Hugo Marti
Eine Kindheit
Hugo Marti

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5 Die Mutter

Ich war zwar schon sechsjährig und also schulreif, als meine Mutter starb; dennoch wüßte ich vor diesem unbegreiflichen Geschehnis, das wie ein dunkles Tor am Beginn meiner Schulzeit und des neuen Jahrhunderts steht, nicht viel Erlebtes namhaft zu machen. Ich lebte eben, lebte in Basel, der Stadt am Rhein, nicht weit vom freien Feld: denn die Kreuzung der Hebelstraße mit der Friedensgasse, an der unser schlichtes weißes Haus in einem kleinen, dunkelschattigen Gärtchen stand, bedeutete damals noch beinahe die Stadtgrenze, und eine Gartenmauer schob sich quer über die Hebelstraße und machte sie zur Sackgasse, machte sie zum 6 gefahrlosen, von keinem Verkehr berührten Schongebiet für unsere knabenhaften Kriegsspiele; dahinter aber war offene Weite, Acker und Wiese und im Herbst das wellige Stoppelfeld, von dem meine älteren Brüder an kunstvoll eingerahmten Schnurspulen ihre Riesendrachen in die klaren Lüfte steigen ließen.

Wenn ich nicht so viel aus meinen ersten Lebensjahren zu erzählen weiß, so kommt das sicher daher, daß später niemand da war, der es mir hätte berichten oder in Erinnerung rufen können. Die Mutter tot, die zwei älteren Brüder mit Eigenem beschäftigt und überdies früh aus dem Haus, die jüngere Schwester natürlich unwissend: wer hätte mein Gedächtnis stützen sollen? Der Vater. Die sehr karge Zeit, die ihm Beruf und militärische Liebhaberei für seine Kinder ließen, schien ihm und uns nicht zur Wiedererweckung des Vergangenen und Gestorbenen geeignet; um so weniger, mochte es ihn dünken, da die Gegenwart allzu deutlich den Verlust spüren ließ und das Hauswesen bedenklich ins Wanken geriet. So schwieg der Vater 7 lieber, als daß er viel redete; die neue Mutter aber, die wieder Ordnung schaffte, hatte anderes zu tun, als von der Frühverstorbenen und ihrer Zeit, meiner ersten Jugend, zu erzählen – was hätte sie auch davon gewußt?

Meine Mutter, einziges Kind eines lebenslustigen, alten Pfarrherrn und einer sehr jungen zweiten Gattin, muß nicht nur eine kluge, sondern auch eine ungewöhnlich schöne Frau gewesen sein. Bilder, die sie mit ihren traumhaften Augen unter der Fülle des gelockten Haares zeigen, beweisen es mir heute; damals, als ich sie selber sah, merkte ich nur, daß sie krank war. Krank saß die stillgewordene Frau am Fenster und blickte auf die Gasse hinaus, während ich am Tisch oder auf dem Boden hantierte und mich wohl mit der kleinen Schwester abgab, die gerade das Stehen und Gehen erlernte. Dann sagte sie, und die Stimme hör ich noch, nicht ganz klar und doch voll Klang: »Gib mir das Buch vom Brett.« Ich kletterte auf den Stuhl ihr gegenüber, streckte mich, so lang ich war, und zog die Bibel am etwas schadhaften Rücken aus der Bücherreihe 8 heraus. Sie war schwarz, kalt anzufühlen, mit zwei metallenen Spangen querüber. Darin las die Mutter still für sich stundenlang; zwei Spalten hatte jede Seite, der Druck war eng, die Blätter dünn. Etwas anderes waren die beiden behäbigen Bände der Kupferbibel, die ich etwa bettelnd heranschleppte; hier bestanden das Alte wie das Neue Testament einfach nur aus Bildern, über denen man Ewigkeiten staunen konnte, während die Mutter erklärte und erzählte; und war solch ein Nachmittag vorbei, so hatte man nicht hingehört und wußte dennoch alles. So bekam ich früh eine Fülle Geschichten und Gesichte unverlierbar eingeprägt, deren menschliche Mannigfaltigkeit meine Vorstellungswelt austapezierte, während ihr moralischer Gehalt vorderhand noch keine Rolle spielte.

