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Fortsetzung 44

Besonders die letztere Arbeit war eine außerordentlich schwierige. Sie nahm einige Stunden in Anspruch. Eben waren die Beiden fertig und schickten sich an, aufzubrechen, als sie Pferdegetrappel vernahmen. Sie lauschten und sahen bald, daß zwei Reiter sich näherten, welche das Thal herunterkamen. Die Löwenjäger par Improvisation konnten nicht gesehen werden, da sie ebenso wie der Cadaver des erlegten Thieres hinter dem Busche versteckt lagen.

Die Reiter kamen rasch näher und hielten gerade vor dem Busche an. Der Aeltere von ihnen trug einen langen, grauen Bart. Beide schienen Beduinen zu sein; aber der Graubärtige sagte im reinsten Französisch zu seinem Gefährten, welcher noch ziemlich jung zu sein schien:

»Dort geht das Wadi zu Ende. Wir müssen vorsichtig sein. Reite vor, und recognoscire, ob es dort Leben giebt.«

Der Jüngere gehorchte. Als er nach kurzer Zeit zurückkehrte, meldete er:

»Fünf Zelte im Wadi Guelb.«

»Viele Leute dabei?«

»Nein.«

»Wir dürfen uns dennoch nicht sehen lassen. Wenn der Handstreich gelingt, wird er großes Aufsehen erregen, und man wird sich nach jedem einzelnen Passanten erkundigen, um die Thäter zu entdecken.«

»Wo hat dieser Deutsche sein letztes Nachtlager gehalten?«

»Wir werden gegen Abend im Osten des Brunnens Saadis auf ihn stoßen. So meldeten gestern die Kundschafter. Wir Beide entfernen uns so schnell wie möglich mit unserm Antheile. Die Beni Hassan aber wird man als Thäter festnehmen und bestrafen.«

»Wie reiten wir jetzt?«

»Schnell zurück und dann einen Bogen nach Osten hinüber. Wir müssen wirklich eilen, sonst entkommt uns dieser Königsau mit seinen ganzen Schätzen doch vielleicht noch.«

Sie wendeten ihre Thiere und eilten zurück. Es war niemand Anderes als Capitän Richemonte und sein Verwandter.

Die beiden Lauscher blickten einander erschrocken an.

»Was war das, Herr Hauptmann?« fragte der Diener. »Ueberfallen wollen diese Kerls Jemand, wenn ich recht gehört habe?«

Der Gefragte war aufgesprungen und hatte sein Gewehr ergriffen.

»Herrgott,« sagte er; »mein Freund Königsau soll überfallen und ausgeraubt werden. Dieser gefährliche Löwe hat uns doch noch Glück gebracht. Auf auf! In vollstem Laufe nach den Zelten zurück! Wir müssen diesen Menschen zuvorkommen.«

Der Diener hatte gar keine Zeit zu weiteren Erkundigungen und Fragen. Sie rafften das Fell des Löwen empor und eilten trotz der glühenden Hitze im hastigsten Laufe das Thal hinab und den Zelten zu.

Als sie dort ankamen, wollten die Araber gar nicht glauben, daß sie einen Löwen erlegt hätten, und als sie es dennoch glauben mußten, sollte ein großes Freudengeschrei erhoben werden; aber der Hauptmann machte dem ein rasches Ende, indem er sich an seinen Führer wendete.

»Kennst Du den Brunnen Saadis?« fragte er.

»Ja, Herr,« lautete die Antwort.

»Wie weit ist es bis dorthin?«

»Es ist der fünfte Theil einer Tagereise.«

»Wir müssen sofort aufbrechen.«

»Herr, das halten meine Thiere nicht aus.«

»Ich zahle Dir, was Du verlangst.«

»Ist es nothwendig?«

»Ja. Es hängen vielleicht Menschenleben von unserer Eile ab.«

»Giebst Du sechzig Münzen, welche Ihr Franken nennt?«

»Ja, Du sollst sechzig Franks erhalten.«

»So werde ich sogleich satteln.«

Eine Viertelstunde später flogen sie auf ihren flüchtigen Kameelen weiter. Die Thiere hatten sich nicht einmal ausgeruht; aber es hätte sie doch kein frisches Pferd einzuholen vermocht.

Wüste und immer wieder nur Wüste war zu sehen, bis endlich kurz vor Einbruch des Abends sich am Horizonte einige Palmen zeigten.

»Was ist das?« fragte der Hauptmann.

