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Zivilisation und Geschlecht

Es ist das tragische Schicksal des Menschen, daß er immer der Sklave seiner eigenen Schöpfungen wird, weil er ihre Folgen nicht im voraus zu erkennen vermag. Und so geschieht es, daß er auch dort, wo er mit seinem Scharfsinn und seiner Erfindungsgabe die elementaren Gewalten, denen er gegenübersteht, in seinen Dienst zwingt, nur wieder unbeherrschbaren Mächten anheimfällt.

Die technischen Fortschritte der letzten hundert Jahre sind so groß, daß sie diejenigen aller vorhergehenden Jahrtausende überwiegen. Von dieser Seite angesehen, bietet die Zivilisation ein überwältigendes Bild, das berauschende Gefühle des Triumphes und der Erfüllung zu erwecken vermag. Aus solchen Gefühlen stammt wohl die unsinnige Überschätzung der technischen Errungenschaften, die überall das moderne Leben bestimmt; und derart ist das allgemeine Urteil verblendet, daß die Zerstörung, die diese hochzivilisierte Epoche nicht nur an den edelsten Kulturgütern, sondern auch an der Gesundheit und Lebenstüchtigkeit verübt, ihr kaum angerechnet wird.

Durch praktische Einrichtungen, nicht durch höhere Direktiven beeinflußt die Zivilisation die Lebensweise; dieser Mangel an leitenden, überschauenden Ideen zeigt sich verhängnisvoll an dem Übermaß sowohl der Arbeit wie des Genusses. Das Dasein des zivilisierten Menschen hat den Feierabend verloren, wo es sich in der Region der Arbeit, und die ästhetische Form, wo es sich in der Region des Vergnügens abspielt. So hoch die Herrschaft über die Natur gestiegen ist, so tief ist die Herrschaft des Einzelnen über sein eigenes Leben gesunken. In der abendländischen Zivilisation ist der Mensch wohl der Herr der Natur, aber nicht der Herr des Lebens: er lebt nicht, er wird gelebt.

Zugleich verliert sich das Bewußtsein eines höheren Zweckes immer mehr aus diesem Dasein; der Mensch, der in den modernen Zivilisationswerten befangen ist, kann keine Auskunft über einen anderen Zweck des Lebens geben, als eben den der Zivilisation. Fragt man, was denn bei der ganzen betriebsamen Geschäftigkeit der Zivilisation an tieferem Glück gewonnen wird, so versagt die Antwort. Ein anschauliches Bild dieser Leerheit gibt Kellermanns Roman »Der Tunnel«; da bläht sich der Moloch der Zivilisation – wie es scheint, ohne die Absicht des Autors – in seiner schauerlichen inneren Halt- und Zwecklosigkeit, verschlingt den Erfinder, den Geldgeber, den Arbeiter, ohne daß ersichtlich würde, wozu eigentlich der Aufwand an Opfern dient. Daß künftig statt einer mehrtägigen Seereise eine achtundzwanzigstündige Eisenbahnfahrt die Verbindung zwischen Europa und Amerika herstellt, was kann das, abgesehen von Handelsinteressen, bedeuten? Allein so ganz ist die Gegenwart den Zivilisationswerten untertan, daß die lächerliche Unwichtigkeit einer solchen Errungenschaft über der glänzenden Darstellung nicht empfunden wurde.

Ebenso täuscht die lärmende Wichtigtuerei der Zivilisation mit ihren materiellen Vorzügen auch im Leben selbst den modernen Menschen über den Bankerott der Innerlichkeit, der damit einhergeht. In einer hochzivilisierten Gesellschaft tritt das sinnlos Elementare an den einzelnen nicht mehr in Gestalt unbeherrschbarer Naturgewalten heran, sondern in Gestalt unbeherrschbarer Beanspruchung seiner Leistungsfähigkeit. Die Mittel der Zivilisation haben dem Menschen die Herrschaft über die Natur gegeben – aber nun ist es so weit, daß er die Herrschaft über sein Leben gegen die Mittel der Zivilisation verteidigen muß. Hätte dieses Geschlecht noch Zeit zur Besinnung, es müßte allein schon an der Anzahl der nervösen Zusammenbrüche, von denen die Tüchtigen wie die Untüchtigen betroffen werden – jene, weil sie dem Übermaß der Ansprüche zu sehr ausgesetzt sind, diese, weil sie auch das Durchschnittsmaß derselben nicht aushalten können – die lebensfeindliche Unsinnigkeit seiner Hybris erkennen. Hybris, Maßlosigkeit über alle Vernunft hinaus, das ist der Grundcharakter der modernen Zivilisation.

