Guy de Maupassant
Dickchen
Guy de Maupassant

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Hautot Vater und Hautot Sohn

I.

Vor der Thür des Hauses, das halb Bauerhof war, halb schloßartig, einer jener Landsitze, die einst fast herrschaftlich waren und nun großbäuerlicher Besitz sind, bellten, an den Apfelbäumen im Hof angebunden, die Hunde und heulten beim Anblick der Jagdtaschen, die der Feldhüter und ein paar Jungen vorüber trugen. In der großen, saalartigen Küche saßen Hautot Vater, Hautot Sohn, Herr Bermont der Steuereinnehmer, und Herr Mondaru der Notar, aßen Pastete und tranken ein Glas Wein, ehe sie zur Jagd gingen, die heute eröffnet war.

Hautot Vater war stolz auf alles was er besaß. Er renommierte schon jetzt mit dem Wilde, das seine Gäste auf seiner Jagd zur Strecke bringen sollten. Er war ein hochgewachsener Normanne, einer jener riesigen, vollblütigen, kraftstrotzenden Männer, die mit den Schultern Obstwagen in die Höhe heben können. Halb Bauer, halb Herr, reich, angesehen, nicht ohne Einfluß, herrisch, hatte er seinen Sohn Cäsar Hautot bis zur dritten Klasse die Schule besuchen lassen, um ihm »Bildung« beizubringen. Dann aber wurde er von der Schule genommen, denn der Vater fürchtete, der Sohn möchte etwa ein Stadt-Herr und der Landwirtschaft entfremdet werden.

Cäsar Hautot war beinah so groß wie sein Vater, nur etwas weniger beleibt. Er war ein guter Kerl, als Sohn, gehorsam, mit allem zufrieden, voll Bewunderung, Hochachtung und Ehrerbietung für Willen und Wunsch seines Vaters.

Herr Bermont, der Steuereinnehmer, war ein kleiner, dicker Kerl, auf dessen Backen sich ein feines Geflecht von violetten Adern zeigte, ähnlich wie die gewundenen Flüsse und Nebenflüsse auf einer Landkarte. Er fragte:

– Na, und Hasen? kommen denn Hasen vor?

Hautot Vater antwortete:

– So viel Sie wollen, vor allem in der Remise von Puysatier drin.

– Wo geht's denn los? – fragte der Notar, das richtige Bild eines wohllebenden Notars: dick, bleich, auch etwas wohlbeleibt, in einen ganz neuen Jagdanzug eingezwängt, den er erst in der vorigen Woche in Rouen gekauft hatte.

– Na, denn also los. Wir treiben die Hühner in die Ebene 'naus und dann feste druff.

Und Hautot Vater stand auf. Die anderen folgten seinem Beispiel, nahmen ihre Gewehre aus den Ecken, untersuchten den Verschluß, stampften ein paar Mal auf den Boden, um sich in die harten, dicken Stiefel, die noch nicht durch die Wärme des Blutes geschmeidig geworden waren, einzugewöhnen. Dann gingen sie hinaus; die Hunde sprangen hoch an ihren Riemen auf, heulten laut und fuchtelten mit den Vorderpfoten in der Luft herum.

Man machte sich auf den Weg ins Revier. Es war ein kleines Thal, oder vielmehr ein großes wellenförmiges Gelände, das wegen der schlechten Bodenbeschaffenheit unbebaut geblieben war. Die Niederung war von einzelnen Schluchten durchrissen, mit Farrenkräutern bestanden: ein Lieblingsaufenthalt des Wildes.

Die Jäger verteilten sich: Hautot Vater nahm den rechten Flügel, Hautot Sohn den linken, die beiden Gäste gingen in der Mitte; der Feldhüter und die Burschen, die die Jagdtaschen trugen, folgten. Es war der feierliche Augenblick, wo man den ersten Schuß erwartet, wo das Herz ein wenig klopft, während der Finger nervös alle Augenblicke nach dem Abzug fühlt.

