Hugo Marti
Eine Kindheit
Hugo Marti

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20 Der Großvater

Es kam nicht zu selten vor, daß man den Eisenbahnzug bestieg und nach Liestal fuhr; das war nicht gerade weit, aber dennoch eine Reise. Von dort ging man zu Fuß, bedächtig, damit meine Beine Schritt halten konnten, nach Bubendorf. Dort wohnte der Großvater, und das Dorf hieß so, weil er viele Buben in der Schule unterrichtete.

Er sah bald aus wie ein Bauer, bald wie ein Schulmeister, und er war ja auch beides. Aber warum nannte man ihn den Großvater? Denn groß erschien er mir niemals; wahrscheinlich weil ich ihn immer mit seinen Söhnen verglich, die stämmige, hochgewachsene Männer waren. Von den Onkeln 21 kannte ich nur meinen Taufpaten Adolf so recht, er kam des öftern in Basel zu uns, war ein hervorragend strichsicherer Zeichner und Radierer, erzählte von Italien, von Elba und spielte Geige. Seine Brüder vermochte ich dagegen nicht recht auseinanderzuhalten; bald war der eine da, bald der andere, und beide waren Turner, Schützen, Soldaten. Soldat, sogar eifriger Offizier und am Ende Führer des Basler Regiments und Oberst, war auch mein Vater, während ich den Berner Onkel, den hageren Professor der Theologie, wieder mehr meinem Paten, dem Künstler, beiordnete. So teilte ich früh schon nach physiognomischen Merkmalen (die Unterlippe spielte eine große Rolle) die Männerschar der großväterlichen Familie in zwei Lager ein, die auf verschiedene Weise mit der Welt umgingen und sie erfaßten. Im Großvater jedoch, der breit und klein, mit dem schwarzen Schlapphut über den scharfen Augen und der Hängelippe im Bartgestrüpp daherkam, waren noch beide Schläge vereint: der zäh und zielbewußt aufstrebende Schulmeister und der erdnahe und angriffige Bauer.

22 Aus dem anspruchslosen Bezirk des Aarwanger Burgernutzens war der junge Samuel, eines armen Leinenwebers und Landbriefträgers Sohn, in die Welt des Geistes ausgebrochen, durch das einzige, schmale Türchen, das solch einem mutigen Ausbrecher offensteht: durchs Seminar in das weite Feld des Volksschullehrers. Der junge Berner, der gewiß ein Feuerkopf war und seinen Schädel dort nicht schonte, wo es hart auf hart ging, verließ eine Stelle irgendwo am Brienzersee und zog ins Baselbiet. Er suchte die liberalere Luft; daß er sie hier fand, bezweifle ich nicht. Er blieb von Herzen ein Berner und wurde von Verstand ein Baselbieter. Ich glaube bestimmt zu fühlen (auch an mir zu fühlen), daß seine Niederlassung die Folge einer geistigen Wahlverwandtschaft war. Die vielen Achtundvierziger, die über den Rhein gekommen waren und sich so rasch dem Landschäftler Volkskörper einverleibten, der unabhängige Geist der kleinbäuerlichen Bevölkerung, ihr Räsonieren, ja der scharfe Zugwind von Aufklärung und politischem Radikalismus: das alles schuf den anregenden geistigen 23 Atemraum für den Volksschulmeister mit den verwegen hoch gesteckten Lebenszielen – ach, nicht mehr für sich, sondern für die Nachkommenschaft. So wie er die Baselbieter verstand, verstanden sie ihn, den oft etwas bedächtigeren, aber jäheren Berner, und sie vergalten Treue mit Dank. Sie verliehen ihm, als er zwei seiner Söhne unter unendlichen Opfern in die höheren Schulen gebracht hatte, das vererbliche Ehrenbürgerrecht, das den Genuß von wissenschaftlichen Stipendien erst möglich machte; er zahlte es mit einem halben Jahrhundert Dienst an der Volksschule. Sein Schicksal, wie er es selber mit unermüdlichen Händen formte, war irgendwie sehr schweizerisch und sehr zeitgemäß.

