Guy de Maupassant
Das Haus Tellier und Anderes
Guy de Maupassant

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Das Haus Tellier

I.

Man ging jeden Abend gegen 11 Uhr dorthin, ganz einfach wie in ein Kaffeehaus.

Es fanden sich ihrer dort gegen sechs oder acht zusammen, immer dieselben, keine Lebemänner, sondern ehrbare Herren, junge Geschäftsleute aus der Stadt, die ihre Chartreuse tranken, ein wenig die jungen Mädchen neckten, oder noch lieber ein vernünftiges Gespräch mit »Madame« führten, vor der sie alle grossen Respekt hatten.

Dann ging man noch vor Mitternacht nach Hause, um sein Bett aufzusuchen; und nur hin und wieder blieben einige junge Leute zurück.

Es war ein trauliches Haus, ziemlich klein, gelb angestrichen und lag im Winkel einer Strasse hinter der Kirche Saint-Etienne; von seinen Fenstern aus sah man den Hafen mit seinen Schiffen, die der Löschung harrten, den grossen schmutzigen Sumpf, »la Retenue« genannt, und dahinter den Gipfel der Jungfrau mit seiner alten grauen Kapelle.

»Madame«, die aus guter Familie, von Landleuten im Departement de l'Eure stammte, hatte dieses Metier ebenso übernommen, als wenn sie Modistin oder Konfektioneuse geworden wäre. Das Brandmal der Schande, welches in den Städten der Prostitution so scharf und deutlich aufgeprägt ist, haftet in der Normandie derselben auf dem Lande nicht an. »Es ist ein einträgliches Geschäft«, sagt der Landmann, und lässt seine Tochter in irgend einer Stadt einen Harem eröffnen, ebensogut als ob sie Directrice eines Mädchen-Pensionats würde.

Übrigens war dieses Haus das Erbstück eines alten Onkels, der es früher besessen hatte. Der »Herr« und »Madame«, früher Wirtsleute in der Nähe von Yvetôt, hatten eines Tages ihr Geschäft verkauft und sich nach Fécamp begeben, wo sie ein besseres Fortkommen zu finden hofften. So waren sie über Nacht Geschäftsleiter dieses Unternehmens geworden, welches bisher mangels einer tüchtigen Leitung keinen rechten Aufschwung hatte nehmen können.

Sie waren wackere Leute in ihrer Art, welche sich bald die Liebe ihrer Untergebenen und der Nachbarn erworben hatten.

Der »Herr« starb zwei Jahre später am Gehirnschlag; sein neues Geschäft hatte ihn behäbig und träge gemacht, so dass er schliesslich im eigenen Fett sozusagen erstickte.

Seitdem »Madame« Witwe geworden, hatten sämtliche Stammgäste des Hauses ihr Glück bei ihr versucht; aber allgemein hiess es, dass sie sich völlig ehrbar verhielte, und sogar auch ihre Pensionärinnen hatten nichts Verdächtiges entdecken können.

Sie war gross, wohlgenährt und hübsch. Ihr Teint war in der Dunkelheit dieses stets verschlossenen Hauses bleich geworden und machte den Eindruck, als sei er mit einer Art glänzenden Lacks überzogen. Eine Garnitur falscher Haare in Löckchen frisiert umgab ihre Stirn und verlieh ihr ein jugendliches Äussere, welches etwas seltsam von der üppigen Reife ihrer Formen abstach. Immer vergnügt und lustig, plauderte und scherzte sie gern, wobei sie aber stets eine gewisse Zurückhaltung zur Schau trug, die sie auch in ihrem neuen Geschäft nicht abgelegt hatte. Unpassende Worte ärgerten sie sehr; und wenn ein schlecht erzogener Bursche ihr Haus einmal beim richtigen Namen nannte, so konnte sie ganz wild werden. Dabei hatte sie ein zartfühlendes Herz und behandelte auch ihre Mädchen als Freundinnen; in Bezug auf Letztere sagte sie oft:

»Es sind meine Küchlein, aber nicht alle aus einem Korbe.«

Zuweilen fuhr sie in der Woche mit einem Teil ihrer Truppe in einem Mietwagen fort, und man sah sie dann im Ufergrase des kleinen Flusses, der das Thal von Valmont durchfliesst, ihre Scherze treiben. Ihre Ausflüge glichen denen von Pensionsmädchen, die der Schule entschlüpft sind; thörichte Streiche, kindliche Spiele füllten die Zeit aus, in denen sie sich wie Klosterschwestern dünkten, die nach langer Zurückgezogenheit endlich wieder einmal an die frische Luft kommen. Man holte das Essen aus einem Wurstladen und verzehrte es auf dem grünen Rasen bei einem Glase Cider, um dann bei sinkender Nacht von angenehmer Müdigkeit und stiller Rührung umfangen, nach Hause zu fahren; im Wagen umarmte man Madame wie eine geliebte, fürsorgende und freudenspendende Mutter.

Das Haus hatte zwei Eingänge. In der Strassenecke wurde abends eine Art kleines Kaffeehaus aufgemacht, in welchem Leute aus dem Volke und Matrosen einkehrten. Zwei weibliche Wesen hatten diesen Teil des Geschäftes ganz speziell unter ihrer Obhut. Sie servierten mit Hülfe Friedrichs, eines bartlosen kleinen aber baumstarken Kellners, die Weinschoppen und Biergläser an den wackeligen Marmortischen, setzten sich auf die Knie der Trinker, legten den Arm um ihren Hals und ermunterten zu fleissigem Zechen.

Die drei anderen »Damen« (es waren ihrer nur fünf) bildeten eine Art Aristokratie, und blieben für die erste Gesellschaft reserviert, wenigstens so lange man ihrer da unten nicht dringend bedurfte und zufällig 'mal oben ein stiller Abend war.

Der »Jupiter-Salon«, in dem sich die Bürger des Ortes ihr Stelldichein gaben, war mit blauer Tapete ausgeschlagen und ausserdem noch durch ein grosses Bild, Leda mit dem Schwan darstellend, entsprechend verziert. Man gelangte zu demselben auf einer schmalen Wendeltreppe, welche nach der Strasse zu durch eine enge unansehnliche Thür verschlossen wurde; über letzterer brannte hinter einem Gitter die ganze Nacht hindurch eine kleine Laterne nach Art jener, die man in gewissen Städten heute noch vor kleinen Mauerbildchen anzündet.

Das Gebäude, alt und feucht, trug einen leichten Geruch von Schimmel an sich. Zuweilen schwebte ein Duft von Eau de Cologne in den Gängen oder es schallte auch durch eine zufällig geöffnete Thür das ordinäre Geschrei der im Erdgeschoss befindlichen Zecher wie ein Donnerschlag durch das ganze Haus und brachte auf dem Gesicht der Herren im ersten Stock eine unzufriedene und verächtliche Miene hervor.

»Madame«, die mit der ihr befreundeten Kundschaft sehr vertraulich that, verliess den Salon nicht und interessierte sich sehr für jeden Stadtklatsch, der ihr zugetragen wurde. Ihre Unterhaltung hatte für gewöhnlich durchaus keinen Bezug auf ihre drei Damen; dieselbe bildete vielmehr eine Art Ruheplatz für die seichten Scherze jener wohlbeleibten Herren, die sich jeden Abend die kleine Ausschweifung gestatteten, ihr Glas Liqueur in Gesellschaft dieser öffentlichen Mädchen zu schlürfen.

Die drei »Damen« aus dem ersten Stock hiessen Fernande, Raphaële und Rosa la Rosse.

Da das Personal beschränkt war, so hatte man Sorge getragen, dass jede von den Dreien eine Art Muster, gewissermassen die Vertreterin eines bestimmten weiblichen Typus war, damit jeder Kunde hier, wenigstens in etwa, sein Ideal finde.

Fernande vertrat die Klasse der »schönen Blondinen«; sie war sehr gross, beinahe etwas zu stark, aber mollig, ein Kind vom Lande, bei der die Sommersprossen nie ganz verschwanden und deren kurzgeschnittenes aschblondes Haar mit seinem spärlichen Wuchs wie gehechelter Flachs aussah.

Raphaële, ein Marseiller Kind, die sich stets in den Seehäfen herumgetrieben hatte, spielte die unerlässliche Rolle der »schönen Jüdin« mit hervorstehenden mächtig rot geschminkten Wangen; ihre schwarzen Haare, die von Rindermark-Pomade glänzten, hingen in kleinen Ringellöckchen um ihre Schläfen. Ihre Augen hätten schön genannt werden können, wenn das rechte nicht einen Fleck gehabt hätte. Ihre Nase war kühn gebogen und aus ihrer Oberlippe traten zwei neue Zähne etwas hervor, während die übrigen im Laufe der Zeit die Farbe von altem Holz angenommen hatten.

Rosa la Rosse, ein kleiner Fleischkloos mit kurzen Beinchen, sang mit etwas heiserer Stimme vom Morgen bis zum Abend, bald heitere, bald ernste Lieder, erzählte die unglaublichsten und sinnlosesten Geschichten, hörte nur mit Sprechen auf um zu essen und umgekehrt, war fortgesetzt in Bewegung, und besass trotz ihrer Wohlbeleibtheit und ihrer kleinen Beinchen die Gewandtheit eines Eichhörnchens. Ihr Lachen, einem Sturzbach gellender Schreie nicht unähnlich, schallte unaufhörlich über dies und jenes, bald aus einem Zimmer, bald vom Boden, bald unten aus dem Café, kurz aus allen Ecken und ohne allen Grund.

