Klaus Mann
Mephisto
Klaus Mann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX
In vielen Städten

Die Monate vergehen, das Jahr 1933 ist vorüber –: ein großes Jahr, wenn man den Journalisten glauben darf, die ihre Meinung und Gesinnung von einem Ministerium für Propaganda diktiert bekommen; das Jahr der Erfüllung, des Triumphes, des Sieges; das Jahr, in dem die deutsche Nation erwachte, glorreich zu sich selbst und zu ihrem Führer fand.

Ein erfreuliches, glänzendes Jahr für den Schauspieler Höfgen, so viel ist sicher. Es begann mit Sorgen, aber es endete in lauter Wohlgefallen. Zuversichtlich und in bester Laune darf Hendrik, der Vielgewandte, das Jahr 1934 beginnen. Er ist der Huld der Mächtigen sicher. Auf die Gnade des Ministerpräsidenten kann er sich verlassen. Der große Mann hält über ihn seine breite, schützende Hand. Er betrachtet Höfgen-Mephistopheles als eine Art von Hofnarren und brillanten Schalk, als ein drolliges Spielzeug. Längst ist dem Schauspieler seine verdächtige Vergangenheit als Künstlertorheit verziehen. Die Negerin mit der Peitsche ist ihm vom Halse geschafft. Höfgen darf viele und schöne Rollen spielen. Er darf filmen und verdient schweres Geld. Der Ministerpräsident empfängt ihn häufig. Fast so unbefangen wie früher in das Bureau des Direktors Schmitz oder des Fräulein Bernhard, tritt der Komödiant nun in die Amtsräume oder in die Privatgemächer des Generals.

»Denn dir die Grillen zu verjagen
Bin ich als edler Junger hin« –:

begrüßt Hendrik mit keckem Faust-Zitat den Gewaltigen. – Nach all seinen blutigen und glanzvollen Geschäften weiß der Mächtige sich keine nettere 301 Erholung, als mit dem Schalksnarren zu tändeln. Fräulein Lindenthal hätte beinah Anlaß zur Eifersucht. Aber sie ist ja gutmütig, und übrigens hat sie ihrerseits eine Schwäche für Hendrik Höfgen. Was für ein Ansehen, welchen Nimbus verschafft diesem in weiten Kreisen seine allgemein bekannte, überall besprochene Freundschaft mit dem gefürchteten Dicken!

»Bewundrung von Kindern und Affen,
Wenn Euch darnach der Gaumen steht . . .«:

Hieran muß Hendrik zuweilen denken, angesichts der Schmeicheleien, der devoten Liebenswürdigkeiten, mit denen die Kollegen und die Dichter, die Damen der neuen »Gesellschaft« und sogar Politiker ihn nun traktieren. Steht ihm der Gaumen wirklich nach dem zuckersüßen Gelispel des deutschen Nationalisten Monsieur Pierre Larue? Ergötzt er sich wahrhaftig an den literarisch pointierten Komplimenten des Doktor Ihrig, an den weltmännischen Artigkeiten des Herrn Müller-Andreä? Otto Ulrichs, dem alten Freund, gegenüber, äußert er sich verächtlich über die »ganze verfluchte Bande«. Aber schmecken sie ihm nicht doch süß, all die Ergebenheitsbeteuerungen, die gehäuften Aufmerksamkeiten? Mundet nicht doch der Champagner am Tische Pierre Larues im Hotel Esplanade, geschlürft im schönen Kreise dekorativer S.S.-Jünglinge? –