Plötzlich fiel er, dieser erste Schuß. Hautot Vater hatte geschossen. Alle blieben stehen und sahen wie ein Rebhuhn sich aus einer aufgehenden Kette ablöste und in dichtes Gestrüpp in eine der Schluchten fiel. Der Schütze lief in seiner Aufregung mit gewaltigen Schritten darauf zu, riß die Dornen los, die sich an ihn gehängt hatten und verschwand nun im Dickicht, um seine Beute zu suchen.

Beinah im selben Augenblick fiel ein zweiter Schuß.

– Das ist ein Hauptkerl! – rief Herr Bermont, – der hat wahrscheinlich da unten gleich noch einen Hasen gestreckt.

Sie warteten alle, die Augen auf das undurchdringliche Zweig- und Blättergewirr geheftet.

Der Notar legte die Hand als Sprachrohr an den Mund und brüllte:

– Haben Sie's?

Hautot Vater antwortete nicht. Da wendete sich Cäsar zum Feldhüter und sagte:

– Hilf doch mal, Josef, wir müssen in der Linie weiter treiben, wir wollen warten.

Und Josef, ein alter, wie ein Baumstamm vertrockneter knorriger Mann, dessen Knochen alle eckig herausstanden, ging ruhig hin, stieg in die Schlucht hinab, indem er mit der Vorsicht eines Fuchses durch die Löcher einen gangbaren Weg suchte. Dann rief er sofort:

– Kommen Sie, kommen Sie, 's is ein Unglück geschehen!

Sie liefen alle herbei und stürzten sich in die Dornen. Hautot Vater lag ohnmächtig auf der Seite, beide Hände auf den Leib gepreßt, aus welchem durch den vom Blei zerrissenen Leinwandrock in langen Streifen Blut ins Gras sickerte. Als er, um das erlegte Huhn aufzuheben, das Gewehr weggesetzt hatte, war die Waffe gefallen, bei dem Stoß entlud sich der zweite Lauf, und der Schuß ging ihm in den Unterleib. Man zog ihn aus dem Loch, entkleidete ihn und gewahrte nun eine schreckliche Wunde aus der die Eingeweide quollen. Man trug ihn, nachdem man ihn so gut als es ging verbunden hatte, heim und wartete auf den Arzt. Sie hatten zu ihm wie zum Geistlichen geschickt.

Als der Arzt ankam, schüttelte er ernst den Kopf, wendete sich zu Hautot Sohn, der schluchzend auf einem Stuhl saß und sagte:

– Armer Junge, das sieht nicht gut aus.

Aber als der Verband angelegt war, bewegte der Verwundete die Finger, öffnete den Mund, dann die Augen und warf verstörte, irre Blicke um sich. Er schien in seinem Gedächtnis irgend etwas zu suchen, sich zu erinnern, etwas zu begreifen und flüsterte:

– Gott verdamm mich, 's is alle!

Der Arzt hielt seine Hand:

– Aber nein, nein, nur ein paar Tage Ruhe. Es wird nichts weiter sein.

Hautot antwortete:

– 's is alle, der Bauch is geplatzt, – ich weeß es.

Dann rief er plötzlich:

– Ich will mit meinem Sohn reden wenn ich noch Zeit habe.

Hautot Sohn heulte und rief wie ein kleiner Junge:

– Papa! Papa, mein armer Papa!

Aber der Vater sagte etwas sicherer:

– Nu, flenne nich, dazu is keene Zeit jetzt. Ich muß mit Dir reden. Da setz Dich hin . . . ganz nahe. Wir sind gleich fertig und dann bin ich ruhiger. Bitte, laßt mich einen Augenblick mit ihm allein.

Sie gingen alle hinaus und ließen Vater und Sohn beieinander. Sobald sie allein waren sagte er:

– Hör mal, Cäsar, Du bist vierundzwanzig Jahr alt, da kann man mit Dir reden, – und dann is garnich so viel dabei . . . Du weißt, Deine Mutter is seit sieben Jahr tot, nich wahr? und ich bin nur fünfundvierzig Jahre, da ich mich doch mit neunzehn verheiratet habe. Nich wahr?

Der Sohn stammelte:

– Ja, das is richtig.

– Also Deine Mutter ist seit sieben Jahren tot und ich war Witwer. Nu, ee Mann wie ich kann nicht mit siebenunddreißig Jahren Witwer bleiben; ist das nich richtig?