Es geschah aber auch, daß ich nicht still, folgsam und gelehrig sein wollte, sondern hinaus auf die Straße verlangte, zu den Spielkameraden, in die Werkhöfe der Nachbarschaft. Ich quälte dann wohl meine arme Mutter sehr, indem ich am Zusammensein mit ihr und dem Schwesterchen 9 durchaus kein Genügen mehr fand und dies mit Zwängen, Betteln und Murren unverblümt ausdrückte. Sie mochte fühlen, daß mir Bewegung in freier Luft nottat, daß es ihr aber verwehrt war, auf längere Zeit und gar mit Kindern, die beaufsichtigt sein wollten, das Haus zu verlassen. So gab sie wohl widerstrebend meinem Drängen nach und ließ mich ziehen –: »Aber nicht zum Schuhmacher Kopp!«, rief sie mir müde nach, ehe die Tür hinter mir ins Schloß schmetterte.

Warum nicht zum Schuster Kopp? Ich weiß es auch heute noch nicht. Er wohnte etwa drei Eingänge von unserm Haus entfernt, in einer großen Mietskaserne, war lebhaft, laut von Stimme und schwarz an Haar und Fingern wie sein pechiges Handwerk. (Gab es etwa damals schon braune Schuhe? In unsern Kreisen kaum.) Bei ihm am niedrigen Tisch zu stehen und mit seinen hundert Geräten, Ahlen, Hämmern und Holzpflöcken zu spielen war allerdings eine Lockung und es war wohl weniger gefährlich, als beim Schmied am Amboß dem Gedröhn johlend zuzuhören oder beim Wagner 10 dabeizusein, wenn das hölzerne Rad in den glühenden Eisenring gepreßt und Eimer voll Wasser darüber geworfen wurden, daß es zischte und stank. Dennoch, der Schuhmacher war verboten, die andern nicht; das erhöhte ins Maßlose sein Ansehen.

Um ganz gerecht zu bleiben: Es kann nicht die laute Art des Schusters gewesen sein, die meiner Mutter mißfiel; denn warum hätte sie mir sonst auch den Umgang mit Frau Born verwehrt, mit der rundlichen, gütigen Frau quer über der Gasse, die nun doch eher miaute als sprach? Um eins von ihren leckeren Mailänderbrötchen zu erlangen, mußte man allerdings durch ein Fegfeuer von Fragen, durch einen Morast von Geschwätz hindurch, und daß sie solche Teilnahme an unserm häuslichen Geschick, besonders am langen Leiden der Mutter bezeugte, gefiel mir an der Nachbarin nicht. Das mag es auch gewesen sein, was die Mutter zurückhaltend machte, und der lebhafte Schuster wird, wenn ich's recht bedenke, eben auch ein Klatschmaul gewesen sein, bei dem die schiefgetretenen Schuhe und alle faulen Neuigkeiten der Straße 11 zusammentrafen. Ich aber sollte wenigstens nicht der mißbrauchte Träger der letzteren sein. Und darum war der Verkehr beim Schmied und beim Wagner, in der klirrenden Spenglerei und auf dem staubigen Bauhof trotz allen Gefahren in den Augen meiner stillen, müden Mutter harmloser.

Daß sie mich milde schalt, als ich mit Spielgefährten in die Laubhütte im Nachbarhof einbrach und sie zum Wigwam entweihte, begriff ich damals kaum; denn was war mir die näselnde und weitschweifige Erklärung des Herrn Aronsohn, der sich bei meiner Mutter über die Verletzung des konfessionellen Friedens beklagte und ihr die ganz überflüssige Versicherung abgab, er habe die Hütte aus grünen Zweigen zur Feier des altehrwürdigen Laubhüttenfestes und nicht für unsere Indianerschleichzüge gebaut? Aengstlicher zeigte sie sich, als ich eines Tages mit blutigen Kratzern am Kopf heimkehrte. Ich hatte, wie es meine Pflicht war, die Küchenabfälle in offener Schüssel dem Nachbar Wagner gebracht, der sie seinen Hühnern verfutterte; meine regelmäßige Ankunft aber hatte sich der 12 Hahn, ein kräftiges Tier, dem ich immer schon ausgewichen war, offenbar gemerkt und an jenem Tage lauerte er mir hinter dem dunklen Torweg auf, überfiel mich, das schwache Bürschchen, das mit beiden Händen die schwere Schüssel über dem vorgestemmten Bäuchlein hielt, und flatterte mir auf den Kopf, krallte sich in meinen Haaren fest und bearbeitete mir Stirn und Wangen und Nase mehr aus Uebereifer denn aus Bosheit mit Schnabel und Sporn. Ich ließ die Schüssel nicht fahren, trug sie laut schreiend an den Ort, der ihr bestimmt war, weigerte mich aber entschieden, in Zukunft dem Hühnerpack das Fressen wieder zu bringen.

