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Zehntes Kapitel.
Der Pfarrhof in der Einöde.

Endlich wieder einmal ein reines Bett! – Ein gastfreundliches Pfarrhaus. – Wir fallen in die Heuernte. – Familienglück und Familienleid in der Einsamkeit. – Kein Telegraph, kein Fernsprecher, kein Arzt. – Die Lappenkirche und die Kirchhütten. – Ein stiller Friedhof und ein fleißiges Pferd. – Das deutsche Buch im fremden Land.


Auch das feldmarschmäßige Freiluftleben bekommt man einmal satt, namentlich, wenn man eingesehen hat, daß der Mensch, der »Beherrscher der Erde«, schließlich eine ganz klägliche Rolle spielt gegenüber den stechenden Winzigkeiten in Form von Mücken und Wanzen.

Endlich wieder einmal ein richtiges reines Bett zu haben, mit gebildeten Menschen an einem gedeckten Tisch zu sitzen, mit sauberen flachsblonden Kindern zu spielen, das ist eine Erquickung, die so herrlich ist, daß man sie kaum beschreiben kann!

Da wird man sich plötzlich wieder bewußt, daß man ein Mensch der Kultur ist, daß man als solcher eine Lebenshaltung gewöhnt ist, in der Sauberkeit und Ordnung, Körperpflege und gesittete Manieren eine bedeutsame Rolle spielen. Diese Erfahrung allein lohnt schon die Fahrt in eine Gegend, in der man vorübergehend sich unter völlig anders gearteten Daseinsformen zu bewegen hat. Aus dem Reiz des Gegensatzes ergibt sich erst das Vollgefühl des Erlebnisses und des Abenteuers, das der Mensch sucht, wenn er in Ferien und auf Reisen geht.

Das habe ich und das haben meine Wanderkameraden so richtig verspürt, als wir kurz vor dem siebzigsten nördlichen Breitegrad endlich in dem stattlichen Pfarrhof Utsjoki anlangten. Ich selbst und zwei meiner Gefährten, wir durften, dank dem Vorrecht des höheren Alters, Gäste des jungen Ehepaares sein, während die drei anderen von unserer Kumpanei sechs Kilometer flußabwärts bei einem Lehrer Unterschlupf fanden.

Auch dies war eine Rast noch mitten in Lappland, aber der Hauch höherer Kultur, der das Wandervolk der Lappen nur sehr flüchtig anwehte: in diesem sonnigen, arbeitsamen Hause eines Seelsorgers ist er uns Lebensluft, in der wir mit köstlicher Beglückung atmen.

*

Unser Leben lang werden wir nicht die Stunden vergessen, die wir bei Herrn und Frau Pfarrer Ahola verlebten, und ohne unbescheiden zu sein, dürfen auch wir annehmen, daß unser so plötzlicher Besuch in der sommerlichen Einsamkeit von Utsjoki unseren freundlichen Gastgebern in Erinnerung bleiben wird. Denn wir waren die ersten Deutschen, die nach Beendigung des Weltkrieges in diese Gegend kamen, und so bedeuteten wir wohl auch der Pfarrerfamilie ein Erlebnis seltener Art!

Freilich, recht ungelegen mochten wir doch gekommen sein!

Es war die Zeit der Heuernte, und wir durften wohl vermuten, daß diese wichtigste Aufgabe eines bäuerlichen Gehöftes auch den Pfarrherrn selbst mit Sense und Rechen stark in Anspruch nehmen werde.

Aus dieser Vermutung heraus richteten wir es so ein, daß wir nicht plötzlich wie eine wilde Horde in den Pfarrhof einfielen.

Wir schickten, da es in diesen Gegenden keine telephonische oder telegraphische Verbindung gibt, ein Lappenmädchen als Botin voraus, das gleichzeitig den Auftrag bekam, sich der Frau Pfarrerin für die Zeit unseres Aufenthaltes als Hilfskraft anzubieten.