Der Sohn antwortete:

– Ja, das is richtig.

Der Vater fuhr, nach Atem ringend, bleich, mit verzerrtem Gesicht fort:

– Gott, ach Gott, thut das weh! Nu, Du verstehst. Der Mensch ist nicht gemacht, daß er allein bleiben soll, aber ich wollte Deiner Mutter keene Nachfolgerin geben, denn ich hatte es ihr versprochen und da . . . . verstehste?

– Ja, Vater.

– Na also, da habe ich 'ne kleene Freundin in Rouen, Rue de l'Eperlan Nummer achtzehn dritter Stock, die zweite Thür. Ich sage Dir das alles, vergiß es nich; 'ne Kleene, die reizend gegen mich gewesen is, verliebt, aufopfernd, 'ne wirkliche Frau das. Verstehste, mei Junge?

– Ja, Vater.

– Also, wenn ich uf de Reise gehen muß, da bin ich ihr doch was schuldig, aber was Vernünftiges, daß sie keene Not leidet. Verstehste?

– Ja, Vater.

– Ich sage Dir, 's is en braves Mädchen, e wirklich braves Mädchen, – und wenn Du nich gewesen wärscht und nich Deine Mutter und nich das Haus, wo wir alle drei gelebt haben, hätte ich sie wahrscheinlich hergebracht und dann geheiratet. Ganz bestimmt! Also hör zu, . . . . hör zu . . . mei Junge. Ich hätte ein Testament machen können . . . . aber ich habe keens gemacht, ich wollte's nicht . .  . . . Denn so was muß man nich ufschreiben . . . . das schadet der richtigen Familie, so was, und dann macht 's bloß Geschichten und is für keenen gut. Weeßt De, Stempelpapier, nee das mußt Du nie thun. Wenn ich reich geworden bin, so ist's nur dadurch gekommen, daß ich nie im Leben so was benutzt habe. Verstehste, mei Sohn?

– Ja, Vater!

– Hör weiter . . . hör gut zu . . . Also ich habe keen Testament gemacht . . . . ich wollte's nicht. . . . . Und dann kenne ich Dich, Du hast ee gutes Herze und bist nich geizig, Du siehst nicht so da druf, was? Da habe ich mir gesagt, wenn's mal ans Ende geht, erzähle ich Dir das und werde Dich bitten, vergiß die Kleene nich: Karoline Donet, Rue de l'Eperlan Nummer achtzehn, dritter Stock, zweite Thür. Vergiß nich! Und dann noch was. Wenn ich weg bin, gehste gleich hin – und machst's so, daß se nich mit Kummer an mich denken muß. Du hast's ja, Du kannst's ja, ich lasse Dir genug . . . hörst Du? . . . . Während der Woche trifft man sie nicht zu Haus, sie arbeitet bei Frau Moreau, Rue Beauvoisine. Geh' Donnerstag hin, da erwartet sie mich, das is mei Tag seit sechs Jahren. Arme Kleene! wird die heulen! . . . . Ich sage Dir das alles, weil ich Dich doch kenne, mei Sohn. Solche Sachen die hängt man nich an die große Glocke, sagt sie keenem Notar und keenem Pfarrer. Sowas geschieht, das weeß jeder, aber man redet nich drieber, wenn's nich notwendig ist. Da is keen Fremder mit drin, keener von der Familie, denn die Familie is doch nur eener. Verstehste?

– Ja, Vater.

– Versprichst Du's?

– Ja, Vater.

– Schwörst Du's?

– Ja, Vater.

– Ich bitte Dich, flehe Dich an, mei Junge, vergiß es nicht. Hörst Du?

– Nein, Vater.

– Und gehst selbst hin? Ich will, daß Du Dich selbst um alles kümmerst.

– Ja, Vater.

– Und dann wirst Du ja sehen, was sie Dir sagt, – ich kann nich mehr. Du hast geschworen.

– Ja, Vater.

– Gut, mei Junge. Küsse mich und leb wohl. Ich gehe ein, das weeß ich, . .  . . . Du kannst sie reinrufen.

