Hugo Marti
Eine Kindheit
Hugo Marti

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49 Die neue Mutter

Eines Abends, nachdem das Schwesterchen und ich schon zu Bett gebracht waren – wir schliefen im gleichen Zimmer –, ging die Tür mit eindrucksvoller Feierlichkeit nochmals auf. Mit dem Vater, der gewöhnlich noch zum raschen Gutenachtgruß an unsere Betten trat, erschienen zwei weibliche Wesen mit schlanken Taillen, gepufften Aermeln und getürmten Frisuren. Wir Kinder lagen starr vor Staunen. Wohl waren uns die vornehmen Gestalten entfernt bekannt, wir hatten sie wohl schon gesehen und nannten sie sogar Tanten – es waren aber eigentlich Kusinen, doch daran auch nur zu denken, schien Vermessenheit, soviel älter waren 50 sie als wir, wohnten in Bern und kamen aus einer Sphäre, die wir etwas spöttisch, aber von untenher betrachteten.

Während die beiden Tanten, gemessen und doch sichtbarlich bewegt, von einem Bettchen zum andern gingen, sonderbare Fragen in ihrem drolligen Berndeutsch an uns richteten und uns mit den Händen über die Haare fuhren, schauten grinsend die beiden älteren Brüder zur Tür herein, stießen sich in die Rippen und flüsterten kichernde Bemerkungen. Mili streckte den Kopf nochmals ins Zimmer, als der abendliche Besuch uns wieder allein gelassen hatte, und fragte in die bange und herzbeklemmende Stille: »Gefällt euch eure neue Mutter?« Wir schwiegen und taten so, als ob wir schliefen, und er schloß leise die Tür.

Nach einer Weile aber fragte das Schwesterchen: »Welche soll es wohl sein, die mit der harten Hand oder die mit der weichen?« Ich hatte bis jetzt gar nicht daran gedacht, daß nur eine ernsthaft in Frage kam und daß man sich entschließen müsse; vorsichtig bemerkte ich einstweilen; »Die mit der 51 weichen Hand hat einen goldenen Reifen am Arm. Hast du's gesehen?« »Das hab' ich schon gesehen«, sagte das Schwesterchen knapp und nebensächlich. »Aber welche es sein soll –?« Ich fühlte, daß ihr die Frage wichtiger war und daß die Antwort nicht mehr von meinen Beobachtungen abhing. So schwiegen wir sehr nachdenklich und schliefen in unserer Ungewißheit ein.

Am nächsten Tag erfuhren wir die Wahrheit. »Tante Marie wird unsere neue Mutter«, sagte Fritz mit Nachdruck und so, als sei er persönlich dafür eingetreten. »Natürlich«, murrte Mili, »sie ist ja auch schon deine Gotte – sie ist jetzt dann bald alles in unserer Familie gewesen.« Das klang wie ein Vorwurf. »Die mit dem goldenen Reifen?« fragte ich zaghaft. Eine Pause, dann ein Gelächter der Brüder wie stets, wenn ich etwas Dummes vorgebracht hatte: »Nein, die andere. Jetzt kennt der noch nicht einmal seine neue Mutter!« Ich dachte bei mir selber: Lacht nur! Ihr seid ja die Dummen. Warum hätte es nicht auch die andere sein können, wenn doch die eine schon Gotte in der Familie war?

52 Also die mit der harten Hand. (Heute, nach fünfundzwanzig Jahren: Glücklicherweise! Ich möchte mich tief über die harte Hand neigen und sie dankbar küssen; ich kann es nicht mehr tun, die Hand ruht von ihrer vielen Arbeit aus, sie ist tot.)

Vorerst kam Jubel, Aufregung, gespannte Erwartung ins Haus. Wir Kinder – das waren das Schwesterchen und ich; die Brüder gaben sich als Erwachsene aus – wir liefen Straße auf und ab zu unsern alten guten Freunden und Nachbarn, die so oft ein wachsames Auge auf uns gehabt und uns überhaupt mit mannigfachen Wohltaten und gelegentlichen strengen Vermahnungen miterzogen hatten, und teilten ihnen die Neuigkeit mit, die für sie wohl keine mehr war: »Unsere Eltern heiraten sich und wir dürfen dabei sein!«