Hendrik hatte zahlreiche Freunde, es gab possierliche Figuren unter ihnen. Der Dichter Pelz zum Beispiel, für dessen höchst anspruchsvolle, schwer begreifbare, auf dunkle Art hinreißende Lyrik junge Menschen, die nun größtenteils in der Verbannung saßen, sich bis zur Verzückung begeistert hatten – Benjamin Pelz, ein kleiner gedrungener Mann, mit sanften, blauen und kalten Augen, hängenden Wangen und einem dicken, grausam lüsternen Mund, erklärte in intimer 302 Unterhaltung, daß er den Nationalsozialismus liebe, weil dieser eine Zivilisation, deren mechanische Ordnung unerträglich geworden war, ganz und gar vernichten werde; weil er zum Abgrund führe, den Geruch des Todes habe und unermeßliche Schmerzen ausschütten werde über den Erdteil, der im Begriff gewesen sei, halb zur tadellos organisierten Fabrik, halb zum Sanatorium für Schwächlinge zu entarten. »Das Leben in den Demokratien war ungefährlich geworden,« sprach tadelnd der Dichter Pelz. »Unserem Dasein kam das heroische Pathos mehr und mehr abhanden. Das Schauspiel, dem wir heute beiwohnen dürfen, ist das der Geburt eines neuen Menschentyps – oder vielmehr: das der Wiedergeburt eines sehr alten, archaisch-magisch-kriegerischen. Welch atemberaubend schönes Schauspiel! Was für ein erregender Prozeß! Seien Sie stolz darauf, lieber Höfgen, daß Sie aktiv an ihm teilhaben dürfen!« Dabei betrachtete er Hendrik liebevoll aus seinen sanften, eisigen Augen. »Das Leben bekommt wieder Rhythmus und Reiz, es erwacht aus seiner Erstarrung, bald wird es wieder, wie in schönen, versunkenen Epochen, die heftige Bewegtheit des Tanzes haben. Für Menschen, die nicht zu sehen und nicht zu hören verstehen, könnte der neue Rhythmus wie das einexerzierte Tempo des Marschierens wirken. Dummköpfe lassen sich täuschen durch die äußere Straffheit des militant-archaischen Lebensstils. Welch grober Irrtum! In Wahrheit wird jetzt nicht marschiert, sondern getaumelt. Unser geliebter Führer reißt uns in die Dunkelheit und ins Nichts. Wie sollten wir Dichter, die wir unsere besonderen Beziehungen zur Dunkelheit und zum Abgrund haben, ihn dafür nicht bewundern? Es ist wahrhaftig nicht übertrieben, unseren Führer göttlich zu nennen. Er ist die unterweltliche Gottheit, die allen magisch-eingeweihten Völkern die heiligste war. Ich bewundere ihn grenzenlos, weil ich die öde 303 Tyrannei der Vernunft und den spießbürgerlichen Fetisch-Begriff des Fortschritts grenzenlos hasse. Alle Dichter, die solchen Namen verdienen, sind die geborenen und verschworenen Feinde des Fortschritts. Das Dichten selbst ist ja Rückfall in heilig-frühe, vor-zivilisierte Zustände der Menschheit. Dichten und Töten, Blut und Lied, Mord und Hymne: das paßt zueinander. Alles paßt zueinander, was über die Zivilisation hinaus und tief hinunterreicht, in die geheime, gefahrenreiche Schicht. – Ja, ich liebe die Katastrophe,« sagte Pelz, wobei er sein Antlitz mit den melancholisch hängenden Wangen nach vorne neigte und lächelte, als schmeckten seine dicken Lippen Süßigkeit oder Küsse. »Ich bin begierig auf die tödlichen Abenteuer, auf den Abgrund, auf das Erlebnis der extremen Situation, die den Menschen außerhalb der zivilisatorischen Bindungen stellt, in jene Gegend, wo keine Versicherungsgesellschaft, keine Polizei, kein komfortables Lazarett ihn mehr schützen vor dem unbarmherzigen Zugriff der Elemente und eines raubtierhaften Feindes. Wir werden dies alles erleben, verlassen Sie sich darauf, wir werden Schauerliches genießen, mir kann es gar nicht schaurig genug sein. Man ist noch immer zu zahm – unser großer Führer darf wohl noch nicht ganz so, wie er möchte. Wo bleiben die öffentlichen Folterungen? Die Verbrennung der humanitären Schwätzer und der rationalistischen Flachköpfe?« Hierbei klopfte Pelz ungeduldig mit einem kleinen Löffel gegen die Kaffeetasse, als riefe er den Kellner, der ihn auf ein Autodafé gar zu lange warten ließe. »Warum immer noch diese nicht mehr angebrachte Diskretion, diese falsche Scham, die das schöne Fest der Marterungen hinter den Mauern der Konzentrationslager versteckt?« fragte er streng. »Und verbrannt hat man, meines Wissens, bis jetzt nur Bücher, das ist doch nichts. – Aber unser Führer wird uns schon noch anderes liefern, ich 304 verlasse mich fest auf ihn. Feuerscheine am Horizont, Blutbäche auf allen Wegen, und ein besessenes Tanzen der Überlebenden, der noch Verschonten um die Leichen!« Der Poet wurde von einer fröhlichen Zuversichtlichkeit ergriffen, was die Schrecknisse der nächsten Zukunft betraf. Mit gewählter Höflichkeit, die Hände in frommer Haltung auf der Brust gefaltet, versicherte er Hendrik: »Und Sie, mein lieber Herr Höfgen, Sie werden zu denen gehören, die am zierlichsten über Kadaver hüpfen. Sie haben das Gesicht dazu, ich sehe es Ihnen an. Sie sind ein sehr anmutiger Sohn der Unterwelt, es ist kein Zufall, daß der Herr Ministerpräsident Sie auszeichnet. Sie besitzen den echten, produktiven Zynismus des radikalen Genies. Ich schätze Sie außerordentlich, mein sehr lieber Herr Höfgen.«