Aber nicht nur breite und große Männer gingen in dem Bubendorfer Hause, gleich rechts am Dorfeingang, aus und ein. Die Großmutter war auch da und zwei Tanten, und diese Frauen trugen wahrlich am Geschick der Familie nicht weniger kräftig mit als die Männer. War der Großvater Samuel Lehrer und Bauer, so war die Großmutter Barbara Arbeitslehrerin und Hausfrau; die Lasten waren ohne 24 Ansehen der Person verteilt. Die Frau kam wie der Mann etwas gebückt daher (so wie mir die Erinnerung ihr scharfes Bild aus späten Lebensjahren bewahrt), sie hatte ein spitzes Gesicht und darin zwei liebevoll strahlende Augen. Sie kleidete ihre Kinder selbst, sie strickte die Nächte hindurch – die Arbeit des Tages ließ ihr keine Zeit dazu – und sie verfertigte noch eigenhändig die Lederschuhe, die sie ihrem studierenden Sohn in die Stadt schickte. Kam dieser in den Ferien heim, so war es selbstverständlich, daß er die Kühe hüten ging, ob er dazu nun hebräische Psalmen kommentierte oder den Homer las, was beides ja gewiß durchaus zu der Beschäftigung am herbstlichen Hirtenfeuer paßte. Und zur Familie des Dorfschulmeisters paßte es auch, daß sich Schwestern wie Brüder wenn auch nicht der griechischen Sprache, so doch der griechischen Schrift in ihrem Briefkartenwechsel bedienten, was den Postboten zu einem Umweg ins Pfarrhaus zwang, wo er mißmutig bat, man möge ihm den Inhalt der unleserlichen Handschrift entziffern. Doch weder die Gelehrsamkeit noch gar das 25 stille Heldentum waren es, was mich und mein Bubenherz an das niemals ganz ergründliche Haus fesselte. Es war nicht der Garten mit den altmodischen Blumen und dem Urwald von Bohnenstauden, in dem man sich verstecken konnte, bis die Tanten wirklich ängstlich wurden; es war nicht das Lusthäuschen aus überranktem Lattenwerk, obwohl dort der Tisch mit der riesigen kreisrunden Schieferplatte stand, auf der, kräftig eingeritzt, eine Landschaft: Hügel mit Haus und Pappeln zu sehen war, dieselbe, die man durch das offene Tor der Laube erblickte, eine sinnfällige Lehre von Natur und Kunst; es war nicht der kleine Stall und nicht der Hühnerhof, vor denen das Stadtkind stundenlang staunen konnte. Dem Hause eingebaut, von der Straße unmittelbar durch eine Tür, an der eine Klingel heftig schellte, erreichbar war ein Kramladen, der von der einen Tante verwaltet und bedient wurde. In ihm war alles zu haben, was man sich für Geld wünschen konnte. In ihm roch es unbestimmbar nach allem Süßen und Bitteren, das in den Schubladen verteilt war. In ihm stand der 26 schwere Ladentisch mit Waage und Geldschlitz, standen Tonnen und Fässer und, in der dunkelsten Ecke, die Zuckersäcke. Der Kramladen war das Herzstück von Bubendorf, sein Sinn und seine tiefe Bedeutung.

Zwei Stufen führten aus dem Kramladen in die Wohnstube. Dort, zur Mittagsstunde, saß man am großen Tisch, schon dampfte die Suppe aus den Tellern, man wartete auf die Tante, die noch im Laden bediente. Oben beim Fenster der Großvater, mit dem Schlapphut auf dem Kopf. Ich habe ihn nie ohne Hut gesehen; beim Essen trug er ihn, am Abend auf dem Ofentritt trug er ihn, in der Schulstube trug er ihn – ich glaubte sicher, auch im Bett trage er den Filz, und war nur erstaunt, daß seine Krempe hinten nicht platt herunterhing. Bevor eine der Tanten das Tischgebet sprach, griff ihm die andere etwa an den Hut, wenn er, alt geworden, vergaß, ihn die kurze Weile zu lüften; brummend ließ er's geschehen. Während dem Essen geschah es nicht selten, daß die Klingel schrillte; ein Blick zwischen den zwei Schwestern verständigte sie, und 27 leise ging die eine vom Tisch, um den verspäteten Käufer zu befriedigen. Dann rumorte etwa der Großvater besonders klangvoll mit Löffel oder Gabel am Teller herum, um dem zeitqueren Kunden zu verstehen zu geben, hier werde in der Mittagsstunde gegessen. Er war pünktlich, und noch ehe er recht fertig war, wartete ein Rudel Schulkinder vor dem Haus auf ihn: gleich begann wieder der Unterricht.