Hautot Sohn umarmte schluchzend seinen Vater, dann öffnete er, immer gehorsam, die Thür, und der Geistliche erschien in weißem Priestergewand mit dem heiligen Öl.

Aber der Sterbende hatte die Augen geschlossen und wollte sie nicht wieder öffnen, weigerte sich zu antworten, weigerte sich sogar auch nur durch ein Zeichen zu erkennen zu geben, daß er verstand, was man ihm sagte.

Er hatte genug gesprochen, er konnte nicht mehr. Dann hatte er jetzt sein Herz erleichtert und wollte in Frieden sterben. Was brauchte er noch dem Stellvertreter Gottes zu beichten, da er sich doch eben seinem Sohn anvertraut, der sein Fleisch und Blut war.

Er erhielt die letzte Ölung, während seine Freunde und sein Dienstpersonal um ihn herum knieten, ohne daß eine einzige Bewegung seiner Züge verraten hätte, daß er noch lebte.

Er starb gegen Mitternacht, nachdem er vier Stunden in Zuckungen gelegen, und grausame Qualen erlitten.

II.

Am Dienstag wurde er begraben, denn die Jagd war Sonntag aufgegangen. Cäsar Hautot kehrte nachdem er seinem Vater das letzte Geleit gegeben, vom Kirchhof nach Hause zurück und weinte den ganzen Tag. Die Nacht darauf schlief er kaum und fühlte sich so traurig als er aufwachte, daß er sich fragte, wie er überhaupt noch weiter leben sollte.

Bis zum Abend dachte er daran, daß er, um dem letzten Wunsch seines Vaters nachzukommen, am nächsten Morgen nach Rouen mußte, und jene Karoline Donet aufsuchen, die Rue de l'Eperlan Nummer achtzehn, dritter Stock, zweite Thür wohnte. Er hatte, wie man ein Gebet murmelt, leise den Namen und die Adresse vor sich hingesprochen, unzählige Male, um ihn nicht zu vergessen, und er stammelte nun den Namen unausgesetzt, ohne davon ablassen zu können, oder an irgend etwas zu denken: so beschäftigte der eine Satz ganz Zunge und Geist.

Er ließ also am nächsten Morgen gegen acht Uhr »Gerstenkorn« in den Tilbury spannen und fuhr im langen Trab seines schweren normannischen Pferdes die Landstraße von Ainville nach Rouen hinab. Er hatte seinen langen, schwarzen Rock an, den großen Seidenhut auf, dazu trug er Hosen mit Sprungriemen. Wegen der Feierlichkeit hatte er über seinen schönen Anzug nicht die gewohnte, blaue Bluse, die sich im Winde bläht, anziehen wollen, die Bluse die den Anzug vor Staub und Flecken bewahrt, und die man bei der Ankunft, sobald man ausgestiegen ist, auszuziehen pflegt.

Als es zehn Uhr schlug, fuhr er in Rouen ein, spannte wie immer im Hotel des bons Enfants Rue des trois Mares aus, und ließ die Beileidsumarmungen des Wirtes, der Wirtin und ihrer fünf Söhne über sich ergehen, denn man hatte schon von dem Unglück gehört. Dann mußte er alle Einzelheiten des Unglückfalles noch einmal erzählen, wobei er wieder anfing zu weinen. Er lehnte alle Gefälligkeiten der Leute, die sich um ihn bemühten, weil sie wußten, daß er reich war, ab, und wollte sogar nicht das Frühstück im Gasthof einnehmen, was die Wirtsleute kränkte.

Nachdem er also seinen Hut vom Staub gereinigt, den Rock abgebürstet und die Stiefeln abgewischt, ging er auf die Suche nach der Rue de l'Eperlan, wagte aber keinen Menschen danach zu fragen, in der Befürchtung, er möchte erkannt werden und man möchte Verdacht schöpfen.

Als er die Straße schließlich nicht fand, gewahrte er einen Priester und im Vertrauen auf die berufsmäßige Verschwiegenheit der Kirchenleute befragte er ihn.

Es war kaum hundert Schritt weit: gerade die zweite Straße rechts.

