Hugo Marti
Ein Jahresring
Hugo Marti

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133 Herbst

Im weißen Zimmer auf Lysenstöa, im Herrenhaus, sitzt der Bauer und hört Rolf zu, der ihm berichtet: »Die Buben sind in der Stadt gut untergebracht; ja, dafür ist gesorgt. Und gestern gingen sie zum erstenmal in die Schule.«

Der Bauer nickt. »Es ist stiller geworden, hier.«

Rolf blickt zum Fenster hinaus. Nach einer Weile sagt er. »Und so habe auch ich hier nichts mehr zu tun.«

Der Bauer hebt den Kopf, schaut Rolf an. »Es dürfte sich anderswo etwas finden lassen. Auf Sörum vielleicht oder weiter oben im Tal. Ich werde darüber nachdenken. Es eilt ja nicht. Die Kammer im Lehrerhaus und der Platz am Eßtisch –«

Rolf unterbricht ihn: »Ich werde weggehen. Bald; morgen. Danke.«

Langsam steht der Bauer auf, stützt sich mit den Händen auf die Tischplatte, sagt: »Der Förster sucht einen Gehilfen.«

Rolf schüttelt den Kopf.

»Mit Dagny – wird es also nichts?«, fragt der Bauer.

135 »Nein«, antwortet Rolf. »Das ist nun auch vorbei.«

Er verläßt das Haus.

Der frühe Herbst hat schon mit leisem Finger das Laub der Bäume gestreift; er ist über die Wiesen gegangen wie ein Schatten; er singt Tag und Nacht im dunkeln Wald und späht nach dem ersten Frost, der die Blätter mit seinem Hauch zusammenrollt und von den Zweigen bricht.

So klar ist der Nachmittag, daß Rolf auf den fernsten Bergen die Föhrenstämme leuchten sieht. Die Luft liegt gläsern über dem schuppigen Wasser des Fjords. Ein Boot zieht langsam seine schimmernde Bahn.

Dagny hebt den sonnenbraunen Kopf aus den Beerensträuchern im Garten, wie sie Rolfs Schritte auf dem Hofplatz hört. Sie reckt den gebeugten Rücken empor, befreit sich mit der einen Hand aus dem stacheligen Geranke, tritt auf den schmalen Weg hinaus, setzt den Korb mit den roten Früchten zur Erde.

»Du warst in der Stadt, – hörte ich«, sagt sie und versucht zu lächeln. Sie setzt sich auf die Bank unter dem Apfelbaum, lehnt sich an den 136 schlanken Stamm, schaut Rolf an. »Und kehrst wieder zurück?«, fragt sie leise.

»Zum Abschied, ja –.«

Die Lider über ihren blanken Augen zucken, dann ist alles an ihr ganz still. Die Sonne spielt in ihrem Haar, auf ihrer Haut, über ihren gefalteten Händen; ihr Mund bleibt geschlossen.

»Ich kam vorbei, um dich zu fragen, ob du mich zu einem Besuch begleiten willst«, sagt er, ein wenig stockend. »Wir könnten Frau Inga grüßen gehn. Es ist besser, wir gehen zusammen hin. Morgen – ziehe ich von Lysenstöa weg.«

Sie erhebt sich rasch. »Ja, wenn du meinst –. Ich will gerne mitkommen; ich war auch lange nicht mehr bei Inga. Ich gehe nur rasch ins Haus.« Sie beugt sich nach dem Korb am Boden, greift nach ihm, – und plötzlich brechen ihre Kniee zur Erde, stemmen sich ihre Hände auf den schmalen Weg, sinkt ihr Kopf vornüber.

»Laß«, murmelt sie, wie sie Rolfs Arm an ihrer Schulter fühlt. »Laß, ich kann allein aufstehen.« Sie erhebt sich langsam. Ihre Augen 137 sind voll Tränen; sie wendet den Kopf weg. »Ich war den ganzen Tag in der Sonne«, sagt sie leise.

Rolf schreitet hinter ihr ins Haus. Es ist kühl im Flur und in den schattigen Zimmern. Die großen dunkeln Möbel stehen an den Wänden umher, als wären sie lange nicht mehr gebraucht worden. Bilder mit erloschenen Farben starren blind in die Dämmerung der Stuben hinein. Der Kronleuchter ist mit schleierfeinem Tuch bauschig verhängt; sein Zierat blitzt matt durch die hüllenden Maschen. In der tiefen Nische des Fensters steht Dagnys Nähtisch; Bänder, Wollknäuel, Stoffreste liegen verschlungen und verwühlt darauf herum, quellen aus der halboffenen Schublade hervor. Durch die Spalten der Fensterläden fällt ein Sonnenstrahl in die bunte Unordnung; die Farben flammen spielend im Dunkel auf. Sonst lebt nichts in diesem Zimmer.

Dagny setzt sich auf ihren Stuhl, legt die Hand mitten in das Gefunkel der Sonne und beugt ihren Kopf auf den Arm. Sie weint. Die Stille des Hauses hört ihr zu, die herbstliche Sonne, die den Garten warm füllt und durch 138 die Ladenritzen flimmert, hört ihr zu, Rolf steht vor ihr und hört ihr Weinen.

Er hebt die Hand, als wolle er sie auf ihren Scheitel legen, läßt sie aber wieder sinken und sagt: »Du wußtest auch, daß diese Stunde kommen mußte. Du hast sie erwartet.«

Dagny schüttelt heftig den Kopf. »Nein, nein. Ich wollte sie nicht kommen lassen. Ich habe um dich gekämpft. Um deine Liebe habe ich gekämpft, seit jenem furchtbaren Wintertag, da ich zu dir kam, obschon du es mir verboten hattest. Damals fühlte ich, daß ich keine Stunde mehr ruhig sein durfte, sorglos, kampflos, wenn ich dich nicht verlieren wollte. Ich tat alles, was ich tun konnte.«

Rolf wendet sein Gesicht weg. »Ja, alles. Du schrecktest vor nichts zurück. Was half es?«

Dagnys Weinen wird stiller. Langsam hebt sie den Kopf; ihre Augen suchen Rolf in der Dämmerung. Ein jäher Schrecken flackert in ihnen. Ihr Mund spricht, schreit halblaut: »Rolf, – du kannst nicht weggehen. Wir sind aneinander gebunden. Wir sind verlobt. Du brichst dein Wort nicht.«

»Ich breche es«, sagt er.

139 Sie springt auf, hebt die Arme. »Ich soll hier bleiben, in diesem Haus, in dieser Oede, allein? Alle wissen es, daß wir verlobt waren; auf jedem Hof hat man davon gesprochen. Und nun gehst du weg, – so, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen.«

Leise und bestimmt sagt Rolf: »Sie werden alle erfahren, daß ich das Wort gebrochen habe, nicht du.«

»Daß du mich weggeworfen hast, so –«, erwidert sie dumpf. Sie schnellt die Hand, als schleudere sie etwas von sich.

Er schüttelt den Kopf.

»Und du – du sprachst einmal von Liebe«, fährt sie fort, heftiger, höhnisch. »Ist das Liebe? Ist das Haß?«

Er schweigt.

»Ich weiß«, sagt sie, »du kannst dich nicht aufgeben. Du kannst nicht von dir loskommen. Ich wollte dich losreißen; da verlor ich dich ganz. In dir lebt etwas, das mir feindlich ist; und es hat größere Macht über dich als ich. Warum, warum mußtest du hierher kommen, in dieses Haus, in diese Gegend, in mein Leben? Ich hätte dich nie treffen sollen. Nun haben 140 wir uns Dinge gesagt, die man nicht zweimal im Leben sagen kann; und sie sind mit dem Winde dahin. Jedes Wort war eine Lüge.«

Mit einem starken Griff packt Rolf ihre Hand. Sein Gesicht steht nahe vor ihren Augen; es ist hart und doch voll Flehen. Er sagt: »Warte mit dem Urteil. Leide jetzt, aber sei nicht ungerecht. Sei nicht kleiner, als da du mich zu besiegen suchtest, jetzt, wo wir uns verloren haben. Was sollen Worte? Hinter den Worten sind Abgründe. Worte sind Schleier. Weißt du, das auch heute noch nicht? Die Worte haben uns betrogen. Laß unsere Gefühle wahr bleiben.«

Unter seinem Handgriff wird Dagny ruhiger. Ihre Augen schließen sich, ihre Stirne wird glatt; zwischen ihren Lippen schimmern schmal die Zähne. Langsam löst sie ihren Arm, streicht sich mit der Hand über das wirre Haar. »Komm«, sagt sie und geht durch das dunkle Zimmer, durch das stille Haus. Bei der Türe wendet sie um; noch einmal schaut sie auf Rolf, der zwischen den schlafenden Dingen ihrer Einsamkeit dahinschreitet, ein letztesmal.