Die beiden weiblichen Wesen im Erdgeschoss »Louise« mit dem Beinamen »Cocote« und »Flora«, genannt die »Schaukel«, weil sie etwas hinkte, sahen wie Küchenmädchen aus, die sich zum Maskenball angezogen haben. Erstere zeigte sich stets als »Freiheitsgöttin« mit einer dreifarbigen Schärpe umgürtet, letztere im spanischen Fantasiekostüm mit kupfernen Zechinen im Haare, welche bei jedem ihrer ungleichen Schritte Polka tanzten. Sie unterschieden sich in nichts von allen andren Weibsbildern aus dem Volke, weder an Schönheit noch an Hässlichkeit, und waren der richtige Typus dieser Sorte von Kellnerinnen; im Hafen kannte man sie allgemein unter dem Spitznamen »die beiden Feuerspritzen.«

Wenn auch unter allen fünf »Damen« eine gewisse Eifersucht herrschte, so wurde doch der Frieden ihres Zusammenlebens, Dank der vermittelnden Fürsorge und der unerschöpflichen Gutmütigkeit der »Madame«, nur selten gestört.

Da das Etablissement das einzige seiner Art in der kleinen Stadt war, so erfreute es sich eines zahlreichen Besuches. »Madame« hatte ihm einen so vornehmen Anstrich zu geben gewusst, sie zeigte sich so liebenswürdig, so zuvorkommend gegen Jedermann, ihre Gutherzigkeit war so bekannt, dass sie sich einer Art allgemeiner Hochachtung erfreute. Die Stammgäste stürzten sich ihretwegen in Unkosten, sie waren stolz, wenn sie ihrer besonderen Freundschaft gewürdigt wurden, und wenn sie sich tagsüber in Geschäften trafen, so hiess es: »Also heute Abend, Sie wissen schon«, wie man sonst sagt: »Also nach Tisch im Café, nicht wahr?«

Alles in Allem genommen war das Haus Tellier ein Zusammenkunftsort, dessen täglichen Besuch man nur ungern versäumte.

Da fand eines Tages, gegen Ende des Monats Mai, der erste der täglichen Besucher, Herr Poulin, Holzhändler und früherer Maire, die Thüre verschlossen; die kleine Laterne brannte nicht wie gewöhnlich hinter ihrem Gitter und kein Geräusch drang aus dem Innern, das wie ausgestorben schien. Er klopfte, erst leise, dann stärker, aber nichts rührte sich. Dann ging er langsam die Strasse hinunter und begegnete am Marktplatz Herrn Duvert, einem Rheder, der sich ebenfalls dorthin begeben wollte. Sie gingen zusammen zurück, ohne jedoch ihren Zweck zu erreichen. Aber in der Nähe erhob sich plötzlich grosser Lärm, und als sie um das Haus herumgingen, bemerkten sie einen Haufen englischer und französischer Matrosen, die mit ihren Fäusten gegen die verschlossenen Läden des Cafés schlugen.

Die beiden Bürger drückten sich schleunigst, um sich keinen Verlegenheiten auszusetzen, aber ein leises »Pst« in ihrer Nähe liess sie Halt machen. Es war Herr Tournevau, der Fischhändler, der sie erkannt hatte und sie anrief. Sie erzählten ihm, was vorgefallen, und niemand war darüber bestürzter als er; denn als Ehemann und sorgsamer Familienvater kam er nur Sonnabends dorthin, »securitatis causa«, wie er mit einer kleinen Anspielung auf eine gesundheitspolizeiliche Massregel zu sagen pflegte, deren regelmässige Wiederkehr ihm sein Freund, der Doktor Bourde, verraten hatte. Da es gerade Sonnabend war, so sah er sich schon für die ganze Woche seines Vergnügens beraubt.

Die drei Herren machten einen grossen Umweg bis zum Quai und trafen auf der Strasse einen Stammgast, Herrn Philippe, den Bankierssohn, und Herrn Pimpesse, den Einnehmer, worauf alle fünf durch die »Juden-Strasse« zurückgingen, um einen letzten Versuch zu machen. Aber die wütenden Matrosen hatten das Haus förmlich belagert, warfen mit Steinen danach und brüllten wie besessen. Dies genügte, um die fünf Herren aus dem ersten Stock zur schleunigsten Umkehr zu veranlassen, worauf sie planlos durch die Strassen irrten.

Sie begegneten noch dem Versicherungs-Agenten, Herrn Dupuis, dann dem Handelsrichter, Herrn Vasse, und begannen nun einen langen Spaziergang, der sie schliesslich zum Hafen führte. Sie setzten sich nebeneinander auf die Granit-Mauer und sahen dem Spiel der Wellen zu. Der Schaum der auf- und niedertauchenden Wellenkämme stach mit seiner blendenden Weisse eigentümlich von der Dunkelheit des Wassers ab, und das einförmige Brausen des Meeres, welches sich an den Felsen brach, wiederhallte in der Stille der Nacht längs des ganzen Gestades. Als die verstimmten Spaziergänger dort einige Zeit gesessen hatten, erklärte schliesslich Herr Tournevau:

»Sehr unterhaltend ist das nicht.«

»Wahrhaftig nicht«, echote Herr Pimpesse, und nun gingen alle langsam zurück.

Nachdem sie der »Linden-Strasse« entlang gegangen waren, kamen sie über die Schiffbrücke wieder auf die Strasse »La Retenue« zurück, und gelangten am Bahnhof vorbei wieder auf den Marktplatz, wo plötzlich zwischen dem Einnehmer Herrn Pimpesse und dem Fischhändler Herrn Tournevau ein heftiger Streit über die Essbarkeit eines Pilzes ausbrach, den der eine von ihnen in der Umgegend gefunden haben wollte.

Da die Geister in Folge der Langeweile gereizt waren, so wäre es fast zu sehr ernsten Auseinandersetzungen gekommen, wenn die Übrigen sich nicht ins Mittel gelegt hätten. Herr Pimpesse zog sich sehr beleidigt zurück, und kaum war er fort, als zwischen dem ehemaligen Maire, Herrn Poulin, und dem Versicherungs-Agenten, Herrn Dupuis, ein neuer Wortwechsel über den Gehalt des Einnehmers und die Ausgaben ausbrach, die er sich leisten könnte. Heftige Worte fielen bereits auf beiden Seiten, als plötzlich ein wüstes Geschrei zu ihnen drang und die Matrosenschar, des vergeblichen Wartens müde, sich über den Platz ergoss. Sie hatten sich zu Zwei und Zwei im Arme und bildeten so eine lange wutschnaubende Prozession. Die Bürger flüchteten sich unter einen Thorweg und die lärmende Rotte verschwand in der Richtung des Hafens. Lange noch hörte man ihr Gebrüll wie das Donnern eines abziehenden Gewitters in der Ferne verklingen; dann trat endlich wieder tiefe Stille ein.

Herr Poulin und Herr Dupuis, deren gegenseitiger Zorn sich noch nicht gelegt hatte, gingen, ohne sich zu grüssen, jeder ihres Weges.

Die vier Übrigen nahmen ihren Spaziergang wieder auf und wendeten die Schritte unwillkürlich wieder dem Hause Tellier zu. Es war immer noch verschlossen und lag in undurchdringliches Schweigen gehüllt. Ein Betrunkener pochte hartnäckig in kurzen Zwischenräumen an die Vorthüre des Cafés, hin und wieder mit leiser Stimme den Kellner Friedrich rufend. Als er absolut keine Antwort erhielt, setzte er sich ruhig auf die Thürschwelle und harrte der Dinge, die kommen würden.

Plötzlich erschien die wüste Rotte der Matrosen von Neuem am Ende der Strasse, und unsere Bürger zogen sich abermals zurück. Die französischen Matrosen brüllten die »Marseillaise«, die englischen das »Rule Brittania«; es war ein Hauptspektakel. Dann nahm die tolle Gesellschaft abermals ihren Weg nach dem Quai zu, wo sich eine Schlacht zwischen den Seeleuten beider Nationen entwickelte; hierbei brach ein Engländer den Arm und einem Franzosen wurde die Nase entzwei geschlagen.

Der Betrunkene auf der Thürschwelle fing jetzt an zu weinen wie ein ungezogenes Kind, dem man nicht den Willen thut.

Die Herren aus dem ersten Stock gingen schliesslich ihrer Wege.

Allmälig wurde es still in den vorhin noch so unruhigen Strassen; zuweilen hörte man noch hier und da ein Stimmengeräusch, bis endlich auch der letzte Ton verstummte.

Nur ein Mann irrte noch umher, Tournevau, der Fischhändler, dem es nicht in den Kopf wollte, dass er bis zum nächsten Sonnabend warten sollte. Er hoffte immer noch auf irgend einen glücklichen Zufall, er begriff nicht, ja er tadelte es sogar heftig, dass die Polizei die Schliessung eines so nützlichen öffentlichen Lokales zuliess, welches sie doch zu überwachen und zu schützen hatte.

Er kehrte nochmals dahin zurück und tastete, nach der Ursache suchend, an den Mauern herum; da bemerkte er schliesslich, dass an dem Schutzdache über der Thür ein Plakat angeheftet war. Schleunigst zündete er ein Streichholz an und las die mit grosser ungeübter Hand geschriebenen Worte: »Wegen der ersten Kommunion geschlossen.«

Da ging er fort mit dem Bewusstsein, dass er keine Aussicht mehr hätte.

Der Betrunkene schlief jetzt der Länge nach ausgestreckt auf der ungastlichen Schwelle.

Am anderen Tage fanden sämtliche Stammgäste, einer nach dem andren, irgend einen Grund, über die Strasse zu gehen; sie trugen irgend etwas unterm Arm, um sich einen geschäftlichen Anstrich zu geben. Jeder warf im Vorbeikommen einen flüchtigen Blick auf die geheimnisvollen Worte: »Wegen der ersten Kommunion geschlossen.«

*

II.