Wir plätscherten auch an jenem wundervoll sonnigen Vormittag geraume Weile in den Fluten eines Nebenflusses des großen Tanastromes herum, um den guten Pfarrersleuten noch eine Frist zu gönnen, in der sie sich von ihrer Überraschung erholen und auf alle nötigen Anstalten zu unserer Beherbergung vorbereiten konnten.

Und dann erst zog unsere kleine, aus zwei Booten bestehende Flotille flußabwärts, bis endlich um die Mittagsstunde über dem linken Hügelufer die Kirchturmspitze von Utsjoki auftauchte, – ein seltener Anblick in diesen Breiten. Es waren immerhin 110 Kilometer südlicher, als wir zum letztenmal, in dem Orte Inari, ein solches Wahrzeichen zum Himmel hatten ragen sehen!

Wie richtig vorausgesehen, befand sich der Herr Pfarrer mit Knechten und Mägden auf der Wiese. Den ersten Empfangsgruß bot uns notgedrungen nicht in Finnisch, sondern in dem uns geläufigem Schwedisch und dann auch in etwas zaghaftem, aber allmählich flüssiger werdendem Deutsch die blonde Frau Pfarrerin. Selbst Mutter von drei kleinen Kindern, wandte sie auch uns Fremden ihre mütterlichen Gefühle zu, so daß wir uns bald vertraut und heimisch fühlten, als sähen wir uns nicht zum erstenmal.

Während wir zuerst allein, dann unter Führung des Pfarrherrn, uns in der nächsten Umgegend umhertummelten, hatte sie mit bewundernswerter Schnelligkeit alles für unsere Behaglichkeit vorbereitet, ihre zwei schönsten Zimmer als Fremdenräume eingerichtet, Betten aufschlagen lassen, deren blütenweißer Leinenbezug uns nach all den Lappenabenteuern geradezu paradiesisch anmutete.

Und dann gab es mittags und abends alles, was nur die Küche dieses einsamen Pfarrhofs leisten konnte: hier erst, bei dieser herzlich gebotenen Gastfreundschaft, die alles spendete, was sie hatte, merkten wir verwöhnten Mitteleuropäer, wie einfach und bedürfnislos die Menschen zu leben gezwungen sind, denen kein Wochenmarkt und keine Lebensmittelhandlung Gemüse und Früchte aller Zonen ins Haus liefert; für die es keinen Metzger und keinen Bäcker gibt!

Alles müssen sie sich selbst besorgen und bereiten; im Hause wird das Brot gebacken, aus dem Flusse werden die Fische geholt, und hin und wieder einmal wird auch geschlachtet. Aber kein frisches Gemüse, keine Kartoffeln konnten wir in dieser Weltferne erwarten. Darum war es uns selbst ein Bedürfnis, einige Griffe in unseren Proviantsack zu tun und unseren neugewonnenen Freunden durch einen bescheidenen Beitrag für ihre Küche unseren Dank zu bezeigen.

Noch ein anderes Erlebnis bewies uns geradezu ergreifend, wie bevorzugt vom Schicksal alle die sind, die in Fällen der Krankheit sich durch Fernsprecher und mit Kraftwagen ihren Arzt erstaunlich schnell herbeiholen können.

In Inari, über 100 Kilometer entfernt, wohnt, wie schon erzählt, der nächste Regierungsarzt. Er pflegt zum Johannistag, dem größten Feste des Nordens, zu welchem die Lappen von weither zusammenströmen, ebenfalls nach dem Kirchspiel zu kommen, um die im Ruderboot mitgeführten Kranken zu besichtigen und seine Ratschläge zu erteilen.

