Hugo Marti
Ein Jahresring
Hugo Marti

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101 Sommer

Ein Pfeil schwirrt gegen den Himmel. Steil stößt sein Flug ins Blaue hinaus. Eine Spanne Zeit, ein Augenzwinkern, einen Hauch lang schwebt das schwanke Geschoß zuhöchst auf dem luftigen Bogen; es flimmert im weißlichen Licht, das seine geschliffene Spitze durchritzt. Dann sinkt es, fällt rascher wieder, zischt in die Schatten der Erde zurück, steckt zitternd im grasigen Boden fest.

Also ist der Sommer in diesem kargen, in diesem verschwiegen reichen Lande: ein steiler Bogen ins Licht. Die auffunkelnde Höhe, das flimmernde Schweben, das hauchlange Ausruhen vor dem Sturz: dies ist die Johannisnacht. Sie ist die Erfüllung des Jahres, die Wende. Sie füllt den Becher mit dem letzten Tropfen; zittert die Hand, so verschüttet er sich.

Ein Boot löst sich vom Strand. Die Ruder tauchen langsam ins Wasser, schweben dann eine Weile über der quirlenden Flut, schnellen nach vorn und tauchen wieder hinab. Das Boot schießt dahin; seine Spur schimmert über gründunkeln Tiefen auf.

Dagny hebt den weißen Arm vom Bootrand. »Du mußt drehen«, sagt sie und reckt die Hand 103 mit gespreizten Fingern seitwärts. »Wir haben die Höhe der Landspitze.«

Rolf zögert, rudert langsamer. »Wenn wir nach Engnes hinüberfahren, sehen wir alle Feuer dem Fjord entlang, auf Bjonlie, bei uns, auf Sörum und weiter noch. Es ist bald Mitternacht, dann werden sie aufflammen.«

Dagny lacht, schüttelt den Kopf. »Ich will dabei sein. Wir wollen beim Feuer tanzen. Warum holtest du mich sonst in der Johannisnacht?«

Er stemmt das rechte Ruder fest, wendet das Boot. Sie lehnt den Kopf zurück, auf die Brüstung. Sie liegt mit offenen Armen, ihre Hände halten den Bootsrand, sie hat die Knie an den Leib gezogen. Weiß leuchtet ihr Kleid in der leise verhängten, kürzesten Nachtstunde des zitternden Sommers.

Rolf sieht ihre Gestalt, ihr aufwärtsgewandtes Gesicht mit den großen Augen, die sich nicht regen, mit dem lächelnden Mund, aus dem die Zähne schimmern, mit dem unruhig flatternden Haar über der glatten Stirne. Er reißt an den Rudern, daß ihr Leib jäh erschüttert wird. Sie schaut lange auf ihn: wie er den Abstand 104 vom Lande mißt, mit zusammengekniffenen Augen.

An der Landzunge von Lysenstöa legt er bei. Der Kiel knirscht zwischen zwei Steinen, furcht den Sand, steht fest. Rolf springt ans Land, zieht das Boot hinauf, reicht Dagny die Hand.

»Danke«, ruft sie hell, und ihr Leib streift ihn im Sprung. Dann schreitet sie durch die Büsche empor, während Rolf das Boot vertaut.

Auf dem Rasen, zwischen den grauen Felsblöcken, ragt der Holzstoß. Eine zuckende Flamme klimmt an ihm empor, beleckt seine Ecken, züngelt zwischen die Reisigbündel hinein, überglüht ihn jäh und zerrt ihn prasselnd auseinander. Die Funken steigen wie flatternder Samen aus einer im Winde sich wiegenden Blume empor. Sie verblassen vor dem silbernen Himmel, der weit von Berg zu Berg leuchtet.

Stampfend reißen die Burschen ihre Mädchen in den flackernden Schein, breit wirbeln die Röcke, flattern die Kopftücher, und stieben wieder in die graue Dämmerung zurück. Jens streicht die Geige; man sieht ihn nicht im wogenden Gewühl. Schriller Schrei durchstößt sein lüpfiges Lied.

105 Lachend biegt Erling seinen Nacken zurück, brüllt Rolf zu: »Ist Bodils rotes Kopftuch nicht schön?«

Dagny blickt Rolf von der Seite her an. »Was will er sagen?«, fragt sie. »Komm, tanz mit mir.«

Er legt rasch die Arme um ihre Hüften, zieht sie in den Kreis und führt sie durch das Gedränge. Er spürt unter seinen Händen ihren straffen, bebenden Leib, spürt ihren Hauch auf seinen Wangen, ihren Duft, ihre Wärme.

»So liebe ich dich«, flüstert sie. »Sag, daß du mich mehr liebst als alles.« Er antwortet ihr nicht, aber sein Mund lacht. Sie nickt. »Du hast es gesagt.«

Sie entgleitet ihm. Er sieht ihre schlanke Gestalt im Feuerschein; dann ist sie nicht mehr da. Spähend gehen seine Augen durch die Dämmerung, die wie ein grauer Ring die Tanzenden enger zusammendrängt.