»Es ist der Brunnen Saadis, zu dem Du willst,« berichtete der Führer.

Der Brunnen Saadis ist keine hervorragende Tränkestelle. Höchstens zwei Dutzend Palmen wachsen um eine Quelle herum, welche langsam aus dem Sande steigt, um ebenso schnell wieder in demselben zu verschwinden.

Als die drei Reiter sich näherten, bemerkten sie, daß die Quelle bereits besetzt sei. Es waren wohl an die zwanzig Reit- und Lastkameele zu sehen, bei denen sich aber nur fünf Männer befanden. Diese erhoben sich beim Anblicke der sich Nähernden.

Der Hauptmann sprang vom Kameele und betrachtete sich die Leute Einen nach dem Andern. Ehe er aber noch den Richtigen erkannt hatte, rief dieser schon, und zwar in deutscher Sprache:

»Kunz! Goldberg! Ist das eine Menschenmöglichkeit?«

Der Genannte betrachtete sich den Sprecher und antwortete:

»Gebhardt! Königsau! Mohr! Neger! Mumie! Welcher Teufel soll denn Dich wieder erkennen? Du bist ja schwärzer als der Teufel!«

»Welch eine Ueberraschung! Welch ein Wunder! Wie kommst denn Du in die Sahara?«

»Davon später. Zunächst kam ich, Dich zu retten.«

»Zu retten? Wovor?«

»Vor einem Ueberfall.«

»Alle Teufel. Wer will mich überfallen?«

»Zwei Franzosen mit Hilfe der Beni Hassan.«

»Wer sind die Franzosen?«

»Ich kenne sie nicht.«

»Und wo soll der Ueberfall stattfinden?«

»Im Osten von hier, heute vor Anbruch der Nacht.«

»Ah, welch ein Glück, daß ich zurückgeblieben bin.«

»Ja, persönlich bist Du wohl gerettet; aber Deine Sachen?«

»Befinden sich auf diesen Thieren. Ah, ich wußte, daß die Kunde von meiner Ladung wie ein Feuer vor mir herlaufen werde. Ich ließ daher stets die Kaffila voranziehen und folgte selbst eine halbe Tagereise später. Diesem Umstande habe ich also auch heute meine Rettung zu verdanken.«

»Aber die Kaffila ist verloren?«

»Jedenfalls. Ich werde sofort einen Boten auf einem Eilkameele nachsenden, um sie zu warnen, falls noch Zeit dazu ist.«

»Und wenn es zu spät ist?«

»So kann ich nichts ändern. Dreißig Krieger der Ibn Batta haben mich begleitet. Sind sie niedergemacht worden, so haben sie doch nur den Lohn für ihre früheren Thaten erhalten. Diese Kerls sind alle Mörder und Räuber. Diese Dreißig sollten meine Beschützer sein und wurden dafür bezahlt, dennoch aber haben sie mich Tag und Nacht bestohlen, so daß ich nur froh sein kann, sie los geworden zu sein. Aber nun sage um Gotteswillen, wie Du nach der Sahara kommst?«

»Als Löwenjäger. Siehst Du dort das Fell?«

»Ah, Du hast einen erlegt?«

»Ja. Bist Du auch so glücklich gewesen?«

»Oefters, mein Freund. Aber fast kann ich mir denken, weshalb Du den Löwenjäger spielst.«

»Nun, weshalb?«

»Du hast Urlaub?«

»Ja.«

»Deine Hedwig und die liebe Schwiegermama wollen, daß auch Du berühmt werden sollst, und so hast Du Deinen Urlaub zu einem Pirschgange auf Löwen verwendet. Nicht?«

»Genau errathen! Ich soll wenigstens ein Löwenfell und zwei Löwenzähne und sodann sichere Nachricht von Dir bringen.

»Du wirst mich selbst bringen. Was macht Ida?«

»Die sanfte? Sie sehnt sich zu Tode nach Dir, während meine »unbezähmbare« mich unter die Löwen jagt. Bin übrigens Hauptmann geworden!«

»Und ich Mohr, wie ich es Dir prophezeit habe. Gratuliere bestens.«

»Danke!«

Den Gegenstand ihrer höchst belebten Unterhaltung bildete natürlich das halbe Wunder, sich am fernen Wüstenbrunnen zu treffen, der Eine als der Retter des Andern. Dann mußte der Hauptmann von Goldberg, der spätere General, von der fernen Heimath berichten, und endlich erzählte Königsau von seinen abenteuerlichen Erlebnissen auf der wunderbaren Reise nach Timbuktu.