Sie steigen den Wiesenpfad zum Doktorhaus hinan. Sie sprechen nicht miteinander. Dagny 141 geht voraus; ihr Gang ist ruhig; sie setzt Schritt um Schritt ihre Füße in die hohlen Erdstufen, auf die festgerammten Steine. In ihrem Haar spielt der abendliche Wind, der leise das späte Korn auf dem gelben Acker streichelt.

»Dort steht Inga«, sagt sie, und ihre Stimme ist ganz hell. Sie öffnet die Gartentüre und geht über den knirschenden Kies. Die beiden Frauen begrüßen sich.

»Ich schneide die letzten Rosen«, lächelt Frau Inga. »Sie verblühen heuer früh. Sollten wir schon bald wieder Schnee kriegen?« Sie schüttelt ihre schmalen Schultern, als fühle sie schon den Frost. »Wollen wir ins Haus gehen?«

»Ja, danke«, antwortet Dagny und macht ein paar Schritte nach der Verandatreppe hin. »Bist du allein?«

Frau Inga nickt. »Mein Mann ist weggefahren.«

Dagny, zögernd, ohne sich umzusehen, fragt: »Du würdest uns nicht etwas vorspielen?« Da Frau Inga schweigt, fügt sie leiser hinzu: »Ich hätte Lust, dich zu hören.«

Rolf, der hinter den Frauen hergeht, sagt rasch: »Eigentlich, ich glaube –«

142 Dagny wendet sich um, sieht ihn an.

»Ich wollte ja nur von Ihnen Abschied nehmen«, erklärt Rolf. »Ja, ich reise nun wieder weg. Und ich glaube, es bleibt uns nicht Zeit genug.«

Dagny schweigt; nichts regt sich in ihrem Gesicht.

»Ist Ingrid drinnen?«, fragt Rolf.

»Sie sitzt in der Stube, wohl über ihren Schulaufgaben«, antwortet Frau Inga.

Rolf geht über die Stufen empor; ohne anzupochen tritt er in die Stube. Vor dem offenen Fenster, durch das die früchteschweren Zweige des Apfelbaums gründunkel hereinwippen, steht der Tisch, mit Büchern und Heften bedeckt. Tief über ein Blatt geneigt ist ihr heller Mädchenkopf. Er rührt sich nicht.

»Kleine Inga«, sagt Rolf leise und tritt näher.

Das Kind springt vom Stuhle und starrt ihn groß an. »Ich meinte, Mutter sei hereingekommen«, flüstert es. Mit der einen Hand schließt es das Heft über den steilen, steifen Buchstaben, die andere reicht es Rolf. Er behält sie zwischen seinen Fingern.

»Leb wohl, Kleine«, sagt er. »Das Märchen 143 von Ilselil habe ich dir nun nicht zu Ende erzählen können.«

Ingrid lächelt. »Es war auch so schön. Ich finde den Schluß allein. Ich will ihn gar nicht von dir hören. Jeden Tag denke ich mir etwas Neues hinzu. Es hat gar keinen Schluß. – Reisest du? Warum sagst du mir Lebewohl?«

»Ja«,, nickt er. »Vielleicht komme ich einmal wieder. Dann bist du groß und hast mich schon lange vergessen.«

Ingrid schaut ihn an. Ihre Hand bewegt sich leise zwischen seinen Fingern, ihr kleiner schmaler Körper beugt sich leicht nach vorne, gegen ihn hin; sie preßt die Lippen fest aufeinander.

»Leb wohl«, sagt er noch einmal und streicht ihr über das Haar. Sie schmiegt den Scheitel in seine Hand. Wie er zurücktritt, läßt sie den Kopf langsam sinken. Ehe er die Türe schließt, sieht er noch ihren stummen Mund, um dessen Winkel die bleiche Haut zu zittern beginnt, und wie sie tastend ihr Heft wieder öffnet.

Er tritt zu den Frauen, die auf der Veranda stehen. Frau Inga fragt ihn: »Ist es geschehen?«

Dann reicht sie ihm die Hand. Er neigt sich, als ob er seine Lippen darauf legen wollte. 144 Sie entzieht ihm die Finger, die feucht von den Rosen sind. »Das ist hier nicht Sitte«, sagt sie lächelnd und doch fast böse in den Augen. »Glauben Sie, Ihnen sei alles erlaubt?«

Er verbeugt sich und geht über die Treppe und zwischen den Blumenbeeten davon. Am Zaun wartet er auf Dagny, die langsam nachkommt.

Schweigend wandern sie durch das abendstille Dorf. Dagny grüßt nach links und rechts in die Dämmerung hinein. Frauen stehen mit müßigen Händen vor den Häusern, am Wegrand, verstummen im Gespräch, sobald sie die Beiden herankommen sehen, und schauen ihnen lange nach; dann stecken sie die Köpfe zusammen.

»Ist es dir unangenehm?«, fragt Rolf plötzlich. »Wir hätten den Strandweg gehen können –.«

Dagny hebt die Hand und läßt sie wieder fallen. Sie wendet ihm ruhig ihr Gesicht zu. Sie lächelt.

Draußen zwischen den Wiesen legt er plötzlich seinen Arm um ihre Schultern. Er zieht sie auf den Fußpfad hinüber, der dem Bache entlang nach dem Fjord geht. Dort wirft er sich ins dürre, stopplige Gras. Dagny setzt sich auf 145 einen der grauen Steinblöcke, die am Strand herumliegen.

Sie lauschen eine Weile dem spielenden Wasser, das den Sand beleckt und raschelnd wieder zurückrieselt, und sie fühlen kühl die herbstliche Nachtluft auf ihrer Haut.

»Eines nur sage mir: sind diese Abschiede dir mehr als Stimmung? Sind sie Erlebnisse?« Das ist wieder der alte Klang in Dagnys Stimme: klar, fordernd, stark.

»Stimmungen oder Erlebnisse?« Rolf wendet sich im Gras herum, stützt den Kopf in die Hand, blickt zu Dagny empor. Sie sitzt still und schaut über das Wasser nach den dunkelnden Bergen hin. »Ist das nicht ein und dasselbe? Ich weiß nicht –. Es ist wie eine Biegung auf dem Weg; etwas fällt zurück, bleibt hinter einem; man geht rascher, leichter, erwartet Neues.«

Er springt vom Boden auf und steht groß vor ihr. Er wirft den Kopf zurück und sieht in ihr ruhiges Gesicht. Er will etwas sagen; er möchte ihr danken.

Sie aber spricht leise: »Rolf, du verbrauchst die Menschen, die du liebst.«

146 Er wendet sich ab. Er murmelt: »Ich weiß es.«

Da tritt sie neben ihn und legt ihre starke, kühle Hand auf seine verschlungenen Arme. »Es tut dir vielleicht wohl, es hilft dir vielleicht einmal, wenn du es nötig hast. Du hast mich nicht – hörst du: nicht – zu dem gemacht, was du träumtest, als du mich zu lieben glaubtest. Wir sind eine Strecke nebeneinander hergegangen; du deinen Weg, ich meinen Weg. Es war ein gutes Wandern. Jetzt gehst du dorthin; ich bleibe hier. Ich danke dir für das Geleite.«

Er sieht sie groß an, sieht ihren ruhig sprechenden Mund mit den schmalen Lippen, ihre leicht zusammengekniffenen Augen, ihr lichtes Haar, aus dem auch im Nachtdunkel eine warme Glut bricht.

»Dagny«, sagt er leise, »ich habe nie größere Lust gehabt, dich in meine Arme zu nehmen, als eben jetzt.«

Er neigt sein Gesicht gegen ihren Scheitel. Sie tritt rasch einen Schritt zurück und hebt die Hände vor die Brust. Dann geht sie.

Sie geht dem Strand entlang, nach dem weißen Haus, ohne sich umzusehen. Sie geht aufrecht 147 und ruhig durch die stille, sternenklare Herbstnacht. Auch nicht unter den Birken bleibt sie stehen, sie schaut nur beständig auf das schimmernd weiße Haus am Ende der Allee, dem sie näher und näher kommt; es ist, als ob ihre Blicke sich daran halten müßten.