Versucht man, den Ursachen dieser Erscheinung nachzugehen, dann wird man unter ihnen auch eine Gleichgewichtsstörung in dem Anteil der Geschlechter an der Lebensgestaltung der Zivilisation finden.

Zu Ende des vorigen Jahrhunderts hat ein angesehener Arzt, der in den Kämpfen der Frauenbewegung um die soziale Gleichstellung als Gegner Partei ergriff, auf den unermeßlichen Reichtum der zivilisatorischen Errungenschaften hingewiesen und das Wort geprägt: »Alles Männerwerk«. In der Tat! Die ganze moderne Zivilisation ist Männerwerk; der Anteil der Frauen daran ist so verschwindend und so jungen Datums, daß er nicht in Betracht kommt. Man kann ohne Einschränkung den Mann als den Schöpfer der Zivilisation bezeichnen, dermaßen überragt er in der Gegenwart das Weib an technischem Können auf allen Gebieten.

Dieser Tatsache gegenüber ist es bemerkenswert, daß gerade die Zivilisation, sofern sie technische Lebensvervollkommnung ist, in ihren Anfängen ein Werk des weiblichen Geschlechts zu sein scheint, weil Frauen überall die ersten Ackerbauer, Töpfer, Weber, Zeltmacher, kurz, die ersten Techniker waren. Und da Erfindungen gewöhnlich von denen gemacht werden, die sich mit einer Sache eingehend beschäftigen, darf man schließen, daß auch jene ersten in das Dunkel der Anonymität gehüllten Erfindungen, mit denen das Kulturleben begann, von Frauen herrühren. Denn ohne einen bestimmten Grad technischer Lebensvervollkommnung kann Kultur als ästhetische Lebensformung nicht entstehen; sie verträgt sich nicht mit der völligen Abhängigkeit von der Herrschaft der elementaren Naturgewalt, in welcher der primitive Mensch lebt.

Dieselbe Fähigkeit, die zuerst den Boden für die Kultur bereitet, ist deren schlimmste Bedrohung, sobald sie das Übergewicht erlangt. Und diesem Schicksal der Kultur analog erscheint auch das des weiblichen Geschlechtes. Was auf den untersten Stufen der Kultur die Auszeichnung der Frauen bildet, die technische Geschicklichkeit, verwandelt sich in eine ihnen feindliche Macht, sobald die Konsequenzen der weiblichen Geschlechtsnatur sich in der kulturellen Entwicklung geltend machen. Wird der Mensch – nicht bloß der weibliche, auch der männliche – durch die Kultur schon erschwerten Bedingungen in seiner geschlechtlichen Lebensführung unterworfen, so trägt eine hochgesteigerte Zivilisation im besonderen Maße dazu bei, die Lebensverhältnisse nach dieser Hinsicht zu erschweren und zu verwickeln. Der natürliche Zweck der sexuellen Anlage, die Fortpflanzung, findet in der Welt der Zivilisation keinen Schutz; alle Einflüsse sind darauf gerichtet, ihn zu hindern und die Antriebe, die ihm dienen, zu verderben. Es ist sattsam bekannt, daß, je höher die Zivilisation steigt, desto ungünstiger die Bedingungen der Kinderaufzucht werden. Das Kind als das der Natur am nächsten stehende Menschenwesen wird auch am stärksten durch ein künstlich gewordenes Leben geschädigt. Und mit dem Kinde die Frau, der die Natur die ganze Schwere der generativen Aufgabe auferlegt hat, während sie den Mann frei ausgehen ließ.

