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Elftes Kapitel.
Auf dem Tanastrom nach Norwegen.

Ein großes Panorama. – Zwei Tage Flußfahrt. – Eine gute Herberge. – Etwas von Wölfen und Bären. – Der alte Lappe Dundor-Haikka erzählt seine Lebensgeschichte. – Ach, da gibt es ja wieder einmal Wanzen! – Wir studieren das Gesicht der Mutter Erde. – In Vadsö und Umgegend riecht es nach Fisch. – Aus der Stille in den Lärm, aus der Fischluft in den Industriequalm. – Der Ausflug nach Boris-Gleb.


Mit der Abfahrt von Utsjoki begann der dritte und letzte Teil unserer eigentlichen Lapplandfahrt. Als ersten hatten wir die dreihundert Kilometer im Benzwagen angesehen, als zweiten Wanderung und Ruderfahrt von Lappenhof zu Lappenhof, und nun war die Aufgabe dieses dritten Abschnittes, wiederum in zweitägiger Ruderfahrt auf dem Tanastrom aus Finnland hinaus auf norwegischen Boden zu gelangen, um endlich in Vadsö am Warangerfjord das nördliche Eismeer zu erreichen ...

Nach der behaglichen Stille im Pfarrhof zu Utsjoki tat sich uns in diesen letzten Tagen ein Wandelpanorama der wundersamsten Gegensätze auf: träumerische Ruderfahrt den breiten Tanaelf flußab. Indes man auf frisch-duftigen Birkenzweigen sich lagert, gleitet zu beiden Ufern die hügelige Einöde des nördlichen Lapplands vorüber! Sausende Automobilfahrt hart am Warangerfluß. Vorüber an elenden Lappenhütten zum Hafenstädtchen Vadsö. Am nächsten Morgen in bequemen Dampfer hinüber über den Fjord nach Südwaranger in die Stickluft von Kirkenes, dieses hochnördliche Fabrikviertel, überschattet von den grauen Schwaden, die Tag und Nacht aus den Schloten des großen Erzwerks qualmen. Kletterarbeit zwischen den riesigen Steinhalden und dem Schienengewirr der Erzgruben, deren Tagbau die Eingeweide der Mutter Erde erbarmungslos freilegt. Und dann wieder, nach einer heißen Hotelnacht, ruhelos durchfaucht von dem Surren des nahen elektrischen Kraftwerks, in beglückender Morgenfrische im Motorboot über den Fjord hinein in die breitströmende Mündung des flutenreichen Pasvik (finnisch: Patsjoki). Über Bergwald und Wiesen hinan bis zu dem behaglichen kleinen Rasthaus des finnischen Touristenvereins in Boris-Gleb. Hier steht es auf hohem Ufer, umbraust von dem Getöse einer nahen Stromschnelle, nachbarlich gesellt der alten Russenkirche und den Mönchsgräbern von Boris-Gleb, – neue Zeit neben der alten, eine Kulturinsel des Behagens und der Sauberkeit, ein schöner Schlußklang unseres fast wildwestlichen Wasser- und Waldlebens!

*

Schon diese kurze Andeutung über den letzten Teil unseres gemeinsamen Reisewegs mag erkennen lassen, wie bunt und verschiedenartig die Eindrücke waren, die wir gerade noch in den letzten Tagen hatten. Es war, als ob uns der Abschied recht schwer gemacht werden sollte!

Unvergeßlich blieb vor allem die stundenlange Fahrt auf dem großen Tanastrome, der viele Kilometer lang die Grenze zwischen Finnland und Norwegen bildet.

Am ersten Tage machten wir Rast in Sirma am linken Ufer des Flusses und betraten hier zum erstenmal den norwegischen Boden.

Keinerlei Grenzschwierigkeiten trübten hier unsere gute Laune!

Wir stiegen einfach an Land, um festzustellen, ob der gute Ruf über Verpflegung und Unterkunft, der diesem Grenzort vorausging, auch seine Berechtigung habe. Und in der Tat, ich kann heute bestätigen, was später der mehrfach erwähnte deutsche Arzt, Dr. Kohl (der einmal im Winter dort war), dankbar geschildert hat.

Hier gibt es richtige Betten, ein eiserner Ofen mag im Winter anheimelnde Wärme schenken, und an den Wänden des Gastzimmers hängen allerlei Öldrucke von Kaisern und Königen. Es ist einem plötzlich zu Mute, als ob man mitten in der Wildnis städtische Luft einatme. Das Brot wird in dünnen Scheiben ausgeschnitten, der auch hier selbstverständliche Kaffee sogar in Porzellantassen aufgetragen!