Tröstend war der Mutter weiche Hand, als ich das erstemal, doch für mein Leben entscheidend, die Gewalt des herniederzischenden Blitzes erfuhr. Es war wie immer: sie still am Fenster im Wohnzimmer, ich irgendwo im kleinen Haus mit irgendetwas beschäftigt. Ich muß durstig gewesen sein, die gewitterschwüle Luft hatte mir wohl den Hals ausgetrocknet, plötzlich stand ich auf einem Hocker in der Küche vor dem Schüttstein und hatte den 13 Wasserhahn aufgedreht. Es war finster, ein Unwetter rollte über das Haus; doch was focht es mich an? Eben beugte ich mich vor, die kleinen, dreckigen Hände hohl verschlungen, um daraus zu trinken – da fuhr ein schwefelgelber Blitz durch die dumpfe Dunkelheit des Raumes, fuhr blendend vor meinen Augen nieder und schmiß mich vom Stuhl auf den Steinplattenboden der Küche. Man hat später versucht, es mir auszureden, besonders die älteren Brüder stellten es als Schwindel dar, aber ich glaube noch heute im Gefühl fest daran: daß der Blitz die Wasserleitung herabschoß und im Abflußloch verschwand. Die Mutter hob mich, der ich halb von Sinnen war, vom harten Boden auf und in der Stube schloß sie ihre Hände um meine noch zitternden Fäustchen und murmelte ein Gebet, während das Gewitter sich unter knallenden Schlägen verzog.

Einem andern Unfall muß ich es danken, daß ich mit meiner Mutter, kurz bevor sie starb, einige Wochen allein und ohne die störende Einmischung der ältern Brüder in der grünen Hochweite von Langenbruck verleben durfte. Ob sie schon öfter 14 dort Erholung gesucht hatte, ob sie gerade dort weilte, da mir mein Unfall geschah – ich weiß es nicht, aber plötzlich war ich dort und sie auch, und wenn sie vom Mittagessen in unser gemeinsames Zimmer heraufkam, brachte sie ein Stück Kuchen oder eine Frucht mit, die sie für mich von ihrem Munde sich abgespart hatte. Es war so gekommen:

Man hatte mich allein im Haus zurückgelassen, kein Mensch war da, mich zu beaufsichtigen: wozu auch? Ich hatte meine paar Schachteln Bleisoldaten, ich durfte im Garten spielen, es war ein warmer Sommernachmittag. Es wurde mir jedoch zu warm draußen, ein Unwetter trieb mich ins Haus, ich zog mich in die dunkelste Ecke zurück, die war zuoberst auf der harthölzernen Treppe, und dort schlief ich, den Kopf auf die Arme gebettet und diese auf den Knien verschränkt, vor Wettermüdigkeit ein. Wie lange das währte, ahne ich nicht; aber als ich Stimmen hörte und aufwachte, lag ich unten an der Treppe, die ich offenbar im Schlafe, vielleicht von einem Donnerschlag geschreckt, heruntergekugelt war. Man versuchte ein vernünftiges 15 Wort aus mir herauszubekommen, aber ich begriff in meiner Schlaftrunkenheit selber nicht viel von der Geschichte; man betastete mir Kopf und Glieder, ich schien heil geblieben zu sein, und das war die Hauptsache. Als nach einigen Tagen meine rechte Wange anschwoll und ich Schmerzen empfand, vermutete man, daß mir beim Sturz ein kleines Endchen Stahlspan (womit man die hölzerne Treppe blank zu scheuern pflegte) unter die Haut gedrungen sein müsse; das verursachte nun natürlich eine Eiterung. Der Arzt mäkelte schon damals an meinem Blut, das mir, wenn es gelegentlich aus unschuldigen Bubenwunden quoll, doch immer rot genug und unverdächtig schien. Wie dem sei, ich wurde nach Langenbruck gebracht – und da war meine Mutter, glücklich mich zu haben, traurig, weil auch ich krank war.

