Hugo Marti
Ein Jahresring
Hugo Marti

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55 Frühling

Manchmal, in diesen Tagen, reißt sich der Himmel auf wie ein Vorhang, und ein blaues Licht strömt verschwenderisch über die grauen Hügel, über den dunkeln Fjord. Unten am Wasser sind die buckligen Hänge weich und stockig grün, der Wald ernst und verschlossen wie immer, die Wege feucht. Aber weiter oben liegen noch große weiße Flecken in den Mulden; sie werden täglich kleiner, schrumpfen zusammen, bröckeln ab wie die Kruste über einer verharschten Wunde.

Das blaue Licht wogt durch das Tal, als ob es die Bergdämme einreißen wollte. Die Erde taut auf; die Schmelzwasser pflügen in ihr, lockern sie mit hundert silbernen Fingern an jedem Hang und Hügel. Die Stunden weilen länger und weichen nur zögernd dem Abend.

Am offenen Fenster in seiner Stube steht Rolf. Er schaut ins Land hinaus, aber er sieht nichts; seine Augen sind wie blind. Jetzt hebt er langsam die rechte Hand, spreizt die Finger in der Sonne, schließt die Faust, läßt sie dumpf aufs Fensterbrett fallen. Dort klopft er mit dem Knöchel, regelmäßig, lange, sinnlos. Sein halboffener Mund flüstert.

57 Dann geht er zum Tisch, beide Hände offen vor sich tragend, als wäre ihm ein zerbrechliches Gefäß darein gelegt. Dann schreibt er, hastig, stockend, den Oberkörper tief zu den weißen Blättern niedergebeugt. Und plötzlich reckt er die Arme weit, daß die Gelenke knacken, stößt die Fäuste von sich, reißt sie zur Brust zurück, atmet tief und geht in langen Schritten durch die Stube. Die Glieder tun weh, der Leib ist müde; die Augen leuchten lachend auf.

Sachte klopft jemand an die Türe. Rolf hört es nicht. Die Türe geht einen Spalt weit auf und knarrt. Rolf wendet sich um, sein Gesicht wird finster, die Augen kneifen sich zusammen, der Mund wird hart.

Der Knabe auf der Schwelle hebt wortlos sein aufgeschlagenes Schulheft in die Höhe; seine Augen fragen zag.

»Komm herein«, sagt Rolf und wendet das Blatt auf dem Tisch um. »Was willst du?«

Der Knabe legt das Heft offen vor ihn hin. »Diese Formel –«. Mit dem Finger zeigt er auf eine Zahlenreihe.

Rolf blickt auf den braunen Knabenfinger, auf die runden Gelenke, auf die Risse und 58 Kratznarben, die ihn durchschrammen, auf den Sandsaum unter dem Nagel. Dann auf die Zahlen. »Was willst du?«, fragte er nochmals.

»Diese Formel verstehe ich nicht.« Der Knabe schüttelt den Kopf. »Schon eine halbe Stunde sitze ich darüber.«

»Morgen erkläre ich sie dir«, sagt Rolf rasch. Dann runzelt er die Stirne. »Ich begreife nicht –, habe ich sie dir nicht heute Vormittag bewiesen? Du vergissest alles in der letzten Zeit.«

Unbeweglich steht der Knabe; er blickt aus großen Augen durchs Fenster hinaus. In seinen kurzen, borstigen Haaren liegt Sonnenschein und macht sie hell.

»Morgen also«, sagt Rolf, legt die Hand auf seine Schulter und dreht ihn mit leisem Drängen zur Türe hin. »Geh jetzt, geh hinaus. Was willst du heute auch mit einer Formel anfangen!«

Der Knabe schaut erstaunt zu Rolf hinauf, begreift, rollt sein Heft zusammen und stürmt zur Türe hinaus. Nach einer Weile, da Rolf über den Hofplatz geht, sieht er ihn im Halbdunkel des Pferdestalls und hört ihn gutmütig und 59 liebevoll mit den Tieren reden, denen er die Krippen füllt.

Rolf schlendert ziellos zuerst von der einen Hoftüre zur andern. Er steht am Gartengitter, beugt sich über die kahlen Sträucher, fährt mit der Hand über die braunen Gerten, sucht nach Knospen. Er sieht alle Fenster im weißen Wohnhaus offen stehen; die Sonne blitzt in die Scheiben und läßt drinnen in den Räumen die Spiegel in den hohen Rahmen und die Kerzenleuchter auf dem braunen Spieltisch funkeln. Vor dem Stall schimmern die Milchkessel, die Marit am Brunnen geräuschvoll fegt.

Bei den Obstbäumen, zwischen denen hindurch der Weg hangabwärts läuft, dem Nachbarhofe zu, bleibt Rolf wieder stehen. Er sieht zur Sonne hinauf, mißt mit dem Blick den handbreiten Abstand zwischen ihr und dem Berg, zuckt die Achseln und tut einige rasche Schritte vorwärts. Beim dritten Baum stockt er, schaut hinunter zum See, der gleißend wie flüssiges Erz in der Bucht liegt.

Er lächelt und sagt halblaut vor sich hin: »Ich kann auch hinuntersteigen, dem Ufer entlang gehen. Was brauchen alle zu sehen, daß ich 60 zum Försterhof gehe, zu Dagny?« Schon läuft er in langen Sätzen über die Wiese hinab, dann am Waldrand der Straße zu.

Ueber der letzten steilen Böschung stehen die hohen Föhren. Im dünnen Gras, den Rücken am rotbraunen Stamm, kauert ein kleines Mädchen, hält in den Händen einen blinkenden Stein und sieht aus großen Augen auf den eilenden Mann, unter dessen Schuhen das Schuttgeröll wegstiebt.

Rolf erschrickt ordentlich, wie er den blau und flachshellen Fleck im moosigen Fels unter den Föhren erblickt. Er bleibt jäh stehen und sieht auf das Mädchen hernieder, das sich nicht rührt.

»Du hast doch wohl keine Furcht vor mir?«, fragt er und lacht.

Das Kind schüttelt den Kopf und streicht mit der Hand die Haare aus der Stirn.

»Was tust du hier? Wartest du auf jemanden? Auf mich?«, fragt er wieder. Er streicht leise den Scheitel des Kinderkopfes, der sonnenwarm und ganz weich unter seinen Fingern liegt.

»Nein«, sagt das Mädchen. Es erhebt sich vom Boden, steht nun vor ihm und ist höher 61 gewachsen, als er gedacht hat. Es legt die Hände auf den Rücken, den Kopf leicht auf die Schulter, und besieht ihn von oben bis unten. Sein Gesicht ist ganz ernst, bleicher als die Gesichter der Bauernkinder sind.

»Du bist also der Lehrer Rolf. So siehst du aus«, sagt das Kind. »Gut, daß ich heute hierher gekommen bin.«

»Woher kennst du mich?«

»Du kommst von Lysenstöa herunter. Du gehst wohl zu Dagny?«

Rolf schweigt. Er blickt auf die Straße hinab, die breit und hell durchs lichte Gehölz zieht, in weitem Bogen dem Ufer des Sees entlang. Den Försterhof sieht man nicht, er liegt in der innersten Bucht.