Jetzt rollt sich ihr, freudig bellend, der Hund vor die Füße, springt an ihr hoch, leckt ihr die herabhängende Hand. »Finn«, sagt sie leise, aber sie vergißt, ihm den Kopf zu streicheln. Sie geht ins Haus; sie ist nicht mehr da. 148

 

In die Wälder wirft sich der herbstliche Sturm zuerst. Bevor er das Wasser des Fjords aufpflügt und die Häuser der Menschen mit Regen und frühem Schnee peitscht, schlägt er sich droben mit dem Wald herum, mit den hohen Föhren, die er kennt, mit den Wachholderbüschen, die an der kahlen Halde hocken, und mit den zitternden Birken. Es ist erst nur ein Spiel; die Bäume und Sträucher tun gutmütig mit, sie schwanken summend hin und her, sie lassen sich die Bärte krauen und das struppige Fell striegeln. Dann aber, in einer Nacht, schmeißt ihnen der Sturm den ersten Arm voll Schnee, klatschnaß, in die Zweige. Sie stöhnen, recken sich, schnellen die Aeste grimmig in die Luft, versuchen das kalte Tuch abzuschütteln; der Sturm selber hilft ihnen dabei, faucht sie am Mittag wieder rein, knickt ihnen dafür ein paar alte brüchige Zweige, legt eine junge Birke nieder. Am Abend ist der Wald von all dem Tun und Brüllen müde; er steht wie schlafend in der sternelosen Nacht. Da kommt der Sturm noch einmal über ihn, und jetzt ist er sein Feind. Jetzt zaust er ihn, reitet johlend auf seinen Wipfeln, spornt ihn, 149 bis er matt zusammenbricht; dann wirft er ihm das weiße, kühle Laken über Wunden und Blößen und läßt ihn keuchend liegen. Aufhorchend lauschen die beiden Männer und hören die knackenden Aeste aufs Hüttendach prasseln. Im Kamin duckt sich die Flamme, lodert dann jäh auf und knistert in der rußigen Wölbung; sie züngelt rot um den dunkeln Kessel, der über der Glut hängt. »Erzähl das noch einmal, Erling«, sagt Rolf in die dumpfe Stille, die dem Heulen des Windes gefolgt ist. Er liegt unbeweglich auf dem niederen Bettschragen, läßt die Füße mit den schweren, genagelten Schuhen über die grobe Decke herabhängen, hat die Arme unter dem Kopf gekreuzt.

Erling sitzt auf dem Stuhl vor dem Kamin und reinigt seine Jagdbüchse. Er sieht auf, blickt Rolf eine Weile an, fragt: »Was denn?«

»Deine gestrige Jagd.«

Er zuckt die Schultern. »Wozu auch? Es ist doch nichts dabei. – Wenn du willst –. Ich kam in der Abenddämmerung vom Fagerberg herunter; du kennst den Steig, der mitten durch das Moor geht, über die Felsbuckel. Als 150 ich aus dem Walde trat, – ja, ich hatte den ganzen Tag nichts vor die Büchse gekriegt, es war halbdunkles Wetter, schlechter Wind, verwischte Spur. Nicht einmal ein Huhn. Als ich aus dem Walde trat und über die Lichtung schaute, sah ich das Rudel; sechs Hirsche, wie an einer Schnur. So klar wie ich meine Finger vor dem Feuer sehe, standen sie vor dem Himmel in der Dämmerung. Ich lag im Schnee, aber in schlechtem Wind. Sie lugten – und drehten gegen das Gehölz hin, in Sprüngen, länger und länger. Den letzten faßte ich, – zwei Finger unter dem Rücken. Ich habe nie ein Tier so steil springen sehen. Als flöge es gegen den Himmel. Dann fiel es, fiel nur so in den Schnee und legte die Zunge heraus. Steil – so! und fiel.« Er schnellt mit der Hand nach oben, läßt sie plump auf sein Knie klatschen. Rolf schaut in das ärmliche Licht der leise schwankenden Oellampe empor. Nach einer Weile sagt er: »Du hast es vorher besser erzählt. Es war jetzt nicht mehr die gleiche Spannung darin. Vielleicht weil ich es zum zweitenmal hörte –?« Er schweigt wieder. Dann: »Ja, danke. – Uebrigens, ich bin dir noch Geld schuldig, für 151 Tabak, Oel, Brot und anderes. Laß es mich nicht vergessen. Erinnere mich daran, ehe du weggehst.«

Erling schüttelt den Kopf. »Nicht der Mühe wert. Ich komme ja wohl in den nächsten Tagen wieder einmal herauf. Was soll man jetzt im Tal drunten tun?«

Rolf blinzelt zu ihm hinüber. Er fragt stockend: »Sag mal, Erling, du kommst doch –, es ist doch nur wegen der Jagd, daß du heraufkommst?«

Erling stellt das Gewehr auf den Boden. »So, der Lauf läßt sich wieder sehen.« Er lehnt es in die Kaminecke. »Wegen der Jagd? Ja, natürlich. Warum denn sonst?«

»Ich meinte nur. – Regnet es noch?«

Erling geht zum dunkeln Fenster, beugt sich an die Scheiben, späht hinaus. »Nein, es ist stiller geworden. Es schneit.«

Rolf greift mit einer Hand über das Lager herab nach der Flasche, die am Boden steht. »Ja. Hier ist noch etwas in der Flasche. Das Wasser wird noch warm sein.«

Erling gießt sich Branntwein in sein Glas, neigt den Kessel aus dem Haken und schüttet 152 heißes Wasser dazu. Er trinkt und setzt sich aufatmend zum Feuer. Mit einem Scheit stochert er in der Glut herum. »Du hast hier alles, was nötig ist«, sagt er. »Du liegst in deiner Hütte wie ein Tier in seinem Schlupfwinkel, wenn es Winter wird.«

»Blödsinn«, murrt Rolf. »Ich liege hier oben, weil es mir gefällt.« Er hebt sein Glas vom Boden empor, dreht den Kopf, führt es an die Lippen. »Zu meinem Vergnügen liege ich hier.«

Die Flamme knistert im Scheit, schlägt plötzlich wieder hell auf, beleuchtet Erlings Gesicht. Er flüstert; »Man sagt, sie seien reich –.«

»Wer? Von wem sprichst du?«, fragt Rolf.

Erling fährt empor, starrt ihn an. »Sprach ich? Ich dachte wohl nur für mich.«

»Nein, du sprachst. Du sagtest, sie seien reich. Wer?«

»Das wird wohl so ein Gerede sein«, antwortet Erling halblaut. Er steht rasch vom Stuhl auf. »Der Sturm ist doch noch nicht vorbei. Man muß den Laden von außen her festriegeln, sonst packt ihn der Wind und drückt die Scheiben ein.« Er öffnet die Türe; fauchend stößt der 153 Sturm herein, wie ein winselnder Hund. Erling verschwindet in der Nacht. Während seine Faust am Fensterladen pocht und riegelt, gleitet Rolf vom Lager, packt die Büchse, knackt den Hahn auf und späht in den Lauf hinein. Er hält die Büchse in beiden Händen; er läßt sie sinken und starrt in das zuckende Feuer. Er stellt sie wieder hin, wie er Erlings stampfenden Schuh an der Schwelle hört, und setzt sich auf die Kante der Bettstatt.

»Regen und Schnee, fetzenweise«, ruft Erling durch den pfeifenden Wind. »Jede Fährte ist morgen zum Teufel.« Er stemmt seine Füße gegen die Steinplatte des Kamins.

Rolf sieht ihn an. Plötzlich fragt er: »Wer soll so reich sein?«

»Die Lynnos«, antwortet Erling und zieht die Schultern hoch.

»Das Mädchen, sagtest du, fahre mit einem Ziegenbock durchs Dorf? Sagtest du nicht so?«

»Vielleicht«, brummt Erling.