Der Ausgangspunkt aller Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist die ungleiche Verteilung in den Aufgaben der Fortpflanzung. Sie belastet das weibliche Geschlecht in unverhältnismäßiger Weise gegenüber dem männlichen, hingegen gewährt sie dem männlichen keinerlei Sicherheit über seine organische Beziehung zur Nachkommenschaft. Diese naturgegebenen Tatsachen verstärkt die Kultur als eine nur der menschlichen Gattung eigene Lebensform in der Richtung der Ungleichheit; das Leben der Geschlechter im Tierreich ist weder durch die Aufgaben der Mutterschaft, noch durch die Unsicherheit der Vaterschaft auch nur im entferntesten so sehr beeinflußt wie das Leben der Menschheit. Erst mit dem Anfang der Kultur beginnt jener welthistorische Prozeß der wachsenden Ungleichheit in der Stellung der Geschlechter, dem schließlich das Weib als Mutter gegenüber dem Mann als Vater unterliegt. Mutterschaft und Vaterschaft sind die Angeln der Kulturgeschichte in ihrem Verhältnis zu den Geschlechtern.

Denn sobald der Mann Anspruch auf seine Nachkommenschaft als einem Besitz erhebt, ist er genötigt, Einrichtungen zu schaffen, die ihm die von der Natur versagte Sicherheit gewähren sollen; dabei kommt ihm seine Freiheit von den Beschwerden der Fortpflanzung zustatten, indes das Weib, durch die Last der Schwangerschaft, des Gebärens und Stillens gebunden, ihm in das Gebiet höherer Arbeit nicht zu folgen vermag. Der letzte Grund seiner Überlegenheit liegt in seiner Befreiung von der generativen Gebundenheit, wodurch er Raum zur unbeschränkten Entfaltung der intellektuellen Anlage gewinnt, und in den eigentümlichen Bedingungen der Vaterschaft, die ihn nötigen, sein Herrschafts- und Eigentumsrecht an den Kindern durch deren Versorgung, also durch angespannte Arbeitsleistung verschiedenster Art, zu behaupten.

Auf der primitivsten Stufe wirkt die Mutterschaft noch nicht als Hindernis für die Betätigung der Frau an den Aufgaben des sozialen Lebens, ebensowenig wie das noch ganz unentwickelte Vaterbewußtsein sich gegenüber ihrer sozialen Stellung einschränkend geltend macht. Mit der höheren Spezialisierung der Arbeitsgebiete und der daraus folgenden Änderung der Lebensführung hingegen verschlechtert sich die Lage des weiblichen Geschlechtes; denn gleichzeitig vollziehen sich mit der Entwicklung des Eigentumsbegriffes die Konsequenzen des Vaterschaftsbewußtseins als Steigerung der männlichen Macht zu Ungunsten der Frau. Solange aber der Mann durch eine strenge, mit religiösen Motiven verstärkte Familienmoral sich zur unbeschränkten Erzeugung von Nachkommenschaft verpflichten läßt, bildet die generative Aufgabe mittelbar auch für ihn eine Bürde, die ihn bindet. Seine ganze intellektuelle Kraft wird erst frei, wenn diese Moral sich lockert: bezeichnenderweise fällt die ungeheuere Steigerung der zivilisatorischen Erwerbungen zeitlich mit dem Niedergang der religiös-familialen Tradition zusammen.

Bisher ist diese Geschlechtsfreiheit immer als eine natürliche Bevorzugung des männlichen Geschlechtes betrachtet worden, eben weil sie es ist, die für die Entfaltung höherer Tätigkeit auf allen Lebensgebieten Raum gewährt, indes das weibliche Geschlecht, unerlösbar durch den Gattungsdienst gebunden, zurückbleiben mußte. An dem zügellosen Grundwesen der modernen Zivilisation, das den einzelnen verschlingt und zerstört, tritt aber der große Nachteil der männlichen Geschlechtsfreiheit zutage – die Maßlosigkeit. Schon in der männlichen Natur an sich mit ihrer physischen Ungebundenheit, ihrer Nötigung zum Schweifen nach einem immer wieder entgleitenden Ziele, ihrer Sucht nach einem außerhalb befindlichen Objekt, liegt diese Gefahr; Hybris ist Ausdruck und Wirkung der naturhaft männlichen Beschaffenheit, und sie wird gesteigert durch die Fülle der Schöpfungen, zu der die Geschlechtsfreiheit des Mannes Raum gewährt.