So wurde es Nacht. Die Sterne stiegen höher und höher. Erst um Mitternacht kehrte der ausgesendete Bote zurück.

»Hast Du sie eingeholt?« fragte Königsau.

»Ja,« antwortete er einsylbig.

»Und sie gewarnt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Sie hörten mich nicht. Sie waren todt!«

Diese Botschaft erregte zunächst Schreck, dann aber auch Freude über die ebenso glückliche wie wunderbare Rettung der Hauptperson und der Hauptschätze der Karawane. Dreißig Ibn Batta-Krieger und zahlreiche Handelsleute, welche sich der Karawane angeschlossen gehabt hatten, waren getödtet und ausgeraubt worden. Es war ein Fall, der, so nahe an der Grenze der Civilisation passirt, jedenfalls eine exemplarische Bestrafung zu erwarten hatte.

»Was aber wirst Du nun thun?« fragte Goldberg den Freund.

»Ich verändere meine Route!« antwortete dieser.

»Wohin?«

»Ich gehe grad nach Nord. Es bleibt mir nichts Anderes übrig.«

»Und ich gehe mit Dir. Die Stämme, an denen wir vorüberkommen, sind den Europäern freundlich gesinnt. Wann brechen wir auf?«

»Sofort. Ich warte nicht bis zum Morgen.«

»Warum nicht?«

»Die Räuber, welche die Karawane überfallen haben, möchten bemerkt haben, daß ich zurückgeblieben bin, und mir einen Besuch abstatten. Sicher ist sicher. Ich habe diese Kerls kennen gelernt.«

Es wurde gepackt, und dann setzte sich der kleine Trupp in Bewegung. Eine Zeit lang von dem Glanze der Sterne bestrahlt, verschwand er jedoch bald im Dunkel des nördlichen Horizontes.

Königsau war um keine Viertelstunde zu früh aufgebrochen. Denn gerade diese Zeit später kamen die Tuarek, welche die Karawane überfallen hatten, nach dem Brunnen, um nach ihm zu suchen. Sie mußten zu ihrem Aerger mit leeren Händen abziehen.

Kurze Zeit später bewegte sich ein langer, langer Zug französischer Chasseurs d'Afrique von den Bergen herab, welche das Gebiet der feindlichen Beni Hassan im Norden begrenzen. An der Spitze diese Zuges ritten zu beiden Seiten des Commandeurs die beiden Verräther Richemonte und sein Cousin. Beide gaben dem Officier den besten Rath, die Beni Hassan mit einem Schlage zu vernichten.

»Glaubt Ihr, daß man uns Widerstand leisten wird?« fragte er sie.

»Wenig oder gar nicht. Diese Kerls sind viel zu feig. Sie haben nur Muth zu nächtlichen Räubereien und Ueberfällen.«

»Und sie sind die Thäter wirklich gewesen?«

»Sicher! Man wird die Effecten der Ermordeten noch bei ihnen finden.«

»Wie viele sind gefallen?«

»Dreißig Krieger der Ibn Batta, ein Führer, fünfzehn Treiber, der Oberste der Kameelbesitzer und der deutsche Officier mit mehreren Leuten.«

Er wußte am Besten, daß dies Letztere eine Lüge sei. Er selbst hatte einige der erbeuteten Kameele nebst ihren Lasten bis in der Nähe des Lagers der Beni Hassan getrieben und sie dort stehen gelassen. Er war überzeugt, daß man sich ihrer bemächtigt hatte. Das gab Beweis genug, daß die Beni Hassan die Raubmörder gewesen seien.

Es wurde so eingerichtet, daß die Truppen das Lager mitten in der Nacht erreichten. Es wurde umzingelt, und als die unschuldigen Araber des Morgens aus ihren Zelten traten, sahen sie sich von allen Seiten von einer von Waffen starrenden Mauer umgeben.

Der Scheik Menalek sandte sofort einen Boten zu dem Anführer. Dieser Letztere ließ auf Anrathen Richemontes zunächst die Dschemma, die Versammlung der Aeltesten des Stammes, zu sich kommen, um sich ihrer zu versichern. Man versteht darunter nicht etwa ausnahmelos die an Jahren Aeltesten. Es sind auch junge Männer mit dabei, gewöhnlich Verwandte des Scheik. So kam es, daß sich auch Saadi, der Schwiegersohn des Scheiks Menalek, dabei befand. Sie wurden in Fesseln gelegt und dann einem Verhöre unterworfen.