»Ja, du erzähltest es. Woher wüßte ich es sonst? Reiche Leute, sagst du?«

»Ho«, zuckt Erling auf, »hast du nicht den Hof gesehen, den sie gekauft haben? Da sind Pferde 154 genug zum Fahren und zum Reiten. Aber nein: Hjördis spannt einen Ziegenbock vor ihren kleinen Schlitten und fährt so durchs ganze Dorf. Damit nur die Leute vor die Türen kommen und ihr nachschauen müssen. So ist nun dieses Stadtvolk. Der Teufel hole sie.«

Rolf unterbricht ihn: »Hjördis – wie alt ist sie? Weißt du das? Ein Kind?«

»Nein, ich weiß nicht recht; aber kein Kind, nein. Ein Kind! – Wenn sie in ihrem Spitzschlitten fährt, trägt sie einen roten Mantel, mit weißem Pelz um den Hals und an den Aermeln, auf dem Kopf eine rote Lappenmütze. Der Ziegenbock ist weiß, mit einem schwarzen Bart. Es sieht ganz lächerlich aus, aber was kümmert sie das? Sie kümmert sich um nichts und niemand.«

»Und Hjördis heißt sie also?«, fragt Rolf. Mit zusammengekniffenen Augen blickt er auf Erlings mürrischen Mund.

Erling nickt. »Sie erzählte mir, eines von den Schiffen ihres Vaters, das auf dem Meer segelt, heiße wie sie, heiße Hjördis. Mein Name steht vorne auf der Brust des Schiffes, prahlte 155 sie, rot gemalt auf der weißen Brust. Es ist ein sehr schönes und stark gebautes Schiff und fährt nach fremden, warmen Ländern, nach Inseln mit Namen, die ich vergessen habe. Im nächsten Sommer will sie selber mitfahren, hat sie gesagt. Sie erklärte einfach ihrem Vater: im nächsten Sommer fahre ich mit. So ist sie.«

Rolf sinkt langsam auf sein Lager zurück. Er schließt die Augen und fragt: »Hast du dir nicht im Herbst ein junges Pferd gekauft?«

»Ein Pferd? Ja«, antwortet Erling erstaunt. »Ich habe es zugeritten.«

»So? Ja –«, sagt Rolf und schnaubt durch Nase und Mund.

»Was meinst du?« Erling wendet den Kopf.

Rolf lacht. Er greift nach dem Glas. »Nichts. Gar nichts.«

Erling wirft den Kopf zurück. »Der Teufel soll so einem Mädchen Zügel anlegen.« Er schweigt. Dann leiser, fast flüsternd erzählt er: »Du sahst sie beim Tanz. Sie wollte nur mit mir tanzen. Sie war ganz toll. Alle sahen auf sie und mich. Bodil – du weißt ja noch. Jedesmal, wenn Jens anstimmte, erhob sie sich und kam 156 langsam auf mich zu, mitten durch die andern und über den Rasen langsam auf mich zu. Du weißt, wie sie geht, mit ihrem langen Körper und den Armen, die so ganz schlaff an den Seiten herabhangen. Sie sprach gar nichts, sie sah mich gar nicht an. Sie schloß ihre Augen ganz –.«

Erling verstummt. Wie ist es nun still in der Hütte: lauscht der Sturm am Fensterladen, lauscht die lautlos flackernde Flamme? Rolf, ohne sich zu regen, befiehlt hart: »Erzähl weiter.«

»Nein«, sagt Erling. »Ich wollte gar nicht das erzählen.« Er schaut verlegen und hastig über die Bettstatt hin, über das harte Lager. Er räuspert sich. »Es ist so lächerlich«, fügt er achselzuckend hinzu. Dann, nach einer Weile: »Du kannst es meinetwegen gern erfahren; es hat ja nichts zu bedeuten.«

»Ja, es hat vielleicht nichts zu bedeuten«, wiederholt Rolf. »Aber« – er setzt sich auf, starrt ins Feuer – »aber was können wir sagen: es hat nichts zu bedeuten? Es hat ebensogut alles etwas zu bedeuten. Es ist soviel Verschlungenes und Verworrenes im Leben –.«

Erling hört nicht auf ihn. Seine Gedanken 157 sind weit weg, sind in der Erinnerung an jene Nacht, an den Tanz, an den blaßhellen Himmel. Er zieht die Augenbrauen hoch in die Stirn; das Reden macht ihm Mühe. Und dennoch spricht er hastig, so als lese er von einem Blatt, was er sagt.

»Ich ging also mit ihr nach Hause. Ich ging neben ihr. Beim Tanz sagte sie zu mir: wir gehen heim, wir wollen nicht warten, bis Jens nicht mehr aufspielen mag. Als ich den Arm um ihren Leib legen wollte, stieß sie mich weg und knurrte. Als ich zurückbleiben wollte, lachte sie und spottete: Muß ich allein nach Hause? Warum sagte sie das?«

Rolf fällt ihm rasch ins Wort. »Ich weiß nicht. Kann einer wissen, warum ein Mädchen dies oder das sagt? Ja, vielleicht wollte sie dir –«

Erling nickt. »So dachte ich auch, sofort. Ich wartete noch eine Weile. Sie kommt aus der Stadt, dachte ich; sie hat davon gehört, daß wir auf dem Lande, an den Samstagabenden, unsere Mädchen besuchen. Sie wollte sich einmal bäurisch aufführen. Es machte ihr vielleicht Spaß.«

158 Rolf unterbricht ihn wieder. »Und da gingst du mit ihr. Du sahst ihre Kammer. Du sahst, wo sie liegt.«

»Nein«, sagt Erling. Sein Gesicht ist düster; er runzelt die Stirne. »Wir gingen ins Haus; sie führte mich wie einen Besuch in die Wohnstube und holte Milch, Brot und Schinken aus dem Keller. Sie gab sich nicht die geringste Mühe, leise zu gehen; sie klapperte laut mit Teller und Messer und zerschlug sogar in der dunkeln Küche ein Glas.«

Rolf lächelt. »Sie war aufgeregt. Sie hatte in der Stadt nie gelernt, wie man sich in solchen Augenblicken benimmt. Sie war wohl ängstlich?«

»Ho, ängstlich!« Erling schüttelt den Kopf. »Sie war gar nicht aufgeregt. Sie stand beim Tisch, und während sie mich zum Essen nötigte, sagte sie, wie müde sie sei und daß sie schlafen gehen wolle. Der Morgen schien ja schon ins Zimmer. Und ich solle nur die Tür ins Schloß ziehen, wenn ich fertig sei. Sie dankte mir für den Abend, für den Tanz und sagte gute Nacht. – Was hättest du da getan?«

Erling sieht fragend auf. Rolf schlägt dumpf die Faust auf die Bettstatt: »Erzähl weiter.«

159 »Nun wohl, ich fragte: Schläfst du in der Giebelkammer? Sie sah mich groß an und antwortete nicht. Nur damit ich es weiß, sagte ich und schaute ihr in die Augen. Ich lachte sie aus. Endlich tat sie den Mund auf: Ja, in der Giebelkammer, aber nach dem Hofe zu, gleich bei der Treppe, links, wenn man heraufkomme. Dann ging sie.«

»Und du?«, fragt Rolf. Er beugt sich über die Bettkante hervor.

»Ich saß noch eine Weile unten. Es war still im ganzen Hans. Ich aß und trank.«

»Und stiegst dann nicht hinauf in die Giebelkammer? Da oben lag sie, wartete und lauschte, ob sie deine Tritte auf den knarrenden Stufen höre und deine Hand, tastend am Türpfosten. Du hast sie enttäuscht, du hast sie um ihr Vergnügen gebracht, um ihr bäurisches Abenteuer! Sie wird dir das immer nachtragen.«

»Ich stieg hinauf«, sagt Erling leise.

Rolf zuckt zusammen. »In die Giebelkammer?«

»Ja, links bei der Treppe, nach dem Hofe zu. Wie sie gesagt hatte.« Er richtet sich auf, stemmt die Hände auf die Schenkel und spuckt ins Kaminfeuer.

160 Rolf fragt zögernd: »War die Tür verschlossen?«

»Nein, sie war offen.«

»Natürlich!«, johlt Rolf und springt vom Lager. »Dachte ich mirs doch.«

Erling sieht ihn verlegen an. Er sagt finster: »Es war die Mägdekammer.«

In die tiefe Stille hinein schnaubt jäh ein Windstoß. Rolf legt sich wieder hin; er murmelt: »Ja –. Nein, so dachte ich mirs nicht.« Seine Augen starren groß zur Balkendecke hinauf.