Freilich konnten wir diese Merkmale der Kultur nicht ganz in demselben hohen Maße bewundern, wie etwa im Winter ein einsamer Jäger, der hier plötzlich aus der schneidenden Kälte in die Wärme gerät. Denn erstens hatten wir Hochsommer, und zum zweiten waren wir durch Utsjoki doch schon richtig verwöhnt.

Aber allem, was die Wirtin auftischte, taten wir gründliche Ehre an.

In dieser fröhlichen sommerlichen Rast konnte man es sich gar nicht vorstellen, daß im Winter hier Wölfe den Renntierherden gefährlich werden. Gewöhnlich sprengen sie ein paar Tiere von der Herde ab und zerreißen sie dann. Stets kommen sie gegen den Wind, graben sich hinter einer Schneewehe ein und lauern, bis ein äsendes Tier vorbeikommt.

Wolfsgeschichten sind unter den Lappen ständig im Umlauf. Von einem alten Berglappenweib wird erzählt, daß sie siebenunddreißig junge Wölfe in ihrem Lager mit bloßen Händen erwürgt habe. Nur einmal sei sie bei dieser verwegenen Tätigkeit von einem alten Wolfe angegriffen worden. Sie habe rasch ein Stück ihres Kleides angebrannt und damit das Tier vertrieben.

Noch romantischer ist das, was man über die Nimrodstaten der alten Lappen aus früherer Zeit zu hören bekommt. Ich kaufte mir unterwegs einen in norwegischer Sprache geschriebenes Buch, in welchem von dem weithin berühmten Lappenjäger Dundor-Haikka erzählt wird.

Dieser alte Lappe, seinem Bildnis nach ein verwitterter Bursche, mit stoppeligem Bartkranz um das Gesicht und den scharfen Spähaugen der Leute seines Schlages, war ein großer Jäger. Fünfundfünfzig Bären hat er in seinem viel bewegten Jägerdasein erlegt. Das geschah aber nicht etwa mit der Flinte, sondern nach urväterlicher Sitte mit dem eineinhalb Meter langen stahlgespitzten Wurfspieß.

Viele Stunden hindurch habe ich mich an diesem Büchlein ergötzt, welches Frau Inga Björnson auf Grund der Erzählung Dundor-Haikkas zusammengestellt hat. Es ist freilich nicht ganz leicht, sich durch sein bäurisches Norwegisch mit dazwischen gemengten lappischen Ausdrücken hindurchzufinden. Aber es lohnt sich schon, wenn man einigermaßen mit der Sprache vertraut ist, diese etwas mühsame Bekanntschaft zu machen.

Dundor-Haikka, der über achtzig Jahre alt war, als er der norwegischen Dame die Geschichte seines vielbewegten Lebens erzählte, sieht zwar selber aus wie ein Bär. Er ist ein Lappe, der Europas übertünchte Höflichkeit noch nicht kennt, aber trotzdem ganz gut weiß, was sich gehört, d. h. was sich gehört nach der Auffassung eines Lappen.

Köstlich ist zum Beispiel sein Besuch in Drontheim zur Krönungsfeier von König Oskar. Als Vertreter seiner Volksgenossen hatte er sich dort mit anderen Abordnungen aus Norwegen und Schweden eingefunden. Hierüber weiß er nun zu berichten:

»Da kam eine feine Dame, die brachte mich in einen Gasthof; sie führte mich in das dritte Stockwerk; da war ein feines Zimmer, und der Fußboden war ganz blank. Das Bett war voll mit Leinenkissen. Da sollte ich mich hineinlegen. Das Bett schien mir so fein, wie ich noch in keinem gelegen hatte. Da legte ich mich auf den Fußboden neben das Bett ... Hast du gehört, wie ich gratulierte?«

»Nein, wie hast du denn gratuliert, Dundor-Haikka?«

»Als Oskar kam mit der Krone heraus aus der Domkirche, sagte ich: (Dundor-Haikka richtete sich auf und nahm eine königliche Gebärde an) »Ich gratuliere Oskar, Norwegens und Schwedens König, dem Landesvater. Ich gratuliere Sophia, Norwegens und Schwedens Königin, der Landesmutter.«

Als ich die Geschichte von dem Nachtquartier Dundor-Haikkas neben der Bettstelle las, mußte ich daran denken, daß ich selbst es Bei seinen Landsleuten gelegentlich auch so gemacht habe, aber aus anderen Gründen!

*

Das bringt mich wieder dazu, den Faden meiner Erzählung aufzunehmen. Denn es war gerade das Nachtlager, das auf den schönen Mittag in dem gastlichen Sirma folgte, bei dem ich zum letztenmal die Bekanntschaft mit den blutdürstigen Tierchen machte, die dem Menschen keine Nachtruhe gönnen wollen.