Da begann er zu zögern. Bis dahin hatte er einfach dem Willen des Toten gehorcht; jetzt fühlte er sich doch verlegen, gedemütigt beim Gedanken, als Sohn diesem Mädchen gegenüber zu stehen, das seines Vaters Geliebte gewesen. Alle Moral, die in uns schlummert, die durch jahrhundertlange Erziehung erblich in uns ruht, alles was er seit dem Katechismusunterricht über anrüchige Personen gehört, die instinktive Verachtung, die jeder Mann gegen sie in sich trägt, sogar wenn er eine geheiratet hat, alle seine stumpfsinnige, bäuerliche Ehrbarkeit, regte sich in ihm, hemmte seinen Schritt, erfüllte ihn mit Scham und trieb ihn das Blut in die Wangen.

Aber, dachte er, ich hab's dem Vater versprochen und muß es thun. Dann stieß er die angelehnte Thür des mit Nummer achtzehn bezeichneten Hauses auf, sah eine dunkle Treppe vor sich, stieg drei Stock hoch, gewahrte eine Thür, eine zweite daneben, fand einen Klingelzug und klingelte.

Beim Bim-Bim, das im Nebenzimmer klang, überlief es ihn von oben bis unten. Die Thür öffnete sich und er stand einer jungen, sehr gut gekleideten, brünetten Dame mit gesunder Gesichtsfarbe gegenüber, die ihn entsetzt anstarrte.

Er wuße nicht, was er ihr sagen sollte und sie, die ahnungslos war und den anderen erwartete, forderte ihn nicht auf einzutreten. So starrten sie sich fast eine halbe Minute an.

Endlich fragte sie:

– Sie wünschen, mein Herr?

Er flüsterte:

– Ich bin Hautot Sohn.

Sie fuhr zurück, erblich und stammelte, als kennte sie ihn schon lange:

– Herr Cäsar?

– Ja.

– Und was ist?

– Ich muß Sie im Namen meines Vaters sprechen.

Sie sagte:

– O, mein Gott! – und trat zurück, um ihn einzulassen. Er schloß die Thür und folgte ihr.

Da gewahrte er einen kleinen Jungen von vier oder fünf Jahren, der mit einer Katze spielte, neben dem Herde, von dem eine leichte Dampfwolke aufstieg, von Speisen, die dort auf dem Feuer standen.

– Nehmen Sie Platz! – sagte sie.

Er setzte sich. Sie fragte:

– Nun?

Er wagte nicht zu sprechen. Seine Blicke waren auf den Tisch gerichtet, in der Mitte des Zimmers auf dem vier Gedecke lagen, eines für ein Kind. Er sah den Stuhl, der mit dem Rücken gegen das Feuer stand, den Teller, die Serviette, die Gläser, die angebrochene Flasche Rotwein und die volle Flasche Weißwein. Das war der Platz seines Vaters, mit dem Rücken gegen das Feuer – man erwartete ihn. Und dort sah er sein Brot liegen neben der Gabel. Er erkannte es daran, daß man wegen der schlechten Zähne Hautot Vaters die Rinde abgeschnitten hatte. Als er dann aufblickte, gewahrte er an der Wand des Vaters Bild, eine große Photographie, die im Ausstellungsjahr in Paris gemacht worden war, dieselbe die im Schlafzimmer daheim über dem Bett festgenagelt hing.

Die junge Frau fragte:

– Nun, Herr Cäsar?

Er blickte sie an. Die Angst hatte sie aschfahl gemacht, und sie wartete mit vor Furcht zitternden Händen.

Endlich faßte er Mut:

– Nu, Freilein, Papa ist nämlich Sonntag bei der Jagderöffnung gestorben.

Sie bekam einen solchen Schreck, daß sie ganz starr dastand. Nach ein paar Augenblicken Schweigen flüsterte sie mit fast unhörbarer Stimme:

– Ach, nicht möglich!

Dann traten plötzlich Thränen in ihre Augen, sie hob die Hände, schlug sie vor das Gesicht und fing an zu schluchzen.