Erling geht langsam über die Holzdielen. Er bleibt da und dort stehen, bei der Türe, beim dunkeln Fenster, beim Kamin. Er sagt: »Jetzt könnte ich mich auch hinlegen. Es ist wohl spät geworden.«

Von der Lagerstatt her kommt Rolfs sinnende Stimme: »Ich könnte dir auch eine Geschichte erzählen, wenn du sie hören magst.«

Erling setzt sich wieder. »Eine Geschichte? Aber, was ich dir erzählte, ist wirklich so geschehen. Das war keine Geschichte.«

Rolf schlägt mit der Hand aus. »Nein, ich sage nur so: Geschichte. Ich habe sie gelesen – im Buch – also im Buch meines Lebens. Ein unterhaltsames Buch, na. Eine Geschichte 161 aus der Wirklichkeit. Von einem Mädchen, das mich in die Mägdekammer schickte.«

Nun wendet sich Erling langsam um, dem Bette zu. »Du willst nicht sagen –?«

Rolf lächelt. »Daß mir dies auch zugestoßen sei? Du wirst hören. Es war ja nicht genau dasselbe, es sieht vielleicht ganz anders aus. Wie so vieles, was genau gleich ist und doch so verschiedenes Aussehen hat. Es gibt manche Fälle im Leben –.«

»Du willst wohl gar nichts erzählen«, unterbricht ihn Erling ungeduldig.

»Doch, doch. Ich schwatze nur so. Seitdem ich ganz allein bin, habe ich mir angewöhnt, laut vor mich hinzuschwatzen. Ich kann stundenlang daliegen und reden, als ob Besuch da wäre.«

Erling, zusammenzuckend, horcht auf. »Hörtest du nichts? Klopfte nicht jemand an den Fensterladen?«

Auch Rolf lauscht ins Toben des Sturms hinaus. Dann sagt er: »Nein, es war der Wind. Er hat wohl einen Ast geknickt.« Nachsinnend beginnt er zu reden, leise, wie wenn er die Geschichte sich selber erzählte, sich zum 162 hundertstenmal selber erzählte, was er keinem andern Menschen sagen darf. »Ja, wann war es? Ein Jahr mag jetzt verflossen sein; der Baum mag einen Jahresring angesetzt haben, seitdem ich die Begegnung hatte, den Anstoß erlitt, der mich dahin brachte, wo ich heute stehe, – liege. Ich war in die Stadt gefahren. Ich lernte dort zufällig das Mädchen kennen. Ich sage: zufällig, obwohl es ja das Natürlichste und Selbstverständlichste war, daß ich sie kennen lernen mußte, die in meiner Geschichte eine solche Rolle spielen sollte. Ich hatte im Hause ihres Vaters zu tun. Dort, als ich auf ihren Vater wartete – warum kam er nicht sofort? warum ließ er mich warten? – dort trat sie zufällig – nochmals ein Zufall! – trat sie zur Türe herein, vom Garten durch die Glastüre ins Zimmer, wo ich wartete und mir die Bilder an den Wänden anschaute. Muß ich sagen, daß auch ihr Bild an der Wand hing? ein großes Bild, das sie in ihren Kinderreizen unbefangen und weltstaunend schilderte? Ich hatte das Bild nicht näher betrachtet, mir wahrscheinlich keine Gedanken darüber gemacht, und wandte mich nun der Eintretenden etwas überrascht entgegen. 163 Nun müßte ich sagen, wie sie war: ob schön, ob schüchtern, sicher, stolz, ob sie Eindruck auf mich machte, sofort, nachhaltigen, langsam wirkenden. Hier aber bleibt meine Geschichte eben unvollständig, ich meine: wirklich, allzu wirklich. Da jenes Mädchen lebt, kann ich nicht sagen, wie es ist. Ich kann nur erzählen, was vorging. Dieses ging vor: das Mädchen wurde ein wenig rot auf der Stirne, als es mir die Hand reichte; es nannte auch meinen Namen, ehe ich Zeit gefunden oder daran gedacht hatte, mich vorzustellen, und kurz darauf schenkte es mir eine Blume, die ich erst zwischen den Fingern hielt und dann ins Knopfloch steckte. Ich habe doch gesagt, daß es aus dem Garten durch die offene Glastür unerwartet ins Zimmer getreten war? Es trug den ganzen Arm voll Blumen. Ja also –: so war das Mädchen. Du kennst es nicht, darum verschweige ich auch seinen Namen.«

Erling hört zu, erwidert nichts.

Rolf schaut ihn an. »Ich kann ihn dir aber gerne nennen, wenn du willst –?«

Erling wehrt mit der Hand ab. »Nein, nein, ob sie nun so oder anders heißt.«

Rolf fährt empor. »Doch, das hat natürlich 164 viel zu bedeuten. Wie willst du mich verstehen, wenn ich dir nicht alles sage? Ihr Name ist wichtiger, als wenn ich beschreiben würde: sie war hochmütig, oder sie bezauberte mich, mit dem ersten Blick ihrer Augen, oder so etwas.«

Aufmerksam erkundigt sich Erling: »Wie hieß das Mädchen?«

Lächelnd schaut ihn Rolf an, schüttelt den Kopf. »Verzeih, ich kann es nicht sagen. Ich habe seinen Namen nie mit lauter Stimme ausgesprochen; im Traum vielleicht, das weiß ich nicht. – Sei nicht ungeduldig, Erling! Jetzt tritt in meiner Geschichte, um darin fortzufahren, eine Wendung ein, die Wendung nach links, zur Mägdekammer hin. Verstehst du?«

Erling rückt unwillig auf seinem Stuhl hin und her. Er sagt barsch: »Nein. Wie sollte ich? Du erzählst ja nichts.«

Rolf senkt den Kopf. »Ja, es ist wahr. Ich will genauer sein. Ich sah dieses Mädchen nachher noch zwei- oder dreimal, – nein, ich muß ehrlich sein: dreimal reiste ich nachher in die Stadt, unter irgendeinem Vorwand, um es zu sehen. Immer war es freundlich, gut und ruhig zu mir. Blumen –? Nein, Blumen 165 gab es mir keine mehr. Es traf sich nie mehr so. Aber auch kein böses Wort, kein verletzendes Wort. Ich dachte während Wochen oft an das Mädchen; das waren lichte Tage.«

Erling steht ungeduldig auf. »Von einer Wendung sprichst du, von der Mägdekammer. Sie hat dich doch nicht dorthin geschickt? Du sprichst nur gut von ihr.«

Rolf schließt lächelnd die Augen. »Warte nur, warte doch. Ich sagte ja, daß unsere Geschichten, äußerlich betrachtet, einander so ganz unähnlich seien. Nein, so mußt du mich nicht mißverstehen. Im Gegenteil: sie stellte nichts zwischen sich und mich, nicht den geringsten Schatten, keinen Spott, keine Verstimmung. Nicht mehr als den Hauch, der zwischen ihrem und meinem Munde war, wenn wir zusammen sprachen. Sie hatte ja gar nichts nötig, um sich von mir fernzuhalten, keine Wand, keinen Riegel, nicht einmal die leiseste Handbewegung; sie war ohne all das immer fern. Und dann sah sie wohl, daß es mit mir abwärts ging, daß ich sank. Ob es ihr weh tat, dies zu sehen? Darüber kann ich tagelang nachsinnen. Ja? Nein? Ich will, ich will es nicht wissen. – Auf 166 jeden Fall schickte sie mich nicht weg, nicht in die Mägdekammer, – nein, Gott weiß, daß sie das nicht tat.«

»Aber, was denn? wie denn?«, murrt Erling.

Rolf hebt die Hand. »Ja, wie denn?« Er läßt sie sinken, streicht über die rauhe Decke, auf der er liegt, sagt leise: »Ich selber ging hin, siehst du, ich ging hin, ging weg, als ich es nicht mehr ertrug, und verlobte mich mit Dagny.«

Da steht Erling vor der Lagerstatt, auf der ein Mensch, ein Mann lächelnd und schweigend liegt und sich nicht rührt; er starrt auf das ruhige Antlitz und ist selber um jedes Wort verlegen. Er wendet sich mit einem heftigen Rucke weg und stößt hervor: »Ich verstehe das alles nicht. Ich verstehe den Sinn von all dem nicht.«

Langsam richtet Rolf sich auf. Er ist nicht heftig in seiner Stimme, wie er sagt: »Sinn, Sinn –? Wer redet von Sinn? Es ist doch eine Geschichte aus dem Leben, es ist doch Wirklichkeit, was ich erzähle. Du weißt doch, daß ich verlobt war?«

»Ja, ja«, sagt Erling erregt und ballt die Hände. »Warum sprichst du davon? Ich habe kein 167 Wort davon gesagt; ich hütete mich, davon zu reden.«

Hart und finster wird Rolfs Gesicht. Seine Stimme klirrt häßlich. »Nein, kein Mensch hat davon gesprochen, wenn ich zugegen war. Alle dachten nur daran, wenn sie mich sahen. Herrgott, darf denn auch ich nicht davon reden?«

Erling zuckt die Achseln. »Es ist doch nicht –.«

Rolf läßt sich aufs Lager zurückfallen. »Ja, du hast recht. Es ist nicht angenehm. Lassen wir das.« Er dreht das Gesicht gegen die dunkle Wand.