Da fragt Rolf: »Kennst du auch Dagny?«

Das Kind nickt. »Sie kommt doch oft zu uns. Sie spricht mit Mutter und Vater von dir. Gestern Abend, als Mutter gespielt hatte, sagte sie zum Vater, er solle dich einmal auffordern, zu uns zu kommen. Vater sagte: nein.«

»Er hat recht.« Rolfs Augen lachen, wie sie den betrübten Mund des Kindes sehen. Doch 62 etwas ernster und nachdenklich fragt er nach einer Weile: »Wer ist dein Vater?«

»Der Arzt, – weißt du das nicht?«

»Ja richtig, der Arzt.« Rolf sinnt einen Augenblick nach. Ihm ist, als höre er Dagnys Stimme; sie sagt: Du willst dich nie mit mir bei meinen Bekannten sehen lassen; du bleibst den Leuten, die mich kennen, so fremd. Er lauscht der Stimme; er hört den Vorwurf, hört die Wahrheit darin, spürt auch die Lüge.

Der Kindermund plaudert weiter: »Der Vater fuhr zu einem Kranken. Ich soll hier auf ihn warten, bis er zurückkommt. Man hört seinen Wagen auf der Straße, wenn er noch weit weg ist. Er rumpelt so sehr, und es ist so still.«

Rolfs Gedanken kehren zurück. Hier steht das kleine Mädchen; es legt plötzlich seine Hand in die des Mannes; auf seinem hellen Haar liegt Sonne, die durch das Gezweig der Tannen sickert.

»Inga, kleine Inga«, flüstert er.

Erstaunt sieht das Kind zu ihm empor; seine Hand zuckt, aber Rolf hält sie fest.

»Ich heiße nicht Inga«, lacht das Kind. »Warum nennst du mich so? Inga heißt meine Mutter, ich bin Ingrid.«

63 »Siehst du!«, sagt Rolf. »Wie konnte ich es vergessen! Natürlich heißt deine Mutter Inga.«

»Kennst du sie?« Des Kindes Augen sind streng, grau wie der See vor dem Einnachten.

Rolf nickt. »Spielt sie nicht oft auf dem schönen schwarzen Flügel, wenn es Abend wird und wenn man die Stiche auf der Handarbeit nicht mehr sehen kann? Bleibt sie nicht manchmal einen Tag lang in ihrem Bett liegen und läßt die Vorhänge vor den Fenstern, damit es dunkel sei im Zimmer, und draußen scheint die Sonne, schöner als je? Und Ingrid versteht es nicht und ist traurig?«

Die Augen des Kindes sind groß; ihre graue Farbe kann plötzlich dunkel werden. Ihre Wangen können plötzlich rot werden. Es kann Freude sein, oder Schmerz, oder etwas anderes.

Sie gehen ein paar Schritte tiefer ins Gehölz hinein. Noch steht die Sonne über den Hügeln, aber die Scharten unter den Tannen sind breit geworden. Die Stämme leuchten warm.

Rolf setzt sich ins Moos; es ist trocken und voll von abgefallenen, dürren Nadeln. »Kennst du das Märchen von Ilselil?« fragt er.

Ingrid zieht die weißen Brauen über ihren 64 Augen in die Stirne hinauf. »Von Ilselil? Sie lebt im Walde, bei den Jägern und Holzhackern, die sich verirrten und nie mehr ins Tal zurückkehren.«

»Nein, nicht dieses. Komm und setz dich; so will ich dir erzählen, was ich von Ilselil weiß.«

Ingrid wirft sich neben ihm in das Moos. Ihren Kopf legt sie auf sein Knie, so daß sie durch die Aeste hinauf in den blassen Himmel sehen kann. Mit den Fingern knickt sie die dürren gelben Nadeln, die sie spielend ertastet.

»Ilselil hat von ihrem Vater einen großen Mohren geschenkt bekommen. Wenn sie am frühen Morgen im Garten und Walde spazieren geht, schickt sie ihn zehn Schritte vor sich her durch alle Wege und Pfade, auf denen sie wandern will. Schwarz und glänzend geht er durch den grünen Wald und an den Rosenstöcken vorbei, und mit seinem krausen Haar fängt er alle die Spinnwebfäden auf, welche die Nacht von Baum zu Baum, von Busch zu Busch gesponnen hat. Ilselil nennt ihn ihren Spinnwebfänger, ihren Gartenpudel –«.

»Oh!«, lacht Ingrid und setzt sich aufrecht hin. »Das muß ich Mutter erzählen, ja, das muß 65 sie auch hören. Sie kann es nicht ausstehen, weißt du, wenn ihr Spinngewebe oder Raupen in die Haare oder gar ins Gesicht geraten. Und abends, wenn Vater am Tisch sitzt und liest, und die Lampe brennt und die Fenster stehen offen, dann surren die Nachtfalter herein und torkeln um die Flamme, aber Mutter setzt sich in die dunkelste Ecke des Zimmers und zieht auch die Füße auf den Lehnstuhl herauf, denn es laufen die Mäuse umher, sagt sie. Vater lacht sie aus. Wenn sie tagelang im halbdunkeln Zimmer liegt, brummt Vater, das sei eine Schande für das Doktorhaus; aber Mutter antwortet nichts, so sehr tut ihr der Kopf weh. Dann geht sie auch wochenlang nicht zum Flügel. Sie fährt nie mit Vater zu den Kranken; sie mag es nicht.«

Das Kind hält plötzlich inne. Es atmet tief auf. Seine Augen werden scharf und spähen nach der Straße hinunter. Die Sonne ist hinter den Bergen verschwunden.

»Du kennst also das Märchen, das ich dir erzählen wollte –«, sagt Rolf.

»Das Märchen? Nein. Aber jetzt ist es schon zu spät«, antwortet Ingrid bestimmt. »Ich 66 erzählte dir von meiner Mutter, weil du sie nie gesehen hast.«

»Ich danke dir«, sagt Rolf leise und steht auf. Sie gehen zum Weg hinunter. Sie sprechen nicht mehr miteinander.

Der Weg ist weiß in der dämmerigen Landschaft. Er leuchtet still und weithin. Er teilt alles entzwei: in Wasser und Land, in Fjord und Hügel. Er teilt auch den Abend, der langsam aus den Wellen und Wiesen steigt.

Sie wandern Hand in Hand auf der Landstraße dahin. Sie bleiben stehen, wie sie den Hufschlag hinter sich und den rollenden Wagen hören. Ingrid hebt den Arm und winkt. Der Doktor zügelt das Pferd.

Er zieht höflich den Hut. Rolf nickt ihm zu.

»Meine Tochter spaziert in Herrenbegleitung, – was sehe ich?« Er lächelt, etwas unsicher.