Madame hatte einen Bruder, der in ihrer Heimat, Virville im Eure-Departement, als Tischler etabliert war, und dessen Tochter sie, als ihr noch das Gasthaus zu Yvetôt gehörte, über die Taufe gehalten hatte. Das Kind hiess Constanze, Constanze Rivet; sie selbst war väterlicherseits eine Rivet. Der Tischler, der die guten Verhältnisse seiner Schwester kannte, hatte sie nicht aus den Augen verloren, obgleich sie sich nicht oft sahen, da jedes durch sein Geschäft gebunden war und sie ausserdem ziemlich weit von einander wohnten. Als aber seine Tochter das zwölfte Jahr erreichte und zum ersten Male zur Kommunion gehen sollte, benutzte der Tischler diese Gelegenheit der Wiederannäherung und schrieb seiner Schwester, er zähle bei der Feierlichkeit auf ihre Gegenwart. Die Grosseltern waren tot, sie konnte es ihrer Nichte nicht abschlagen und nahm also an. Ihr Bruder Joseph hoffte, mit allerlei Liebenswürdigkeit bei dieser Gelegenheit die Errichtung eines Testaments zu Gunsten seiner Tochter zu erzielen, da Madame keine Kinder hatte.

Das Gewerbe seiner Schwester machte ihm keinerlei Bedenken und im Übrigen wusste auf dem Lande Niemand etwas davon; »Madame Tellier ist Bürgerin von Fécamp,« hiess es einfach mit einem gewissen Beigeschmack, als lebe sie von ihren Renten. Von Fécamp bis Virville waren mindestens zwanzig Meilen Weges, und zwanzig Meilen über Land dünkt dem Bauer mindestens ebenso weit, wie dem Städter eine Fahrt über den Ocean. Die Bewohner waren niemals über Rouen herausgekommen, und umgekehrt gab es nichts, was die Bewohner Fécamps nach einem kleinen Dörfchen von fünfhundert Seelen herausgelockt hätte, dessen Lage mitten im flachen Lande durchaus nichts Anziehendes bot, ganz abgesehen davon, dass es zu einem anderen Departement gehörte. Mit einem Wort: Man wusste nichts.

Als aber die Zeit der Kommunion herannahte, befand sich Madame in grosser Verlegenheit. Sie hatte keine Wirtschafterin und getraute sich nicht, ihr Haus auch nur einen Tag allein zu lassen. Alle alten Zänkereien zwischen den »Damen« von oben und denen von unten wären unfehlbar aufs Neue zum Ausbruch gekommen; sodann hätte sich Friedrich ohne Zweifel betrunken und wenn er betrunken war, schlug er um eines Augenzwinkerns halber die Leute nieder. So entschloss sie sich schliesslich, ihr gesamtes Personal mit heraus zu nehmen bis auf Friedrich, der bis zum übernächsten Tage Urlaub erhielt.

Der Bruder hatte nichts einzuwenden als sie ihm deshalb schrieb und nahm es auf sich, die ganze Gesellschaft für eine Nacht unterzubringen. So führte denn der Eilzug am Samstagmorgen um acht Uhr Madame und die Ihrigen in einem Wagenabteil zweiter Klasse von dannen.

Bis Beuzeville fuhren sie allein und schackerten zusammen wie die Elstern; hier aber stieg ein Paar ein. Der Mann, ein alter Landmann in blauer Blouse mit Umschlagkragen, breiten an den Faustgelenken zusammengeschnürten und mit kleiner weisser Stickerei verzierten Ärmeln, auf dem Kopfe einen hohen altmodischen Hut, dessen fuchsiges Haar ganz borstig schien, trug in der einen Hand einen ungeheuren grünen Regenschirm und in der anderen einen mächtigen Korb, aus dem die bestürzten Köpfe dreier Enten herauslugten. Die Frau in ihrer steifen ländlichen Tracht hatte mit ihrer Nase wie ein Schnabel das Aussehen einer Henne. Sie setzte sich ihrem Manne gegenüber und rührte sich nicht; offenbar fühlte sie sich in so hübscher Gesellschaft ausserordentlich verlegen.

Und in der That wirkte die Farbenpracht, die sich in diesem Wagenabteil entwickelte, geradezu blendend. Madame trug sich blau, von oben bis unten in blauer Seide, und darüber einen grellroten blendenden Shawl aus falschem französischen Kaschmir. Fernande erstickte fast in einer schottischen Robe, deren Taille nur unter Aufbietung aller Kräfte von ihren Gefährtinnen zugeschnürt war und nun ihre straffen Körperformen in zweifacher Wölbung hervortreten liess. Dieselben wogten unter der Kleidung hin und her, als beständen sie aus einer flüssigen Masse.

Raphaële trug zu ihrer federgeschmückten Frisur, die das Aussehen eines Vogelnestes hatte, ein goldgesticktes Lila-Kostüm und einigen orientalischen Schmuck, der sehr gut zu ihrer jüdischen Physiognomie passte.

Rosa la Rosse hatte die Farbe ihres Namens für ihre mit breiten Volants versehene Robe gewählt; sie sah aus wie ein zu starkes Kind, wie ein fettleibiger Zwerg ungefähr. Die beiden »Feuerspritzen« schienen ihren seltsamen Aufputz aus alten Fenstervorhängen ausgesucht zu haben, die mit ihrem Rankenwerk an das Restaurant erinnerten.

Sobald die Damen sich nicht mehr allein im Coupé befanden, nahmen sie eine sehr gemessene Miene an und sprachen nur noch von ernsten Dingen, um einen guten Eindruck zu machen. Aber in Bolbec erschien noch ein Herr mit blondem Kotelettenbart, Ringen an den Fingern und einer goldenen Kette auf der Weste, der verschiedene in Wachstuch gehüllte Packete auf das Netz über ihm legte. Sein Äusseres liess auf einen witzigen und gutmütigen Menschen schliessen. Er grüsste beim Einsteigen und frug mit leichten Lächeln: »Die Damen wechseln wohl die Garnison?« Diese Frage setzte die kleine Gesellschaft in eine peinliche Verlegenheit, nur Madame bewahrte ihre Fassung und entgegnete spitzig, um die Ehre ihres Korps zu retten: »Sie könnten wohl höflicher sein.« Er entschuldigte sich: »Bitte sehr um Verzeihung, ich wollte sagen: das Kloster.« Madame fand entweder sogleich keine Antwort, oder sie mochte auch seine Rechtfertigung für hinreichend halten, denn sie neigte würdevoll das Haupt und schwieg. Hierauf begann der Herr, welcher zwischen Rosa und dem alten Landmann Platz genommen hatte, den drei Enten, deren Köpfe aus dem grossen Korbe hervorschauten, mit den Augen zuzuzwinkern. Und als er merkte, dass er schon die Aufmerksamkeit der Reisegesellschaft auf sich zog, kitzelte er die armen Tiere unterm Schnabel und hielt ihnen dabei scherzhafte Anreden, um die Zuhörer zum Lachen zu bringen: »Wir haben unsere nette kleine Pfütze verlassen! Aan! Aan! Aan! – um die kleine nette Bratpfanne kennen zu lernen! Aan! Aan! Aan!« Die unglücklichen Tiere verdrehten den Hals, um den unwillkommenen Liebkosungen zu entgehen und machten verzweifelte Anstrengungen, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien. Dann stiessen endlich alle drei ein lautes Wehegeschrei aus: »Aan! Aan! Aan!« Die ganze Damengesellschaft brach in lautes Gelächter aus. Sie beugten sich vor und drängten sich um besser zu sehen; es war ja auch zu närrisch mit diesen Enten. Der Herr verdoppelte seine Liebenswürdigkeit, seinen Witz und seine Neckereien.

Rosa wollte sich beteiligen und indem sie sich über die Kniee ihres Nachbarn herüberbeugte, küsste sie die drei Tiere auf den Schnabel. Nun wollte natürlich jede andere es ebenso machen und der Herr liess sie sich auf seine Kniee setzen, schaukelte und kneipte sie; dann duzte er sie plötzlich.

Die beiden Landleute waren noch erstaunter wie ihre Vögel; sie rollten die Augen wie besessen, wagten aber kein Wort zu sagen, und kein Lächeln, kein Zucken stahl sich über ihre runzeligen Gesichter.

Der Herr, seines Zeichens Geschäftsreisender, bot jetzt zum Scherz den Damen Hosenträger an, und öffnete eines der Packete, das er aus dem Netz nahm. In Wirklichkeit enthielt es Strumpfbänder.

Da gab es welche in blauer, in rosa, in roter, violetter, grauer und rosenroter Seide, mit Metallverschluss, aus zwei vergoldeten, sich küssenden Amors hergestellt. Die Mädchen jauchzten vor Vergnügen und prüften die Muster, ganz hingerissen von der Neugierde, die jede Frau beim Anblick eines Toilettegegenstandes empfindet. Sie winkten sich mit den Augen, flüsterten sich einzelne Worte ins Ohr und Madame betastete mit Wohlgefallen ein paar orangenfarbene Strumpfbänder, die viel breiter und ansehnlicher als die übrigen waren; richtige echte Strumpfbänder für eine »Madame.«

Der Herr sah wartend zu; eine neue Idee war in ihm aufgetaucht. »Vorwärts, meine Kätzchen,« sagte er, »nun probiert sie an.« Das gab ein lautes Geschrei; sie pressten ihre Röcke zwischen den Knieen, als befürchteten sie einen Gewaltstreich. Er wartete indessen ruhig den richtigen Augenblick ab: »Ihr wollt nicht, gut, dann kann ich wieder einpacken,« Schliesslich sagte er: »Ich biete denjenigen ein Paar zur Auswahl an, die sie hier anprobieren.« Aber sie gingen nicht darauf ein, und hielten sich sehr würdevoll zurück. Die beiden »Feuerspritzen« indess machten ein so betrübtes Gesicht, dass er ihnen gegenüber seinen Vorschlag erneuerte. Schaukel-Flora vor allem schien, von lebhafter Begierde gestachelt, sichtlich zu schwanken. »Geh doch, Mädchen!« drängte er sie, »hab nur etwas Mut; sieh nur dieses lila Paar müsste herrlich zu Deiner Toilette passen.« Da war es aus, und Flora hob die Kleider und zeigte das dicke, notdürftig in einen groben Strumpf gezwängte Bein einer Kuhmagd. Der Herr beugte sich nieder und verschloss das Strumpfband zuerst unter dem Knie, dann über demselben, wobei er das Mädchen leise kitzelte, was sie zu kleinen Schreckensschreien und plötzlichem Zusammenzucken veranlasste. Als er fertig war, gab er ihr das lila Paar und frug:

»Wer ist jetzt dran?«

»Ich, ich,« riefen alle auf einmal.