Dergleichen wunderliche und fragwürdige Komplimente hörte Hendrik sich an, aasig lächelnd und mit rätselhaft schillernden Augen. – Nicht jedermann hatte so tiefe und raffinierte Gründe wie der Dichter Pelz für seine neuentdeckte Liebe zum Nationalsozialismus. Andere erklärten schlicht: »Ich bin und bleibe ein deutscher Künstler und ein deutscher Patriot, wer immer auch in meinem Vaterland regieren möge. Mir gefällt es in Berlin besser als irgendwo sonst auf der Welt, und ich habe nicht die geringste Lust dazu, abzureisen. Übrigens würde ich nirgends annähernd so viel Geld verdienen wie hier.«

Es war der dicke Charakterspieler Joachim, der sich abends am Biertisch also vernehmen ließ. Bei dem wußte man wenigstens, woran man war. Er wäre emigriert und ein temperamentvoller Antifascist geworden, hätte man ihm nur ein fettes Angebot aus Hollywood gemacht. Dieses Angebot indessen blieb leider aus: Joachim, der zu den berühmtesten deutschen Schauspielern gehört hatte, war nicht mehr ganz auf der Höhe. Deshalb erklärte er nun mit der Miene des 305 Biedermanns im Kreis der Kollegen: »Wo gibt es denn noch ein so gutes Bier wie hier, in unserem Altdeutschen Keller. Kann mir das vielleicht jemand sagen?« Er schaute herausfordernd und etwas tückisch um sich. Sein großes, ausdrucksvolles Gesicht mit den schwammigen Backen und den kleinen, mißtrauischen Augen hatte die trügerische Gutmütigkeit des Bären, der so drollig und ungeschlacht scheint, jedoch von allen Raubtieren das grausamste ist. Schmeichler versicherten dem Charakterspieler Joachim, er habe eine entschiedene Ähnlichkeit mit dem Herrn Ministerpräsidenten. Dann schmunzelte der Mime. Hingegen wurde er furchtbar zornig, wenn ihm zu Ohren kam, jemand habe von ihm behauptet, er sei Halbjude. »Der Schuft soll herkommen!« schrie Joachim, dessen Gesicht purpurn anlief. »Ich möchte doch wissen, ob er es wagt, mir ins Gesicht hinein den frechen Schwindel zu wiederholen! So eine Gemeinheit! Einem deutschen Mann die Ehre abzuschneiden!«

Das schreckliche Gerücht um den Charakterspieler wollte nicht verstummen. Immer wieder wurde gemunkelt: mit einer seiner Großmütter habe was nicht gestimmt. Der deutsche Mann ließ durch Detektive feststellen, wer die infamen Verleumder waren. Mehrere Personen kamen ins Konzentrationslager, weil sie die Großmutter des Tragöden verdächtigt hatten. »Die Gemeinheit darf sich hier nicht mehr ungestraft austoben,« stellte Joachim mit Befriedigung fest.