Rolf tritt einen Schritt vor, näher zum offenen Wagen. »Kein Grund zur Besorgnis«, scherzt er. »Wir erzählten einander Geschichten.«

Der Mann im Karriol scheint auf irgend etwas zu warten, er hört dem andern mit vorübergebeugtem Leibe zu, aber seine Augen blicken zur Seite, blicken auf das Mädchen, das seine 67 Hand nicht aus der festen, warmen Faust des Begleiters gelöst hat. Da hebt er nochmals den Hut. »Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle: Doktor Holmby.«

Rolf nickt wieder: »Ich weiß, ich weiß, Sie sind Ingas Vater. Wir warteten auf Sie.«

»Ingrid heißt sie«, sagt der Mann kurz und bündig, lächelt aber sofort wieder und wird sehr freundlich. »Und Sie sind also der Lehrer auf Lysenstöa. Freut mich, freut mich. Die Gelegenheit hat es nie ergeben, daß wir uns kennenlernten. Daß aber mein Kind Sie belästigte, wußte ich nicht.«

»Belästigten wir uns?«, lacht Rolf laut und hebt Ingrid auf den Wagen empor.

»Machen Sie uns die Freude«, sagte der Doktor, »und besuchen Sie uns doch bald einmal zu Hause. Sie sind willkommen.« Und zum drittenmal zieht er den Hut, dann klatscht er mit den Zügeln dem Gaul auf den Rücken. Das Karriol rollt langsam davon.

Im Knarren der Räder hört Rolf, wie Ingrid eifrig zu berichten beginnt: »Er hat mir von Ilselil erzählt, die es gerade wie Mutter nicht leiden konnte –«. Der Doktor ruft laut: »Hoi, 68 Brauner, heim!« Der Wagen holpert rascher dahin.

Es ist nun ganz still auf der Straße.

Rolf wandert am Wasser, das in sanften Schlägen gegen die Böschung drängt. Der Abend erlischt.

Eine Strecke weit kehrt sich der Weg vom Ufer ab und geht um einen kleinen Erdbuckel herum. Rolfs Schritte werden länger.

»Ich muß Dagny noch heute sehen. Ich will ihr erzählen von meiner kleinen Inga. Auch Dagny hat lichtes Haar, aber nicht so hell, so makellos hell wie die Kleine; man glaubt, in einen Sommermorgen vor Sonnenaufgang zu schauen. Dagnys Haar ist abendlich; viel Glut ist dadurch gegangen und hat es ein wenig gedunkelt. Es ist verarbeitetes Gold und viel schwerer. Ich möchte es einmal mit meinen Händen heben. Ich möchte wissen, ob ich Dagny liebe.«

Hier ist, von der Landstraße leicht ansteigend, der Weg zum Försterhof. Zwischen den Baumreihen herab schimmert das weiße Haus durch die Dämmerung.

Zögernd geht Rolf unter den kahlen Birken. 69 Am Eingang zum Hofplatz bleibt er stehen. Die roten Ställe und die Gesindehäuser sind geschlossen; hinter den weißen Vorhängen im Herrenhaus brennt eine Lampe und erleuchtet gelblich ein einziges Fenster.

Rolf setzt den Fuß auf die Holztreppe; er hält sich mit einer Hand an der schlanken Säule, im blattlosen Geranke des wilden Weins, das dürr aufraschelt. Im stillen Hause wird ein Knurren laut, ein kurzes Gebell; eine Hundepfote kratzt innen an der Türe.

»Finn«, ruft Rolf mit gedämpfter Stimme. »Kennst du mich nicht mehr, Finn?«

Der Hund schweigt. Alles ist wieder still. Nach einer Weile geht irgendwo im Haus eine Tür auf.

In drei Sätzen ist Rolf bei der dunkeln Wand an der Hofseite. Er lauscht. Nichts regt sich. Matt brennt das gelbe Licht im Fenster.

Noch einmal sieht er es, wie er sich unter den Birken, auf der Landstraße schon, umwendet. Es ist Nacht geworden. In leisem Winde kräuselt sich das dunkle Wasser. Drüben steht schwarz und steil der Wald vor dem fernen Frühlingshimmel. 70

 

Der Frühling – er ist das Wunder dieses kargen Landes. Er zögert und zaudert so lange, bis die Menschen müde werden, nach ihm auszublicken. Sie schauen auf die grauen Bäume, auf die farblosen Wiesen, auf die gefrorene Ackerscholle, und ihr Auge wird mißmutig. Es will die vier Wände der Stube nicht mehr verlassen. Noch liegen die Birkenscheite hinter dem schwarzen Ofen. Da, plötzlich, steht er draußen. Mit einem Male ist alles anders geworden. An einem Tage, einem einzigen Tage, ist der Frühling in die Luft gekommen, in die Erde, die weich und glänzend wird, in die Bäume, die sich dehnen und recken, in den heftiger brausenden Bach, in den sausenden, summenden, singenden Wald. Das Auge sieht es, glaubt es nicht, wagt sich tastend an Knospen, Sprossen und Schoße, glaubt und jubelt. Der Frühling ist überströmender Reichtum, jäh aufschnellende Kraft, liebliche Zartheit in diesen dunklen Tälern, an diesen dunkeln Wassern; er ist das scheue Wunder dieses kargen Landes.

Rolf legt seinen Nacken an die weiche Rinde der Birke. Sie ist kühl, vom nahenden Abend feucht; sie tut ihm wohl. »Wie Dagnys Hände, 71 die immer kühl sind. Wie Dagnys Hände, weich und doch sicher, zart und doch so stark.«

Er schreitet hastig durch den Wald hinauf. Er stampft durch die Sträucher und Dornenranken, prescht sich durch das knackende Unterholz, springt von einer Wurzel zur andern, wenn sie knorrig und krumm aus Boden und Fels aufragen wie die Stufen einer zerfallenen Treppe. Im Hämmern des Herzblutes singen seine Gedanken: »Oben, da oben ist eine kleine Wiese, die muß jetzt voller Sterne sein, weiß über und über, und nicht weit davon schwingt sich die Bergstraße durch den Wald: dort geht nun Dagny.«

Unter den letzten, hohen Bäumen steht er atemlos still. Eine kleine Lichtung tut sich auf, weitet sich und hält in ihren dunkeln Mauern den spärlichen Abendschein wie mit zitternden Händen fest. Zwischen den Baumstämmen schimmert die Straße herüber.

»Dagny«, ruft er halblaut, und dann stärker nochmals: »Dagny!«

Durch die Stille kommt das Geknirsche hastiger Schritte, dann knacken ein paar dürre Aeste am Boden, rascheln Blätter, wippen Zweige, 72 und unter den Bäumen hervor tritt langsam Dagny auf das ärmliche Gras der Lichtung. Ihre Füße stehen in den blassen Sternen, ihre Stirne leuchtet im abendlich verlorenen Schein. Rolf starrt ihr entgegen, rührt sich nicht. Da hebt sie lachend ihre Lippe ein klein wenig über die Zähne empor, legt den Kopf in den Nacken zurück, schreitet auf Rolf zu.

»Bist du nicht toll, daß du meinen Namen in den Wald hinaus schreist? O Rolf, Kind, Liebster!«

Er faßt ihre Hand. »Ich wußte, daß du mir entgegenschallen würdest«, lacht er.