Er begann mit Rosa, welche ein rundes unförmliches Ding zeigte, bei dem man nicht einmal die Knöchel mehr sah, eine richtige »Wurst von einem Bein« wie Raphaële sagte. Fernande wurde von dem Kommis beglückwünscht, der von ihren mächtigen Stempeln ganz entzückt war; die mageren Stöcke der schönen Jüdin dagegen fanden weniger seinen Beifall. Louise Cocote bedeckte scherzeshalber den Kopf des Herrn mit ihrem Rock; Madame schritt aber sofort ein, um diese unziemliche Spielerei zu beenden. Schliesslich bot sie selbst ihm ihr Bein hin, ein schönes wohlproportioniertes und muskulöses Normannier-Bein; der Reisende war so überrascht und entzückt, dass er seinen Hut lüftete um mit echt französischer Galanterie diese Musterwade zu begrüssen.

Die beiden Landleute wagten, starr vor Schrecken, nur mit einem Auge hinzublicken und sie glichen so vollständig Hühnern, die auf dem Neste hocken, dass der Reisende, als er wieder aufstand, ihnen ein lautes »Ki-ke-ri-ki« ins Gesicht krähte, was natürlich ein neues stürmisches Gelächter hervorrief.

In Motteville stiegen die beiden Alten mit ihrem Korbe, ihren Enten und ihrem mächtigen Regenschirme aus und man konnte noch hören, wie die Frau zu ihrem Manne sagte; »Das sind Alles die Folgen von diesem Teufels-Paris«.

Der liebenswürdige Geschäftsreisende stieg erst in Rouen aus, nachdem er inzwischen noch so zudringlich geworden war, dass Madame sich gezwungen sah, ihn energisch auf seinen Sitz zurückzudrücken.

»Das soll uns lehren, uns nochmals mit dem ersten besten in ein Gespräch einzulassen«, fügte sie mit moralischer Entrüstung hinzu.

In Oissel musste man umsteigen und einige Stationen weiter stand Herr Joseph Rivet auf dem Perron, um sie zu erwarten. Er hatte eine grosse, mit Stühlen besetzte Karre mitgebracht, vor der ein Schimmel gespannt war.

Der Tischler küsste höflich sämtliche Damen und führte sie zu seinem Gespann, wo er ihnen beim Aufsteigen behülflich war. Drei setzten sich auf die hinteren Stühle, Raphaële, Madame und ihr Bruder nahmen auf den drei vorderen Plätzen und Rosa, für die sich kein Sitz mehr vorfand, musste sich wohl oder übel auf den Knieen der grossen Fernande niederlassen; so ging nun die Fahrt los. Aber bald wurde der Wagen durch den kurzen Trab des Kleppers derartig zusammengerüttelt, dass die Stühle zu tanzen anfingen und die Reisenden nach allen Seiten herumflogen; sie bewegten sich wie Hampelmänner, schnitten jämmerliche Gesichter und liessen bei jedem neuen Stoss einen Schrei des Schreckens hören. Trotzdem sie sich krampfhaft an den Seiten des Wagens festhielten rutschten ihnen die Hüte bald ins Gesicht, bald in den Nacken. Dabei trabte der Schimmel mit vorgestrecktem Kopfe lustig weiter, den Schwanz, einen kleinen dünnen Rattenschwanz, mit dem er sich von Zeit zu Zeit die Flanken schlug, nach rechts gedreht. Joseph Rivet stemmte das eine Bein auf die Deichsel, das andere hatte er untergeschlagen und hielt die Zügel mit hochgezogenen Ellenbogen. Von Zeit zu Zeit liess er einen schnalzenden Ton hören, worauf das Pferd die Ohren spitzte und seine Gangart beschleunigte.

Zu beiden Seiten der Strasse zeigten die Felder sich im saftigen Grün. Der blühende Raps bildete hin und wieder grosse gelbe, wogende Streifen, von denen ein starker gesunder Duft aufstieg, der mild und zugleich durchdringend, vom Winde weithin getragen wurde. In dem schon ziemlich hochstehenden Korne zeigten sich die azurblauen Köpfe der Kornblumen, welche die Mädchen gar zu gern gepflückt hätten; aber Rivet wollte nicht halten. Dann sah man plötzlich ein Feld, welches mit Blut besäet schien, so sehr hatten die Klatschrosen es überwuchert. Und weiter durch diese bunten blumigen Felder trabte der Schimmel mit dem Wagen, der selbst ein Blumenbouquet mit noch grelleren Farben zu tragen schien, verschwand unter den grossen Bäumen eines Gehöftes, um jenseits des Gebüsches wieder aufzutauchen und diese bunte Frauenlast aufs neue bei gelben Rapsfeldern und grünen blaurot geblümten Saaten vorbeizuführen.

Die Sonne brannte heiss vom Himmel und alles atmete erleichtert auf, als man um ein Uhr die Behausung des Tischlers erreicht hatte.

Die Reisenden waren wie gerädert und blass von Hunger, denn seit der Abfahrt von Fécamp hatten sie noch nichts wieder zu sich genommen.

Frau Rivet stürzte eilig herbei, half beim Aussteigen und küsste eine nach der anderen, sobald sie auf der Erde standen; sie hörte nicht auf, die Schwägerin abzuschmatzen die sie sich mit Gewalt zur Freundin machen wollte. Man ass in der Werkstatt, die man für das Festmahl des folgenden Tages bereits ausgeräumt hatte.

Eine schmackhafte Omelette, welche auf eine Bratwurst folgte und mit gutem prickelnden Cider gewürzt wurde, gab allen die frohe Stimmung wieder. Rivet schenkte fleissig ein und seine Frau wartete auf, besorgte die Küche, reichte die Schüsseln und trug sie wieder fort, nicht ohne jedem Einzelnen zuzuflüstern, ob auch alles nach Wunsch wäre.

An der Wand standen frischgehobelte Bretter und die Spähne waren noch in der Ecke aufgeschichtet; sie verbreiteten einen ausgesprochenen Geruch, jenen echten harzigen Duft einer Tischlerwerkstatt, der bis in die Lungen dringt.

Man frug nach der Kleinen; aber sie war in der Kirche und konnte vor Abend nicht zurück sein.

Dann brach die ganze Gesellschaft auf, um einen Gang im Freien zu machen.

Durch das kleine Dörfchen führte eine Hauptstrasse, an der einige zwanzig Häuser lagen, welche die Geschäftsleute des Ortes, den Fleischer, den Krämer, den Tischler, den Kaffeewirt, den Schuster und den Bäcker in Nahrung setzten. Die Kirche am Ende der Strasse war von einem schmalen Kirchhof umgeben; vier Linden, vor dem Eingang hingepflanzt, überschatteten sie ganz. Sie war aus behauenem Bruchstein ohne jeden Styl aufgeführt und trug auf dem Schieferdach einen Glockenstuhl. Hinter ihr begann sich das weite Feld auszudehnen, auf welchem der Blick nur hin und wieder einzelne Baumgruppen traf, unter denen Bauernhäuser versteckt lagen.

Rivet hatte ganz zeremoniell den Arm seiner Schwester genommen und führte sie mit königlichem Anstande herum, obgleich er in Werktagskleidern war. Seine Frau, der es die goldgestickte Toilette Raphaëlens angethan hatte, ging zwischen dieser und Fernande. Die rundliche Rosa trippelte hinterher mit Louise Cocote und Schaukel-Flora, welche vor Müdigkeit mehr als je hinkte.

Die Hausbewohner eilten an die Thüren, die Kinder unterbrachen ihre Spiele, eine Gardine wurde in die Höhe gezogen und liess einen Kopf unter einer kattunenen Mütze sehen; ein halbblindes altes Mütterchen an Krücken bekreuzte sich wie vor einer Prozession und alles verfolgte mit den Blicken lange die schönen Stadtdamen, die zur ersten Kommunion der kleinen Rivet so weit hergekommen waren. Der Tischler wuchs jedenfalls ungeheuer in ihrer Achtung.

Als sie bei der Kirche vorbeikamen, hörten sie den Gesang der Kinder, es war ein einfaches Lied, das aus den jungen Kehlen zum Himmel schallte. Madame war indessen dagegen, dass man hereinging, damit die kleinen Cherubine nicht gestört würden.

Nach einem Rundgang über die Felder, bei welchem Joseph Rivet deren Haupteigenschaft, die Ertragsfähigkeit des Bodens, und die Resultate seiner Viehzucht gepriesen hatte, führte er seine »Damen« ins Haus zurück und zeigte ihnen ihr Quartier.

Da der Platz sehr beschränkt war, so hatte man sie zu zwei und zwei in einem Raume untergebracht.

Rivet sollte diesmal auf den Hobelspähnen in der Werkstatt schlafen, während seine Frau das Bett mit ihrer Schwägerin teilen würde, und im Zimmer daneben Fernande und Raphaële zusammen hausten. Für Louise und Flora hatte man auf dem Boden der Küche Matratzen gelegt und Rosa schlief für sich allein in einem kleinen dunklen Raume oberhalb der Treppe, dem gegenüber sich der Eingang zu einem engen Verschlage befand, in welchem diese Nacht die Kommunikantin schlief.