Er besuchte seine einflußreichsten Freunde und Kollegen, um ihnen noch einmal, von Mann zu Mann, ausdrücklich zu versichern, daß er für die tadellose Rasse seiner Ahnen garantieren könne. »Hand aufs Herz,« sagte Joachim zu Höfgen, dem er an einem Sonntagvormittag nicht ohne Feierlichkeit Visite machte. »Bei mir ist alles in Ordnung. Alles wie es sein soll, ich habe mir nicht das Mindeste vorzuwerfen.« Er 306 blickte mit treuen Hundeaugen von unten, wie er es zu tun pflegte, wenn er rauhe aber herzensgute Väter spielte, die sich mit ihren Söhnen erst zanken, dann unter Tränenausbrüchen versöhnen. »Jeden, der das Gegenteil behauptet, muß ich leider einsperren lassen,« sprach mit einem schmalzigen Ton in der Stimme abschließend der deutsche Mann. »Denn wir leben in einem Rechtsstaat.« Dieser Ansicht konnte Hendrik Höfgen sich nur anschließen. Er bot dem Kollegen, der mit so lobenswertem Eifer um seine Ehre kämpfte, Zigarren und köstlichen alten Cognac an. Die Vormittagsstunde zwischen den beiden Künstlern wurde heiter und traulich. Zum Abschied umarmte Joachim den Kollegen Höfgen mit der täppischen Bewegung des Bären, der seinen Gegner in der Umschlingung erdrückt, und er bat darum, Fräulein Lindenthal herzlichst von ihm zu grüßen. –

Solche Freunde hatte Höfgen nun – teils interessante Menschen wie Pelz, teils herzensgute wie Joachim. Wo aber lebten die, welche er früher seine Freunde genannt hatte? Was war aus ihnen geworden?

Barbara hatte ihm aus Paris geschrieben, daß sie wünsche, sich scheiden zu lassen. Die gerichtlichen Formalitäten wurden in Abwesenheit der beiden Ehegatten schnell und leicht durchgeführt. Es bedurfte keines besonderen Scheidungsgrundes: die Richter hatten Verständnis dafür, daß ein Mann in der Stellung und von der Gesinnung Höfgens – prominentes Mitglied des Preußischen Staatstheaters und persönlicher Freund des Herrn Ministerpräsidenten – keinesfalls mit einer Dame verheiratet bleiben konnte, die als Emigrantin im Ausland lebte, aus ihrer staatsfeindlichen Gesinnung kein Hehl machte und übrigens, wie sich neuerdings herausgestellt hatte, von unreiner Rasse war. Ihrem politisch schwer kompromittierten Vater, dem Geheimrat, jüdisches Blut nachzusagen, 307 wagten selbst die professionellen Lügner der nationalsozialistischen Presse nicht. Was man ihm aber vorzuwerfen hatte, war womöglich noch ärger und unverzeihlicher: er hatte »Rassenschande« getrieben, seine Gattin, die Tochter des Generals, war keine einwandfreie »Arierin« gewesen. Nicht umsonst hatte Barbaras Großvater, der hohe Offizier, von dessen militärischen Verdiensten plötzlich niemand mehr etwas wissen wollte, immer verdächtig liberale Neigungen gehabt. Auch die geistige Angeregtheit der Generalin, die weit über das in Offizierskreisen übliche und statthafte Maß hinausging, erklärte sich nun auf die einfachste aber peinlichste Weise. Der General war kein deutscher Volksgenosse gewesen, sondern ein Untermensch und Semit –: Wilhelm II. hatte es wohlwollend übersehen; aber ein Nürnberger Antisemitenblatt brachte es an den Tag. Eine halbe Semitin war auch die Generalin: das Pogromblatt konnte es beweisen. Was nützten ihr nun eine große, glanzvolle Vergangenheit, ihre fürstliche Schönheit und all ihre Würde? Ein schmieriger Skribent und ungewaschener Geselle, der in seinem Leben keinen korrekten deutschen Satz zustande gebracht hatte, durfte feststellen, daß sie nicht zur nationalen Gemeinschaft gehöre.

Barbara ihrerseits also hatte über dreißig Prozent schlechten Blutes: schon dieser Umstand würde dem deutschen Gericht als Scheidungsgrund genügt haben. Blonde Rheinländer haben Anspruch auf ein tadellos reinrassiges Eheweib. Eine Frau wie Barbara aber hätte Hendrik sich selbst dann nicht gefallen lassen müssen, wenn sie garantierte »Arierin« gewesen wäre. Es war ja eine Schande und ein offener Skandal wie sie es trieb! –

Sie hatte Paris nicht verlassen, seit sie im Februar 1933 dort eingetroffen war. Jeder, der sie von früher her kannte, mußte bemerken, daß sie verändert war. Alles 308 Träumerische war von ihr abgefallen, und sie schien kaum noch geneigt zu wehmütigen oder heiteren Spielen. Ihr Gesicht hatte einen Zug von Entschlossenheit bekommen: er saß zwischen den Augenbrauen, er beherrschte die Stirn. Sogar ihr Gang, der ehemals schlendernd gewesen war, verriet nun eine neue Energie. So bewegt sich jemand, der ein Ziel hat, und nicht ruhen will, ehe es erreicht und erobert ist.