Da blickte der Kleine auf, und als er die Mutter weinen sah, fing er an zu brüllen. Als er dann einsah, daß an diesem plötzlichen Kummer der Unbekannte Schuld war, stürzte er sich auf Cäsar, packte mit der einen Hand seine Hose und schlug ihm mit aller Kraft auf den Schenkel. Und Cäsar stand niedergeschmettert, fassungslos zwischen dieser Frau, die um seinen Vater weinte und diesem Kind, das seine Mutter verteidigte. Er fühlte sich selbst ganz weich werden. Er hatte geschwollene Augenlider durch das viele Weinen, und um seine Fassung zu bewahren, begann er zu sprechen.

– Ja, – sagte er, – das Unglück ist Sonntag früh geschehen, so gegen achte. – Und er erzählte, als hörte sie zu, vergaß nicht eine Kleinigkeit und erwähnte die geringfügigsten Dinge mit bäuerischer Umständlichkeit. Und das Kind schlug ihn unausgesetzt und trat ihm jetzt gegen die Schienbeine.

Als er in seiner Erzählung zu dem Zeitpunkte kam, wo sein Vater von ihr gesprochen und sie ihren Namen hörte, nahm sie die Hand von den Augen und sagte:

– Verzeihen Sie, ich konnte Ihnen nicht folgen, ich möchte gern wissen . .  . . . wenn's Ihnen nicht unangenehm ist, fangen Sie doch noch mal an.

Und er begann wieder ganz genau mit denselben Ausdrücken: – Das Unglück ist Sonntag früh geschehen, so gegen achte . . . .

Er erzählte alles lang und breit, hielt inne und stellte von Zeit zu Zeit seine eigenen Betrachtungen an. Sie hörte gespannt zu, verfolgte mit dem nervösen Mitgefühl der Frauen die Entwicklung der Dinge. Sie zitterte vor Entsetzen und rief ab und zu dazwischen: »O mein Gott!« Der Kleine, der meinte, sie sei beruhigt, hatte aufgehört Cäsar zu schlagen, nahm nun seine Mutter bei der Hand und lauschte auch, als verstünde er, was da vor sich ging.

Als Hautot Sohn fertig war schloß er:

– Nun wollen wir uns mal, wie er's gewünscht hat, über die Geschichte einigen. Heren Sie mal, er hat mir was Schenes hinterlassen, mir gehts gut, – ich mechte nich, daß Sie sich irgendwie zu beklagen hätten.

Aber sie unterbrach ihn lebhaft:

– O bitte, Herr Cäsar, Herr Cäsar – nicht heute! Mein Herz ist zerrissen. Ein anderes Mal, einen anderen Tag, – – nein, nur nicht heute. Und wenn ich annehme, hören Sie wohl, so ist das nicht etwa für mich, nein, nicht für mich, das schwöre ich Ihnen, es ist nur für den Kleinen: dem muß es verschrieben werden.

Da begann Cäsar ganz verstört die Geschichte zu begreifen und stammelte:

– Also das ist seiner, der Kleene?

– Nun natürlich! – sagte sie.

Und Hautot Sohn blickte bestürzt und mit starker, peinlicher Gemütsbewegung seinen Bruder an.

Nach langem Schweigen, denn sie hatte wieder zu weinen angefangen, sagte Cäsar, der garnicht mehr aus noch ein wußte:

– Nu also, Freilein Donet, ich werde fortgehen. Wenn wollen wir davon reden?

Sie rief:

– O nein, gehen Sie nicht fort, gehen Sie nicht fort! Lassen Sie mich mit Emil nicht ganz allein, ich sterbe vor Kummer. Ich habe keinen Menschen, gar keinen Menschen mehr als den Kleinen. Ach, so ein Unglück, so ein Unglück, Herr Cäsar! Da setzen Sie sich mal hin. Sie müssen mir erzählen! Was hat er denn so zu Haus die ganze Woche gemacht?

Und gewohnt zu gehorchen, setzte sich Cäsar.

Sie schob für sich einen Stuhl neben den seinen vor dem Herd, wo das Essen schmorte, nahm Emil auf den Schoß und fragte Cäsar tausend Dinge über seinen Vater, tausend intime Dinge, aus denen er, ohne darüber nachzudenken, herausfühlte, daß sie Hautot Vater in ihrem armen, kleinen Mädchenherzen sehr lieb gehabt hatte.