Es war so, wie wir sagten. In einem Hotel war eine unübersehbare Menge von Menschen versammelt; die wenigsten kannte ich, und die Nachbarn waren erstaunlicherweise gar nicht da. Man saß an langen Tischen und aß und trank; es standen mehrere Gläser bei jedem Gedeck, auch bei meinem und 53 sogar bei dem des Schwesterchens – das war nun gänzlich überflüssig. Am einen Ende der Tafel machte sich Fritz furchtbar wichtig zu schaffen; er öffnete Briefe und Telegramme, schlug mit dem Messer ans Glas und las die verwunderlichsten Verse und Glückwünsche vor, zu denen bisweilen laut gelacht und geklatscht wurde. Mitten im Mahle wurden wir Kinder in ein Schlafzimmer verbracht, dort lagen grüne Gärtnerschürzen, ein blanker Holzrechen, ein Blumenkörbchen und andere niedliche Geräte bereit, die wir aufnahmen; jemand fragte uns, die wir schon recht wirr im Kopf waren, ob wir die Verse noch wüßten, und dann wurden wir verkleidet und mit Gaben beladen wieder in den großen Saal geschoben. Wir traten Hand in Hand vor den Vater und die neue Mutter, alles war ganz still, alle Menschen blickten auf uns, und wir sagten unsere Verse und luden unsere Gaben auf die Knie der Eltern ab. Ein starker Beifall lohnte unsere Vorführung, wir wurden geherzt und herumgereicht, viele lachten, manche schienen zu weinen; mich dünkte es einigermaßen übertrieben wegen des 54 kleinen, einfältigen Verses, den zu behalten und auswendig herzusagen wahrlich kein Kunststück war.

Als sich das Getümmel gelegt hatte und wir wieder schmausend am Tisch saßen, sagte ich diese meine Meinung auch offen heraus und prahlte, daß ich ganz andere Gedichte vorzutragen imstande wäre, vom Festspiel und so. Diese Behauptungen sprachen sich bis zu Fritz herum, der wußte, was es damit für eine Bewandtnis hatte; und da er als Zeremonienmeister dieser Hochzeit – es war ja seine Gotte! – für Unterhaltung und Ueberraschungen zu sorgen hatte, schlug er wieder einmal ans klingende Glas und verkündete mein Vorhaben laut in die aufmerksame Stille hinein. Ich stieg auf meinen Stuhl und legte ernsthaft und entschlossen los: ohne abzusetzen und ohne Pause sang ich die Sologesänge und die Chorlieder herunter, die ich behalten hatte, sang als die alte Spinnerin am Stadttor, sang als Spielmann das Dornacher Spottlied, sang der alten Schweizer freches Marschlied, sang die frohen Gesänge der Knaben, der Schwerttänzer, der Rosenjünglinge. Tief unter mir begleitete das Schwesterchen mit 55 heller, falscher Stimme meinen geschmetterten Text; ich hatte ihm die Verse ja alle beigebracht, es war in gar manchem mein Lehrling und Widerhall. Diese Produktion schlug nun ein; mein Krähen weckte bei den Baslern eine ganze, kaum abgeflaute Feststimmung wieder auf und riß auch die Berner zu vaterländischen Gefühlen hin; nun wollte der Beifall und das Gelächter kein Ende mehr nehmen. Endlich, spät in der Nacht, fuhr man uns Kinder in einer Kutsche nach Hause; ich glaube, wir waren beide besoffen vom Erfolg und von der übermächtigen Lustbarkeit. In den nächsten Tagen kamen Kartengrüße aus Venedig von den Eltern; neben Vaters vertrauter, kräftiger Handschrift floß die der neuen Mutter geschmeidig und schwungvoll dahin. Wir entzifferten beide fieberhaft und tranken die unvorstellbaren Farben der fernen Landschaften und Meeresbuchten, in denen die Eltern wandelten und gondelten; die Ueberraschungen hörten nicht mehr auf, so schien uns.

Nein, sie hörten nicht mehr auf; auch nicht, als die Eltern heimgekehrt waren und der Alltag sich 56 wieder breit zu machen drohte. Aber gerade an ihm erwies sich die Macht der neuen Mutter besonders; daß sie ihm die Stirne bot, erfüllte mich bald und lange andauernd mit schreckhaftem Staunen. Es kam fühlbar ein neuer Zug in die Familie; alles wurde ans Schnürchen genommen, was früher planlos und ungebunden sich abgewickelt hatte, und des Schnürchens Ende lag in der harten Hand; der Arbeitstag und auch die Freiheit neben der belanglosen Schule wurde vom Netz der Regel und der Ordnung eingefangen. Es wehte ein anderer Wind.