Barbara, die sich mit kleinen Zeichnungen und schweren Büchern, mit sorgendem Interesse für ihre Freunde, mit leichten Spielen und grüblerischen Gedanken die Zeit vertrieben hatte, war aktiv geworden. Sie arbeitete in einem Komitee für politische Flüchtlinge aus Deutschland. Außerdem besorgte sie, gemeinsam mit ihrem Freund Sebastian und Frau von Herzfeld, die Herausgabe einer Zeitschrift, die sich mit den Kriegsvorbereitungen, den kulturellen und juristischen Greueln, mit dem Schmutz und der Gefährlichkeit des deutschen Fascismus beschäftigte. Sebastian und die Herzfeld waren verantwortlich für die Redaktion; Barbara hatte das Geschäftliche zu erledigen. Zu ihrer eigenen Verwunderung stellte sich heraus, daß sie nicht unbegabt und nicht ohne Geschicklichkeit für finanzielle Dinge war. Die kleine Revue mußte sich selber erhalten, sie wurde von keiner Seite gestützt. Sie erschien wöchentlich, jede Nummer in deutscher und französischer Sprache. Zunächst wurde sie nur einem engen Kreis von Abonnenten zugesandt und war nicht gedruckt, sondern hektographiert. Nach einem halben Jahr war aus den dünnen Blättern eine Zeitschrift geworden, die in allen europäischen Städten außerhalb Deutschlands ihre Freunde hatte. »In Stockholm lesen uns fünfzig Leute, und in Madrid fünfunddreißig, und in Tel-Aviv hundertundzehn,« durfte Barbara feststellen. »Mit Holland und der Tschechoslowakei bin ich ganz zufrieden. In der Schweiz muß 309 es besser werden. Wenn wir nur einen geschickten Vertreter in Amerika hätten! Es ist alles noch viel zu wenig. Hunderttausende sollten erfahren, was wir zu sagen haben. – Wir sind so arm,« sagte sie – man hielt eine »Redaktionskonferenz« in ihrem kleinen Hotelzimmer. »Unsere Feinde geben Millionen aus, damit ihre Lügen unter die Leute kommen – und wir wissen kaum, wovon wir die Briefmarken bezahlen sollen.« Sie ballte ihre schmalen, bräunlichen Hände zu Fäusten. Ihre Augen bekamen den drohenden Blick – wie immer, wenn sie an die Verhaßten, an die »Feinde« dachte. –

Verändert hatte sich auch Sebastian, der sich früher nur um die feinsten und schwierigsten Dinge bekümmert hatte. Nun bemühte er sich, einfach zu denken und einfach zu schreiben. »Der Kampf hat andere Gesetze als das hohe Spiel der Kunst,« sagte er. »Das Gesetz des Kampfes fordert von uns, daß wir auf tausend Nuancen verzichten und uns ganz auf eine Sache konzentrieren. Meine Aufgabe ist es jetzt nicht, zu erkennen oder Schönes zu formen, sondern zu wirken – soweit das in meinen Kräften steht. Es ist ein Opfer, welches ich bringe – das schwerste.« – Manchmal wurde er müde. Dann sagte er: »Es ekelt mich. Es hat auch gar keinen Sinn. Die anderen sind ja doch viel stärker als wir, bei ihnen sind alle Chancen. Es ist so bitter, und auf die Dauer so lächerlich, den Don Quijote zu spielen. Ich habe Sehnsucht nach der Insel, die so weit entlegen ist, daß auf ihr all dies, womit wir uns quälen, sich auflöst und keine Realität mehr hat . . .«

»Die gibt es nicht!« rief ihn Barbara an. »Die gibt es nicht, und soll es gar nicht geben, Sebastian! – Übrigens sind unsere Feinde gar nicht so entsetzlich stark. Sie fürchten sich sogar etwas vor uns. Jedes Wort – jede Wahrheit, die wir gegen sie sagen, tut ihnen ein klein 310 bißchen weh und beschleunigt um eine Winzigkeit – um eine Winzigkeit, Sebastian! – ihren Untergang, der doch einmal kommt.« So zuversichtlich war sie, oder konnte sie doch scheinen, in den Augenblicken, da ihr Freund Sebastian müde wurde. »Denke dir,« erzählte sie ihm, »wir haben zwei neue Abonnenten in Argentinien, das ist doch fein, sie haben sogar das Geld schon geschickt.« – Barbara verbrachte ihren halben Tag damit, Mahnbriefe an die Buchhandlungen und Vertriebszentralen in Sofia oder in Kopenhagen, in Tokio oder in Budapest zu schreiben, wegen der kleinen Summen, die man ihr schuldig blieb.