»Und kanntest mich doch nicht, wie ich plötzlich zwischen den Bäumen stand?«

»Mir war angst, du zerflößest im Nebel, wenn ich dich berühren würde. Erst als du lachtest, traute ich meinen Sinnen.«

»Sie sind sehr unzuverlässig.«

»Sagst du dies, nachdem ich deine Gegenwart so weithin kannte? Dort unten stand ich – und wußte plötzlich, du gehest auf der Bergstraße. So sicher sind meine Sinne.«

»Glaubst du, Rolf? Ich hatte einen Gang nach Bjonlie hinaus zu tun; ich ging unten am 73 Wasser und sah dich oben am Hang, du kamst eben aus dem Hof. So nahm ich beim Heimgehen den Bergweg. Ich bin in diesen Wäldern aufgewachsen, Rolf, und kenne das Wild und weiß, wo es wechselt.«

»So kamst du meinetwegen, Dagny?« Er legt seinen Arm um ihre Schultern. »Gott segne dich dafür, denn du kommst zu guter Stunde.«

Dagny löst sich aus seinem Arm und geht wieder über die Lichtung zurück, durch die blassen Sterne, zwischen den grauen Steinen dahin. Der Abendschein hat sich leise emporgehoben und schwebt um die Wipfel der Tannen. Der nackte Stamm einer Föhre leuchtet gedämpft.

»Dagny, wie du schreitest, sicher und still, schlank und geschmeidig wie ein Reh des Waldes. Man müßte dich singen, dich spielen können auf der höchsten Saite einer Geige. Besser wäre es noch, dich in der Sehne eines alten Bogens, wie ihn die Helden dieses Landes besaßen, klingen zu lassen: straff, mit einem leisen Jubel und Siegruf. Oder dich aufsteigen sehen in der Flamme der Johannisnacht, an der wir gesessen haben. Du bist schön, Dagny, denn alles 74 an dir tönt in einem Lied, das nur ich höre. Alles klingt für mich, wenn du so schreitest: die Blumen dieses ersten Tages, die Stämme dieses alten Waldes, der Abend und die Luft des Abends. Und meinetwegen kamst du, sag?«

Sie gehen auf der Straße, die sich vor ihnen zwischen den Bäumen verliert.

»Ich habe dich lange nicht mehr gesehen«, sagt Dagny und blickt vor sich hin. »Oft ist mir, als wohnten wir weit voneinander entfernt, mit Bergen und Meeren zwischen uns. Einmal – wann war es? – sahen wir uns jeden Tag. Da war der Weg so kurz von deiner Stube zu meinem stillen Haus. Jetzt – muß ich dich im Walde stellen, irgendwo zwischen Fjord und Straße, wenn ich dich haben will.«

Rolf sagt leise: »Ich arbeite, Dagny. Ich kann wieder arbeiten. Ist das nicht schön?«

Sie sieht ihn rasch von der Seite her an; die Brauen über ihren Augen wölben sich hoch in die Stirne hinauf. Dann blickt sie wieder geradeaus und sagt einfach, nüchtern und kühl: »Erzähle mir von deiner Arbeit. Ich will wissen, was dich ferne von mir hält.«

Rolf geht etwas langsamer. Er schweigt.

75 »Darf ich es noch immer nicht erfahren?«, fragt Dagny. »Laß es. Ich bettle nicht. Ich habe es einmal getan. Ich schäme mich.«

Rolf greift rasch nach ihrem Arm. »Sprich nicht davon. Ich habe jenen Abend vergessen; ich will nicht mehr an ihn denken. Es war Winter; wir waren einsam, und hart waren wir gegeneinander. Jetzt ist Frühling. Dagny, ich glaube, ich liebe dich.«

Er schaut auf sie, die ohne zu antworten neben ihm hergeht. Er sieht ihr leicht zurückgeworfenes Haupt, ihren schmalen Nacken mit dem krausen Haar, ihre Stirn und ihren schimmernden Scheitel.

»Wenn ich dir alles sagen wollte, was mich bewegt, – glaubst du, wir wären dann glücklicher? Ist das die Liebe, daß eins dem andern die letzten Türen des Herzens aufschließt?«

Sie schweigt.

Er schüttelt langsam den Kopf. »Du mußt es mir glauben: ich arbeite. Schau um dich. Es sind Farben da, und Töne, Worte in der Luft, Gebärden im Schatten. Und jenseits von alledem bist du. In der Wirklichkeit bist du. O ja, dich liebe ich.«

76 Nach einer Weile zucken leis ihre Mundwinkel. »Auch ich«, sagt sie, »auch ich arbeite. Ich schreibe eine lange Eingabe der Försterei an die Regierung; der Wald beim Vaajasee drüben muß besser geschont werden.«

»Dagny!«, ruft er, fährt auf und bleibt stehen. »Du spottest über mich.«

Sie wendet langsam den Kopf und lacht dann über seine entrüsteten Augen. »Ich aber hätte meine Papiere weggelegt, wenn du zu mir gekommen wärest; ich hätte sie weggelegt und nicht mehr an den schonungsbedürftigen Wald gedacht, wenn du mich besucht hättest.«

Er lächelt. »Ich weiß, Dagny, ich weiß. Du bist gut. Ich möchte dir etwas Liebes sagen.«

Dagny fährt ruhig fort: »So hätte ich getan. Du aber, wenn du genug von deinen Papieren hast, gehst in den Wald, mit einem Mädchen spazieren, das ins Bett gehört, und erzählst ihm läppische Geschichten.«

Er schweigt und muß sich besinnen. Sie sieht ihn streng aus ihren blanken Augen an und preßt den Mund zusammen. Sie nimmt langsam die Hände aus den Taschen ihrer Jacke. 77 Unmerklich schiebt sie den Kopf noch weiter in den Nacken zurück.

»Aber Dagny«, sagt er leise und zaudernd. »Weißt du das auch? Weißt du alles? Ingrid? Bist du auch böse auf das Kind?«

Laut lacht sie auf, ihre Kehle zittert, ihr Mund schleudert das Lachen wie einen goldenen Ball in die Abenddämmerung hinaus. Sie wirft ihre Arme um Rolfs Schultern, greift mit ihren Fingern in seine Haare, zerrt seinen Kopf herab und küßt ihn auf die Augen. Dann läßt sie ihn fahren.