Ich sollte um des winzigen Stahlspan-Endchens willen geschnitten werden. Eine der Krankenschwestern (deren knisternd steife Schürzen immer so gut rochen) trug mich ins Kellergeschoß, wo der Operationsraum war. Sie legte mich, der ich im 16 Nachthemd oder gar nackt war, auf einen mit schwarzem Wachstuch bespannten Liegestuhl oder Operationstisch nieder. Mich aber juckte seine Hitze, die mir die Haut verbrannte, sofort wieder empor: da erwies es sich denn, daß die Sonne durch ein Oberlichtfenster gerade dieses Lager stundenlang beschienen und zum Glühen gebracht hatte, und kühle Linnen wurden nun schleunigst und unter Ausrufen des Bedauerns herbeigeschafft, ein Wirbel weißer Hauben war um mich, und ehe ich mich dessen versah, war meine geschwollene Wange geschnitten und ihres eklen Inhalts entleert. Den bösen Stahlspan bekam ich nie zu sehen, aber eine kräftige Narbe ist mir zeitlebens davon geblieben.

Es kamen schöne Wochen des Genesens in der grünen Welt von Langenbruck, zwischen Wald und Wiese und den ziehenden Wolken nahe, und die Mutter war wie weiche Luft um mich. Ich glaube, sie wurde von vielen Menschen sehr geliebt.

Ihr Tod, kurz darauf, brachte allerlei Aufregung ins kleine Haus. Im hintern Zimmer war sie aufgebahrt; durchs Schlüsselloch konnte ich einen Teil 17 des Sarges und die strengen Falten des Bahrtuches sehen, aber wenn Besuche kamen, um das Antlitz der Toten ein letztesmal zu betrachten, sträubte ich mich heftig, mit ihnen in das düstere Zimmer einzutreten. Meine Brüder, so fühlte ich schaudernd, gingen dort mit geschäftiger Miene, doch allzu werktätig ein und aus. Im ganzen Haus roch es betäubend nach Blumen und Kränzen. Vor dem Gartentor, auf der Straße, wurde ein Tischchen mit einer offenen schwarzen Urne aufgestellt, dort legten Nachbarn und Bekannte nach altem Basler Brauch ihre Namenkarte als Zeichen der Teilnahme nieder. Das ließ ich mir nun allerdings nicht nehmen: mich neben der Urne zu postieren und Straße auf und ab Ausschau zu halten nach den Frauen und Männern, die für diesen feierlichen Akt in Betracht kamen. Ich kannte sie ja alle, und wo ich fern ein vertrautes Gesicht erspähte, lächelte ich es freundlich und einladend heran, so daß manche Trauermiene sich entspannte, wenn sie sich endlich über die Urne gebeugt und den schon vorhandenen Inhalt an Karten rasch abgeschätzt hatte. Mir fuhr 18 manche Hand über das rauhe Haar oder unter das Kinn, und ich dankte laut für alle Teilnahme und Aufmerksamkeit und kam mir wichtig vor.

Meine Brüder nützten den Anlaß auf ihre Weise aus – oder versuchten es wenigstens. Mili beharrte lange und mit zäher Geduld darauf, am Leichenbegängnis auf dem Wagen, der den Sarg dahinführte, und zwar neben dem Kutscher Platz nehmen zu dürfen; Bockfahren war das schönste, was er kannte, und ein wenig verstand er das Kutschieren schon. Aber der Vater gab diesmal nicht nach, und Milis Laune war für das ganze Begräbnis verdorben. Fritz hingegen, der die Leichtgläubigkeit meiner jungen Jahre immer wieder zum Narren hielt, sprengte mich plötzlich vom Eßtisch ans Fenster, weil er verzückt in die blaue Luft starrte und ausrief, jetzt gondle die Mutter in ihrem Kahn direkt in den Himmel, man könne sie deutlich sehen. Als ich merkte, daß ich gefoppt worden war, riß mich ein Anfall von Raserei zu einem heftigen Angriff auf den viel älteren Bruder hin: ich sprang ihn an, wie ein kleiner Köter einen Metzgerhund 19 hoffnungslos attakiert, fuhr ihm mit den Nägeln ins Gesicht, mit dem Kopf gegen den Leib, mit den Zähnen ans Handgelenk. Der Vater griff unsäglich traurig in das ungleiche Handgemenge ein; er sah wohl den Verfall der Erziehung voraus, der uns, den vier mutterlosen Kindern, drohte und den er nicht abzuwehren vermochte. Man streifte mir ein schwarzes Matrosenkleidchen mit weißen Litzen am Kragen über, und voll Erstaunen sah ich, daß sich unterdessen eine ganze Menge Menschen auf Flur und Treppe, im Garten und auf der Straße gesammelt hatte. Mein Vater nahm mich an der Hand und wir schritten langsam hinter dem Sarge her.


 << zurück weiter >>