Als das junge Mädchen zurückkam, regnete es geradezu Küsse auf sie, denn alle Weibsbilder wollten ihr mit demselben Hang zur Zärtlichkeit, mit derselben gewohnheitsmässigen Schönthuerei ihre Liebe beweisen, mit der sie am Morgen in der Bahn die Enten geküsst hatten. Im Übermasse augenblicklicher heftiger Zärtlichkeit nahm sie jede auf den Schoss, strich mit den Händen über ihr feines blondes Haar, und schloss sie in ihre Arme. Das gute liebe Kind, noch ganz unter dem Eindrucke der eben abgelegten Beichte und in frommer andachtsvoller Stimmung, ertrug mit Geduld und Sanftmut diese überschwenglichen Liebkosungen.

Nach den Anstrengungen, die der Tag für alle gehabt hatte, ging man bald nach dem Essen schlafen. Das kleine Dorf lag bald in jenem tiefen, fast weihevollen Schweigen, welches auf dem Lande so ernst und feierlich unter dem Sternenhimmel das Herz zur Andacht stimmt. Die Mädchen, an die geräuschvollen Abende eines öffentlichen Hauses gewöhnt, waren durch diese stille Ruhe eines Abends auf dem Lande eigentümlich bewegt und schliefen unter seltsamen Schauern ein; es war nicht Kälte, die dies hervorrief, sondern das Gefühl der Einsamkeit, das ein unruhiges und verwirrtes Herz so leicht beschleicht.

Sobald sie so zu Zweien im Bett lagen, rückten sie eng aneinander, als wollten sie sich gegen das Eindringen der tiefen Ruhe wahren, welche die Erde befangen hielt. Aber Rosa, die in ihrem dunklen Raume ganz allein lag, was sie doch sonst so gar nicht gewohnt war, fühlte sich von seltsamen, ängstlichen Gefühlen bewegt. Sie wälzte sich schlaflos auf ihrem Lager herum, als sie plötzlich hinter dem Holzverschlage ihr gegenüber ängstliches Wimmern wie das Weinen eines Kindes hörte. Sie rief mit leiser Stimme, wer da sei. Ebenso leise antwortete ihr schluchzend die kleine Tochter Rivets, welche bisher gewohnt war im Zimmer ihrer Mutter zu schlafen und jetzt in ihrem engen Verschlage eine furchtbare Angst ausstand.

Rosa stand von Mitleid bewegt auf und ging leise, um niemand zu wecken zu dem Kinde herüber. Sie holte es in ihr warmes Bett, drückte es unter zärtlichen Umarmungen an sich und schläferte es mit ihren stürmischen Liebkosungen ein, worauf sie selbst ruhiger wurde und endlich den Schlaf fand. Bis zum Morgen ruhte das Gesicht der Kommunikantin an der blossen Schulter der Prostituierten.

Seit fünf Uhr, der Stunde des »Angelus«, läutete die kleine Glocke der Kirche mit aller Kraft und weckte schliesslich alle diese Damen auf, welche gewohnt waren, bis in den hohen Tag hinein zu schlafen, um die Erholung von anstrengenden Nächten zu finden.

Die Leute im Dorfe waren schon auf. Die Frauen gingen geschäftig an die Hausthüren und plauderten über die Strasse herüber mit der Nachbarin; die eine brachte vorsichtig einen Mousselinrock, der steif wie Pappe gestärkt war, die andere trug eine Kerze von ungeheurer Dimension um die in der Mitte eine seidene Schleife mit Goldfransen geknöpft war und an deren unterem Ende Vertiefungen zum Halten angebracht waren. Die Sonne stand schon hoch am blauen Himmel, dessen äusserster Rand noch einen rosigen Schimmer als letzte Spur des Morgenrotes hatte. Zahlreiche Hühnervölker trippelten vor ihren Ställen umher, und hin und wieder erhob ein schwarzer schillernder Hahn den rotkämmigen Kopf, schlug die Flügel und schmetterte seinen Morgenruf in die Luft, dem dann sämtliche Hähne antworteten.

Wagen und Karren fuhren vor und brachten aus den benachbarten Gemeinden die hochgewachsenen Normanninnen in schwarzen Kleidern, das Halstuch auf der Brust zusammengeknüpft und mit einer uralten silbernen Schnalle festgehalten. Die Männer hatten über dem neumodischen Überzieher oder auf dem alten grünen Tuchrock mit tief herabhängenden Schössen den blauen Kittel gezogen.

Als die Pferde im Stalle waren, sah man längs der ganzen Hauptstrasse eine doppelte Reihe von ländlichen Fahrzeugen jeder Form und jeden Alters, Karren, Cabriolets, Tilburys, Bankwagen, die entweder vornüber gekippt waren, oder auch hintenüber gestürzt die Deichsel in die Luft streckten.

Im Hause des Tischlers ging es wie in einem Bienenstocke zu. Die »Damen« in Rock und Leibchen, mit losen Haaren, die so dünn und kurz waren, als wären sie vor der Zeit welk und dürr geworden, waren mit der Toilette des Kindes beschäftigt.

Die Kleine stand auf einem Tisch und rührte sich nicht, während Madame Tellier die Arbeiten ihrer fliegenden Schaar leitete. Man wusch und putzte sie, man frisierte sie, und zog sie mit Zuhilfenahme zahlloser Stecknadeln an, man ordnete die Falten des Kleides, steckte die viel zu weite Taille enger, kurz man suchte sie so elegant wie möglich auszustaffieren. Dann als man hiermit fertig war, hiess man das arme Opferlamm sich auf einen Stuhl setzen und möglichst regungslos bleiben; worauf die lebhafte Gesellschaft an ihre eigene Toilette eilte.

Auf der kleinen Kirche begann es von Neuem zu läuten. Der wimmernde Ton der Glocke verlor sich in der Luft, wie eine schwache Stimme, die in einem weiten Raume verhallt.

Die Kommunionkinder eilten aus den Thüren der Häuser auf das Gemeindehaus zu, welches die beiden Schulen und die Mairie enthielt und an einem Ende des Dorfes lag, während man das »Gotteshaus« am anderen Ende errichtet hatte.

Die Eltern folgten ihren Kleinen in festlicher Kleidung und mit jener linkischen und ungeschickten Haltung, wie sie sich ein an harte Arbeit gewöhnter Körper aneignet. Die kleinen Mädchen verschwanden in Wolken von weissem Tüll, der sie wie geschlagener Schaum umgab, während die kleinen Burschen, die mit ihrem frisierten, wohlpommadisierten Haupte wie Piccolos aussahen, beim Gehen die Beine möglichst weit voneinander spreizten, um nur ja die neue schwarze Hose nicht zu beschmutzen.

Es war für jede Familie ein besondrer Stolz, wenn möglichst viele Angehörige auch von weiter her das Kind begleiteten: der Triumph des Tischlers war in dieser Frage also unbestritten. Das ganze Regiment Tellier, die Patronin an der Spitze, begleiteten Konstanze; der Vater führte seine Schwester, die Mutter folgte mit Raphaële, Fernande mit Rosa, und schliesslich kamen die beiden »Feuerspritzen«. So stolzierte man majestätisch dahin wie ein Regiments-Stab in grosser Uniform.

Der Eindruck auf die Dorfbewohner war geradezu verblüffend.

Bei der Schule stellten sich die Mädchen unter Leitung einer Schwester auf; die Knaben wurden von dem Schulmeister geordnet, einem ansehnlichen hübschen Menschen. So setzte sich der Zug unter Anstimmung eines Liedes in Bewegung.

Die Knaben an der Spitze ging es durch die doppelte Reihe der ausgespannten Wagen hindurch; den Knaben folgten die Mädchen, und da man den Damen aus der Stadt respektvollst den Vortritt gelassen hatte, so kamen diese, ebenfalls paarweise gehend, dreie rechts und dreie links, unmittelbar hinter den Kleinen in die Kirche.

Ihre Toiletten erweckten den Eindruck eines Brillant-Feuerwerks und ihr Eintritt in die Kirche rief eine grosse Sensation hervor. Man schob und drängte sich, wandte die Köpfe und stiess sich, um sie nur sehen zu können. Die Andächtigen sprachen beinahe laut, hingerissen von der Pracht dieser Damen, welche die der Kirchengewänder fast übertraf. Der Maire bot ihnen sofort seine Bank, die erste rechts hinterm Chore, an, und Madame Tellier nahm mit ihrer Schwägerin Fernande und Raphaële darin Platz; Rosa und die beiden Feuerspritzen besetzten in Gemeinschaft mit dem Tischler die nächste.

Der Chor der Kirche war mit knieenden Kindern, die Knaben rechts, die Mädchen links, angefüllt; und die langen Kerzen, welche sie in Händen hielten, sahen wie emporgestreckte Lanzen aus.

Vor dem Chorpult standen drei Männer und sangen mit voller Stimme, wobei sie die Silben des lateinischen Textes endlos verlängerten und das »A« im »Amen« furchtbar hinauszogen, von der Orgel hierin aufs Beste unterstützt. Eine helle Kinderstimme gab die Antwort, und von Zeit zu Zeit erhob sich ein Geistlicher, der mit dem viereckigen Barrett bedeckt im Chorstuhle sass, betete eine Recitation, worauf dann die drei Männer, nachdem er sich gesetzt hatte, wieder anhoben, den Blick starr auf das vor ihnen aufgeschlagene Chorbuch heftend, das von den ausgebreiteten Flügeln eines auf einem Gestell befestigten hölzernen Adlers gehalten wurde.

Hierauf trat eine feierliche Stille ein. Alle Anwesenden sanken auf die Knie und es erschien der Pfarrer, ein ehrwürdiger Greis mit weissen Haaren, das Antlitz auf den Kelch gebeugt, den er in der linken Hand trug. Vor ihm gingen die beiden Messdiener in roten Chorröcken und hinter ihm folgte eine Anzahl Sänger in weissen Röcken, die sich zu beiden Seiten des Chors verteilten.