Gut, des Vaters Vollbart war von ihm gefallen; damit fand man sich bald ab, es sah ja auch besser aus. Warum aber auch der alte Kastanienbaum im engen Gärtchen fallen mußte? Er nimmt der einen Hausseite ja alles Licht mit seinem Blätterschatten – sagte die neue Mutter und sah uns Kinder prüfend an; daß wir schlechtes Blut hatten, war ihrem Scharfblick nicht lang entgangen, und sie hatte sich in den Kopf gesetzt, es uns auszutreiben. Also der Baum fiel. Es tat weh, seine Krone verwüstet und im Staub zu sehen. Doch entwurzelt wurde er nicht; 57 gab nicht sein gerader und regelmäßig gewachsener Stamm einen kräftigen Fuß zu einem Tisch ab? In gemäßer Höhe wurde denn eine grüne runde Holzplatte auf dem Stumpf angebracht, und an dem neuen Tisch im hellen Gärtchen saß die neue Mutter und empfing Besuch und hielt in regelmäßigen Zeitabständen ein Kaffeekränzchen ab, an dem das drollige Berndeutsch gesprochen wurde und von wo ich mir auf Jahre hinaus den Abscheu vor geschwungener Nidle holte.

Neue Verfügungen stülpten alte Zustände schonungslos um. Daß Fritz plötzlich die Universität besuchte, und zwar bald einmal die bernische, als ob sonst nichts gut genug gewesen wäre, hatte man, so schien mir, dem persönlichen Eingreifen der neuen Mutter zu verdanken; ebenso auch, und das unzweifelhaft, daß Mili zu einem Gärtner in die Lehre kam. Da die beiden Brüder also das Haus räumten, galt die ganze mütterliche Fürsorge ungeteilt uns Kindern. Und hier stießen die Reformen bis ins Innerste liebgewordener Sitten und Unsitten vor. Die Verwandlung der letzteren tat uns besonders weh.

58 Ich erhielt innen und außen, unten und oben eine neue Bekleidung. Alte Mützen, treu gedient und mit jedem Fleck an ein Abenteuer erinnernd, waren und blieben plötzlich verschwunden; dafür lag ein Hütchen da, wie es kein Bub in der ganzen Hebelstraße trug und das einfach lächerlich war. »Ein Judenhut«, sagte Mili sachlich. Ich hatte die Freude am Ausgehen verloren. Ueberdies wurde es mir verboten.

Wie, ich sollte nicht mehr frei und ohne zu fragen in die Stadt wandern dürfen, an den Rhein, auf die Brücken, zum Münster und auf die Pfalz? Nein, aber ich durfte die Mutter begleiten, wenn sie ihre Gänge ausführte, und die kleinen Paketchen tragen. Was das nun hieß –! Auf den Straßen keine Abstecher mehr in Werkstätten und Arbeitshöfe hinein, wo man Bekannte hatte, wo man Neues sah und hörte; keine Aufenthalte mehr in den Anlagen, wo es Bäume zu besteigen, Gräben zu überspringen, Regentümpel zu kanalisieren gab; kein regelmäßiger Besuch mehr des Ziegenstalles in der Spalenvorstadt, wo es abgründig roch, und kein Sprung in den 59 Leckerliladen nebenan, wo man für einen roten Zweier eine ansehnliche Düte voll Abfälle bekam. Dafür ging man in neuen Schuhen, die einen drückten, und in farbigen Strümpfchen, auf die alle Welt glotzte, neben der Mutter her – nicht mit einem Fuß in der Gosse, mit dem andern auf dem Randstein hüpfend, sondern gemessen und gebügelt; nicht mit jedem losen Stein Fußball spielend, es war ja schade ums Schuhwerk; nicht mit Knebeln nach reifen Kastanien werfend, denn man hatte keine Zeit.

Die Welt war anders geworden. Mein Vagabundenleben hatte ein Ende genommen. Bald nahm auch Basel ein Ende. Wie gesagt: seitdem die neue Mutter das Schnürchen in der Hand hielt . . . Wo sollte das noch hinführen? Vorerst nach Liestal, wohin der Vater zum Direktor der Kantonalbank gewählt worden war. Aber bald noch weiter – oh, dafür sorgte schon die Berner Mutter, die ihr Ziel fest im Auge behielt.


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