Erlings breites Gesicht starrt ihn an. Rolf zuckt auf. Der biegsame, huschende Leib, den seine starken Arme wie ein gebrechliches Spielzeug durch den Reigen tragen, er ist nicht Bodils Bauerngestalt, derb, stark und schnellend. Rolf 106 reckt den Hals. Er sieht ihren Kopf, ein weißes Gesicht, einen offen atmenden Mund, geschlossene Augen, als ob sie schliefen.

Rolf wendet sich weg, streift durch das Gras, blickt über das dunkle Wasser. Die Waldberge stehen finster in der webenden Dämmerung. Er sieht die Häuser von Lysenstöa oben am Hang. Er hört die Geige. Alles ist gleich fern, gleich nahe im flutenden Zwielicht der kurzen Nacht.

Wieder kehrt er zurück zum Ring. Er sucht Dagny. Mädchen stehen herum, schwatzen, spähen, weichen Blicken, Worten und Griffen lachend aus. Er ruft: »Sah jemand Dagny?«

Er blickt der nächsten ins Gesicht.

Er kennt sie nicht. Ihre Augen sind jetzt offen, grau, forschend und starr. Ihre Arme liegen eng am schmalen Körper. Ihre Stimme ist wie die eines Knaben. Sie sagt: »Ich bin nicht Dagny.«

»Nein«, stammelt er. »Ich weiß nicht, wer du bist. Willst du mit mir tanzen?«

Sie geht an ihm vorbei. Die Mädchen kichern. Rolf beißt die Zähne zusammen. Er dreht sich weg.

107 Langsam steigt er durch das Gras über den Hang hinauf. Hell lodert noch der Holzstoß hinter ihm. Der leise Wind trägt Funken über sein Haupt hinweg; erlöschend sinken sie zur Erde.

Am grauen Felsblock, um den der Pfad emporklimmt, steht Bodil. Ihr Rücken lehnt am Stein, ihre Ellbogen stützen sich auf die rauhen Kanten. Sie sieht Rolf erst, wie er, aus dem Dunkel aufwachsend, vor ihr steht.

»Warum tanzest du nicht?«, fragt er.

Sie hebt die Hand zur Stirne, zieht das rote Kopftuch tiefer herab und wendet ihr Gesicht weg.

Er legt seine Hand auf ihren Arm, der leise zuckt. »Laß mich«, bittet sie.

»Weil Erling dich vergaß?«, lacht Rolf. »Wer ist sie, die Fremde?«

»Ich kenne sie nicht«, antwortet Bodil hart.

»Sie kommt, alle machen ihr Platz, sie ergreift Erling bei der Hand, er läßt mich fahren. Meinetwegen, – er soll nur nicht glauben, ich weine um ihn. Der Schuft.«

Rolf sieht ihre starken Zähne, ihre buschigen Brauen, das krause Haar, das unter dem 108 Kopftuch hervorquillt. Aber ihre Augen blitzen feucht und ihr Arm zittert. Er schiebt seine Hand über ihren feuchtkühlen Nacken empor, löst den Knoten ihres Kopftuchs, streift es von den Haaren.

»Was tust du?«, schreit sie erschrocken auf. »Erling hat es mir verboten –.«

»Erling?«, höhnt er. »Mußt du ihm gehorchen?« Ihre Hände, nach seiner Beute rasch ausgestreckt, sinken schwer herab. Sie neigt den Kopf. »Du – du treibst doch nur Spaß mit mir«, flüstert sie. »Allen dient man nur zum Spässemachen. Alle seid ihr so.«

Rolf lacht und will reden. Ueber ihnen am Hang knirscht der sandige Pfad unter eilenden Schritten. Dagnys weiße Gestalt steht im Gebüsch. Bodil ist im Dunkel versunken. »Dagny, Dagny!«, ruft Rolf. »Wo kommst du her?«

Sie fährt zurück, ihr Lauf stockt, sie verbirgt ihre Hände auf dem Rücken. »Ich komme«, sagt sie verwirrt und hastig. »Ich war nur geschwinde oben, – oben bei dir. Ich habe dir etwas in dein Zimmer gestellt, ein paar Blumen.«

109 Rolf stopft das rote Kopftuch in seine Rocktasche. »Ich suchte dich überall«, sagt er vorwurfsvoll.

Dagny steigt herab. »Jetzt bin ich da«, jubelt sie. »Komm, zum Feuer.«

Sie legt ihren linken Arm um seinen Hals, reißt seinen Körper an sich, daß er taumelt, küßt ihn heftig auf Schläfen, Haar und Nacken. »Sei mir nicht böse«, flüstert sie. »Ich tue, was du willst. Ich liebe dich. Ich tue alles für unsere Liebe.«

Eng aneinandergeschmiegt jagen sie, von ihrem lachenden Ungestüm dahingerissen, den Hang hinab, auf das Feuer zu, das in weiße Glut zusammensinkt. Lauter noch kreischen die Schreie durch die dämmerige Sommernacht, wilder stampft der Reigen.

