der Person auf das Autoritätsprinzip gegründet; nicht, weil er ein gütiger, überlegener lebenskundiger Mann war, konnte der Vater kritiklose Unterwerfung fordern, sie kam ihm von Rechts wegen zu, auch wenn er hart, unverständig, grausam verfuhr. Diesem Autoritätsprinzip ist wie auf allen Gebieten seiner Geltung auch in der Familie ein Gegner erwachsen, der das auferlegte Joch nicht erträgt – das Persönlichkeitsbewußtsein.

Die Veränderungen in der sozialen Stellung und Auffassung des weiblichen Geschlechts, soweit sie durch das erwachte Persönlichkeitsbewußtsein der Frau herbeigeführt sind, gehen auch am Familienleben nicht spurlos vorbei und wirken dahin, die Machtbefugnisse der Vaterschaft einzuschränken. Schon durch den selbständigen Erwerb der Frau wird die ökonomische Überlegenheit des Mannes herabgesetzt; zum mindesten hat sie nicht mehr die Bedeutung, die sie besaß, solange er allein imstande war, den Lebensunterhalt für Frau und Kinder zu beschaffen. Der selbständige Erwerb bestärkt zugleich das Persönlichkeitsbewußtsein der Frau, die sich nicht mehr willenlos der männlichen Autorität fügt.

Auch jene Vorstellungen, die als Kautelen der Vaterschaft die Stellung der Frau in mannigfaltiger Gestalt bestimmten, vertragen sich nicht mit der Auffassung der Persönlichkeit. Je mehr die Frau, in sich diese Auffassung entwickelt, desto eher kann die Echtheit der Nachkommenschaft in ihre Verantwortung gegeben werden, ohne daß der Ausschluß des Betruges durch Freiheitsbeschränkungen erzwungen wird.

Das Erwachen der Persönlichkeit schon in frühem Alter sprengt überdies die Bande, die durch den Eigentums- und Herrschaftsbegriff das Kindschaftsverhältnis weit über die Jahre der tatsächlichen Unmündigkeit zu einem Zustand sklavischer Abhängigkeit gemacht haben. So wie die Frauen sich aus der männlichen Übermacht befreien, beginnt auch bei der heranwachsenden Jugend ein Emanzipationsstreben und trägt wesentlich dazu bei, die Stellung der Eltern zu den Kindern in den Grundlagen zu erschüttern. Daß das Alter der Adoleszenz noch die ökonomische Selbständigkeit ausschließt und das Kind von der Hilfe der Eltern abhängig macht, verschärft nur den Konflikt, ohne ihn aufzuheben. Wie stark aber das Persönlichkeitsgefühl sich schon an der oberen Grenze des Kindesalters entwickelt, zeigt sich in der »Jugendbewegung«, in der sich die Gleichaltrigen zusammenschließen, um einen Rückhalt außerhalb der Familie zu finden. Diese Jugendbewegung, die um das Recht der Adoleszenz auf eigene, von dem Zwang der elterlichen Autorität unabhängige Entfaltung kämpft, gehört zu den Anzeichen des Auflösungsprozesses, in dem die alte, auf dem Vaterschaftsvorrecht ruhende Familienform sich befindet. Zwar sollen durch die Emanzipation der Halbwüchsigen die mütterlichen Ansprüche zugleich mit den väterlichen eingeschränkt werden; daraus geht aber hervor, daß für die heranwachsende Jugend der Mann als Vater schon kein Vorrecht vor der Mutter mehr besitzt, daß sie den pater familias, vor dem noch ein Menschenalter früher die Kinder bei der Mutter Schutz zu suchen pflegten, als keine der Mutter übergeordnete Instanz mehr betrachtet.

Auch ist die moderne Jugendbewegung nicht zu verwechseln mit jener Auflehnung des Sohnes gegen den Vater, deren Spuren durch die ganze Geschichte der Väterlichkeit an einzelnen Vorfällen erkennbar sind. Der Vater als der Herr über Leben und Tod des Kindes, wie er in den alten Kulturen erscheint, wird leicht als der Feind empfunden, aus dessen Willkür sich der Trotz des selbständig gewordenen Individuums zu befreien strebt. Daß diese Auflehnung gegen den Vater vornehmlich bei den Söhnen hervortritt, begreift sich aus der stärker betonten Selbständigkeit und Willenskraft des männlichen Geschlechts, dem ja auch sozial eine andere Aufgabe zufällt, als dem weiblichen. Das Motiv der sozialen Eifersucht zwischen Vater und Sohn erklärt das gegnerische Element dieses Verhältnisses einleuchtender als das der sexuellen Eifersucht, wie es durch den sogenannten Ödipuskomplex der Freudschen Schule geschieht – nebenbei bemerkt, hat Ödipus seinen Vater unwissentlich und nicht aus bewußter Sohnesauflehnung erschlagen, ist also gar kein typischer Repräsentant derselben.