Wie aber, wenn in einer Familie ein Kind plötzlich erkrankt, wenn es zum Beispiel von Scharlach oder Diphtheritis überfallen wird? Dann sind Not und Sorge groß, und man wird es verstehen, daß sich dann auf dem Gesicht der Mutter die angstvolle Verzweiflung malt, die Hilfe des Arztes werde zu spät kommen, wenn er endlich, je nach der Jahreszeit, im Ruderboot oder Renntierschlitten eintrifft.

Im Pfarrhause zu Utsjoki erlebten wir einen, wenn auch nicht gefährlichen, so doch immerhin betrüblichen Fall, der uns zu ernstem Nachdenken veranlaßte. Eines der kleinen Kinder litt seit Monaten an einem heftig juckenden Hautausschlag. Da sich das bedauernswerte kleine Wesen trotz aller Überwachung immer wieder aufkratzte, so bot sein an vielen Stellen mit blutigem Schorf bedecktes Körperchen einen beklagenswerten Anblick.

Welch ein Freudenschimmer ging über das Gesicht der sorgenvollen Mutter, als sie hörte, daß unser Doktor Eduard Mediziner sei! Selbstverständlich erklärte er sich sofort bereit, das Kind zu untersuchen und Ratschläge zur Abhilfe zu erteilen. Das Nächstliegende waren einige Vorschriften über Nahrungswechsel, dann Einreibung mit einer bestimmten Salbe, die er aus Deutschland zu schicken versprach.

Nach Monaten dann, als wir längst wieder heimgekehrt waren, und die Tage in Utsjoki wie ein ferner Traum verdämmerten, kam dann ein glückseliger Brief der von Sorge befreiten Mutter. Der Zustand des Kindes hatte sich bedeutend gebessert, die Aussicht auf Heilung war keine trügerische Hoffnung mehr!

So ergab sich für die Pfarrersleute und uns ein selbstverständlicher Austausch von Geben und Nehmen, ein beglückendes Gefühl unsererseits, nicht nur zu empfangen, sondern auch mit Rat und Tat zu danken. Heute noch bewahre ich, von der Hand des Herrn Pfarrers geschenkt, den Katechismus in lappischer Sprache als teures Andenken, ebenso wie die photographischen Aufnahmen, von denen einige dieses Buch schmücken dürfen.

*

Nun muß ich aber auch noch etwas von der Umgebung des Pfarrhauses erzählen, in der wir uns fischend, badend, wandernd umhertummelten.

Die auf einer Anhöhe nahe dem Fluß gelegene Kirche, ein stattlicher Steinbau, beherrscht mit ihrem Turm weithin das Tal des Utsjoki (joki = Fluß).

Wie die Küchlein um die Henne, lagern sich rings um die Kirche, aber immerhin in achtungsvoller Entfernung, etwa ein Dutzend leerer Holz- und Torfhütten, schwedisch »kyrkastugor« genannt. Das sind die »Kirchhütten«, die Unterkunftsräume, in denen die von weither kommenden Besucher des Gottesdienstes nächtigen und sich beköstigen. Meistens treffen sie am Vorabend des Sonn- oder Feiertages ein und bleiben dann bis zum ersten Werktagmorgen. Der Gottesdienst selbst findet nach Bedarf statt.

Sonntag früh macht der lappische Knecht und Kirchendiener einen Umgang in diesen Kirchhütten und sieht nach, wieviel Gäste sich eingefunden haben. Denn die Höchstzahl der Besucher, wie sie etwa das Johannisfest aufweist, schrumpft manchmal bei schlechtem Wetter ganz erheblich zusammen.

Aber Pfarrer Ahola ist ein so getreuer Lappenpastor, daß er auch dann Schaftstiefel und Mütze des Landwirts und Fischers mit dem schwarzen Talar vertauscht, wenn sich nur einige wenige Besucher eingefunden haben. Er weiß, wie notwendig es ist, gerade diesem Völkchen, in dessen Inneren immer noch die altheidnischen Vorstellungen umhergeistern, die Grundlehren des Christentums einzuimpfen.