Zwischen Barbara und Hedda von Herzfeld hatte sich ein Verhältnis herausgebildet, das nicht ganz Freundschaft war, aber doch etwas mehr als nur die sachliche Beziehung zwischen zwei Menschen, die miteinander arbeiten. Barbara empfand Achtung vor Frau von Herzfeld; denn diese zeigte Energie und Tapferkeit. Sie war sehr allein, sie hatte nur ihre Arbeit. An der kleinen Revue, die sie mit Sebastian redigierte, hing sie, wie die Mutter am Kind. Als das Heft zum ersten Mal gedruckt und in der besseren Ausstattung vorlag, weinte Hedda beinahe vor Freude. Sie umarmte Barbara und sagte ihr – ganz leise ins Ohr, obwohl kein Dritter im Zimmer war –, wie dankbar sie ihr für alles sei. Barbara schaute lange in Frau von Herzfelds großes, weiches, flaumig gepudertes Gesicht, und stellte fest: es hatte schärfere und tiefere Züge bekommen. Sie ließen auf innere Kämpfe schließen, auf seelische Vorgänge von heftiger und bitterer Art, denen Hedda ausgesetzt gewesen war in diesem Jahr, das man gemeinsam überstanden hatte. In den ersten Wochen der Emigration hatte sie einmal den Mann getroffen, mit dem sie vor vielen Jahren verheiratet gewesen war. Vielleicht hatte sie auf diese Begegnung Hoffnungen gesetzt. Es stellte sich heraus, daß der Mann in Moskau 311 mit einem Mädchen zusammenlebte. Nichts konnte selbstverständlicher sein als dies. Hedda war vernünftig genug, es einzusehen. Trotzdem wurde sie von der Mitteilung wie von etwas Unerwartetem getroffen und in Hoffnungen, die sie sich kaum noch eingestanden hatte, enttäuscht.

Dachte sie noch zuweilen an Hendrik? Einmal, nur ein einziges Mal, erwähnte sie Barbara gegenüber seinen Namen. »Ob es ihm gut geht?« fragte sie leise – es war spät in der Nacht, man hatte lange zusammen gearbeitet. »Ob der Betrieb ihm Spaß macht? Ob er zufrieden ist mit seinem neuen Ruhm?« – »Von wem sprichst du?« fragte Barbara zurück, ohne aufzuschauen. Frau von Herzfeld wurde ein wenig rot, während sie ironisch zu lächeln versuchte: »Nun, von wem denn wohl? Von deinem geschiedenen Herrn Gemahl . . .« Barbara sagte trocken: »Lebt der noch? Ich wußte gar nicht, daß es ihn noch gibt. Für mich ist er lange tot. Ich liebe nicht die Gespenster der Vergangenheit, am wenigsten so dubiose Gespenster wie dieses.« – Seitdem sprachen sie nie mehr von ihm. –

Manchmal besuchte Barbara ihren Vater, der ganz allein in einer südfranzösischen Stadt am Mittelmeer wohnte. Er hatte Deutschland sofort nach dem Reichstagsbrand verlassen – zur Wut und zur Enttäuschung einer Horde von nationalsozialistischen Studenten, die sein Haus leer fanden, als sie anrückten, um dem »roten Geheimrat« mal zu zeigen, was »die wahre deutsche Jugend« von ihm dachte. Die wahre deutsche Jugend war dazu entschlossen, den weltberühmten alten Herrn durchzuprügeln, ihn dann in ein Auto zu packen und im nächsten Konzentrationslager abzuliefern. Die Bande tobte, weil sie in der Villa nur eine zitternde Haushälterin fand. Um doch etwas für die nationale Sache zu leisten und der nächtlichen Spazierfahrt einen 312 gewissen Sinn zu geben, beutelte man die arme alte Frau ein wenig und sperrte sie in den Keller, während man sich oben in der Bibliothek vergnügte. Die wahre deutsche Jugend trampelte auf den Werken Goethes und Kants, Voltaires und Schopenhauers, Shakespeares und Nietzsches herum. Das ist alles Marxismus, stellten die Uniformierten angewidert fest. Als die Schriften Lenins und Freuds ins Kaminfeuer fielen, führten sie einen Freudentanz auf. Auf der Rückfahrt konnten die jungen Menschen konstatieren, daß sie schließlich doch ein paar ganz nette Abendstunden im Hause des Geheimrats zugebracht hatten. »Und wenn das alte Schwein gar noch selber dagewesen wäre,« riefen die fröhlichen Burschen, »das hätte erst eine Hetz gegeben!«