»Ihr habt eine Karawane der Ibn Batta überfallen,« war die wiederholte Behauptung, welche man ihnen entgegenschleuderte.

»Nein; wir sind unschuldig,« war ihre stehende, bestimmte Antwort.

»Man wird suchen und finden!« drohte endlich der Commandeur.

»Ja, man wird allerdings finden,« antwortete Menalek. »Wir fanden des Morgens vier beladene Kamele neben unseren Zelten und haben sie zu uns genommen. Und dann fanden wir auf unserem Gebiete die Leichen der Beraubten. Wir begruben sie nach den Regeln des heiligen Koran, nahmen ihnen aber vorher weg, was ihnen nichts mehr nützen konnte. Das Alles werdet Ihr finden.«

Das wurde natürlich nur für Ausflucht gehalten. Man holte mehr und mehr Männer aus dem Lager, bis endlich die ganze männliche Bevölkerung in Banden lag. Jetzt wurde das Urtheil gefällt. Es lautete kurz und bestimmt auf Tod durch die Kugel.

Die Kunde davon rief ein geradezu unbeschreibliches Jammergeschrei unter den Weibern und Kindern des Lagers hervor. Sie wollten bitten und flehen; sie wollten sich den unmenschlichen Richtern weinend zu Füßen werfen; aber das Lager war mit Posten umstellt worden, so daß Niemand es verlassen konnte.

Bereits zu Mittag, als die Sonne am höchsten stand, sollte die Vollstreckung des Todesurtheiles beginnen. Um diese Zeit schritt der Cousin Richemontes durch die Postenkette in das Lager. Ueberall tönte ihm Jammergeschrei und Wehklagen entgegen; er hörte nicht darauf. Beim Zelte des Scheikes trat er ein. Das Weib desselben und Liama lagen weinend am Boden. Sie sprangen empor, als sie ihn erblickten.

»Sallam aaleikum!« grüßte er.

»Wie, Du bringst den Gruß des Friedens,« rief das arme Weib, »und draußen harrt der Tod unserer Männer und Söhne!«

»Es wird Keiner entgehen; nur Euch allein bringe ich Frieden. Ist Liama bereits das Weib Saadi's geworden?«

»Ja,« antwortete ihre Mutter.

Liama sah als Frau noch schöner denn als Mädchen. Vor Jammer hatte sie die gewohnte Sorgfalt für ihr Aeußeres außer der Acht gelassen; ihr Gewand hatte sich verschoben, so daß das Auge des fast unsinnig verliebten Schurken genug Punkte fand, an denen sich seine Gluth verdoppeln konnte.

»Der Scheik muß sterben und auch Saadi!« sagte er.

»O Allah, giebt es keine Rettung für sie?« rief Liama.

»Keine.«

Da näherte sie sich ihm und sagte, indem sie die Hände faltete:

»Du bist ein Freund der Franken. Unsere Männer sind unschuldig. Du vermagst viel. Vielleicht könntest Du sie retten.«

»Es ist mir nur erlaubt, zwei zu retten.«

»Wen, wen?« fragten die beiden Frauen schnell.

»Ich darf sie mir auswählen.«

»O, so rette den Scheik, meinen Mann!« rief die Mutter.

»Und rette Saadi, welcher schuldlos ist!« rief die Tochter.

»Welchen Dank erhalte ich?« fragte er.

»Fordere Alles, was Du begehrst!« sagte die Mutter.

»Werde ich es erhalten?«

»Ja.«

»Nun wohl! Ich habe Liama zum Weibe begehrt, und man hat sie mir verwehrt. Wenn sie einwilligt, mein Weib zu werden und mit mir zu ziehen, so sollen der Scheik und Saadi gerettet werden.«

Liama erbleichte. Ihre Mutter erschrak nicht so sehr. Einen andern Schwiegersohn zu haben, das war nicht so schlimm als der Tod ihres Mannes.

»Wirst Du Wort halten?« fragte sie.

»Ja,« antwortete er.

»Schwöre es mir!«

»Ich schwöre es bei dem Barte des Propheten!«

Liama aber rang die Hände und rief:

»Er mag schwören, ich gehe doch nicht mit ihm!«

»Willst Du die Mörderin Deines Vaters sein!« klagte ihre Mutter.

»Ich kann nicht! Ich liebe ihn nicht. Ich gehöre zu Saadi!«

»Nein; er giebt Dich frei, um Dich zu retten,« antwortete er.