»Ja, ich war böse auf das Kind. Denn es konnte nicht schweigen und erzählte mir alles am Morgen. Und dann fragte es mich: Kam er nachher zu dir?«

Rolf sieht sie an: »Was sagtest du? Ich kam zu dir?«

»Ich sagte: ja, er kam zu mir.«

Rolf legt wieder seinen Arm um ihre schmalen Schultern; sie läßt es geschehen. Er sagt: »Ich kam auf den Hof; es war spät, ihr schlieft schon alle. Da ging ich wieder.«

»Schliefen wir?«, lacht Dagny. »Schlief Finn, schlief ich? War die Türe geschlossen?«

78 »Was weiß ich? Der Hund wachte gut, er bellte sogar, bevor er mich kannte.«

»Das sollte er; darum hatte ich ihn gebeten, als ich ihn draußen im Flur ließ. Ich wäre davon erwacht, auch wenn ich tief über meiner Arbeit eingeschlafen gewesen wäre.«

»Dagny!«

»Ja. Und schwieg er nicht, als er deine Stimme erkannte? Er liebt dich ja mehr als mich. Traurig stand er noch lange bei der Tür, als wir dich beide unter den Birken verschwinden sahen.«

»Du blicktest mir nach? Und riefst mich nicht zurück?«

»Nein, ich rief dich nicht zurück.« Ihre Stimme ist plötzlich dunkel geworden. »Ich rief nur Finn zurück, als er dir nachlaufen wollte. Dann schloß ich die Tür und arbeitete weiter.«

Rolf beugt langsam den Kopf. Er spürt neben sich ihren Arm, ihre Schulter, hört den ruhigen Gang ihrer Füße auf dem knirschenden Sand des Weges, kennt den Duft ihres Körpers im Abendwind, fühlt die stolze Härte in ihrem Wort. Er sagt leise: »So bist du, Dagny.«

»Ja«, erwidert sie rasch und laut. »So bin ich. 79 Ich bin nicht so, wie du mich träumst, wenn du müde von deinen Papieren wegschleichst. Ich lebe, wie ich muß und will. Deine Gedanken bauen dir ein Bild vor deine Augen, wie du es wünschest, und das genügt dir. Ob ich lebe, – was kümmert es dich? Deine Liebe – nun zucke nicht wieder zusammen! – deine Liebe gehört nicht mir allein. Ich muß sie teilen, mit andern Menschen, die dir das Leben in den Weg stellt, mit den Dingen rund um dich, mit deinen Bildern und Träumen, mit deinen Wünschen. Reden wir nicht davon.«

»Reden wir nicht davon«, sagt er dumpf und läßt die Hand sinken, die auf ihrem Arm gelegen hat. »Du kannst mich nicht verstehen«, sagt er mutlos nach einer Weile.

»Was soll ich verstehen?«, fährt sie auf. »Ich liebe dich. Ich brauche dich nicht zu verstehen.«

Das trotzige Wort hallt lange in der Dämmerung nach. Dagny selber zerbricht seinen Klang, indem sie leise sagt: »Warum bist du so geworden, Rolf? Ich kannte dich anders. Du betteltest nicht um Verständnis, du zaudertest nicht und fragtest nicht; du nahmst und gabst, Hand für Hand, wie beim raschen Spiel.«

80 »Hab Geduld, Dagny«, sagt er flehend. »Glaube mir, ich werde auch wieder so sein, wie du mich liebtest, verwegen, rasch und tapfer. Jetzt stehe ich unter der andern Macht. Du mußt mich gehen lassen, bis ich wiederkommen darf.«

Sie schweigen. Er wiederholt leise für sich: »Wiederkommen darf, wenn es still geworden ist in mir.«

»Ich hasse diese Macht«, sagt Dagny traurig. »Sie macht dich unschön. Darum hasse ich sie.«

Er lacht bitter. Er denkt an die einsamen Tage in seiner Stube, an die langen Nächte, an die Müdigkeit. »Ich weiß es«, sagt er. »Ihr seid die ewigen Feinde. Ich bin der ewige Ueberläufer.«

Er zieht sie eng an sich; im Schreiten lehnt sich ihr schlanker, starker Leib an ihn, Hüfte an Hüfte, Knie an Knie. Er fühlt, wie seine eigenen Glieder straff werden. Lächelnd legt er den Kopf auf ihre Schulter und schließt die Augen. Sie führt ruhig und sicher seinen Schritt durch die Frühlingsnacht. Er flüstert: »Ich liebe dich doch, Dagny, und in dir die Welt, die weite, lichte und dunkle, die harte und weiche, die spröde und untertänige, die nahe und ferne 81 Welt.« Enger und wärmer schmiegt sie sich in seinen starken Arm.

Das ist der Frühling, – das Wunder dieses kargen Landes. Er zaudert lange und zögert, und plötzlich ist er da, in Erde, Luft und Bäumen, und in den Menschen. Er lockert die Schollen und reißt die Herzen auf. Saat, die gänzlich erfroren schien, drängt siegreich still ins Licht heraus, und Liebe, die verschüttet war, ist auf einmal wieder da und blüht wie Sterne im Wald, ein wenig blaß, sehr scheu und ganz leise. Und die Menschen glauben es nicht; es fällt ihnen schwer, daran zu glauben, so lange haben sie darauf gehofft, und über der Hoffnung haben sie den Glauben verloren. Der überströmende Reichtum, die jäh aufschnellende Kraft, die liebliche Zartheit überrascht sie in diesen dunkeln Tälern, an diesen dunkeln Wassern, die ihre Herzen sind. Die Liebe – sie ist das unbegreifliche Wunder. 82

 

Früh am Tage stapft Rolf in schweren Schuhen aus seiner Schlafkammer. Ueber den waldigen Bergen dämmert ein kränklicher Morgen herauf. Die Nacht ist lau gewesen; unruhig hat es vom Fjord heraufgeleuchtet, Wolken sind wie feige Tiere den Hügeln entlang geschlichen.

»Wie kann man nur so schlafen, so ruhig und von keinen Träumen gehetzt!« Er sieht vom Hofplatz zu den offenstehenden Fenstern empor, in denen sich die Sonne wie ein geschminktes Weib spiegelt.

Er geht über den Rasen nach dem Fußsteig hinüber, dem Walde zu. Beim Bach beugt er sich nieder und taucht den Kopf hinein; das Wasser schmeckt schal und ist nicht kühl. Unter den ersten Bäumen wirft er sich ins Gras, die Arme lang voran, das Haupt in die Kräuter. Seine Stirne ist heiß; eine glühende Nadel zuckt durch sein Gehirn, hin und her, hin und her.

»Dann kommt er an den breiten, dunkeln Fluß, wo der Fährmann wohnt. Das Segel gleitet wie ein Vogel aus der grauen Dämmerung herüber; es liegt aber kein Wind darin. Und Menschen steigen aus dem Schiff, voll 83 Entsetzen, voll Angst vor dem, was sie am andern Ufer gesehen haben. Und sie wagen nicht zu erzählen –.«

Halblaut murmelt er wieder die Worte, die er in der dumpfen Nacht unzählige Male vor sich hin gesprochen hat. Und wieder steht alles still, beim selben Bilde, im selben Klang und Wort.

Er schlägt mit den Fäusten die Erde, er zerrt am Grase, er zittert.

»Soll hier alles zerbrechen?«, stöhnt er. »Finde ich keinen Weg, keinen Uebergang? Seit Tagen schon kreisen diese Sätze um mich wie dunkle Vögel, denen ich den Flug weisen soll. Ich kann es nicht, ich bin erschöpft, matt, öde.«

Er wälzt sich auf den Rücken. Seine schmerzenden Augen gleiten über den Himmel, der grünlichgrau von den grell beleuchteten Tannen zu den schwarzen Höhen jenseits des Fjords gespannt ist. Leichtes, zerfahrenes, langsam schiebendes Gewölk klebt daran.