Der Ton eines kleinen Glöckleins unterbrach jetzt die lautlose Stille; der Gottesdienst begann. Nachdem der Priester langsam vor den vergoldeten Tabernakel hingetreten war und dort eine Kniebeugung gemacht hatte, trat er an die Altarstufen zurück und betete mit seiner heiseren, altersschwachen Stimme den Introitus. Sobald er denselben beendet und wieder zum Altar heraufgestiegen war, fielen Chorsänger und Orgel gleichzeitig ein, und auch die Leute in der Kirche sangen mit; ihre Stimmen waren etwas gedämpfter, weniger laut als die der Ersteren.

Dann hörte man wieder das »Kyrie eleison« des Priesters, dem alle Andächtigen mit Mund und Herzen folgten. Die ganze Gemeinde sang so laut und inbrünstig mit, dass eine Wolke von Staub und Mörtelstückchen sich in Folge der mächtigen Schallwellen an dem alten morschen Gewölbe erhob. Die Sonne brannte heiss auf die kleine Kirche, in der allmälig eine dumpfe Stickluft zu herrschen begann. Eine tiefe Bewegung, eine ängstliche Spannung auf das nahende heilige Geheimnis bemächtigte sich der Kinderherzen und schnürte die Kehlen der Mütter zusammen.

Der Priester schritt nun mit entblösstem, im Glanze der Silberhaare schimmernden Haupte an die rechte Seite des Altars und schickte sich mit zitternden Händen an, die heilige Opferung zu begehen.

Dann wandte er sich zu den Gläubigen und sprach, die Hände zu ihnen ausstreckend: »Orate fratres« – »betet, meine Brüder«, worauf die Stille eines lautlosen Gebetes der ganzen Gemeinde folgte. Nach dem Sanktus begann dann wieder das Stillgebet in jenem feierlichen andachtsvollen Schweigen, welches die Herzen auf die eigentliche geheimnisvolle Feier vorbereitet. Ein Glöckchenzeichen des Messdieners rief eine allgemeine Bewegung hervor; jeder suchte seinem Körper auch äusserlich die innere demutsvolle Erwartung aufzudrücken. Jetzt sprach der Priester mit halblauter Stimme in kleinen Absätzen die Verwandlungsworte, dreimal schlug das Glöckchen an und ein Jeder klopfte andächtig an seine Brust, Gott voll Inbrunst anbetend. Über den Kindern lag es wie eine Wolke schauervoller Weihe.

In diesem feierlichen Augenblicke erinnerte sich Rosa plötzlich ihrer Mutter, der Kirche ihres Dorfes und ihrer eigenen ersten Kommunion. Sie versetzte sich im Geiste an jenen Tag zurück, wo sie, noch ebenso klein und unschuldig, ganz in ihrem weissen Kleide verhüllt war, und fing an zu weinen. Erst weinte sie leise; langsam drangen die Thränen aus ihren Wimpern. Dann aber wuchs ihre Bewegung mit ihren Erinnerungen, und schliesslich schluchzte sie laut, den Kopf tief gebeugt mit heftig wogender Brust. Sie hatte ihr Taschentuch hervorgezogen, sie wischte sich die Augen, schnupfte sich und presste den Mund auf das Tuch, um nicht aufzuschreien, allein es half alles nichts. Eine Art Röcheln drang aus ihrer Kehle und wurde von zwei herzzerreissenden Seufzern rechts und links beantwortet; denn Louise und Flora, von denselben Erinnerungen an die ferne Jugendzeit ergriffen, seufzten ebenfalls unter strömenden Thränen.

Das wirkte ansteckend, und Madame fühlte, dass auch ihre Augenlider feucht wurden; als sie sich zu ihrer Schwägerin umwandte, sah sie, dass die ganze Bank weinte.

Der Priester zeigte den Leib des Herrn und die Kinder vergassen, in ahnungsvoller Bange auf die Knie gesunken, alles rings um sie her. In der Kirche zog bald hier bald dort eine Frau, eine Mutter, eine Schwester, hingerissen von der eigenen Bewegung oder vielleicht auch durch das Beispiel der knieenden fremden Damen, die unaufhörlich seufzten und schluchzten, ihr grosskarriertes kattunenes Taschentuch, die Linke fest an das heftig pochende Herz pressend.

Wie ein Funke, der eine dürre Grasfläche in Brand setzt, so hatten die Thränen Rosas und ihrer Gefährtinnen mit einem Male auf die ganze Menge gewirkt. Männer und Frauen, Greise und Jünglinge, fast alles weinte, und etwas Übermenschliches, der Hauch einer Seele, der wunderbare Odem eines unsichtbaren allmächtigen Wesens schien über ihnen zu schweben.

Jetzt hörte man in der Kirche einen leisen kurzen Schlag widerhallen: Die Schwester gab das Zeichen zum Beginn der Kommunion, indem sie mit dem Rücken des Fingers an ihr Gebetbuch klopfte, und von himmlischen Schauern bewegt näherten sich die Kinder dem Tische des Herrn.

Die erste Reihe kniete nieder. Der alte Pfarrer, das vergoldete silberne Ciborium in der Hand, trat zu jedem einzelnen heran und bot ihm zwischen seinen zwei Fingern die geweihte Hostie, den Leib des Herrn und Erlösers. Sie öffneten krampfhaft den Mund mit einer Art nervösem Zittern, die Augen in Andacht geschlossen, bleich vor Erregung, und das Kommuniontuch unter ihrem Kinn bewegte sich wie wogendes Wasser.

Eine Art von Verzückung brach in der Kirche aus, man hörte das Geräusch der ergriffenen Menge, das wogende Schluchzen wie unterdrücktes Schreien. Es war wie das Säuseln des Windes in den Kronen der Bäume. Unbeweglich, eine Hostie in der Hand, stand der greise Priester, tief ergriffen, einen Augenblick da: »Das ist Gott, Gott, der seine Gegenwart unter uns bekundet, der auf meinen Ruf zu seinem knieenden Volke herabsteigt«, so wogte es in seinem Herzen, und halbverzückt murmelte er ein wortloses Gebet, das Gebet einer Seele, die den Himmel offen zu sehen glaubt.

Er vollendete die Spendung der heiligen Hostie mit solcher Glaubens-Inbrunst, dass ihm die Knie zitterten, und nachdem er selbst das Blut des Herrn getrunken, ergoss sich sein Herz in einem stillen heissen Dankgebet.

Die Gemeinde hinter ihm beruhigte sich erst allmälig. Die Sänger in ihren weissen Chorhemden begannen mit unsicherer noch etwas vibrierender Stimme aufs Neue ihren Gesang, und selbst die Orgel klang etwas heiser, als habe auch sie sich der Thränen nicht erwehren können.

Als der Priester die Hände hob, brach sie ihr Spiel ab, und der ehrwürdige Greis schritt nun zwischen den zwei Gruppen glückstrahlender Kinder hindurch bis an die Chorbank vor.

Die Gläubigen hatten sich gesetzt, und durch die ganze Kirche hörte man das Rücken der Bänke und das laute Geräusch nochmals gebrauchter Taschentücher. Dann trat feierliche Stille ein, und mit tiefer verschleierter Stimme, etwas stockend, begann der Priester:

»Meine teuren Brüder! Meine teuren Schwestern! Liebe Kinder! Ich danke Euch aus ganzem Herzen, dass Ihr mir die schönste Freude meines Lebens bereitet habt. Ich habe es empfunden, dass Gott selbst auf mein Flehen zu Euch herabgestiegen ist. Er selbst ist gekommen, um mit seiner Gegenwart unter uns zu weilen, die Seelen zu erfüllen und die Augen überquellen zu machen. Ich bin der älteste Priester der Diöcese, aber ich bin auch heute der glücklichste derselben. Ein Wunder hat sich unter uns ereignet, ein wahrhaftiges grosses erhabenes Wunder. Während Jesus Christus zum ersten Male von den Seelen dieser Kleinen Besitz nahm, um darin zu wohnen, hat sich der Heilige Geist, die Himmelstaube, der Odem Gottes auf Euch herabgelassen, hat sich Eurer Herzen bemächtigt, hat sie umfangen und umsäuselt wie der linde Morgenwind den blühenden Rosenstock.« Sich dann mit klarerer Stimme zu den beiden ersten Bänken wendend, in denen die Gäste des Tischlers sassen, fuhr er fort: »Dank vor Allem Euch, meine lieben Schwestern, die Ihr so weit hergekommen seid, und deren Anwesenheit unter uns, deren sichtbarer Glaube, deren lebhafte Andacht uns Allen ein so heilsames Beispiel gaben. Ihr waret die Erbauung meiner Gemeinde, Eure Bewegung hat ihre Herzen mit entzündet; ohne Euch hätte dieser grosse Tag vielleicht niemals diesen wahrhaft erhabenen Verlauf genommen. Genügt doch oft ein einzelnes auserwähltes Lamm, dass der Herr zur ganzen Herde sich herablasse.«

Die Stimme versagte ihm. »Ich wünsche Euch Allen Gottes reichsten Segen. Amen«, fügte er noch hinzu. Und er stieg wieder zum Altar empor, um die heilige Handlung zu vollenden.

Als der Priester zur Sakristei schritt, beeilte sich Alles herauszukommen. Die Kinder sogar waren unruhig, nachdem die Spannung ihres Geistes etwas nachgelassen hatte; und ausserdem begannen sie auch hungrig zu werden. Einzelne Mütter hatten sich schon vor dem letzten Evangelium entfernt, um die Vorbereitungen zum Mittagessen zu treffen.

War das ein Gedränge an der Kirchenthür! Ein lärmendes Gedränge, ein Stimmengewoge in der singenden normannischen Mundart. Schliesslich bildeten sich zwei Haufen, um die Kinder durchzulassen, und als diese endlich erschienen, wurde ein jedes sofort von seiner Familie mit Beschlag belegt.