»Beweise es!« rief die Mutter.

»Auch der Scheik befiehlt Euch, zu thun, was ich verlange, damit er sein Leben nicht verliere.«

»Beweise es!«

»Hier!« sagte er.

Er zog aus der Tasche ein Stück beschriebenes Pergament hervor, welches in französischer Sprache und arabischer Schrift beschrieben war.

»Hier ist das Document, welches unser Commandant und der Scheik und Saadi unterschrieben haben. Kennt Ihr das Siegel des Scheiks?«

»Ja,« antworteten Beide.

»So seht her und lest diese Schrift!«

Die Mutter konnte nicht lesen; aber Liama buchstabirte den Befehl ihres Vaters und ihres Mannes zusammen. Beide geboten ihr, augenblicklich mit dem Ueberbringer dieses Schreibens zu gehen, um Mann und Vater zu retten und so ein Allah wohlgefälliges Werk zu thun.

»Kennt Ihr auch die Hamaïls des Scheiks und Saadi's?« fragte er weiter.

»Ja,« antworteten sie.

Unter Hamaïl verstehet man ein Exemplar des in Mekka geschriebenen Koran, welches sich die Pilger dort kaufen und dann während der ganzen Lebenszeit am Halse tragen. Nur in der alleräußersten Noth giebt der Moslem dieses Hamaïl von sich.

»Hier sind sie beide!«

Bei diesen Worten reichte er ihnen die zwei Koranexemplare hin, die sie sofort erkannten. Das war mehr als genug Beweis für sie.

»Ich glaube Dir!« sagte die Mutter.

Sie ahnte nicht, daß das Schreiben gefälscht sei, und daß der unmenschliche Schurke den beiden Gefangenen Siegel und Hamaïl mit Gewalt entrissen hatte. Liama hatte sich schluchzend auf den Boden geworfen.

»O Allah, o Allah!« rief sie. »Sie gebieten es mir; aber ich kann dennoch nicht! O Allah, Allah, was soll ich thun!«

»Gehorchst Du nicht, so müssen sie sterben,« antwortete er kalt.

»Meine Tochter, gedenke Deiner Pflicht!« mahnte die Mutter ängstlich.

»Ja,« meinte der verkappte Franzose. »Ich werde vor das Zelt treten, um Euch eine kleine Weile allein zu lassen. Beredet Euch, und thut dann, was Ihr beschlossen habt. Aber zögert nicht lange; die Zeit ist kostbar.«

Er trat hinaus. Im ganzen Zeltdorfe ertönte ein lautes Wehklagen, und doch hörte er noch deutlicher das verzweifelte Jammern Liama's im Innern des Zeltes. Harte Worte der Mutter ließen sich dazwischen hören.

Da plötzlich krachte draußen vor dem Lager eine Gewehrsalve. Ein einziger aber vielstimmiger, schriller Angstschrei ertönte durch das Lager. Er trat in das Zelt, dessen Thür das Weib des Scheikes soeben aufreißen wollte. Liama stand todtenbleich inmitten des Raumes.

»Wer hat geschossen? Was hat man gethan?« fragte die Mutter.

»Man hat die ersten fünf Mann erschossen,« antwortete er.

»O Allah! ist der Scheik dabei?«

»Noch nicht; aber in zwei Minuten werden wieder fünf Mann fallen, und der Scheik und Saadi werden dabei sein.«

»Liama geht mit!« rief die Mutter in höchster Angst.

»Ist es wahr?« fragte er die schöne, junge Maurin.

»Ja,« hauchte sie, mehr todt als lebendig.

»So ziehe Dich zur Reise an. Ich werde unterdessen das Zeichen geben, daß man die Beiden verschonen soll!«

Einige Zeit später öffnete sich der Cordon, welchen die Chasseurs bildeten. Man ließ zwei Pferde und ein Kameel passiren. Auf den Ersteren saßen Richemonte und sein Cumpan, und das Letztere trug eine Atuscha, in welcher ein wunderbar schönes Weib unter heißen Thränen vor Leid und Weh zu sterben meinte. Es war Liama, die spätere Bewohnerin des schwarzen Thurmes in der Nähe von Schloß Ortry.

Auch von den beiden Löwenzähnen, welche Kunz von Goldberg dem »Herrn des Erdbebens« ausgebrochen hatte, ist der freundliche Leser dem einen bereits begegnet. Fritz, der Diener des verkleideten Doctor Müller, trug ihn an seinem Halse. – – –

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