Und in seinem etwas beschränkten Gedankengang kam er von neuem auf das Unglück zurück und erzählte es wieder mit allen Einzelheiten.

Als er sagte: »Er hatte ee Loch im Bauch, daß man gleich zwee Fäuste hätte reinstoppen können,« – stieß sie einen Schrei aus und wieder liefen ihr die Thränen aus den Augen. Das steckte an und auch Cäsar fing an zu weinen. Und da die Thränen immer die Herzen weich stimmen, neigte er sich zu Emil und küßte ihn auf die Stirn.

Die Mutter schöpfte wieder Atem und flüsterte:

– Armer Junge, nun ist er eine Waise.

– Ich auch! – sagte Cäsar.

Und sie redeten nicht mehr.

Aber plötzlich erwachte bei der jungen Mutter der praktische Hausfrauenverstand, der gewohnt ist, an alles zu denken.

– Sie haben wohl heute noch garnichts gegessen, Herr Cäsar?

– Nee, Freilein.

– O, dann werden Sie aber Hunger haben. Sie müssen einen Bissen essen.

– Danke, – sagte er, – ich habe keenen Hunger, ich habe zu viel Kummer gehabt.

Sie antwortete:

– Trotzdem, muß man doch leben. Das können Sie mir nicht abschlagen. Und dann bleiben Sie noch ein Weilchen da, – wenn Sie fort sind, weiß ich nicht was ich anfangen soll.

Er gab nach kurzem Widerstand nach, setzte sich, den Rücken am Feuer, ihr gegenüber, aß einen Teller voll Kaldaunen, die auf dem Herde schmorten, und trank dazu ein Glas Rotwein. Aber er erlaubte nicht, daß sie die Flasche Weißwein entkorkte.

Ein paar Mal wischte er dem Jungen, dem die Sauce über das Kinn gelaufen war, den Mund ab.

Während er aufstand, um fortzugehen, fragte er:

– Wann soll ich wiederkommen, um von den Geschäften zu reden, Freilein Donet?

– Wenns Ihnen vielleicht paßt, nächsten Donnerstag, Herr Cäsar, da verliere ich keine Zeit, ich habe immer Donnerstag frei.

– Das paßt mir ganz gut, nächsten Donnerstag.

– Sie kommen doch zum Frühstück, nicht wahr?

– Nu, wissen Sie, das kann ich nu nich versprechen.

– Ich finde, man spricht besser beim Essen und dann ist mehr Zeit.

– Nu also gut, zu Mittage.

Und er ging davon, nachdem er noch dem kleinen Emil einen Kuß gegeben und Fräulein Donet die Hand gedrückt hatte.

III.

Die Woche erschien Cäsar Hautot lang. Er war noch nie allein gewesen und die Einsamkeit schien ihm unerträglich. Bis dahin lebte er neben seinem Vater hin, wie sein Schatten, folgte ihn auf's Feld, überwachte die Ausführung seiner Befehle, und wenn sie sich ein paar Stunden getrennt, sah er ihn beim Essen wieder. Abends saßen sie einander gegenüber, rauchten ihre Pfeife, sprachen über Pferde, Kühe oder Schafe; und in dem Händedruck morgens beim Aufstehen lag tiefe herzliche Zuneigung.

Nun war Cäsar allein. Er irrte durch die herbstlichen Felder und immer meinte er, irgendwo am Rande der Ebene müßte die große gestikulierende Gestalt seines Vaters auftauchen. Um die Stunden totzuschlagen, suchte er die Nachbarn auf, erzählte von dem Unglück allen, die noch nichts davon gehört und denen, die es schon wußten, wiederholte er es so und so oft. Wenn er dann nicht mehr wußte, was er anstellen und denken sollte, setzte er sich an der Straße in den Graben und fragte sich, ob dieses Leben noch lange so fort gehen sollte.