Constanze war natürlich gleich herausgeholt, umringt und von der ganzen weiblichen Schar umarmt und geküsst; besonders Rosa hörte nicht auf, sie stets von neuem an ihre Brust zu drücken. Schliesslich nahm sie das Kind an der einen Hand, Madame Tellier ergriff Constanzens andere, Raphaële und Fernande fassten den Zipfel seiner langen Mousselin-Schleppe, damit sie nicht staubig würde, Louise und Flora folgten mit Madame Rivet; und so ging nun das Kind, noch ganz durchdrungen und ergriffen von dem hohen Geheimnisse, dessen es vor Kurzem gewürdigt war, inmitten dieser Ehrenbegleitung dem elterlichen Hause zu.

Das Festmahl fand in der Werkstatt an langen Brettern statt, die man über zwei Böcke gelegt hatte.

Durch die offene Thür, welche auf die Strasse führte, drang die fröhliche Stimmung des ganzen Dorfes herein. Durch jedes Fenster konnte man festlich gekleidete Menschen bei der Tafel sitzen sehen, und lautes Lachen und Scherzen war überall vernehmlich. Die Bauern in Hemdsärmeln tranken den Cider aus vollen Gläsern, und inmitten einer jeden Gesellschaft bemerkte man zwei Kinder, bald Knaben, bald Mädchen, die mit ihrer Familie als die Gefeierten des Tages das Festmahl einnahmen.

Hin und wieder fuhr ein Bauernwagen, von einer alten Mähre gezogen, in langsamem Trabe durch das Dorf, auf welches die Mittagssonne ihre brennenden Strahlen herabsandte, und der Mann im Kittel, der ihn lenkte, warf einen neidischen Blick auf alle diese Herrlichkeiten.

In der Behausung des Tischlers hielt sich die Festfreude in gemessenen Grenzen; eine Nachwehe der bewegten Stimmung in der Kirche. Nur Rivet war im besten Zuge und trank über Gebühr. Madame Tellier schaute alle Augenblicke auf die Uhr, denn man musste den 4 Uhr-Zug, der sie abends nach Fécamp brachte, erreichen, um das Haus nicht zwei Tage hintereinander leer stehen zu lassen.

Der Tischler gab sich alle Mühe, seinen Besuch umzustimmen und bis zum andren Morgen dazubehalten, aber Madame war unerbittlich. In Geschäftssachen pflegte sie nicht zu spassen.

Sobald man den Kaffee genommen hatte, befahl sie ihren Pensionärinnen, sich schnell bereit zu machen; dann wandte sie sich an ihren Bruder und bat ihn, nur rasch anzuspannen, worauf sie selbst ihre letzten Vorbereitungen vollendete.

Als sie wieder herunter kam, wartete schon ihre Schwägerin auf sie, um mit ihr von der Tochter zu sprechen; indessen kam bei der ganzen Unterredung nichts Bestimmtes heraus. Die Bäuerin, welche das Vergebliche ihrer Bemühungen einsah, hörte schliesslich auf; Madame Tellier, auf deren Schoss das Kind sass, verpflichtete sich zu nichts und machte nur allerhand leere Versprechungen: Man würde sie nicht vergessen, es habe ja noch Zeit und übrigens werde man sich bald wieder sehen.

Der Wagen fuhr indessen nicht vor und die Mädchen kamen nicht herunter. Man hörte sogar von oben lautes Gelächter, Stampfen, einzelne Schreie und lebhaftes Händeklatschen. Während die Frau des Tischlers zum Stall ging, um nach dem Wagen zu sehen, stieg Madame schleunigst die Treppe wieder herauf.

Rivet, sehr erregt und in sehr mangelhafter Toilette, suchte, wenn auch vergeblich, Rosa, die vor Lachen erstickte, in seine Gewalt zu bekommen. Die beiden Feuerspritzen hielten ihn an den Armen zurück und suchten ihn zu beruhigen, abgestossen von einem solchen Benehmen nach der ernsten Feier des Tages, während Raphaële und Fernande ihn ermunterten und sich vor Lachen die Seiten hielten. Bei jedem seiner nutzlosen Versuche kreischten sie laut auf vor Vergnügen. Der Mann war ganz ausser sich; mit hochrotem Kopf, fast ohne jede Bekleidung suchte er vergeblich unter Aufbietung aller Kräfte die beiden Mädchen, die sich an ihn klammerten, los zu werden und sich Rosas zu bemächtigen, indem er heftig hervorstiess: »Du willst nicht, Du Schlange?« – Aber schon stürzte Madame voll Entrüstung herbei, fasste ihren Bruder an den Schultern und warf ihn so heftig aus dem Zimmer, dass er an die Wand taumelte.

Einige Minuten später hörte man schon, wie er sich am Brunnen im Hofe den Kopf wusch; und als er bald darauf mit dem Wagen erschien, war er wieder ganz nüchtern.

Man fuhr in derselben Weise fort wie Tags zuvor, und der kleine Schimmel bewegte sich in demselben lebhaften und schaukelnden Tempo.

Trotz der warmen Sonne erwachte jetzt die während des Mahles gedämpft gewesene Munterkeit. Den Mädchen machten jetzt die Sprünge des Wagens Freude, sie stiessen selbst an die Stühle ihrer Nachbarinnen und brachen bei der Erinnerung an Rivet's vergebliche Anstrengungen jedesmal wieder in ein lautes Gelächter aus.

Auf den Fluren lag eine Luft, die zur Ausgelassenheit reizte, eine Luft, die einem vor den Augen tanzte; unter den Rädern stiegen zwei mächtige Staubwolken hervor, die lange Zeit hinter dem Wagen herliefen, wie zwei übermütige Clowns.

Fernande, eine grosse Musikfreundin, bat plötzlich Rosa, etwas zu singen; diese liess sich das nicht zweimal sagen und wollte eben das Lied: »Der dicke Pfarrer von Meudon« anstimmen, als Madame ihr sofort Schweigen gebot. Sie hielt den Text des Liedes für den heutigen Tag nicht passend und sagte: »Sing uns lieber etwas von Béranger.« – Rosa sann einen Augenblick nach und hob dann mit ihrer etwas verrosteten Stimme die »Grossmutter« an:

    Grossmütterchen hatte am Namensfest kaum
Zwei Schlückchen vom Wein nur genippt;
Da sprach sie und nickt mit dem Kopf wie im Traum:
»Wie hab' ich doch einst viel geliebt!

              Doch verdorrt ist der Arm,
              So rosig und warm:
              Und verwelkt ist das Herz,
              Nur geblieben der Schmerz.«

Und von Madame selbst geleitet, fiel der Chorus der Mädchen ein:

              »Doch verdorrt ist der Arm,
              So rosig und warm;
              Und verwelkt ist das Herz,
              Nur geblieben der Schmerz.«

»Herrlich! prächtig!« rief Rivet, den der Schlussvers hingerissen hatte; Rosa fuhr indessen fort:

    Wie? Mütterchen! also auch Du warst nicht brav?
»Nein, Kindchen, nicht einmal im Schlaf.
Wie konnt' es auch sein, denn mit fünfzehn Jahren,
Da hatt' ich genug von der Lieb' schon erfahren.«

Alle zusammen gröhlten den Refrain, und Rivet trat mit dem Fusse auf der Deichsel den Takt und schlug ihn gleichzeitig mit den Zügeln auf dem Rücken des Schimmels. Dieser war selbst gleichsam von der Melodie des Liedes angefeuert und setzte sich in flotten Galopp, in Folge dessen die Damen von ihren Sitzen flogen und sich in einem bunten Haufen auf dem Boden des Wagens wälzten.

Sie erhoben sich unter ausgelassenem Gelächter und brüllten von neuem aus vollem Halse ihr Lied übers Feld, auf dessen reifende Früchte die Sonne ihre sengenden Strahlen sandte. Der Schimmel nahm bei jeder Wiederholung einen neuen Galopp-Anlauf, was den Insassen des Gefährtes eine unbändige Freude machte.

Hin und wieder wandte sich ein Steinklopfer nach ihnen um und betrachtete durch das Drahtnetz seiner Schutzbrille dieses heulende Fahrzeug, das durch den wirbelnden Staub dahinraste.

Der Tischler war sehr unzufrieden, als man in die Nähe des Bahnhofes kam.

»Schade, dass Ihr fortmüsst« sagte er, »wir hätten uns herrlich amüsiert.«

»Jedes Ding zu seiner Zeit,« antwortete Madame überlegen, »man kann sich nicht immer nur amüsieren.«

Da kam Rivet auf eine gute Idee: »Höre, ich werde Euch nächsten Monat in Fécamp besuchen« sagte er, Rosa mit einem verzehrenden Blick und listigem Blinzeln anschauend.

»Gut« sagte Madame, »man muss vernünftig sein. Du kannst kommen, wenn Du willst, aber Du darfst keine Dummheiten machen.«

Er antwortete nicht und begann jede Einzelne aus der Gesellschaft zu umarmen, als man von Weitem den Zug herannahen hörte. Bei Rosa angekommen, suchte er deren Mund zu erwischen, den diese ihm jedesmal, hinter ihren geschlossenen Zähnen lachend, durch eine schnelle Wendung entzog. Er hielt sie zwar in seinen Armen, aber er kam nicht zum Ziel, weil ihn seine grosse Peitsche hinderte, die er in der Hand hielt, und mit der er hinter ihrem Rücken bei seinen vergeblichen Versuchen die sonderbarsten Figuren beschrieb.

»Nach Rouen einsteigen!« rief der Portier; so mussten sie sich trennen.

Die kleine Pfeife des Zugführers schrillte vom Perron und gleich darauf ertönte der laute Pfiff der Lokomotive, die dann sofort ihre erste Dampfwolke in die Luft stiess, während die Räder unter kreischendem Geräusch ein wenig anzogen.