Greifen wir aus dieser Fülle als Beispiel jene Erscheinung im Geistesleben heraus, durch die sich die Gegenwart den glanzvollsten Epochen des menschlichen Denkens an die Seite stellt, die Wissenschaft. Es ist keineswegs eine Verkennung der überragenden Stellung, die ihr gebührt, wenn man sagt, daß der moderne Wissenschaftsbetrieb – also gleichfalls fast ausschließlich Männerwerk – als solcher einen Punkt erreicht hat, wo Größe in Monstrosität überzugehen und einen lebensfeindlichen Charakter anzunehmen droht. Die Überlastung des Gedächtnisses, die eine freie Beherrschung des aufgespeicherten Materials nicht mehr zuläßt, die einseitige Spezialisierung, die jedes Verhältnis zur Totalität des Lebens zerstört, auf der einen Seite die übersteigerte Abstraktion, die zu den Tatsachen der Wirklichkeit keine Beziehung mehr sucht, wie auf der anderen das experimentelle Verfahren, das aus Überschätzung des Beweisbaren sich in der uferlosen Massenhaftigkeit der Einzelheiten verliert – alles zusammengenommen eine Hybris des Intellektes, eine Ausschweifung der intellektuellen Produktivität, deren Maß dasjenige der Rezeptivität bei weitem übersteigt.

Auch darin verrät sich der einseitig männliche Charakter der modernen Zivilisation. Die gewaltsame Anspannung der Produktivität verführt zu einer Mißachtung des Wertes, welcher der Rezeptivität zukommt; das moderne Urteil bemißt geistigen Rang nach dem Grade jener und verkennt, daß die Herabsetzung und Verkümmerung dieser am Ende alle Produktivität vergeblich macht. Ja man könnte gegenüber der modernen Zivilisation wohl die Frage aufwerfen, ob ihre Bedingungen noch Kunst und Kunstgenuß im eigentlichen Sinne gestatten. Die einseitige Spezialisierung der männlichen Bildung, die den Einzelnen auf seine kaum mehr zu bewältigende Fachliteratur verweist, bedroht ernstlich die Empfänglichkeit für künstlerische Wirkung. In seiner Autobiographie hat Darwin gestanden, daß er schon seit vielen Jahren keinen Vers mehr lesen könne. Aber nicht etwa als Vorzug eines den Kinderschuhen entwachsenen Intellektes führt er diesen Umstand an: »Daß ich den Geschmack und das Verständnis für diese Dinge verloren habe, ist eine Einbuße an Glück und kann möglicherweise dem Intellekt schädlich sein, sehr wahrscheinlich aber der moralischen Seite unseres Wesens, sofern unser Gefühlsleben geschwächt und abgestumpft wird ... Mein Geist scheint eine Art Maschine geworden zu sein, um aus großen Tatsachensammlungen allgemeine Gesetze zu destillieren.« Eine solche Maschine zu sein, gilt unter dem Gesichtspunkt der intellektuellen Zivilisationswerte als Kennzeichen der »wahrhaft männlichen« Geistesbeschaffenheit. Wenn trotzdem die künstlerische Begabung sich unvermindert unter den Männern erhält, so ist das ein Zeichen, daß sie ein Naturprodukt ist, das durch äußere Einflüsse nicht so leicht zu zerstören ist wie die Rezeptivität, die weit mehr von solchen Einflüssen abhängt. Bildung, die auf ihr beruht, ist keine Naturtatsache wie die produktive Begabung; »sich mitzuteilen, ist Natur, Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung« (Goethe).

Jede produktive Kraft ist wie im Physischen so im Geistigen auf eine rezeptive Kraft angewiesen, um wirken zu können; aber die Lebensbedingungen der modernen Zivilisation sind namentlich in den Zentren, in denen sie ihre stärksten Einflüsse geltend macht, in den Großstädten, so beschaffen, daß die Beschaulichkeit, die Ruhe und Muße, die zu rezeptiver Arbeit erforderlich ist, nicht aufkommen kann.

Dadurch wird der Lebensprozeß der Kultur am empfindlichsten getroffen; denn rezeptive Fähigkeiten sind es, mittels deren die Umsetzung zivilisatorischer Erwerbungen in eine formale Lebensordnung sich vollzieht. Soll das Mißverhältnis zwischen Kultur und Zivilisation, das aus dem Übergewicht technischer Lebensvervollkommnung hervorgeht, nicht das Ende der Kultur, sondern eine Phase ihrer Entwicklung sein, so kann das gestörte Gleichgewicht nur wiederhergestellt werden, wenn den zurückgedrängten seelischen Mächten der menschlichen Natur Raum gewährt wird, sich die äußeren Hilfsmittel dienstbar zu machen. Nicht eine Steigerung der Produktivität ist die Bedingung dafür, sondern eher ihre Einschränkung.