Erlings Fäuste schieben einen Klotz in die Flammen. Knisternd gleitet die Glut über seine weiße, rissige Rinde, spitze Zungen lecken aus ihm heraus in die schwarze Kaminwölbung empor.

Und nun klopft eine Hand an die verschlossene Türe. Ein Fingerknöchel schlägt dreimal ans harte Holz, heftig, ängstlich, heischend.

»Hörtest du?«, fragt Erling flüsternd. »Es steht jemand draußen.«

Rolf rührt sich nicht. »Wer wollte jetzt draußen im Walde sein? Bei diesem Sturm.«

168 Erling tut zwei Schritte, bleibt stehen. »Ja, – und nicht einfach eintreten?« Er ruft laut: »Ist jemand draußen?« Es bleibt still. Er legt die Hand an die Klinke, drückt sie nieder, reißt die Tür auf. »Komm herein!«

Aber in jähem Erstaunen hebt er beide Hände vor die Brust. Seine Augen sind groß, seine Stimme ist vor Schreck ganz leise. »Hjördis –. Wo kommst du her?«

Aus der regendurchpeitschten Nacht gleitet ein Mensch hervor, ein Mädchen, schreitet Hjördis über die Schwelle, rasch, fast springend, und zurücktaumelnd greifen ihre Hände nach dem Türpfosten hinter sich. Ihre Lippen stammeln: »Rolf –? Ist Rolf nicht hier?«

Auf dem Lager, in der dunkeln Ecke, wendet sich Rolf langsam herum, hebt den Kopf, stützt sich auf den Ellbogen.

Da reckt sie sich empor. Auf ihrer grauen Jacke schimmern Regentropfen, halb gefroren, rollen ihr von den Schultern, vom hochgeklappten Halskragen über die Brust herab, sprühen von ihr weg, aus ihrem bloßen, wirren Haar, wie sie sich regt, wie sie einen Schritt in die Hütte tut. »Ah –«, sagt sie leise. Ihre Augen 169 starren, ohne zu zucken, auf den Mann, der unbeweglich im Dunkel liegt. »Ich verirrte mich. Ich muß um Entschuldigung bitten, daß ich einfach hereinkomme. Ich verlor den Weg im Walde. Ich verirrte mich. Man kann ja nichts sehen in solcher Nacht. Ich erblickte ein Licht hier –.«

Erling knurrt bei der offenen Türe: »Die Fensterläden waren geschlossen. Wie kann man da ein Licht wahrnehmen?«

Sie hört nicht auf seine Stimme, sie sieht ihn nicht an, sie sagt: »Ich dachte, ich dürfte mich erst etwas erwärmen, bevor ich weiter gehe; ich wollte auch nach dem Wege fragen. Ich bitte um Entschuldigung.«

Rolf murmelt: »Keine Ursache.«

Sie fährt rasch mit beiden Händen über die Jacke, schlenkert die Arme von sich weg; die Tropfen spritzen von ihr. »Doch, – doch natürlich. Aber kann ich hier bleiben? Eine Weile? Erlauben Sie?«

Langsam hebt Rolf seine Beine von der Lagerstatt, steht auf und geht zum Kamin. Er stößt mit der Fußspitze das brennende Scheit tiefer in die Glut; auf flackert das Feuer.

170 Und nun wendet sie sich zu Erling. Nur den Oberkörper dreht sie ihm zu, schaut ihn an, lächelt. »So, du bist also auch hier? Guten Abend.« Sie nickt und kehrt sich wieder von ihm weg.

Mit raschem Griff packt Erling seine Büchse.

Rolf sieht auf. »Du willst doch nicht in die Nacht hinaus gehen?«, fragt er.

»Ich will nach den Spuren sehen. Es liegt ja noch Schnee.«

Hjördis fährt zusammen. Sie blickt vom einen zum andern. Sie zischt: »Nach meinen Spuren? – Geh, such sie nur. Sie kommen von oben her, quer durch den Wald. Ich weiß nicht, wo ich überall gegangen bin. Ich kann es dir nicht sagen.«

Erling erwidert ihr ruhig, während er die Büchse über die Achsel hängt: »Ich gehe talwärts, auf dem kürzesten Weg.«

Sie lacht auf. »Ja, geh, such dort.«

Er wendet sich weg. »Was kümmern mich deine Spuren?«

Sie spottet hinter ihm her: »Ja, was kümmern sie dich? Das möchte ich wissen!«

Erling geht in die Nacht hinaus. Krachend schlägt er hinter sich die Türe ins Schloß. Der 171 Wind hat sich für eine Weile geduckt. Es ist ganz still. Nasse Flocken fallen.

Rolf steht vor Hjördis. »Ziehen Sie Ihre feuchte Jacke aus«, befiehlt er. Ihre blaugefrorenen Finger nesteln an den Knöpfen, streifen die Jacke von Schultern und Armen. »So, wir hängen sie hier ans Feuer. Ihre Schuhe –«, sagt er und blickt nieder. Feuchte Flecken liegen dunkel auf den Holzdielen. »Sie haben ja nur dünne Hausschuhe an den Füßen –? Nein, wie konnten Sie so gehen, durch den Schneebrei? Ziehen Sie sie aus.« Hjördis schiebt mit einem Ruck die Schuhe von den Füßen. »Und Ihr Haar –«, sagt Rolf. »Das Beste wäre –.« Er hebt die Hand, als wolle er es befühlen.

Hjördis weicht einen Schritt zurück. Leise fragt ihr Mund: »Soll ich es lösen?«

Rolf läßt seine Hand sinken. »Ja, ich weiß nicht –.«

Schon fällt es, schwer und feucht, auf ihre Schultern, rollt breit wie ein Mantel über ihren Rücken herab. Sie zittert.

»Nun setzen Sie sich zum Feuer«, drängt er.

»Danke.« Sie rührt sich nicht, wippt nur leise 172 auf den Fußspitzen und Sohlen hin und her. »Ja, wir kennen uns wohl?«, fragt sie.

Er sieht sie nicht an. Er schiebt mit harter Hand einen Stuhl vor das Feuer. Er sagt: »Sie waren beim Tanz in der Johannisnacht. Sie wollten nicht mit mir tanzen.«

»So –?«, fragt sie erstaunt und legt den Kopf etwas zurück. Dann geht sie zum Kamin, setzt sich auf den Stuhl und streckt Hände und Füße gegen die warme Glut.

Rolf zieht sich zum Lager zurück. »Wollen Sie etwas essen?«

Sie schüttelt den Kopf. Sie starrt in die flackernden Flammen.

Tief im Walde, der in dieser Nacht dem Sturme des Spätherbstes trotzt, tief im Walde brennt ein Feuer, prasselt und knistert, gibt Wärme, Licht und Ruhe. Ein Funke glüht still im rasenden Sturm, in der trostlosen Nacht. Um das Feuer herum ist ein Menschenhaus gebaut, eine Hütte, ein Schutz, eine Geborgenheit.

Draußen faucht der Wind und schnaubt in die Ritzen, kratzt sich die Klauen wund an den Balken, die Menschenhände gefügt haben. Drinnen sitzen zwei Geschöpfe, schlagen zwei Herzen, 173 starren zwei Augenpaare. Um sie herum die Stille, dann der Sturm, der Wald, der Spätherbst, dann die Welt. Sie sitzen wie in einer Nußschale; eine Riesenhand hält sie, und darin verschwindet die Schale wie ein Sandkorn in einer Hautrille.