Beim Feuer hält Dagny jäh in ihrem Lauf inne, ihr rechter Arm fährt in die Flamme, ihre Hand öffnet sich, schleudert etwas von sich, kehrt leer aus der zitternden Hitze zurück.

Sie jubelt: »Nun gehörst du mir. Nun ist keine Schranke mehr da. Nun ist nur das Leben noch da, um uns, in uns, in dir und mir, überall!«

110 Höher schlägt hinter ihr noch einmal die Flamme empor; der rote Schein übersprüht ihre Gestalt, ihr Nacken und Haar schimmert auf. »Du bist schön, Dagny«, sagt Rolf. »Dein Angesicht glüht, es geht ein Licht von ihm aus.«

Sie reckt beide Arme gegen das Feuer: »Dorther kommt das Licht, ich bin nur Spiegel –«, und verstummt plötzlich. Ihre Augen starren in die Flammen, sehen was sich dort krümmt und aufschnellt, vom Luftzug emporgewirbelt wird, – halbverbrannte Blätter, wie blinde, taumelnde Vögel.

Es ist still geworden um sie. War die Stille immer? Dagny wendet jäh den Leib. Die Augen Aller prallen auf ihre lichtüberlohte Gestalt. »Was gafft ihr?«, schreit sie und hebt den Arm.

Rolf ist erschrocken. Er blickt vom einen zum andern. Alle starren auf Dagny, die Burschen, die Mädchen, als trüge sie ein Mal an sich, das plötzlich offenbar geworden. Nur eine, nur die Fremde sieht nicht Dagny, späht nach ihm. Ihre grauen Augen sind klarer als die graue Dämmerstunde der Mittsommernacht. Rolf zuckt zusammen. Dann hebt er den Kopf, 111 begegnet ihrem Blick, bricht ihn. Sie schreitet langsam nach vorne, ihre Arme liegen eng am schmalen Leib und rühren sich nicht beim Gehen, sie kommt auf Rolf zu, ihre Wimpern zucken nicht, sie stockt, zaudert, wendet sich und steht vor Erling. »Komm«, sagt sie mit ihrer Stimme, die hart wie die eines Knaben ist, »komm, ich will nach Hause, begleite mich.« Und Erling folgt ihr aus dem Ring. Grau verschwinden sie zwischen den Felsblöcken, im hohen Gras.

Die Geige tönt. Der Kreis öffnet sich, Bewegung durchflutet ihn wieder. Die Paare gleiten zwischen Rolf und Dagny hindurch. Der alte Jens hockt auf einem Stein; das lange Haar hängt wirr über seinen Hals herab, sein Kinn klemmt die Geige gegen die Brust, sein Arm fuchtelt in der Dämmerung. Rolf verläßt den Tanzplatz.

Am Strand steht Bodil.

»Weinst du?«, fragt Rolf. »Hier ist dein Kopftuch. Da, nimm es. Erling hat es dir geschenkt. Ich wollte es dir nicht stehlen.«

Sie wirft das Tuch über die Haare, knüpft es im Nacken und schweigt. Der See wirft leichte Wellen auf den Sand, scheuert sich leis an den Steinen.

112 »Willst du mit mir tanzen?«, fragt Rolf.

Sie schüttelt den Kopf. Sie wendet sich weg, ihre Schultern heben sich, ihr Nacken ist weiß unter dem dunkeln Tuch und bebt leise; sie schluchzt. Rolf legt seine Hand auf ihre Schulter. Ihr Zittern durchrieselt seinen Arm. Der See klatscht praller an die Steine.

Dagny steht plötzlich neben ihnen.

»Lösest du das Boot?«, fragt sie. »Ja, wir wollen fahren. Mitternacht ist vorbei.«

Rolf beugt sich zur Kette, streift sie über den Stein herauf, wirft sie klirrend ins Boot. Er faßt den Kielrand mit der einen Hand, die andre reicht er Dagny. Sie schreitet vom Stein hinüber ins Boot, sie schwankt, ihr schwebender Fuß sucht einen Halt und tritt auf Rolfs Hand. Ihr Absatz klemmt seine Knöchel gegen die Bordwand, gleitet schlürfend über seine Finger, quetscht sie und zerrt die Haut von ihnen.

»Was war das?« fragt sie erschrocken, während sie sich am andern Ende des Bootes niederkauert. »Trat ich dich? Tat ich dir weh?« Sie breitet ihr weißes Kleid vorsichtig rund um sich aus, schlingt ihre Arme um die Kniee und zieht sich vor der aufsteigenden Feuchtigkeit des Sees eng zusammen.

113 Rolf legt die Ruder aus und will vom Ufer abstoßen. Er zögert noch, wendet sich um: »Kann Bodil mitfahren?«

»Ach, Bodil –«, ruft Dagny. »Willst du das Boot vom Lande schieben? Sei so gut und hilf uns!«

Mit einem Ruck stößt Rolf vom Steine ab. Sie gleiten hinaus. Gurgelnd strudeln die seichten Wellen hinter dem Bug zusammen. Dann dreht Rolf das Boot und rudert mit weiten Schlägen. Die Hand schmerzt; sie umklammert brennend das Holz.