»Dagnys Bild, Dagnys Bild überall. Zwischen den flüchtigen Worten, die ich ergreifen will: ihre kühle Hand. Zwischen den dreckigen Wolken: ihr sicheres Lächeln. In meinem Blut: ihr Sieg. So quält sie mich.« Er springt empor. 84 »Ist es denn noch nicht Zeit, die verfluchte Stunde zu geben?«

Und er geht mit stapfenden Schritten auf den Hof zurück, schmettert die Türen auf, brüllt die Knaben aus den warmen Betten. Dann hackt er im Schuppen Holz, bis man zum Frühstück schellt.

»Es wird heute regnen«, brummt er zum Gruß.

Die Buben verziehen ihre Mäuler. »Wir wollten aufs Wasser hinaus, den neuen Mast auftakeln. Schade.«

»Warum schade?«, fährt er auf. »Ein guter Landregen kommt erwünscht. Ihr denkt nur an euch und euer Vergnügen.«

Während er spricht, höhnt er sich selber bei jedem Worte aus. Scheu sieht er zum älteren Knaben hinüber und hält seine Züge scharf in der Gewalt. Verdrossen starrt der Bube in seine Tasse. Rolf verläßt den Tisch.

In seiner Stube steht Marit mit Eimer und Besen. »Fertig«, sagt sie und lacht.

Er stößt mit dem Kopf nach dem Fenster hin und runzelt die Stirne. »Da haben wir die Bescherung. Kaum war der Frühling da, muß er versaut werden. Es wird nämlich bald regnen; ich bin ganz sicher.«

85 »Das hat ja nichts zu sagen,« antwortet Marit und geht mit klirrendem Eimer zur Türe hinaus.

»Nein«, sagt er, nickt und steht noch lange sinnend mitten in der Stube. Der feuchte Holzboden riecht stark und häßlich.

Im Schulzimmer lassen sich die beiden Knaben langsam am Tische nieder und legen umständlich Feder, Lineal und Papier zurecht. »Etwas flinker, ja?«, mahnt Rolf und blättert eifrig im zerknitterten Rechenaufgabenheft.

Zahlen tanzen vor seinen Augen, drängen sich dicht zusammen, stieben neckisch wieder auseinander. Er beginnt laut vorzulesen. Die Reihen der Formeln und Ziffern ordnen sich. Er lächelt. »Es ist eine Zufluchtsstätte. Ein kaltes Bad.« Er wiederholt, was er vorgelesen hat. Die Federn kritzeln. Seine Gedanken klammern sich an die Rechenaufgabe, zerren sie auseinander, lösen sie. Befriedigt sinnt er: »Wie ich früher die Schule versäumte und mich mit Kopfweh entschuldigen ließ, wenn ich glaubte, Verse machen zu müssen, so kneife ich heute den Reimen und dem Kopfweh aus, indem ich mich in Zahlen vergrabe; es büßt sich alles in Gerechtigkeit.«

86 Seine Lippen bewegen sich und sprechen, lesen weiter und wiederholen – und bleiben plötzlich halboffen stehen, da er mit einem Blick den Jungen streift, der mit zusammengekniffenen Augen durchs Fenster späht und mit seinem Federhalter wie mit einer Pistole nach dem Wipfel einer Tanne zielt.

»Warum schreibst du nicht? Warum rechnest du nicht?«, fährt er den Buben an.

»Wir stehen ja gar nicht bei diesen Aufgaben, lange nicht so weit«, antwortet der Junge mit rotem Kopf. Sein Bruder kichert leise.

Eine Weile schaut ihn Rolf an, dann sagt er hart: »Du wirst diese Aufgabe lösen, sofort.«

»Aber ich kann nicht.«

»Wie? Du sagst: Ich kann nicht? – Spricht ein rechter Kerl so? Sich zusammenreißen und arbeiten, – arbeiten, hörst du? Wille muß man haben, die Zähne zusammenbeißen, Energie herausstampfen, – Energie, zum Teufel auch!«

Er zerknüllt das Rechenheft und schmeißt es aus der geballten Faust auf den Tisch. »Ein Lump, wer sich unterkriegen läßt!«, schreit er und geht aus der Stube, mit langen Schritten, die Tür hinter sich zuschlagend.

872 Unschlüssig steht er vor dem Haus, die Zähne in die Lippe verbissen, die Stirne rot. »Wie kann ich so sein – ekelhaft –«, stöhnt er. Nach ein paar Schritten kehrt er zum Haus zurück, tritt ans offene Fenster, ruft in die Schulstube hinein: »Lauft, wohin ihr wollt; geht, takelt euren Mast auf. Der Morgen ist zu schön, um ihn in der Stube zu verhocken. Ich gebe die Stunden frei.«

Keine Antwort kommt zurück. Da geht er über den Hofplatz davon. Der Himmel ist grau geworden wie Spinngewebe. Es fängt an leise, dumpf zu regnen.

Unter den Bäumen ist die Luft muffig, feuchtwarm. Der Regen sprüht schleierfein durch die Nadelzweige und rinnt in plumpen Tropfen den Aesten und Stämmen entlang.

Mit leichtgeneigtem Kopf, die Fäuste in den Taschen, geht Rolf durch das Geriesel. Er blickt nicht vom Boden auf, aber er schaut auch nicht den Boden an, auf dem er schreitet; nur wenn der Pfad um einen der großen grauen Steine biegt oder sich in einem Bachbett eine Strecke weit verliert, erinnert er sich hastig des Wegs, den er geht. Ebenso flüchtig und unstät 88 schweifen seine Gedanken von Klängen zu Bildern, von Bildern zu Worten, von einem zum andern jagend ohne zu verweilen, ängstlich vor allem zurückweichend wie vor verborgenen Abgründen. Und langsam schlummert so sein Kopf ein. Es regnet. Es regnet im Wald.

»Ich glaube, Dagny kann stundenlang leben, ohne zu denken, ohne eigentlich zu denken. Sie ist wie ein Baum, schön und voll Kraft. Ich beneide sie. Darum ist sie stärker als ich. Sie weiß, daß sie immer mit mir machen kann, was sie will. Sie denkt nicht, sie lebt. Und sie hat keine Furcht vor mir. Wie Ingrid –.«

Nun bleibt er stehen. Er hört den Regen rieseln, auf die Aeste klopfen. Er sagt leise den Namen: »Ingrid, das Kind.« Er dreht sich um, geht in langen Schritten den Weg zurück, den er heraufgestiegen, beginnt zu laufen, daß die Steine polternd unter ihm davonfahren, gleitet über das feuchte Gras, über die Tannenäste, hält sich an Zweigen und Stämmen, läuft, läuft und bleibt aufatmend unter den Birken stehen, die im Sprühregen zittern und schon ganz lichtgrün schimmern.