Orgel oder Harmonium gibt es in dieser weltfernen Kirche freilich nicht. Ohne Musikbegleitung klingt, vom Pfarrer angestimmt, aus rauhen Kehlen der Choralgesang. Im Kirchliederbuch findet sich auch mancher Choral deutscher Herkunft: »Befiehl du deine Wege« und »Nun danket alle Gott«, »O Haupt voll Blut und Wunden« und »O heil'ger Geist, kehr bei uns ein« dringen auch dort unter dem siebzigsten nördlichen Breitengrad aus der Kirchenwölbung heraus in die blaue Sommerluft oder in die graue sturmdurchsauste Winternacht.

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Lappen mit Renntieren

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Ein Lappenzelt

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Lappen im Sonntagsstaat

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Kirche und Pfarrhaus in Utsjoki

Wie vieles haben wir da noch sehen und hören dürfen!

Wir strichen umher auf dem malerischen Lappenfriedhof. Wir beobachteten die Leute des Pfarrers beim Herstellen von Steinen aus einer Kiesgrube, dabei vollzog sich der Vorgang unmittelbar am Flußufer, genau noch wie vor Jahrtausenden am sogenannten »Göpel«, den ein lammfrommes Pferd in Bewegung setzte.

Wir bestiegen einen der am jenseitigen Flußufer sich erhebenden geröllübersäten und moosüberzogenen sogenannten »Tunturits«, aber wir saßen auch lauschend still in der Arbeitsstube des Pfarrers, der uns seine wertvollen alten Bücher über Sitten und Gebräuche der Lappen zeigte, oder wir blickten erfreut auf die Buchtitel, die uns von den geistigen Interessen der Frau Pfarrerin erzählten: da fanden wir neben finnischen und schwedischen Büchern auch einiges Deutsche. Vor allem grüßte uns vertraut, als ein Gesandter des deutschen Geistes, Friedrich Schiller mit seinen gesammelten Werken.

In solchen Augenblicken empfanden wir es lebhaft, daß über die Grenzen des eigenen Vaterlandes hinaus Menschen der verschiedensten Nationen durch geistige Brücken verbunden sind.

Wie freut man sich, wenn man im fremden Lande plötzlich bemerkt, daß auch dort Dichter und Denker, die uns selber ans Herz gewachsen sind, geehrt und geliebt werden. Außer Schiller und Goethe fanden wir z. B. auch Werke von Friedrich Nietzsche in der kleinen Bücherei eines Lehrers; und im Hause eines Länsmannes (wir würden wohl etwa »Landrat« sagen) entdeckten wir Werke des deutschen Philosophen Rudolf Eucken: er ist den Finnländern besonders ans Herz gewachsen, da er mit an der Spitze der deutschen Gelehrten und Staatsleute stand, welche immer wieder lebhaft für die Selbständigkeit des finnischen Volkes gegenüber der russischen Gewaltherrschaft eintraten.

Mag in solchen Häusern, wie auch im Pfarrhause von Utsjoki, die persönliche Verständigung etwas schwierig sein, – das schadet nichts, wenn man weiß, man befindet sich unter Menschen, denen unser deutsches Wesen, wenn nicht aus eigener Anschauung, so doch aus Büchern bekannt ist.

Das deutsche Buch ist ein Fürsprecher für uns draußen in der Welt, wie wir ihn besser gar nicht wünschen können.

*

Nur zwei Tage hatten wir in Utsjoki Rast gehalten, und doch ging uns der Abschied von den freundlichen Gastgebern so nahe ans Herz, als ob wir uns schon seit Jahren gekannt hätten.

Als unsere Boote von Land stießen, winkten wir uns noch lange zu. Unser Blick haftete auf der gastlichen Stätte, bis endlich die Turmspitze von Utsjoki hinter uns versank. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Onnela befanden wir uns auf dem breiten Stromspiegel des großen Tanaflusses.


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