Ueber dem grauen Wasser hängt der Himmel hoch und hell. Das Licht, kaum hinter den Bergen versunken, steigt schon wieder empor. Dunkel ruhen die Wälder. Ihre Kämme stechen spitzzackig in die Dämmerluft, durch die das kühle Geflimmer der frühen Morgenstunde zuckt.

Am flachen Strand beim Försterhaus legt das Boot schaukelnd an. Rolf reckt seine Hand vom schwanken Stege aus; Dagny ergreift sie, mit nachtkühlen Fingern, sehr vorsichtig, sehr zärtlich, und läßt sie nicht mehr fahren, wie sie neben ihm am Lande steht. Sie beugt 114 sich plötzlich tief, ihre Lippen liegen auf den geschundenen Fingern, auf der schmerzenden Haut, ihre feuchten Augen preßt sie gegen Rolfs Knöchel, ihre Stirn schlägt an sein müdes, steifes Gelenk. »Tat ich dir weh, so verzeih«, flüstert sie. Und wieder küßt sie seine Hand.

Rolf schaut über ihren Nacken, über ihr Haar hinweg in die schimmernden Wiesen, die der Morgenwind kämmt. Ein klarer Tag drängt über die Berge empor. Die Birken am Wege heben rauschend ihr Gezweig.

»Du hast mir weh getan, Dagny, und du küssest meine getretene Hand. Die kurze Nacht ist vorbei, die kürzeste im Jahr, und sie hat dein Blut unruhig gemacht. Du bist hart und weich, und du weißt nicht, was du tun sollst. Du sollst mich lieben, Dagny.«

Sie wirft den Kopf empor. »Sagst du dieses?«, ruft sie, leise lachend. »Komm, wir wollen deine Hand waschen, wir wollen nicht voneinander gehen, bis der Tag herauf ist, in meiner Stube wollen wir ihn erwarten, in deinen Augen will ich ihn erwachen sehen. O wüßtest du, wie ich dich liebe! – Nein, laß mich gehen, geh selber heim. Dann wirst du erfahren, wie 115 ich dich liebe. Morgen komme ich zu dir; wirst du allein sein?« Rolf nickt.

»Geh nun, geh«, drängt sie. »Ich werde wach liegen und dich sehen, wie du heimwärts gehst und in dein Haus trittst, in deine Kammer, und ich werde auch dort sein. Du wirst mich finden; ich weiche nicht mehr von dir. Denn jetzt gehörst du mir, ganz.«

Rolf hebt seine Hände zu ihr. »Und du, Dagny?«

Sie weicht zurück. »Geh; erst sollst du wissen, was ich tat. Es soll kein Betrug sein zwischen uns.« Ihre helle Gestalt huscht durch das fahle Licht des Hofes; leise geht die Haustüre hinter ihr zu.

Rolf steigt durch die tauigen Wiesen empor. Sein Fuß ist müde, sein Körper schlaff. Auf der Höhe schreitet er rascher. In seinem Ohr hallen Dagnys Worte. Sein Auge sucht Lysenstöa, sucht das rote Haus, das klein und dunkel im grauen Morgen steht.

Am Hofgatter begegnet ihm Jens. Er hat die Geige unter den Arm geklemmt, ein schwarzes Tuch ist straff und vorsichtig um sie geschlungen. Er schiebt eine Haarsträhne aus der Stirn und lächelt Rolf unsicher zu. »Ein schönes 116 Johannisfeuer«, sagt er. »Dieses Blatt hat der Wind aus der Asche geweht. Ich nahm es mit mir, denn ich kenne Ihre Handschrift. Gott weiß, wohin es noch geflogen wäre. Es ist angesengt, aber noch gut lesbar.« Er streckt einen Papierfetzen von sich.

Rolf ergreift ihn hastig. Der schwarze Rand zerstäubt in Asche unter seinem Griff. Er starrt auf das Blatt.

Dann stößt er die Tür auf, tritt in seine Kammer, durchspäht das webende Zwielicht.

Ein Stuhl steht quer im Gemach. Die Schieblade am Tisch ist aufgerissen, ihr Inhalt durchwühlt. Die Papiere sind nicht mehr da.

Rolfs Hand zerknittert zuckend das geschwärzte Blatt. Er schüttelt langsam den Kopf hin und her.

»Vermissen Sie etwas?«, fragt Jens. Er steht auf der Steinschwelle vor der Türe; seine wirren langen Haare zittern im Morgenwind. Hinter ihm bricht die frühe Sonne flimmernd über dem Walde auf. Ihr Licht rötet das rissige Gebälk; nun liegt es warm und spielend auf der weißen Tischplatte. Rolf schließt geblendet die heißen Augen. 117

 

Der Sonntag verglüht langsam. Sein dunstiges Licht strömt über die Berge hin, der untergehenden Sonne nach. Ueber den Kämmen und waldigen Kollen zittert es noch, schräg durchstoßen von den silbernen Strahlen. Der Fjord liegt schon im Schatten, glatt und dunkel. Auf Lysenstöa ist es still. Das ganze Tal ist still. Nur das Licht wandert langsam, die Hänge hinauf. Leuchtender Dampf steigt aus den Wäldern. Zwischen den Tannen, heller schon, schimmern die Birken. Breite Ackerstreifen sind graugelb; die Schollen liegen hart und trocken zwischen den Stoppeln.