Hjördis murmelt leise in die flackernde Flamme hinein, und dennoch heftig: »Sie schauen mich an, – ich spüre es. Sie sollen mich nicht so anschauen. Sie finden es vielleicht – seltsam, daß ich –. Aber ich bin wirklich irre gegangen, lange im Regen und Schnee gegangen, wirklich.«

Rolf spricht vor sich hin, zu den leise flatternden Haaren, die wie ein Schleier um die Schläfen des Mädchens hangen: »Nein, seltsam finde ich es gar nicht. Ich hatte oft solchen Besuch hier oben, unerwarteten. Seit ich hier liege, kam manchmal solcher Besuch zu mir. Ich bin daran gewöhnt.« Hjördis wendet langsam den Kopf. Ihre Augen sind groß, sind voll Frage. »Wir sprechen zusammen ganz leise, – denn es ist manchmal so still hier in den Wäldern, – und dann geht sie wieder und läßt mich allein zurück, noch mehr allein. Ilselil, – müde war sie einmal und kauerte beim Kamine nieder, ja, 174 dort, wo du deine schmalen Füße aufstemmst. Sie öffnete auch ihr Haar, aber es hing um sie wie ein langer Mantel; bis zu den Fußknöcheln herab hing es, als sie dort kauerte.« Er fährt plötzlich empor, seine Hände fassen die Lagerkante, er ruft gedämpft: »Ich habe sie weggeschickt, Ilselil, und ihr verboten, wiederzukommen. Wer bist nun du?«

Wie von der Flamme aufgejagt steht Hjördis da. »Rolf, – bist du krank?«

Er lacht und legt sich zurück. »Nehmen Sie Platz, Fräulein Hjördis, nehmen Sie ruhig wieder Platz. Ich bin – ich bin wohl etwas aus der Gewohnheit gekommen, Menschen zu sehen, Menschen mit schmalen Füßen und – es war nur Ihr feuchtes Haar.« Er dreht sich gegen die Wand, zieht die Kniee empor, bettet den Kopf im Armbogen.

Hjördis bückt sich; ihre Finger fassen spitz die Flasche, heben sie vom Boden auf, stellen sie weg. Sie schaut auf Rolf, schaut in den Kessel, der über dem Feuer schwebt, und sagt leise: »Sie sollten nicht den eklen Branntwein trinken.« Lauter dann, da er schweigt: »Ich sage, Sie sollten nicht Branntwein trinken.«

175 Er regt sich nicht, er lacht nur: »Nein, natürlich nicht.«

»Sie sollten überhaupt nicht hier oben liegen, in dieser Hütte, in den Wäldern, im Herbststurm.«

»Nein, auch das vielleicht nicht«, höhnt er.

Heftig sie: »Wie ein angeschossenes Wild, das sich zum Verrecken verkriecht.« Sie tritt an das Lager, ihre Arme hangen eng am schmalen Leib herab. »Und nicht Besuche empfangen von Ilselil und solchen Gästen.«

»Nein, nein, ich sollte nicht«, lacht er gereizt.

»Es ist so feig –«, flüstert sie.

Er schnellt mit Kopf und Knien herum. »Hjördis –!« Sie weicht zurück. »Setzen Sie sich doch zum Feuer und trocknen Sie Ihre nassen Haare und lassen Sie mich in Frieden liegen. Sehen Sie, ich drehe mich gegen die Wand, ich bin gar nicht da, – kümmern Sie sich nicht um mich.«

Hjördis sitzt wieder vor der Flamme; ihr Kinn ruht in den hohlen Händen, ihre Arme stützen sich auf die Kniee. Nach einer Weile klingt wieder ihre Stimme durch den flackerig erhellten Raum. »Sie sagen, drunten im Tal: er liegt in einer 176 Hütte, weil er niemand in die Augen schauen mag, – er hat nicht den Mut dazu. Er wagt nicht mehr, unter uns zu leben.«

»Es ist wahr, es ist ganz wahr«, flüstert Rolf.

Sie schüttelt den Kopf. »Das werden sie nun nicht mehr sagen.« Und leise beginnt sie zu lachen. »Nein, nun wird keiner mehr so sprechen.«

Langsam, wie aus dem Schlafe erwachend, regen sich Rolfs Glieder. Er setzt sich aufrecht hin; er fragt, fast erschrocken: »Hjördis, warum kamst du herauf zu mir?«

So einfach und klar ist ihre Stimme: »Weil du mich riefst.«

»Ich rief dich nicht. Ich rief dich nie. Ich habe deinen Namen nicht ausgesprochen.«

»Riefst du nie nach Ilselil, – nach ihr, die im Walde herumstreift mit den Jägern und bei den Holzfällern wohnt, wenn sie wochenlang weit weg sind von allen Menschen?«

Seine Antwort stockt. »Ilselil? – Nein, ich schickte sie weg. Ich verfluchte sie und verbot ihr, über meine Schwelle zu treten.«

Leise klagt ihre Stimme. »Es stürmt draußen. Das Haus ist da für alle, die im Sturme gehen. 177 Ich konnte nicht zurück. Ich wäre im Schnee liegen geblieben.«

»Kind, Kind –«, flüstert Rolf. »Kamst du mit Willen hier herauf? Du gingst nicht irre. Du hast gelogen.«

Hjördis senkt den Kopf; die Haare fallen strähnig über ihre Finger. »Ich ging vielleicht irre, – wer weiß? Der rechte Weg war es wohl nicht. Aber ich ging ihn doch. Und morgen werde ich wieder hinuntersteigen und es ihnen sagen.« Jäh fliegen ihre Haare zurück, ihre Stirne leuchtet im Schein der Flamme. »Ich werde ihnen sagen: ja, ich war bei ihm, droben in den Wäldern!«

»Niemand wird dir glauben.«

»Mir? Doch, mir glauben sie es schon, – dies werden sie mir glauben müssen. Sie werden meine zerrissenen Schuhe sehen und mein zerzaustes Haar, und ich werde singen. Hat mich nicht Erling hier gesehen? Ihm werden sie glauben.«

Rolf zuckt die Achseln. »Aber warum? Warum dies alles? Man wird dich auslachen und deinen tollen Streich, wie man lacht über deine Fahrten mit dem Ziegenbockschlitten. Du 178 bringst dich ins Gelächter und Gerede des Volks. Vielleicht suchst du das –.«

Ihre Stimme wird leiser. »Ich sage ihnen: er hat mir aus den Wäldern Botschaft gesandt, im geheimen hat er mir befohlen, zu ihm hinaufzukommen, und da mußte ich gehen. Das werde ich sagen.«

Noch einmal fährt er auf. »Aber das ist nicht wahr. Das ist ja ganz –.«

Sie hebt die Hand gegen ihn. »Du wirst es ihnen nicht sagen, daß ich gelogen habe. Nein, du nicht. Und wer würde dir glauben?«

Er starrt sie an. Er sinkt langsam zurück. Er stöhnt: »Mich kümmert ja gar nicht, was sie drunten reden und denken. Nein, ich werde schon schweigen.«

Da springt sie jubelnd auf. »Das wollte ich hören, aus deinem Munde hören! – Er ist gar nicht so, wie ihr ihn euch denkt; hat er nicht mir, ja mir befohlen, zu ihm zu kommen? Und mußte ich nicht gehen, in die Wälder hinauf, in die Einsamkeit des Sturms, zu ihm? Sie werden schweigen müssen, schweigen um dich; und wenn sie wieder reden von dir, so wird es 179 auch von mir sein, von uns beiden, und sie werden es nicht fassen können.«

Rolf geht lauschend durch die Hütte. Seine schweren Schuhe dröhnen auf den Holzfliesen. Seine Hände fassen da und dort die Gegenstände, lassen sie wieder los, öffnen und schließen sich suchend. »Also das war es, das –. Laß mich denken. Ich höre dich reden, sehe dich, du bist hier. Darum? Nein, nein, tue das nicht! Du darfst es nicht tun. Ich will es nicht haben. Geh fort, geh heim, noch jetzt in der Nacht. Niemand hat dich gesehen. Du gingst irre, du kamst zufällig zu meiner Hütte, du trafst Erling und mich, aber du wolltest nicht hier bleiben, du flohst weg, fort aus meiner Nähe.« Er packt sie an den Handgelenken. »Geh, ich befehle es dir. Geh! Ich bitte dich, Hjördis.«