Wer über die femininen Einflüsse klagt, denen das moderne Leben ausgesetzt ist, verkennt, daß gerade die weibliche Seite der Geisteskultur, die rezeptive, der Gegenwart fehlt. Sogar jene Fähigkeit, ohne welche es keine Kulturform des persönlichen Verkehrs, der schönen Geselligkeit gibt, die Fähigkeit des Zuhörens, schwindet mehr und mehr unter den Männern. Das Wesen der modernen Zivilisation ist auch männlich in dem Sinne, als sie massenhaft Mittel aller Art hervorbringt, ohne deren kulturelle Verarbeitung abzuwarten, wie es die Art des männlichen Organismus ist, Keime im Übermaß zu verschwenden, unbekümmert um die Möglichkeit ihrer Entfaltung, während die Kultur einem weiblichen Organismus gleicht, der die Form des Lebens in langsamem Wachsen hervorbringt. Mindestens in Hinsicht der Aufnahmefähigkeit liegt also der bedenklichste Mangel des modernen Geisteslebens nicht in übermäßiger Verweiblichung, sondern eher in übermäßiger Vermännlichung.

Nach der alten Auffassung der Weiblichkeit bestand deren Kulturaufgabe in der rezeptiv-konservativen Tätigkeit, durch die sie zur Bildnerin und Erhalterin einer schönen Lebensform befähigt war. Das Maßhalten in allen Dingen galt dabei als erste und vorzüglichste Eigenschaft. Die Zeugnisse dieser Auffassung sind so zahlreich und so bekannt, daß man sie füglich als Symptom für den tatsächlichen Anteil betrachten kann, den die Frauen an der Kultur haben. Wie es scheint, ist die Fähigkeit der Formgebung im praktischen Leben, die Fähigkeit, für innere Zustände einen Ausdruck durch äußere Vorgänge und Veranstaltungen, durch die Mittel des persönlichen Verkehrs zu finden, bei Frauen viel häufiger als bei Männern. Das Haus, aufgefaßt als die Heimstätte der Familie wie als Schauplatz der schönen Geselligkeit und ihrer ganzen Fülle an Kulturformen des Umgangs, bildete die Sphäre der weiblichen Kulturleistung. Daraus darf man schließen, daß der Anteil an der Erhaltung und Ausbildung der Lebensformen, der Sitten und Gebräuche ein wesentliches Verdienst der Frauen ist. Es mag sein, daß die schöpferische Kraft, die den Impuls gibt, analog dem physischen Geschehen, vom Manne ausgeht. Obwohl sich leicht geschichtliche Belege dafür beibringen ließen, daß sie auch einzelnen Frauen nicht gefehlt hat – die soziale Leistung des weiblichen Geschlechtes als Mehrheit scheint doch der physischen Aufgabe gemäß zu sein, die ein organisches Werden und Wachsen in sich begreift.

Aber die Kulturerscheinung der Dame wie die Kulturerscheinung der Hausfrau gehört schon mehr oder weniger einer vergangenen Epoche an; die Lebensbedingungen der modernen Zivilisation haben sich auch auf das weibliche Geschlecht erstreckt. Einer der schwersten Einwände dagegen, der schon in den Anfängen der Frauenbewegung laut wurde, liegt in der Befürchtung, daß durch die Wandlung der sozialen Stellung die alte Kulturmission der Frauen zerstört wird. Auch sie ihrer natürlichen Bestimmung als Hort der Familie entfremdet, auch sie der ästhetisch-kontemplativen Muße beraubt, die zu den Grundbedingungen einer edlen, vertieften Lebensgestaltung gehört, auch sie in den nervenzerrüttenden Konkurrenzkampf hineingezerrt, wie ihn die moderne Zivilisation mit sich bringt, auch sie von dem verblendeten Ehrgeiz der intellektualistischen Produktivität ergriffen! Wozu die weiblichen Leistungen auf Gebieten, die schon von männlichen bis zum Unmäßigen überschwemmt sind? Wozu das Eindringen der Frauen in Berufe, in denen schon der Mann mit seiner widerstandsfähigeren Natur zur seelenlosen Maschine mechanisiert wird?