Rolf stützt die Büchse mit dem Kolben aufs Fensterbrett und reibt mit dem Lappen den Lauf blank. Er hebt ihn aus dem Holz, schaut blinzelnd durch seine gerippte Höhlung, legt ihn vorsichtig hin.

So still ist es auf Lysenstöa, daß Rolf behutsam nur mit Hahn und Schloß knackt. Weiß Gott, wo die Menschen sind. Die Knechte und Mägde wohl im Wald, in den Beerenstrichen, im Unterholz. Der Bauer ist weggefahren, die Buben sind am Wasser. Die Stille des Sommersonntags scheucht sie vom Hof, von der Arbeit, 118 vom Zusammensein. Bald kommt der Herbst; er wird sie wieder sammeln; er wird sie aneinander und an die Stuben gewöhnen.

Tabaksrauch tanzt durchs offene Fenster, bläuliche, schwebende Wölklein. Rolf schraubt die Büchse wieder zusammen, Stück um Stück; seine Hand streichelt über Eisen und Holz. Die Büchse riecht nach Pulver und Harz; wo hat sie den Harzgeruch her? Sie riecht nach dem Wald, nach dem Herbst, nach einer gefällten Tanne, auf der sie gelegen haben mag, während Rolf im trockenen Moos rastete.

So still ists auf Lysenstöa, daß Rolf einen Schuh leise gegen die Steinschwelle vor dem Hause stoßen hört. Er lauscht eine Weile. Nichts regt sich mehr. Er glaubt, er habe sich getäuscht. Da klopft es sachte an die Tür. »Ist jemand draußen?«, ruft Rolf.

Behutsam wird der Griff niedergedrückt und die Türe aufgeschoben. Ingrid steht auf der Schwelle.

Er stellt das Gewehr in die Fensternische und faßt Ingrids Hände.

»Kleine, gehst du so allein im Sommerabend? Kommst du zu mir? Erschreckt dich die Stille nicht?«

119 Er hebt sie hoch empor an seine Brust und trägt sie ins Zimmer. »Sprich, Ingrid, sag etwas. Sag, daß du gerne zu mir gekommen bist. Einmal, ein einziges Mal in diesem Sommer!«

Sie schaut ihn groß an. Sie sagt: »Ich soll Sie bitten, zu uns zu kommen, und Vater und Mutter lassen grüßen.«

Sie beugt ihren Kopf weg von seiner Wange, die er auf ihr helles, wirres Haar gelegt hat. Sie stößt leicht ihre Hände gegen seine Brust; er läßt sie zu Boden gleiten. Sie geht wieder auf die offene Türe zu und schaut sich scheu in der Stube um, nach den kleinen Bildern an der rotgestrichenen Wand, nach den Büchern auf dem Brett, nach der Büchse und dem Rucksack, der am Gebälke hängt.

»Bleibe, bleib noch eine Weile bei mir«, bittet er, fast mutlos und ganz leise.

Sie schüttelt den Kopf. »Vater erwartet mich im Wagen drunten auf dem Strandweg«, sagt sie. Sie geht zur Türe hinaus, ohne ihn anzuschauen.

Und wieder ist es ganz still auf Lysenstöa. Die Stube ist weniger hell, die Sonne ist verschwunden. Nur auf den waldigen Höhen leuchtet sie 120 noch in den Föhrenstämmen und im buschigen Geäst.

Langsam räumt Rolf seine Stube auf, nimmt die dunkeln Kleider aus dem Schrank, zieht sich um und verläßt das Haus. Zaudernd steigt er zum Dorf hinunter. Manchmal bleibt er am Wegrand stehen, schaut über die Hänge hinaus, über den See.

»Warum gehe ich nun zu diesem Doktor?«, sagt er laut vor sich hin. »Ich habe nichts mit ihm zu tun. Er langweilt sich, er will Gesellschaft haben, er läßt mich holen. Ich werde bald von hier wegziehen. Nun hat auch Ingrid Angst vor mir. Nun habe ich bald alles verloren.«

Der Doktor tritt ihm schon im Flur entgegen, begrüßt ihn laut und schiebt ihn ins Zimmer. »Es ist mir eine große Freude, wirklich, eine rechte Freude,« wiederholt er einmal ums andere. »Ja, ja doch«, murmelt Rolf.

»Man hat selten Zeit, nicht wahr?«, fährt der Doktor fort, »und weiß auch nicht immer, obs paßt.« Er lacht und schließt dabei die Augen.

Rolf steht unbeweglich am kühlen, weißen Ofen. Er sieht über die Möbel hin, die steif und 121 aufgeräumt den Wänden entlang geordnet sind; die grünen Sessel drehen ihre gepufften Polsterrücken dem Flügel zu, der aus der dunkleren Stubenecke matt hervorglänzt.