»Ich werde Dagny überraschen. Ich werde mit 89 ihr ausreiten; wir wollen zusammen durch den grauen Regen reiten. Sie hat keine Furcht. Ich werde sie so lange ärgern, durch meine schlechte Laune, bis sie mich gründlich ausschimpft und wieder in Lot und Senkel stellt.«

Er geht auf das Haus zu, sieht auf seine nassen, kotigen Kleider hinunter und tritt durch die Türe. Er pfeift laut vor sich hin. Während er sich umkleidet, die engen Reithosen anzieht, sich im Spiegel betrachtet und sich sorgfältig eine Schleife umbindet, singt er leise vor sich hin; dann schlüpft er in die Regenjacke und steckt die Handschuhe zu sich.

Wie ausgelöscht und erstickt vom Regen ist die Qual der Nacht und des frühen Morgens; versunken, eingeschlummert liegen die Gedanken, fern verflattert sind die dunkeln Vögel. Aus aller Müdigkeit empor schnellt sein junger Körper, strafft sich, wird geschmeidig.

Er geht den Weg durchs Dorf, an den kleinen Häusern vorbei, die hell oder rotbraun in den Gärten stehen, mit dem weißen Flaggenmast zur Seite. Er grüßt jedermann, der ihm begegnet, bleibt stehen, schwatzt, lacht. Einmal ist ihm, als sehe er ferne Bodil mit dem roten 90 Kopftuch aus dem Kramladen treten. Er glaubt, sie komme ihm entgegen. Aber plötzlich ist sie wieder verschwunden. »Weicht sie mir immer aus?«, lacht er vor sich hin.

Dann tritt er in den Kramladen. Die Schelle über der Türe bimmelt heftig. Alle schauen auf ihn, der groß und rasch über die Schwelle kommt.

»Guten Tag«, ruft er laut. »Niels, haben wir neuen Tabak?«

»Den haben wir«, erwidert ebenso laut der Krämer und schickt den Ladenjungen darnach. Er ist gleich angesteckt von der Art, mit der Rolf weit die Türe aufgestoßen hat und jetzt flach die Hand auf den Tisch schlägt. Er läßt die andern Kunden stehn und sagt, daß alle es hören können: »Eine neue Sendung, noch nicht ausgepackt. Für den feinsten Geschmack ist gesorgt.«

Der Junge kommt zurück und Niels legt zwei Päcklein vor Rolf auf den blanken Ladentisch. Rolf stopft seine Pfeife; alle schauen ihm zu. Nachher bietet er den Männern seinen Tabak an, und sie langen bedächtig, murmelnd zu, holen ihre Pfeifen aus den Taschen, lassen das Päcklein von Mann zu Mann gehen, zerreiben 91 das Kraut zwischen ihren schwieligen Handballen, und wie der letzte ihm die leere Düte zurückreicht, sagt er dabei: »Danke; das Loch ist ein wenig größer geworden.« Und alle lachen. Rolf aber ruft: »Niels, jedem Mann ein Päcklein von deinem Kraut!«

Der Krämer verbeugt sich leicht: »Sofort, bitte« und schickt den Jungen ins Hinterstübchen. Rolf wirft klimpernd zwei blanke Silberstücke auf den Ladentisch.

»Immer vergnügt«, schmunzelt Niels und streicht das Geld in die Schieblade.

»Warum auch nicht!«, antwortet Rolf und sieht sich im Kreise um. Wie ihm Niels herausbezahlen will, schüttelt er den Kopf: »Für den Rest Zuckerzeug; die Weiber sollen ihren Tabak auch haben.«

Diese aber lachen, drängen sich eng zusammen, wollen nicht zugreifen, wie er ihnen die Lakrizenstangen und Schokoladetaler anbietet, und wenden die Köpfe weg. Er schiebt ihnen das Zeug in die Hände, steckt es in ihre Jacken und Wolltücher und zwischen ihre Zähne.

Da steht Ingrid. Mitten unter dem kreischenden, schmausenden Weibervolk steht Ingrid. 92 »Wie, bist du auch da?«, sagt Rolf. Ihr Haarschopf leuchtet hell auf unter den farbigen Kopftüchern und zwischen den dunkeln Gewändern. Sie blickt ihn groß an und redet nicht. Sie steht still; ihre staunenden, angstvollen, weitoffenen Mädchenaugen wenden sich nicht von seinem Gesicht, aus dem das Lachen mit einem Ruck stehen geblieben ist und nun fratzig um den zitternden Mund verblaßt.

»Ein famoser Kerl, dieser Herr Lehrer«, schmunzelt Niels, »allzeit bei guter Laune. Was kriegst du, Gunnar?«, wendet er sich an einen der wartenden Männer. Er hat die Witterung für die Luft in seinem Kramladen; der gesegnete Regen ist vorüber, jetzt muß die trockene Nachernte eingebracht werden.

Rolf nimmt still Ingrids kleine Hand und geht mit dem Mädchen zur Türe hinaus. Schrill gellt die Schelle hinter ihnen her. Nach einigen Schritten sagt er: »Gehen wir heim, Ingrid; gehen wir heim zu deiner Mutter.«

Noch immer antwortet das Kind nicht, aber es preßt mit seinen schmalen Fingerchen die große Hand, die es hält, und lehnt leise den Kopf an den starken Arm.

93 »Oder ist deine Mutter krank, sprich?«

Es schüttelt den Kopf. »Nein, komm nur.«

Sie gehen mitten in der Straße, biegen dann in einen Seitenweg, steigen über holprige Steine empor.

»Warum kamst du nie mehr nach Lysenstöa? Warum sehe ich dich nie mehr im Wald, kleine Ingrid? Ich habe dir eine Geschichte erzählt, von Ilselil und ihrem Mohren. Willst du nie mehr kommen?«

Sie schaut ihn langsam von unten herauf an, ihr Mund tut sich zum Reden auf, ihre Augen werden blank und feucht, und plötzlich wirft sie ihre Aermchen um seinen Leib, drückt ihren Kopf an ihn und schluchzt auf.

»Kleine Ingrid, kleines Mädchen«, sagt er und weiß nicht mehr weiter und legt eine Hand auf ihren Scheitel, rollt ihre hellen Haarsträhnen um seine Finger und sieht weithin, durch den rieselnden grauen Regen. »Nicht weinen, kleines Ding. Ich komme jetzt zu dir, wenn du nicht mehr zu mir kommen darfst.«

Er legt seinen Arm um ihre Schultern, die noch leise beben, und geht weiter. Sie flüstert stockend 94 und schluchzend: »Nicht sagen, daß ich weinte. Bitte, nicht sagen.«

»Nein«, antwortet er laut und schreitet die Holztreppe zur Veranda empor. Die Tür steht offen.

Eine schlanke Frau erhebt sich hastig aus einem Lehnstuhl und tritt aus dem Lichte des Fensters in die Mitte des Zimmers. Rolf bleibt auf der Schwelle stehen.

»Da ist Mutter«, sagt Ingrid, löst ihre Hand aus der seinen und stellt sich von ihm weg. Sie schaut ängstlich und gespannt auf die Frau, die rasch mit der Hand über ihr Haar streicht.

Rolf verbeugt sich tief und langsam.

»Willkommen«, sagt sie, tritt näher und reicht ihm die Hand.