Wie überflüssig, von den Zuständen aus betrachtet, es sei, daß sich an dem Männerwerk der Zivilisation die Frauen beteiligen – eine Arbeitsteilung der Geschlechter in der Weise, daß das männliche die Zivilisationsarbeit und das weibliche die Kulturaufgaben übernähme, wie sie vielen vorschwebt, ist in Wirklichkeit undurchführbar. Sie wäre auch nicht einmal wünschenswert. Denn welche Gestalt müßte ein Leben besitzen, in dem nur die Frauen harmonische und ästhetische Erscheinungen, die Männer aber mechanisierte Barbaren wären? In einer dünnen Gesellschaftsschicht kommt allerdings etwas Ähnliches vor: der Mann der hartgesottene Erwerber, die Frau die Vollstreckerin der Luxusforderungen, die diesem leeren Geldgewinn Sinn und Inhalt verleihen sollen. Das ist aber nur ein abseits liegender Kompromiß moderner Zivilisation mit einem Überlebsel alter Anschauungen. Und am wenigsten dürfte der Mann aus eigenem Interesse eine solche Lösung des Geschlechterproblems im Verhältnis zur Zivilisation für ein ersprießliches halten. Denn in der maßlos entfesselten Konkurrenz der Leistungsfähigkeit müßte auch sein natürliches Leben scheitern – gibt es doch Stimmen genug, die den produktiven Mann vor der Ehe als einem Hemmschuh warnen! So groß seine Geschlechtsfreiheit von Natur aus ist, die Zivilisation, die keine Beziehung zu den Gattungspflichten als Maß kennt, reißt ihn schließlich von den Wurzeln los, an denen seine Menschlichkeit hängt. Und wie könnte die kulturelle Lebensform einer Gesellschaft sich dauernd bewahren, wenn sie nur von dem weiblichen Teil bestritten werden soll? Schon die Art Weiblichkeit, die noch vor zwei Generationen als die vorbildliche herrschte, wirkt heute völlig veraltet und kann sich trotz aller Familienanstrengung nicht erhalten, weil ihr nicht nur die ökonomische Grundlage, sondern auch der auf diese Kulturform eingerichtete männliche Widerpart fehlt.

Man macht den Frauen den Vorwurf, daß sie einen hemmenden Einfluß auf den Fortschritt ausüben, daß sie ein langsameres Tempo haben als der Mann. Das soll wohl heißen, daß sie durch ihre physiologische Beschaffenheit, die ganz ihrer generativen Aufgabe unterworfen ist, sich an Bewegungsfreiheit mit dem Manne nicht messen können. Und es ist nicht zu leugnen, daß sie, auch wenn sie auf die Mutterschaft im Dienste einer anderen Tätigkeit verzichten, dennoch durch ihre Konstitution physisch viel stärker gebunden sind als der Mann. Wer aber das Wesen der Zivilisation als ein im Grunde lebensfeindliches durchschaut hat, wird in dem reißenden Fluß technischer Neuerungen, der nur das Mißverhältnis von Kultur und Zivilisation vergrößert, keineswegs einen Fortschritt, oder doch keinen Fortschritt nach aufwärts, erblicken. Ist jener Vorwurf in Tatsachen begründet, so würde er nur einen Vorteil im Interesse des Ausgleiches zwischen Kultur- und Zivilisation bedeuten.

Gerade in der vermeintlichen Unzulänglichkeit der weiblichen Konstitution, in ihrer strengeren Naturgebundenheit, liegt eine der Hoffnungen auf Wiederherstellung des Gleichgewichts in den Lebensbedingungen der Kulturvölker. Jene Tendenz zur Ausschweifung, zur sinnlichen wie zur geistigen, die mit der männlichen Natur im allgemeinen einhergeht und in der modernen Zivilisation ihren letzten Ausdruck angenommen hat, kann ein Gegengewicht in der weiblichen Natur mit ihrer Tendenz zur Ausgeglichenheit, zur in sich geschlossenen Ruhe, zur formgebundenen Ordnung finden, in der so wertvolle Kulturelemente enthalten sind. Bisher waren diesen beiden Tendenzen verschiedene Wirkungsgebiete angewiesen: dem Manne das öffentliche und intellektuelle Leben, der Frau das gesellige und häusliche. Jedoch nur, wenn sie auf demselben Gebiet wie die männliche wirksam wird, kann die weibliche Natur möglicherweise jene einschränkende Macht gewinnen, die dem Strome des zivilisierten Lebens verwehren würde, aus allen Ufern zu treten. Möglicherweise – denn es kann ja auch sein, daß das, was man unter der weiblichen Natur im übertragenen Sinne versteht, keine elementare Kraft ist, die unaustilgbar in der Konstitution lebt, sondern nur eine Anpassung an äußere Einflüsse, etwas historisch Gewordenes, das sich mit den äußeren Einflüssen zugleich wandeln muß.