»Wo bleibt die kleine Ingrid, die mich einladen kam?«, fragt Rolf.

»Ingrid? Sie geht wohl zu Bett; sie wird natürlich nicht mit uns speisen«, erwidert der Doktor.

»Sie erwarten doch nicht etwa größere Gesellschaft?« Rolf ist schon halb auf dem Wege zur Tür.

Der Doktor hebt die Hand. »Keine Angst. Was glauben Sie auch? Ein intimer Kreis, kein Gedränge. Uebrigens – bloß Dagny. Und da ist sie schon. Sie treffen sie im Gang –.« Rolf rührt sich nicht. Er sieht den Doktor an, der vergnügt im Zimmer auf und abgeht und nun die Tür aufreißt und in den Flur hinausruft: »Welches Vergnügen! Hereinspaziert! Guten Abend, Dagny.«

Er verbeugt sich. Zugleich mit Dagny tritt Frau Inga über die Schwelle. Rolf sieht nur Dagnys lächelnde Augen und ihren halbgeöffneten Mund. Er denkt: Sie kommt ruhig hierher, als wäre nichts geschehen –.

122 Da merkt er, daß er sich auch schon über ihre Hand beugt, die er ergriffen hat, ohne es zu wissen. Er hat keinen Schritt getan, und plötzlich stand sie vor ihm. Erst wie sich ihre kühlen Finger mit leisem Druck um seine zuckenden Knöchel legen, fährt er zusammen. »Schmerzt es noch?«, flüstert sie. Er hebt den Kopf, schaut über sie hinweg.

Kaum grüßt er Frau Inga, die neben Dagny getreten ist. Sofort wendet er sich wieder an diese, zu welcher sich schon der Doktor gestellt hat, und mitten in dessen lärmende Worte: »Wie, Fräulein Dagny, das war nicht immer« – zischt sein Hohn: »Du kamst heute nicht, Dagny? Ich war allein.«

Dagny sieht ihn groß an, in seine bösen Augen, auf seinen verächtlich verzogenen Mund. Der Doktor lacht und fragt: »Hatte sie versprochen?«

Rolf dreht sich rasch zum Doktor hin und sagt, nach kurzem Zögern, halblaut: »Gebeten hatte sie darum.« Dann tritt er ruhig zu Frau Inga, die leise mit der Hand über die gestrickte Tischdecke streicht und zu ihm aufschaut, wie er neben ihr steht.

123 »Warum kamen Sie?«, murmelt Frau Inga. »Sie hätten absagen dürfen. Sie ahnten doch, was mein Mann vorhatte. Ich – konnte es nicht verhindern.«

Rolf sieht sie fragend an. Dann zuckt er die Achseln. »Ich freute mich darauf, mit Ihnen zu sprechen. Ich bin gerne hier. Nur Ingrid fehlt.«

Die Frau senkt ihren Kopf. »Ingrid weint in ihrer Schlafkammer. Ich höre es durch alles Gerede hier. Es ist alles so traurig. Warum tun sich die Menschen solches an?«

Ihr stilles Wort liegt wie eine würgende Faust an seiner Kehle. Er sieht zu Dagny hinüber. Sie plaudert mit dem Doktor, sie lacht; ihr tut nichts weh.

»Sie haben recht, so zu fragen«, sagt Rolf und beißt die Zähne zusammen. »Wir behandeln einander roh. Sie vergessen aber, daß nicht alle darum weinen. Es ist nicht jedes von uns wie Ingrid. Ihr müßte man die Hände unter die Sohlen legen.«

Frau Inga hebt ihren Kopf noch immer nicht. »Ja, die Hände unter die Sohlen legen«, wiederholt er und sagt es nun ganz laut.

124 »Ho, von wem spricht man dort?«, ruft der Doktor und zieht Dagny mit sich an den Tisch. »Lassen Sie hören. Vielleicht interessiert es auch uns, auch Sie, Fräulein Dagny.«

»Darf ich zu Tisch bitten«, sagt Frau Inga und erhebt sich rasch.

Der Doktor stößt die Schiebetüre zur Seite und bietet Dagny den Arm. Er geht breit und geschäftig neben ihr her und lacht von der Schwelle aus über die Achsel nach Rolf zurück. »Kommen Sie«, sagt Frau Inga leise und legt ihre Hand in seinen Arm. Er geleitet sie an ihren Platz. Der kleine runde Tisch ist hell bedeckt. Der Doktor schenkt den Wein.

»Wer weiß, wann wir wieder so gemütlich beisammen sitzen?«, sagt er und hebt sein Glas.

Sie trinken schweigend.

Dagny erzählt von einer Freundin. »Du kennst sie auch, Inga. Sie war mit uns auf der Schule. Ihr Mann ist in den Tropen, irgendwo, und pflanzt Zucker. Sie reist ihm nach.«

»Ich glaube, meine Frau würde mir niemals nachfolgen«, wirft Doktor Holmby ein.