Sie entwindet sich ihm, wirft die Arme empor, wirbelt herum wie eine Flamme, tanzend, lachend, jubelnd. »Nein, ich geh nicht; ich bleibe, bis es Tag wird!« Sie steht schwebenden Leibes beim Lager, bei der harten, dunkeln Lagerstatt, und beugt sich langsam über die zerknüllte Decke; ihre Hände streicheln die Falten, glätten sie. »Hier liegst du; seit Wochen liegst 180 du hier. Ich weiß, Tag und Nacht liegst du hier, du gehst kaum vor die Hüttentür hinaus; du lauschest auf das Sausen und Singen der Bäume, wenn der Wind den Schnee von den Aesten wirft, du erwartest den Abend, der langsam kommt, und den Morgen, der spät heraufdämmert, du liegst und liegst und lauschest. Hier, auf diesen harten Tannenzweigen.« Ihre Hände tasten über das Lager, ihr Leib sinkt vornüber. »Ich war zweimal bei der Hütte und schaute durchs Fenster hinein. Du rührtest dich nicht. Ich schlich wieder weg. Ich fürchtete, du möchtest aufsehen, gerade durch das Fenster auf mich blicken und mich mit deinem Blick wegweisen. Du hörtest meine Schritte nicht im Sausen des Windes.«

Rolf setzt sich auf die Kaminplatte nieder. Er flüstert: »Ilselil –.«

Sie zuckt herum, richtet sich auf. »Rufst du – rufst du mich?« Sie huscht vom Lager, springt in den Lichtkreis, kauert sich neben Rolf nieder, seine Wärme suchend. Sie murmelt singend: »Hier sitzt Ilselil, die im Sturm durch die finstern Wälder gegangen ist und dich gesucht hat. Du weißt nicht, wie dunkel es draußen ist; 181 nicht einmal der Schnee leuchtet mehr. Und Tür und Fenster hattest du verriegelt, kein Lichtstrahl dringt in die Nacht hinaus. Und doch fand Ilselil den Weg, den Weg ans Feuer. Sieh, ich kann meine Hand ins Feuer halten!« Weiß fährt ihr Arm in die Flamme. Rolf reißt ihn zurück, legt seine rauhen Hände über ihre zuckenden Finger. »Wie sind deine Hände heiß«, sagt er und streichelt über sie hin.

Sie senkt den Kopf, sinkt zusammen, wirft ihre Stirne in seinen Arm. »Ich friere«, stöhnt sie. »Ich ging tief im Schnee, ich kam vom Wege ab; ich glaube, ich blieb eine Weile liegen.«

Aus ihren feuchten Haaren steigt leiser Duft. Rolfs Blicke gehen über sie hinweg in die Dunkelheit, die groß und schweigend an der Wand steht. Seine Lippen flüstern: »Arme Ilselil, arme, arme Ilselil –.«

Sie schmiegt sich näher an ihn, an seine Kniee und Arme, und wendet lächelnd den Kopf empor. »Mir ist wohl. Denk dir, nun weiß kein Mensch drunten im Tal, wo Ilselil weilt. Nur Erling, der grobe Erling. Und er ging in die Nacht hinaus. – Wie schön du es hier oben hast. Du liebst die Wälder, die um dich herum 182 sind. Du hörst auf ihre Stille wie auf ihren Sang, und beide verstehst du gleich gut. Erzähl mir davon, sag mir, was die Bäume sprechen!«

Er schweigt. Er schaut über ihr blankes Gesicht hinweg in die Dunkelheit, die breit über den Boden herankriecht, und fragt: »Ilselil, gehst du zu allen, die dich rufen?«

Ihre Lippen öffnen sich. »Nicht alle rufen mich beim rechten Namen.«

»Doch die ihn nennen, denen folgst du, – allen?«

Sie schließt die Augen. Ihre Zähne schimmern. »Ich weiß es nicht. Es rufen so viele, – und manchmal ist mir, als sei es immer derselbe, er, der ruhelos durch die Wälder geht. Ich weiß es nicht.« Rot schließen sich ihre Lippen, eine Wunde im weißen Antlitz.

Rolf blickt über ihren ruhig atmenden Leib hinweg in die Dunkelheit, die sie rings umschließt wie eine Mauer. Er fragt: »Und allen bist du untreu, Ilselil?« Sie rührt sich nicht, ihre Lippen zucken nicht, ihre Augen bleiben reglos verborgen. »Du gehst durch Sturm und Schnee. Du bist so stolz, daß du den Stolz ruhig von 183 dir werfen kannst wie ein Kleid, so wild, daß du dein Knie in Demut beugen und deinen Nacken unterwürfig neigen kannst, aber Treue findet sich nicht in dir, Ilselil.«

Hjördis öffnet die ruhigen Augen. »Treue –? Ich weiß nicht, was das ist.«

»Nein, du weißt es nicht. Arme, arme Ilselil. – Soll ich dir erzählen, was ich in den langen Tagen und Nächten mir selber tausendmal erzählt habe, während ich dem Atem des Waldes lauschte?«

Sie lächelt. »Erzähltest du dir von der Treue?«

Er blickt nicht auf sie, nicht auf ihren spöttischen Mund; er blickt in die Dunkelheit, aus der ihre Körper in das Licht der Flamme aufsteigen. »Nein«, sagt er leise, »nein, von der Liebe. Es gibt so viele Arten von Liebe, wie der Wald Sprachen und Gesänge hat.«

Sie schüttelt leicht den Kopf auf seinen Knien. »Soviele –? Nein, es gibt eine Liebe: so wie Ilselil liebt.«

Er wiegt ihren Leib langsam hin und her. »Arme, arme Ilselil«, flüstert er. »Ich kenne ein Mädchen, weit, weit weg von hier, – nein, vielleicht kenne ich es gar nicht, aber es könnte 184 ja irgendwo leben, und von ihm erzähle ich mir. Von seiner Liebe, die weder wild noch stolz ist, weder unterwürfig noch demütig, nur treu, nur treu. Ich erzählte mir, das Mädchen liebe mich, gerade mich, – ja, warum nicht mich? Aber ich weiß nichts davon, ich kann ihm nicht danken, ihm nicht die Hand auf sein Haar legen, ich kann nicht einmal soviel als Dank für seine Liebe tun, daß ich seine Treue auf die Probe setze. Aber es liebt mich doch, ob ich gleich will oder weiß oder fühle –: das ist die Treue. Liebe, die ist wie des Waldes tausend Gesänge: Sturm und Sausen und Schweigen, so vielfältig und von mancher Art. Auch Schweigen –.«

Er kehrt mit seinem Blick aus der Dunkelheit zurück in die Helle ihres Gesichtes. Ihre Augen stehen offen. Sie sind voll Tränen.

»Ich kenne nur meine, nur Ilselils Liebe«, sagt sie.

Und nun fühlt er, wie ihr Körper sich plötzlich strafft, wie ihre Glieder sich spannen, aufschnellen. Sie springt vom Boden empor, ihre Hände zucken zwischen seinen Fingern. »Wo lebt sie? Du kennst das Mädchen, von dem du erzähltest.«

185 Er lehnt sich zurück, weicht ihrem Blicke aus, wehrt ab: »Nein, nein –.«

Sie reißt ihre Arme an sich, steht hoch und schlank, und ihre Stimme fordert: »Geh, geh zu ihr! Warum liegst du hier und verblutest? Geh, sie wird dir helfen. Hier liegst du und rufst nach Ilselil, und wenn sie kommt, verhöhnst du sie. Du denkst doch nur an die andere. Geh –.«

Er hebt bittend die Hände zu ihr empor. »Was sagst du? Weißt du, was du sagst?« Er steht auf, tritt in den Schatten, als wolle er sich bergen.

Sie stampft heftig auf. »Bist du nicht frei? Kannst du nicht gehen, wohin du willst? Wohin du mußt? Und liegst hier und liegst – o!« Sie reißt ihre Jacke von der Stuhllehne, schlüpft in ihre zerfetzten Schuhe, und während sie sich vor dem Kamin bückt, knirscht sie: »Soll ich ein Scheit aus dem Feuer reißen und es in die Tannenzweige auf deinem Lager werfen, daß dir alles, deine letzte Zuflucht, dein Schlupfloch in Flammen aufgehe? Feigling –.«

Aus dem Schatten kommt seine Stimme, und sie ist ruhig und leise. »Wie des Waldes tausend 186 Gesänge ist die Liebe: Sturm und Sausen und Schweigen. Jedes hat seine Zeit.«

Hjördis läßt die Arme, die sie nach ihm gereckt, langsam sinken. Ihr Kopf neigt sich. So steht sie eine Weile vor dem Feuer, dunkel, schmal, schwankend. Dann geht sie zur Türe. Dann ist sie draußen in der Nacht.

Der Schnee fällt flockig aus ruhig ziehenden Wolken über die verstummten Wälder.


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