Wenn aber schon die Voraussetzung töricht wäre, daß die ganze historische Vergangenheit des weiblichen Geschlechtes innerhalb weniger Generationen keine Fortwirkung mehr haben sollte, so ist noch weniger anzunehmen, daß der naturgegebene Unterschied der Geschlechter, der in ihrer ungleichen generativen Belastung liegt, durch irgendwelche äußere Wandlungen sich verwischen ließe. Soll er bei einer kulturellen Neugestaltung des Lebens zu eingreifender Wirkung kommen, so ist die Voraussetzung dafür eine unbedingte soziale Gleichstellung der Geschlechter, das Eintreten der Frauen in alle männlichen Berufe – selbst auf die Gefahr hin, daß sie fürs Erste, von dem Wirbel des männlichen Lebensbetriebes mitgerissen, empfindliche Einbußen an Kulturqualität darunter erleiden.

Bisher war der Mann das Maß aller Dinge; es könnte aber wohl sein, daß in Hinkunft die Auffassung bestimmend werden muß: die Frau ist das Maß aller Dinge. Denn Einrichtungen, die der generativen Aufgabe des weiblichen Geschlechtes feindlich sind, werden sich auf die Dauer nicht erhalten, weil auch die Dauer jeder Gesellschaft von der Integrität des Willens zur Mutterschaft bei ihren weiblichen Angehörigen abhängt, von dem Schutz und der Förderung, die sie ihm angedeihen läßt. Der Begründer der Menschenökonomie, Rudolf Goldscheid, hat gezeigt, wie eng das Schicksal der Frauen in dieser Hinsicht mit den sozialen Zuständen verknüpft ist. Nicht, daß die modernen Lebensbedingungen die Frauen vermöge ihrer Physis von der vollgültigen Teilnahme am Gesellschaftsbau ausschließen, bildet den Inhalt eines Kulturproblems, sondern vielmehr, wie diese Lebensbedingungen der natürlichen Aufgabe der Frauen angepaßt werden können.

Allerdings müssen die Frauen verstehen lernen, ihre Geschlechtsgebundenheit als Kulturmacht gegenüber der männlichen Geschlechtsfreiheit einzusetzen. Viele von ihnen haben schon bei Beginn der modernen Zivilisationsepoche begriffen, welche Umwälzung sie im weiblichen Leben bedeutet, und welche Rolle in einer neuen Gesellschaftsordnung den Frauen zufällt. An den Frauen ist es, ihrer neuen Stellung im Gemeinschaftsleben jenen Sinn zu geben, die sie haben muß, wenn sie ihnen selbst wie den Männern auch ein neuer Lebensgewinn werden soll. Wer es aber als eine ungebührliche Beschränkung für das männliche Geschlecht betrachtet, daß das Maß des weiblichen Lebens das bestimmende werden soll, möge bedenken, daß der Mann in einer Zivilisation, die ihn schon zum Sklaven seiner Geschlechtsfreiheit gemacht hat, nur gewinnen kann, wenn der Maßlosigkeit seines Lebens eine Schranke gesetzt wird, die ihn der Kultur zurückgibt.

Und hat nicht schon einmal, an einem kaum mehr erkennbaren Wendepunkt der menschlichen Entwicklung, der Mann seine Geschlechtsfreiheit hingegeben, um gewissermaßen eine Funktion der Weiblichkeit zu übernehmen? Die Bedingungen, unter denen er die Rechte der Vaterschaft übernahm, waren allem Anscheine nach schwerer, als der modernen Männlichkeit erträglich wäre; und doch sind sie die Quelle seiner historischen Macht und Herrlichkeit geworden.


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