Frau Inga lächelt. Sie sagt leise: »Ich hätte wohl Heimweh.«

125 »Haben Sie nie Fernweh gehabt?«, fragt Rolf.

Dagny neigt den Kopf zur Seite. »Fremde Länder sehen, die Welt sehen, – gerade die Tropen –.«

»Nicht so meine ich«, unterbricht Rolf ihren Seufzer. »Sehen, sehen: was ist das? Einer Wegbiegung nachgehen und eine neue auftauchen fühlen, einem Strand entlang wandern und die Wellen hören, nicht wissen, wo man ist, – fremd sein, ganz fremd. Aber du würdest immer nach einem Ziele reisen, Dagny.«

Man schweigt. Der Doktor gießt neuen Wein in die Gläser. Er hebt prüfend das seine ins Licht empor. Rolf starrt auf den Teller. Wenn er zu reden begänne –, denkt er.

»Auf alles, was zusammengehört!«, sagt Doktor Holmby und nickt Dagny und Rolf zu, trinkt dann mit einem kurzen Blick auf seine Frau und setzt das Glas nieder.

Rolf beeilt sich, den Doktor auf andere Gedanken zu bringen. »Der Wein ist gut«, sagt er.

»Ja, finden sie? Das freut mich.« Und er beginnt ihm zu berichten, wo und wann er ihn gekauft habe.

»Ein guter Tropfen«, wiederholt Rolf.

126 »Nun aber erzählen Sie«, drängt der Doktor. »Es ging so lange, bis wir Sie einmal an unsern Tisch kriegten. Wir mußten damit Vorlieb nehmen, was Dagny uns berichtete. Erzählen Sie. Sie waren doch draußen, in der Welt? Also –«

Rolfs Augen streifen Frau Inga, die still vor sich hinblickt. Ihre Stirne ist gerötet. Ihre Hände schieben leise die Gerichte vom einen zum andern. Wenn ihr Mann spricht, hält sie erschrocken inne; ihre flachen Hände fahren zum schimmernden Haar empor, einen Augenblick, und regen sich dann ruhig weiter.

Rolf schämt sich seiner Gereiztheit. Und mit heiterem Lächeln blickt er den Doktor an. »Gerne, ja, wenn es Ihnen Spaß macht.« Erstaunt hebt Dagny den Kopf. Der Doktor strahlt.

Die Mahlzeit verläuft in festlicher Stimmung. Rolf hat das Wort; er erzählt in einem Zuge, von fremden Städten, von seltsamen Ereignissen, von fernen Menschen und Gebräuchen. Er geht auf lange vergessenen Pfaden durch seine Erinnerung, die bunt und gestaltenreich ist, und die helle Sommernacht steht sonderbar blaß vor den weit offenen Fenstern, durch 127 die der Klang seiner Worte schwebt, durch die der Blick sinnend schweift. Man hört ihm zu, man hat die Gabeln und Messer hingelegt und hebt nur von Zeit zu Zeit das Glas mit dem roten Wein.

Endlich schiebt der Doktor den Stuhl zurück. »Es ist so, wie Dagny erzählte«, sagt er. »Sie können einen bezaubern, ihre Worte halten einen in Bann. Wenn man Sie hört, fühlt man, wie still und verschlafen hier das Leben ist. Wir sind nicht mehr in der Welt.« Er seufzt und steht auf.

Alle erheben sich und gehen ins Nebenzimmer. Der Doktor legt seinen Arm um Rolfs Schultern, während sie hinter den Frauen herschreiten, und sagt: »Sie wissen, lieber Freund, daß Dagny und ich Jugendbekannte sind, von der Dorfschule und früher her. Sie nehmen uns das doch nicht übel?«

»Was zum Teufel soll ich Ihnen denn übelnehmen?« lacht Rolf grimmig.

»Sie sind ein Mann und kennen die Welt«, sagt der Doktor mit ernstem Kopfnicken und starrt vor sich hin. Dann fügt er hastig hinzu: »Und Dagny hat sich immer den Weg in die 128 Welt offen behalten. Schon als Kind hat sie die Eltern geängstigt durch ihr aufrührerisches Wesen, durch ihre Pläne und Drohungen; sie ließ sich von niemandem dreinreden. Ich wurde, weiß Gott, oft von ihr angesteckt; sie hatte etwas Zwingendes, wenn sie loslegte und alles hier so verhockt und verträumt schalt. Nun, ich bin dann doch hier sitzen geblieben. Ihr, ihr stehen die Wege noch offen.«

Eine Weile lang schweigen sie alle. Dagny bläst den Zigarettenrauch aus gespitzten Lippen weit von sich. Ihre Augen mustern lächelnd den Doktor.

Rolf beugt sich plötzlich zu Frau Inga hinab und flüstert: »Mir ist manchmal, wenn die Abende nicht zu leuchten aufhören, als hörte ich, wie Sie spielen. Ich sitze an meinem Fenster und höre Sie. Aber es ist ja nicht möglich. Es liegt ein Wald zwischen Ihrem Haus und meiner Kammer.«

Frau Inga antwortet nicht.