Mir aber, wenn das Mittagsmahl vorbei und die brütende Sonne nur durch die Ritten der geschlossenen Fensterladen zu ahnen war, schlug meine seligste Stunde. »Darf ich, Tante?« »Gang, du Stumpe!« Ich glitt über die zwei Stufen in den dunkeln Laden und gleich rechts hinter dem Verkaufstisch zu den Säcken, die am Boden standen. Ich war nicht viel größer als sie. Ich schlug die Sacktuchenden zurück und griff hinein und fischte mir Zuckerstücke heraus. Es war – ach nein, so war es: die Sackleinwand roch sehr stark, säuerlich und beklemmend, sie war rauh anzufühlen und kitzelte einem die Wange, schmiegte man sich im Finstern eng daran. Der Zucker war gründlich 28 verschieden in den Säcken; ich zog den großbrockigen, feinkörnigen vor, den man leicht mit den Händen zerkleinern konnte und der einem im Mund staubig zerging. Er schmeckte herrlich, knirschte an den Zähnen und machte die Finger nicht klebrig. Man konnte und konnte sich von den Säcken nicht trennen, auch wenn die Lust gestillt war und der Magen schon gar nicht mehr recht mochte; aber das Gefühl, mit dem Ellbogen auf einem Sack zu ruhen, der überhaupt nicht zu erschöpfen war, und diesen süßen Schatz immer und immer wieder mit den Fingern betasten zu dürfen – das war Reichtum und Ueberfluß und das machte glücklich. Die gute Tante verfügte über das Paradies und sie ließ es mir täglich sperrangelweit offen stehn.

Es dünkt mich gerecht und tröstlich, daß ich die zähe, arbeitsschwere Alltagsgestalt des Großvaters am deutlichsten sehe, wenn ich an die Stunde denke, in der sein Leben geehrt wurde. Das war, als er fünfzig Jahre Schuldienst hinter sich gebracht hatte. An alle behördlichen Umstände erinnere ich mich nicht, nicht an Reden in der Kirche noch an 29 Schulmeisterzeremonien und Veteranensprüche; aber daran, wie plötzlich auf dem kleinen Platz vor dem Hause weißgekleidete Turner in gestaffelten Reihen stramm standen, knappe Freiübungen ausführten und klipp und klapp Füße und Arme schleuderten, daß es von den Mauern widerhallte. Der Großvater, den Schlapphut keck von der Stirn zurückgeschoben, sah lächelnd über die Schar hin: er hatte viel für das Turnwesen getan und fünfzig Jahrgänge Jungmannschaft gedrillt und die Männer, die sich da mit weitgespreizten Beinen tief vor ihm neigten, den Kopf zwischen den steifgereckten sehnigen Armen, die waren auch seine Buben gewesen und er fühlte sich im Guten und Bösen irgendwie für sie verantwortlich und für ihr Fortkommen in der Welt – ja, es freute ihn, daß sie gekommen waren, die Turner des Dorfes, zu ihm, dem Schulmeister.

Aber was schleppten sie da herbei, was trugen die zwei Burschen, die aus der Tiefe des sonnigen Platzes heraufstiegen und vor denen die andern wie schaumweiße Wogen zur Seite wichen? Jetzt 30 standen sie vor der Steintreppe, die ins Haus führte, jetzt erstürmten sie die Stiege, und man sah, was sie trugen: einen gepolsterten Lehnstuhl für den Jubilar. In der Stube stellten sie ihn nieder, wollten den Großvater daraufzwingen, lachten und redeten laut auf ihn ein, er aber wehrte ab. Mit einem zornigen Ruck riß er den Hut in die Stirn, über die funkelnden Augen, und während er knurrend für die turnerische Vorführung und das Geschenk dankte, hatte er Mühe – sogar ich merkte dies – den Aerger über den Greisenstuhl zu unterdrücken. Ich sah ihn später selten darin ausruhn, aber das würdige Möbel stand der lieben, alten Stube wohl an.


 << zurück weiter >>