Rivet verliess das Innere des Bahnhofes und lief an die Schranke, um Rosa noch einmal zu sehen, und als der Wagen mit seiner menschlichen Last an ihm vorbeifuhr, knallte er mit der Peitsche und hüpfte umher, dabei aus Leibeskräften singend:

              »Doch verdorrt ist der Arm,
              So rosig und warm,
              Und verwelkt ist das Herz,
              Nur geblieben der Schmerz.«

Dann sah er eine weisse Rauchwolke in der Ferne langsam verschwinden.

III.

Sie schliefen bis zur Ankunft in Fécamp den sanften Schlaf eines befriedigten Gemütes, und als sie in die Wohnung traten, erfrischt und ausgeruht für ihr tägliches Abendgeschäft, konnte Madame sich nicht enthalten zu sagen:

»Einerlei; ich sehnte mich doch schon nach Hause.«

Schnell wurde zu Abend gegessen, das gewöhnliche Arbeitskostüm angelegt und dann auf die gewohnten Stammgäste gewartet; die kleine Laterne brannte wieder hinter ihrem Gitter und verkündete den Passanten, dass die Gesellschaft im Hause ihre Thätigkeit wieder aufgenommen habe.

Wie der Blitz hatte sich die Nachricht von ihrer Rückkehr verbreitet; kein Mensch wusste wie und durch wen. Herr Philippe, der Bankierssohn, hatte sogar die Liebenswürdigkeit, durch ein besonderes Billet den an seine Familie gefesselten Herrn Tournevau davon zu verständigen.

Der Fischhändler hatte gerade, wie jeden Sonntag, mehrere Vettern zum Essen bei sich, und man nahm eben den Kaffee, als ein Mann mit einem Brief in der Hand hereingeführt wurde. Hastig erbrach Herr Tournevau den Umschlag und erbleichte, als er die nur mit Bleistift gekritzelten Worte las: »Kabeljau-Ladung wiedergefunden; Schiff im Hafen eingelaufen; gutes Geschäft für Sie. Kommen Sie schnell.«

Er griff in die Tasche, reichte dem Boten zwanzig Centimes und sagte heftig errötend: »Es hilft nichts, ich muss gehen.« Während seine Gattin das geheimnisvolle lakonische Billet las, schellte er und rief der eintretenden Dienerin zu: »Meinen Überzieher und Hut, aber schnell!« Kaum auf der Strasse, rannte er im Sturmschritt davon, und der Weg kam ihm in seiner Ungeduld noch zweimal so lang vor.

Das Haus Tellier trug ein festliches Gepräge. Im Erdgeschoss widerhallten die lärmenden Stimmen der Hafenleute, die einen wüsten Spektakel aufführten. Louise und Flora wussten nicht wem sie zuerst antworten sollten, tranken mit Jedermann, und verdienten mehr, als bisher jemals die »zwei Feuerspritzen« erworben hatten. Man rief von allen Seiten zugleich nach ihnen; sie hätten zwanzig Hände zugleich haben mögen und sahen voraus, dass es für sie eine böse Nacht geben würde.

Im Salon des ersten Stockes war es seit neun Uhr sehr still geworden. Herr Vasse, der Handelsrichter, Madames platonischer Liebhaber, plauderte mit dieser ganz leise in einem Winkel. Herr Poulin, der ehemalige Maire, hatte Rosa auf dem Schosse, die, dicht an ihn geschmiegt, mit ihren kurzen fetten Händchen die weissen Koteletten des wackeren Mannes streichelte. Zwischen ihren Strümpfen, welche durch die blauen Bänder, das Geschenk des Handlungsreisenden, befestigt waren, und dem schwarzen Spitzenbesatz ihrer Pantalons, die unter dem etwas verschobenen Kleiderrocke hervorsahen, zeigte sich ein Streifen ihrer blossen Haut.

Die grosse Fernande lag auf dem Sopha und liess ihre Füsse auf dem Schosse des Einnehmers, Herrn Pimpesse, ruhen, während sie sich mit dem Rücken an die Brust des jungen Herrn Philippe lehnte, dem sie mit der Rechten den Kopf kraute; indess die Linke eine Cigarette hielt.

Raphaële schien eifrige Verhandlungen mit Herrn Dupuis, dem Versicherungs-Agenten, zu führen, die sie mit den Worten beendete: »Jawohl, mein Schatz; heute Abend bin ich gern bereit.« Dann machte sie allein eine rasende Walzertour durch den Salon und rief: »Heute Abend Alles, was man will!«

Plötzlich wurde hastig die Thür aufgerissen und Herr Tournevau trat ein.

»Hoch Tournevau!« rief Alles begeistert. Raphaële, die sich noch im Walzer wiegte, sank an seine Brust und er riss sie stürmisch an sich. Dann hob er sie, ohne ein Wort zu sagen, wie eine Feder vom Boden auf, trug sie quer durch den Salon, öffnete die Thüre im Hintergrund und betrat mit seiner lebendigen Last die Treppe, die zu den Zimmern führte, gefolgt von einem rasenden Beifallsjubel.

Rosa, die den ehemaligen Maire in Flammen setzte, indem sie ihn alle Augenblicke küsste und zugleich seine beiden Koteletten streichelte, nahm sich ein Beispiel hieran. »Komm, mach es ebenso« sagte sie. Schliesslich erhob sich der Brave und, indem er seine Kleider ordnete, folgte er dem Mädchen, dabei mit der Rechten in die Tasche fahrend, wo er sein Geld verwahrte.

Fernande und Madame blieben mit den vier andern Herren allein, und Herr Philippe rief:

»Ich gebe Sekt; lassen Sie drei Flaschen holen, Madame Tellier!«

Fernande nahm ihn bei Seite und flüsterte ihm ins Ohr: »Spiel' uns einen Tanz, willst Du?«

Er erhob sich und setzte sich an das alte Spinett, das in einem Winkel ruhte und entlockte demselben einen heiser klingenden, klagenden Walzer. Das grosse Mädchen engagierte den Einnehmer, Madame ergriff den Arm des Herrn Vasse, und die beiden Paare walzten herum unter lebhaftem Küssen. Herr Vasse, der vor Zeiten mal in der Welt getanzt hatte, machte seine Sache vortrefflich und Madame sah ihn mit trunkenem Blicke an, jenem Blicke, der »ja« sagt; ein »ja«, das viel diskreter und köstlicher ist als ein Wort!

Friedrich brachte den Sekt und nach dem ersten Glase schlug Herr Philippe eine Quadrille vor.

Die zwei Paare führten dieselbe ganz in der üblichen Weise aus, steif und feierlich, mit allen Bewegungen, Neigungen und Komplimenten; worauf man sich wieder zur Flasche setzte.

Da erschien plötzlich Herr Tournevau wieder, strahlend in angenehmer Erschlaffung. »Weiss der Teufel, was das Mädchen, die Raphaële, hat, aber sie ist heute entzückend!« Er trank ein dargebotenes Glas Sekt auf einen Zug aus, indem er murmelte: »Kuckuck auch! So ein Luxus!«

Herr Philippe begann auf der Stelle eine Polka und Herr Tournevau schwenkte die schöne Jüdin herum, welche er hoch in der Luft hielt, sodass ihre Füsse immer über dem Boden schwebten. Auch Herr Pimpesse und Herr Vasse waren mit neuem Eifer losgestürzt. Von Zeit zu Zeit machte ein Paar am Kamine Halt und pfiff schnell ein Glas Sekt.

Der Tanz schien kein Ende nehmen zu wollen, als Rosa mit einem Leuchter in der Hand die Thür öffnete. Sie trug das Haar lose, und war nur in Hemd und Hausschuhen; dabei machte sie einen sehr zufriedenen, wenn auch etwas mitgenommenen Eindruck.

»Ich will tanzen!« rief sie.

»Und Dein Alter?« frug Raphaële.

Rosa lachte: »Der? Der schläft schon; er schläft immer gleich ein.«

Sie holte sich Herrn Dupuis, der allein auf dem Sopha geblieben war und die Polka begann von Neuem.

Als die Flaschen leer waren, sagte Herr Tournevau: »Ich zahle noch eine!«

»Und ich auch!« riefen Herr Vasse und Herr Dupuis wie aus einem Munde. Alles klatschte Beifall.

Es entwickelte sich nun ein regelrechter Ball. Von Zeit zu Zeit kamen auch Louise und Flora schnell herauf, tanzten in Eile einmal herum und schlürften ein Glas Sekt, während unten die Gäste vor Ungeduld vergingen. Dann stürzten sie wieder in's Café herunter, nicht ohne einen traurigen Seufzer auszustossen.

Um Mitternacht tanzte man immer noch. Zuweilen verschwand eines der Mädchen, und wenn man sie suchte, um ein Gegenüber zu haben, bemerkte man plötzlich, dass auch einer der Herren fehlte.

»Wo kommen Sie nur her?« fragte scherzend Herr Philippe, als Herr Pimpesse und Fernande gerade wieder eintraten.

»Wir besahen uns den schlafenden Herrn Poulin«, antwortete der Einnehmer.

Das Wort hatte eine kolossale Wirkung: Alle gingen hintereinander mit einem der Mädchen, die heute aussergewöhnlich lustig waren, hinauf, »um den schlafenden Herrn Poulin zu sehen.« Madame drückte heute ein Auge zu; sie hatte in der Ecke wieder ein langes Gespräch mit Herrn Vasse, um die letzten Punkte einer Angelegenheit zu ordnen, die schon so gut wie abgemacht war.

Endlich um ein Uhr erklärten die beiden Ehemänner, Herr Tournevau und Herr Pimpesse, dass sie fort müssten und zahlen wollten. Madame nahm nur Geld für den Champagner an und rechnete noch dazu die Flasche nur mit sechs Franks, statt der gewöhnlichen zehn Franks. Und als man allseitig diese Grossmut bewunderte, sagte sie mit lustigem Lachen:

»Es ist nicht alle Tage Kirchweih!«

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