Nach der alten Auffassung war das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern durch den Pflichtbegriff und das Autoritätsprinzip geordnet; ein intimes, zärtliches Verhältnis, wie es jetzt als das wünschenswerte gilt, wäre früher eher als ungebührlich, als ehrfurchtsverletzend empfunden worden. Schon in der Anrede »Herr Vater« und »Frau Mutter« – an deren Stelle verschiedene, nicht immer geschmackvolle Kosenamen getreten sind – kündigte sich der gebotene Abstand an und verhinderte, daß Eltern und Kinder sich für gewöhnlich sehr nahe kamen, was besonders dann, wenn die Nachkommenschaft den Eltern ungleichartig war, eine wirksame Schutzmaßregel darstellte.

Über die Unterordnung unter das Autoritätsprinzip hinaus beruhte aber das Verhältnis der Kinder zu den Eltern auf der unmittelbaren Gewißheit, daß Leben an sich ein hohes, über jeden Zweifel erhabenes Gut sei, Werk und Ausdruck des göttlichen Willens, dessen Mittel die Zeugung bildet. Sobald diese beiden Grundpfeiler, der Glaube an das Leben und an den göttlichen Willen, zu wanken beginnen, wird auch das Verhältnis der Kinder zu den Eltern unsicher, zweideutig, anfechtbar. Wenn Zeugung nicht mehr das Werk eines höheren Willens ist, erscheint sie nur als ein Akt gedankenloser Wollust: und wenn das Leben nicht mehr ein über jeden Zweifel erhabenes Gut ist, vielmehr eine Pein und Qual für das damit beladene Geschöpf, entsteht die anklägerische Frage, nach welchem Recht es zweien Menschen belieben darf, ein Wesen ins Dasein zu rufen, dem damit die Verpflichtung aufgebürdet wird, dieses Dasein solange zu schleppen, als es der blinden Natur gefällt. Ja die Frage kann noch strenger lauten: »Wer ist so ruchlos, einen Menschen zu wecken aus dem Schlummer des Nichtseins?« (Wildgans, Dies irae). Da es als Verbrechen gilt, einem Menschen das Leben zu nehmen, ist es weniger Verbrechen, einem Menschen das Leben zu geben? Es ihm aufzunötigen, ohne daß er die Möglichkeit hätte, gegenüber dieser ungeheuerlichen Zumutung seinen eigenen Willen geltend zu machen? Bei dieser Auffassung kommt der Vater noch schlechter weg als die Mutter. Denn mit der Aufgabe, ein Kind zur Welt zu bringen, erwachsen soviele Mühen und Leiden, daß der Einwand gegen die Zeugung als einen Akt bloßer Wollust ihr gegenüber nicht aufrechtzuerhalten ist; auch erscheint sie eher als der passive, durch den männlichen Willen überwältigte Teil. Der eigentlich Schuldige aber ist der Vater; und wenn er auch für den angenehmen Augenblick, durch den er ein Wesen ins Dasein rief, späterhin Buße tut, indem er für dessen Unterhalt sorgt, so wird ihm dieses Wesen keinen Dank wissen, falls es das Leben nicht mehr als ein Gut schlechtweg empfinden kann.

Für den angekränkelten Lebenstrieb gibt es kein Argument zugunsten des Lebens, sowenig wie für den unversehrten Lebenstrieb ein Argument dagegen. Die Dankbarkeit, die nach der alten Auffassung die Grundlage aller kindlichen Liebe war, wird mit der Entwertung des Lebens gegenstandslos; wer sollte Dank leisten für etwas, das er eher als ein Übel denn als ein Gut betrachtet? Warum hast Du mich ins Leben gezwungen, wenn ich mich darin nicht wohl fühlen kann? Warum mit der Erbschaft aller der Mängel und Übel beladen, die in der Reihe der Generationen sinnlos weitergegeben werden?

Mit dem Autoritätsprinzip bricht das Herrschaftsverhältnis zusammen, das eine so wesentliche Komponente der Väterlichkeit bildete. Ganz unhaltbar aber wird die Komponente der Eigentumsidee durch die Veränderungen des modernen Lebens. Die Frau, die sich nicht mehr als Eigentum ihres Mannes in irgendeinem Sinne fühlen will, macht ihr Anrecht auf die Kinder immer stärker geltend und trachtet, sie der unbeschränkten väterlichen Gewalt zu entziehen. Jener männlichen Auffassung, die im Weibe nur ein notwendiges Übel zur Erzeugung von Nachkommenschaft erblickt, tritt nicht selten eine extrem weibliche gegenüber, die den Mann nur als notwendiges Übel zur Erlangung eines Kindes betrachtet und kraft persönlicher Unabhängigkeit die außereheliche Mutterschaft als die freie, von väterlichen Ansprüchen unbehelligte der legitimen vorzieht.

Desgleichen empört sich das Kind selbst kraft des erwachenden Persönlichkeitsgefühles gegen die Eigentumsidee. Die Emanzipation des Kindes, die derjenigen des Weibes auf dem Fuße folgt, ist im Grunde nur die letzte Konsequenz in der Einschränkung des Eigentumsbegriffes, die mit der Aufhebung der Sklaverei als dessen Ausdehnung über den Menschen beginnt. Allem Anscheine nach wird der welthistorische Prozeß jener wachsenden Einschränkung vor keiner Form des Eigentums haltmachen, wie er ja schon jetzt an das Erbrecht, dieser bezeichnendsten Schöpfung der Väterlichkeit, heranzureichen beginnt.


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