»Entschuldigen Sie«, beginnt er, »es war mir von ihrem Gatten nahegelegt worden, gelegentlich einen Besuch zu machen –.«

Er bricht seine Rede plötzlich ab. Die Frau scheint nicht auf seine Worte zu hören und auch nicht seine Verwirrung zu bemerken; sie weist auf einen Stuhl und sagt: »Es freut mich sehr. – Die Kleine erzählte von Ihnen; Sie waren so lieb zu ihr.«

95 Rolf verbeugt sich nochmals, dann setzt er sich. »Wie gefällt es Ihnen auf Lysenstöa?«, fragt sie. »Der Wald, das Wasser –: Sie leben mitten drin. Wir hier, im Dorf, – es ist schon enger hier. Ich wuchs draußen auf; Bjonlie war der Hof meines Vaters. Er liegt am Fjord unten. Sie wissen es wohl schon. Man lebt ja nicht lange hier, ohne alles zu wissen. Es ist ja auch nicht so viel –.«

Sie sitzt im leis gedämpften Licht des Regentages; ihr kleiner Kopf auf dem schlanken Halse steht in klarer Zeichnung vor dem dünnen, bauschigen Vorhang am Fenster. Das Haar ist wellig, leicht, in einem großen Knoten zusammengehalten; es scheint das Haupt ein wenig nach hinten zu beugen und leis und schmerzhaft die Haut an den Schläfen und über der runden Stirn emporzuspannen. Es schimmert wie das des Kindes, aber matter noch, wie feiner Aschenstaub aus erlöschender Kaminglut.

Rolf schlägt ein Knie übers andere und sieht dabei auf seine Reithosen. Da die Frau schweigt, will er etwas sagen. Er lächelt: »Sie denken bei sich, es sei recht sonderbar, daß ich mich in 96 einem solchen Anzug bei Ihnen vorstelle. Ich bitte um Entschuldigung.«

»Ach! Hier auf dem Lande –. Sie kommen wohl von einem Ausritt zurück?«

»Nein«, sagt er zögernd. »Ich wollte eben das Pferd holen. Aber es hat unterdessen zu regnen begonnen. Da ist es kein Vergnügen.«

»Es regnet schon seit dem frühen Morgen«, erwidert sie und sieht ihn groß an. Er senkt den Kopf. »Uebrigens denke ich mir, es muß köstlich sein, so durch den Regen zu reiten, ohne sich darum zu kümmern.« Sie wendet ihren Kopf und blickt zum Fenster hinaus. »Ich weiß, es gibt Menschen, die das lieben.«

Er lacht. Er denkt: muß ich gehen?

»Dagny zum Beispiel«, sagt sie leise.

Er sieht sie schweigend an.

»Sie wissen, daß wir befreundet sind?,« fragt sie und wendet ihm das Gesicht wieder zu.

»Ja«, nickt er. Es bleibt still.

Plötzlich sieht sie durch das Zimmer nach der dunkeln Türe hin und sagt laut: »Aber Ingrid, Kind, was stehst du dort und rührst dich nicht? Komm doch her und setz dich zu uns.«

Langsam kommt das Mädchen durchs Zimmer, 97 kauert auf dem Schemel nieder, lehnt den Kopf an die Kniee der Mutter.

Die Frau fragt nach den Knaben aus Lysenstöa, die Rolf unterrichtet, nach seiner Heimat und seinen Reisen. Er gibt kurze Antworten; wenn er von ihr zu reden versucht, weicht sie aus, erzählt von ihrem Kind, vom Berufe ihres Mannes.

»Er muß jeden Augenblick heimkehren; ich erwarte ihn seit einer halben Stunde. Aber sein Beruf zwingt ihn zur Unpünktlichkeit; das ist ihm selber das Unangenehmste daran. – Ingrid, geh doch und sieh nach, ob sein Tee warm steht. – Mein Mann wird es sehr bedauern, Sie verfehlt zu haben.«

Jetzt erhebt sich Rolf. »Ja –,« sagt er und blickt sich rasch im Zimmer um. »Ach, Ihr Flügel –. Sie spielen. Ich habe lange, lange nicht mehr spielen hören.«

»Wirklich nicht?«, fragt sie langsam und sehr erstaunt. »Aber Dagny erzählte mir doch, Sie liebten Musik. Ich dachte, Dagny hätte Ihnen häufig vorgespielt –.«

»Fräulein Dagny? Nie. Ich habe sie überhaupt nie spielen hören; ich ahnte kaum, daß sie spielt. Ja richtig, sie sagte wohl einmal –«

»Dagny liebt es, sich zu verstellen.«

»Finden Sie?«, fragt er lächelnd. Seine Mundwinkel verziehen sich spöttisch.

»So zum Vergnügen, meine ich«, sagt sie leise.

»Vielleicht. Aber ernstlich kaum; sie hat es ja gar nicht nötig.«

»Nein. Vielleicht nicht«, lächelt sie und sieht auf ihre Hände herab, die in den dunkeln Falten ihres Kleides halb verborgen liegen und weiß schimmern.

Ingrid kommt ins Zimmer zurück und ruft von der Türe her: »Vater ist da.«

Schritte schallen im Flur. Der Doktor tritt ein. »Wirklich, da muß ich gerade ausgefahren sein, wenn Sie mir die Ehre und das Vergnügen machen! Sie haben es schlecht getroffen, mein Lieber. Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz.«

»Danke«, sagt Rolf. »Länger kann ich nicht bleiben.«

»Sie werden uns doch nicht weglaufen wollen? Eine Tasse Tee, ein Gläschen, bei diesem Hundewetter!« Er nimmt seinen Arm und will ihn zum Stuhle führen.

99 Rolf schüttelt den Kopf. »Sie sehen, ich bin in Reitkleidern. Es ist mir nicht möglich. Man erwartet mich. Fräulein Dagny erwartet mich.«

Der Doktor runzelt die Stirne. »Diese Pflicht geht voran.« Er lacht laut auf. »Aber darf man Sie nicht abhalten?«

»Es geht nicht«, sagt Rolf.

Der Doktor pfeift leise durch die Zähne und wendet sich rasch zu seiner Frau. »Inga, was denkst du: wir schicken die Kleine nach dem Försterhof und lassen Dagny heraufkommen? Dann ist allen geholfen!« Er sieht Rolf lachend an.

Dieser verbeugt sich tief vor der Frau im Lehnstuhl, die ihm ihre kleine Hand reicht. Dann sagt er zum Doktor: »Sie sehen doch, daß Dagny und ich ausreiten wollen. Danke schön. Leben Sie wohl, Herr Doktor.«

Bei der Türe drücken sich die beiden Männer die Hand, steif und kurz. Ingrid sieht dem Davonschreitenden nach, der sie beim raschen Abschied vergessen hat. Sie preßt die Stirne an die Fensterscheibe, an der die Regentropfen herabsickern.

100 Sie erblickt ihn noch unten auf der Straße; er wandert durch den Regen dahin, schreitet dem Walde zu, verschwindet im grauen Geriesel. Sie sagt leise: »Er geht ja gar nicht nach dem Försterhof.« Niemand hört sie.


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