Er dachte oft an Fräulein Donet. Sie hatte ihm gefallen, er hatte gefunden, sie sei ein ordentliches, sanftes, anständiges Mädchen, wie der Vater ihm gesagt. Ja ein anständiges Mädchen, ganz gewiß anständig; und er war entschlossen sich sehr großartig zu benehmen, ihr zweitausend Franken Rente zu geben und das Kapital für das Kind sicherzustellen. Es machte ihm sogar in gewisser Beziehung Vergnügen, sich zu sagen, daß er sie den folgenden Donnerstag wiedersehen würde, um die geschäftliche Angelegenheit mit ihr zu ordnen. Und dann quälte ihn der Gedanke an diesen Bruder, an das kleine Bürschchen von fünf Jahren, das seines Vaters Sohn war. Ein wenig war es ihm peinlich, langweilig, aber es machte ihm doch zugleich das Herz warm. Er besaß doch so zu sagen etwas wie eine Familie durch dieses uneheliche Würmchen, das niemals Hautot heißen würde, – eine Familie, die er je nach Wunsch aufsuchen oder vernachlässigen konnte, die ihm immer den Vater ins Gedächtnis rief.

Und als er nun beim Hufschlag des dahintrabenden »Gerstenkorn« Donnerstag früh die Straße nach Rouen hinabfuhr, fühlte er sein Herz erleichtert, ruhiger denn je nach dem Unglück.

Als er bei Fräulein Donet eintrat, sah er den gedeckten Tisch vor sich stehen wie am vorigen Donnerstag, mit dem einzigen Unterschied, daß die Brotrinde nicht abgeschnitten war.

Er drückte der jungen Mutter die Hand, küßte Emil auf beide Wangen und setzte sich. Es war ihm als wäre er zu Haus und doch war er sehr betrübt. Fräulein Donet schien etwas abgemagert und ein wenig bleicher, sie mußte viel geweint haben. Sie war jetzt gegen ihn etwas verlegen, als ob ihr klar geworden, was sie in der vorigen Woche unter dem ersten Eindruck ihres Unglücks nicht empfunden, und sie behandelte ihn mit der größten Aufmerksamkeit einer schmerzlichen Ergebenheit, bemühte sich rührend um Cäsar, als wolle sie durch ihre Aufmerksamkeit und Zuvorkommenheit alle Güte wett machen, die er ihr erwies. Sie frühstückten lange und sprachen von dem Geschäft, das ihn hergeführt. Sie wollte nicht so viel Geld haben; es war zu viel, viel zu viel. Sie verdiente genug, um zu leben, und sie hatte nur den einen Wunsch, daß Emil ein bißchen hatte, wenn er einmal erwachsen wäre. Aber Cäsar blieb dabei und fügte sogar ein Geschenk von tausend Franken für sie selbst hinzu für die Trauerkleider.

Als er Kaffee getrunken hatte, fragte sie ihn:

– Rauchen Sie?

– Ja, ich habe meine Pfeife mit.

Er fühlte an seine Tasche: Himmelsakrament, er hatte sie vergessen. Er war schon ganz außer sich, da bot sie ihm eine Pfeife seines Vaters an, die im Schrank stand. Er sagte nicht nein, nahm sie, erkannte sie, betrachtete sie genau und mit sanft bewegter Stimme lobte er sie, stopfte sie voll Tabak und steckte sie an. Dann ließ er Emil auf den Knieen reiten, während sie den Tisch abdeckte und das schmutzige Geschirr ins Büffet schob, um es später auszuwaschen, wenn er fort war.

Gegen drei Uhr stand er ungern auf, er war traurig gehen zu müssen.

– Nu, Freilein Donet, leben Sie wohl. Ich habe mich sehr gefreit, Sie zu sehen.

Errötend, sehr bewegt blieb sie vor ihm stehen, und blickte ihn an in Gedanken an den anderen.

– Wir werden uns wohl nicht wiedersehen? – sagte sie.

Er antwortete einfach:

– Nu, Freilein, wenn es Sie Spaß macht – ja.

– Gewiß Herr Cäsar! Paßt es Ihnen vielleicht nächsten Donnerstag?

– Ja, Freilein Donet.

– Da kommen Sie zum Frühstück? Aber bestimmt.

– Aber! . . . . Nu, wenn Sie durchaus wollen, sage ich nicht nee!

– Also abgemacht, Herr Cäsar, nächsten Donnerstag um zwölf, wie heute.

– Donnerstag zu Mittage, Freilein Donet.

 


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