Der Doktor wendet sich lebhaft wieder zu Dagny. »Ach, richtig, – spielen Sie uns etwas vor! Wie lange noch, und wir können Sie nicht mehr hören. Lassen Sie sich von uns allen herzlich 129 bitten, Fräulein Dagny. Wozu steht denn das Flügelmöbel da?« Er lacht und öffnet den dunkeln Deckel.

Dagny zaudert. Rolf blickt sie gespannt an. Sie wird es nicht tun, – denkt er; sie soll es nicht tun.

Dagny wirft den Kopf plötzlich in den Nacken, steht auf und fragt den Doktor lächelnd: »Erinnern Sie sich jenes Walzers, Doktor, den ich einmal gelernt hatte und der Sie so begeisterte? Es war kurz vor Ihrer Verlobung mit Inga.« Sie tippt mit der rechten Hand auf den Tasten, suchend und unsicher, und spielt einige Töne.

»Ja, ja«, jubelt der Doktor und klatscht in die Hände. »Das ist er ja. Wie könnte ich ihn je vergessen? Spielen Sie! Wir bitten Sie alle.«

Dagny setzt sich und spielt den Walzer. Der Doktor steht neben ihr; er nickt im Takt mit dem Kopf, dann bewegt er auch die Hand, macht einige Schritte vorwärts und zurück, dreht sich auf dem Absatz herum.

»Danke«, ruft er, wie Dagny sich zurücklehnt und die letzten Töne verklingen läßt. »Ich wußte gar nicht, daß unser Flügel so hell und 130 fröhlich tönen kann«, sagt er und wendet sich zu seiner Frau. Sie nickt ihm zu. Rolf erhebt sich rasch von seinem Stuhl und tritt zum Fenster.

Nach einer Weile hört er Dagnys Stimme: »Ich gehe jetzt. Es ist spät geworden. Laßt euch nicht stören.«

Rolf wendet sich langsam um. »Ich werde dich begleiten.«

»Danke«, sagt sie leise und zögernd. »Es ist ein großer Umweg für dich. Danke, – ja.«

Der Doktor will sie zurückhalten. »Was soll nun das heißen? Jetzt, wo es am gemütlichsten war –.« Dann folgt er ihnen auf den Flur hinaus, hilft Dagny in den Mantel und dankt beiden, während er ihnen die Hände schüttelt. »Wir werden uns bald wieder sehen. Sie kommen wieder, nicht wahr? Unser Haus steht Ihnen offen. Der Flügel fliegt nicht weg, und der Wein hat keine Beine.« Schallend füllt sein Lachen das Haus.

Rolf neigt sich über Frau Ingas Hand. »Grüßen Sie die Kleine von mir, wenn sie morgen erwacht,« bittet er.

»Die Nacht ist schön«, ruft ihnen der Doktor 131 nach, während sie in die laue, bläuliche Dämmerung hinausschreiten.

Unten auf dem staubigen Wege gehen sie still dahin. Zu beiden Seiten der Straße dehnt sich die Welt, groß, im Kuppelbogen des hohen Himmels zusammengeschlossen. Zwischen ihnen, zwischen ihren Fußstapfen liegt der Staub der Straße. Ihre Hände berühren sich nicht, ihre Schultern streifen sich nicht, ihre Augen suchen sich nicht mehr.

»Du hast mich verachtet«, sagt Dagny.

»Du wolltest mich reizen«, antwortet Rolf. Und wieder schweigen sie.

Ueber die Wiesen, ferneher, klingen Schreie durch die Nacht. Rolf lauscht hinüber, bleibt einen Schritt zurück.

»Ich kann allein gehen. Ich fürchte mich nicht«, sagt Dagny. Ihre Stimme ist fast erstickt.

Rolf sieht ihre Gestalt, den geneigten Kopf, die mutlos hängenden Arme. »Warum sollte ich dich nicht nach Hause begleiten?«

Sie schreitet rascher.

Unter den Bäumen der Allee bleibt er stehen. Sie greift mit beiden Händen nach ihm. Ihre Hände fassen seine Arme, seine Schultern, tasten 132 nach seinem Kopf. »Du mußt noch nicht gehen«, flüstert sie. »Du darfst noch nicht gehen. Soll ich dich um Verzeihung bitten?«

Er fragt, ohne sich zu rühren: »Wofür?«

Sie schlägt ihre Hände vor das Gesicht, weicht zurück, läuft über den Hofplatz gegen das schimmernde Haus.

Langsam, mit kreisenden Flammenrädern vor den heißen Augen, mit dumpfen Schlägen wie von einem brandenden Meer in den Ohren, geht Rolf den Weg zurück. Er hält sich taumelnd an einem Baume, starrt auf den Fjord hinaus. Er schließt die Augen, öffnet sie, wankt weiter. Und langsam erkennt er wieder die schwarzen Kämme der Waldhügel vor dem blassen Himmel, den Strandweg, die Wiesenhänge.

Langsam fühlt sein Herz, daß Dagny ihm fremd wird.


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