Aber diesmal, in dem Hause eines Krämers, war ich zu müde, um mich durch solche Angriffe aus der Ruhe bringen zu lassen. Meine Freunde waren so menschenfreundlich, mich ruhig schlafen zu lassen: sie glaubten wohl, ich hätte mich mittags in Sirma so gut ernährt, daß mir etwas Blutverlust nichts schaden könne.

Stundenlange Ruderfahrten, wie wir sie zu guterletzt noch auskosteten, sind zwar etwas ermüdend, aber doch haben sie auch wieder, wie schon früher geschildert, ihre ganz besonderen Reize.

Man lernt gleichsam, wenn man so still dahingleitet, das Antlitz der Erde mit allen Runzeln und Falten kennen. Hat man dann noch das Glück, wie wir in der Person unseres »Professors«, einen Fachmann der Erdkunde bei sich zu haben, der den ganzen Norden wie seine Westentasche kennt, dann bleibt es nicht bei flüchtigen Eindrücken, sondern man lernt auch etwas, was man nicht wieder vergißt.

Das schönste Lehrbuch der Geographie ist eben doch die Landschaft selbst und nun gar hier im hohen Norden, wo niemand bisher den Versuch gemacht hat, etwas zu ändern an dem, was ist.

In Fels und Wald, in Hügelformen und Uferschichtungen, überall wohin man blickt, entdeckt man die Spuren urzeitlicher Geschehnisse. Gerade in den Gegenden, in denen jeglicher Pflanzenwuchs aufhört, sprechen natürlich die Steine am lautesten. Der Organismus der Erde liegt vor einem, leicht erkennbar die Muskeln und das Nervengeflecht.

Während wir wieder einmal zeitweise das Ruderboot verlassen, über einen der langgestreckten Rollsteinbergrücken schreiten, der sich zwischen Fluß und Talwand schiebt, ersteht vor uns, wie ich es schon einmal in Punkaharju erleben durfte, im geistigen Bilde ein ungeheurer Riesengletscher. Einst ließ er hier seine Schmelzwasser zum Meer strömen, und als Andenken seines Daseins hinterließ er den nachkommenden Geschlechtern diese für finnische und lappische Landschaft so außerordentlich bezeichnenden, ungeheuren Geröllhalden.

*

Schließlich nahm auch unsere schöne Fahrt auf dem breiten, lachsreichen Tanastrom ein Ende. Nachdem wir unterwegs die in Finnland ansässigen lappischen Bootsleute mit norwegischen Ruderern vertauscht hatten, wurden wir am Nachmittag des zweiten Rudertages plötzlich aus weltferner Einsamkeit wieder in die Zivilisation zurück geführt. Diese gab sich zu erkennen in einem – Automobil, das am rechten Ufer des Tanastromes bei dem Orte Skipaguorre pünktlich für uns bereit stand, um uns auf guter Fahrstraße immer unmittelbar am Nordufer des Warangerfjords nach Vadsö zu bringen.

Es war schon von Sirma aus durch Fernsprecher für uns bestellt worden. Die etwas mehr als sechzig Kilometer, die wir nun bis nach Vadsö zurückzulegen hatten, wurden uns nach den Tagen des Wanderns und Ruderns zu einem ganz besonderen Genuß. Plötzlich erfaßte uns wieder der köstliche Reiz, hurtig durch die Landschaft zu sausen, nachdem uns wochenlang alles nur im Schneckentempo eines langsamen Wandelbildes vorübergeglitten war.

Der Mensch ist eben doch ein wankelmütiges Wesen!

Zuerst sehnt er sich nach wildwestlicher Steppenromantik, nach gewagten Kopfsprüngen aus dem Gewohnten ins Absonderliche, – kaum aber hat er die Abenteuer der freiwillig auferlegten Unbequemlichkeiten ausgekostet, so freut er sich wieder wie ein Kind auf den bequemen Ledersitz eines Automobils, auf die Behaglichkeit einer Schiffskabine oder eines Eisenbahnabteils.

Noch ein letztes Mal grüßten uns die Erinnerungszeichen an Land und Leute: armselige Lappenhütten am ansteigenden Ufer, sowie besonders auf der Breite des zuerst durchfahrenen Seidafjelds, ein weithin gedehnter Bretterzaun, eine Absperrung für die Renntiere, die von ihrer Weide im Norden nicht nach ihrer Heimat im Süden ausbrechen sollen.

Ohne jeden Zwischenfall erreichten wir Vadsö, ein Städtchen von etwa zweitausend Einwohnern. Politisch befanden wir uns hier auf norwegischem Boden, aber über die Hälfte der Bewohner sind aus Finnland eingewandert. Der lappische Name für Vadsö heißt auf deutsch »Wasserinsel«, und in der Tat merkt man hier auf Schritt und Tritt, daß man sich nach langer Landwanderung am Wasser, am völkerverbindenden Meere befindet.

Es ist aber durchaus nicht die rauschende Meeresbrandung, von der uns die Dichter so schön zu singen wissen, die uns die Nähe des salzigen Elementes verrät, sondern der alle Straßen durchdringende – Fischgeruch. Weithin erstrecken sich am Ufer die eigenartigen Holzgestelle, »Hjelder« genannt, an denen die Fische, vor allem die Dorsche, in unermeßlicher Zahl getrocknet werden und den entsprechenden Duft ausströmen.

Eine Nacht nur verbrachten wir in diesem Städtchen, das zwischen dem siebzigsten und einundsiebzigsten nördlichen Breitengrad liegt, um am nächsten Tage über die breite Öffnung des Warangerfjords zum nördlichen Eismeer hinüberzufahren zu unserem Ausflug nach dem lärmvollen und meist in dichte Rauchwolken eingehüllten Industrieorte Kirkenes. An einer großen Dampferlandungsbrücke kommt man hier an und befindet sich alsbald umgeben von lebhaftem Lärm, angesichts hoher Schornsteine, mitten in einem Industriebetrieb, der um so mehr auffällt, je stiller die Umgebung war, in der man vorher wochenlang gelebt hat.

Die Landschaft rings um Kirkenes, Südwaranger genannt, enthält die bedeutendsten Eisengruben Norwegens. In der Stadt selbst befindet sich ein Erzaufbereitungswerk. Die Gruben liegen etwa acht Kilometer südlich und werden durch eine Bahn erreicht, die sich stolz die nördlichste Europas betitelt und außer Eisenerz und den Beamten oder Arbeitern der Werke, liebenswürdigerweise auch fremde Fahrgäste mitnimmt.

Auch wir wurden dieser Ehre teilhaftig und stiegen dann stundenlang im Grubenbezirk zwischen Eisenbahnschienen umher. Da das Erz nicht unterirdisch gewonnen wird, sondern im Tagebau, so erhielten wir hier wieder einmal einen Einblick in die rastlose Tätigkeit des Menschen. Er schneidet gleichsam der Mutter Erde ins Fleisch: er schlägt seine kostbare Beute aus dem Fels und erhält auf diese Weise im Jahre mehr als eineinhalb Millionen Tonnen rohes Erz. In dem Aufbereitungswerk zu Kirkenes wird dann durch entsprechendes Verfahren eine Veredelung dieses Roherzes durchgeführt, und so erst gelangt es auf den ständig verkehrenden Erzdampfern ins Ausland, namentlich England. Aber auch Deutschland war vor dem Kriege ein eifriger Abnehmer.

*

Es war eine recht angenehme Abwechslung für uns, vor der Rückkehr nach Vadsö von Kirkenes aus noch einen Ausflug zu machen nach der ehemals russischen, jetzt wieder auf finnischem Boden befindlichen Kirche Boris-Gleb.

Wunderbar erfrischend in der Morgenfrühe die Fahrt im Motorboot bis nach der Station Elvenes, und von da zur Abwechslung einmal wieder ein Fußweg über die Höhen nach Boris-Gleb. Dieser Ort mit zahlreichen lappischen Hütten liegt herrlich am linken Ufer des Pasvikelv, der einst die Grenze zwischen Norwegen und Rußland bildete. Da dieses ganze Gebiet östlich vom Pasvikelv nun finnisch geworden ist, so ist uns auch der finnische Name Patsjoki geläufiger geworden. In breiter Strömung ergießt sich dieser Fluß ins Meer, und in Boris-Gleb selbst, wenn man in dem behaglichen Gasthause des Touristen-Vereins sitzt, tönt aus großer Nähe das gewaltige Rauschen des Skoltefos, einer mächtigen Stromschnelle. Stundenlang saß ich auf den Uferfelsen und sah dem Treiben dieses übermütigen purzelbaumschlagenden Kobolds zu. Er ist so eine Art Imatra in verkleinerter Ausgabe. Das Gefälle der Stromschnelle beträgt zwar nur zehn Meter, dafür aber erstreckt sie sich mit ihren brausenden Schaumwirbeln und durcheinandersprudelnden Wassermassen über die Länge von einem Kilometer. Es ist, als ob sich der Fluß mit einem letzten knabenhaften Jauchzen in das Meer stürzte. Von Süden nach Norden schäumte er, und deutete damit gleichsam selber an, daß auch wir, von Süden gekommen, nach Norden strebend, bald das Land unserer Ferienfreuden verlassen würden!


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