Der Geheimrat hatte in seinen Koffern die wichtigsten Papiere und einen geringen, aber ihm besonders lieben Teil seiner Bücherei mit sich nehmen können. Nachdem er einige Wochen auf Reisen, in der Schweiz und in der Tschechoslowakei zugebracht hatte, ließ er sich in Südfrankreich nieder. Er mietete sich ein kleines Haus, im Garten gab es ein paar Palmen und schöne Blütenbüsche, und man hatte den Blick aufs Meer.

Der alte Herr ging sehr selten aus, und er war meistens allein. Stundenlang wandelte er in seinem Gärtchen auf und ab, oder er saß vor dem Haus und konnte sich nicht satt sehen an den unendlich wechselnden Farben des Meeres. »Es ist ein so großer Trost für mich,« sagte er zu Barbara, seiner Tochter, »es tut mir so gut, dieses schöne Wasser vor mir zu haben. In all der Zeit, die ich nicht hier gewesen bin, hatte ich ganz vergessen, wie blau es sein kann: das Mittelmeer . . . Alle Deutschen, die den Namen verdienen, hatten Sehnsucht nach ihm, und sie haben es alle verehrt, als die heilige Wiege unserer Gesittung. Nun plötzlich soll es gehaßt werden in unserem Lande. Die Deutschen wollen sich 313 gewaltsam lösen von seiner sanften Macht und von seiner starken Gnade; sie glauben, seine schöne Klarheit entbehren zu können; sie schreien, daß sie ihrer überdrüssig sind. Aber das ist ja ihre eigene Gesittung, derer sie da überdrüssig zu sein behaupten. Wollen sie all das Große verleugnen, was sie selber der Welt geschenkt haben? Es scheint beinahe so . . . Ach, diese Deutschen! Wie viel werden sie noch leiden müssen, und wie schrecklich viel werden sie die anderen leiden machen!« –

Das nationalsozialistische Regime hatte das Haus und das Vermögen des Geheimrats beschlagnahmt; es erklärte ihn seiner Staatsbürgerschaft für verlustig. Bruckner erfuhr es durch eine Notiz in der französischen Presse, daß er »ausgebürgert« und kein Deutscher mehr sei. Einige Tage, nachdem er diese Mitteilung gelesen hatte, begann er wieder zu arbeiten. »Es soll ein großes Buch werden,« schrieb er an Barbara, »und es wird ›Die Deutschen‹ heißen. In ihm werde ich alles zusammenfassen, was ich über sie weiß, was ich für sie befürchte, was ich für sie hoffe. Und ich weiß viel über sie, ich befürchte viel für sie, und ich hoffe, immer noch, viel für sie.«

Leidend und sinnend verbrachte er seine Tage an einer fremden und geliebten Küste. Manchmal vergingen Wochen, ohne daß er ein Wort sprach, außer einigen französischen Phrasen mit dem Mädchen, das sein Haus besorgte. Er empfing viele Briefe. Menschen, die früher seine Schüler gewesen waren und nun in der Emigration oder verzweifelt in Deutschland saßen, wandten sich an ihn um Zuspruch und geistigen Rat. »Ihr Name bleibt für uns der Inbegriff eines anderen, besseren Deutschlands,« wagte jemand aus einer bayrischen Provinzstadt ihm zu schreiben – freilich mit verstellter Schrift und ohne daß er seine Adresse verraten hätte. Solche Geständnisse und Treueschwüre 314 las der Geheimrat halb mit Rührung, halb mit Bitterkeit. ›Und alle diese, die so empfinden und schreiben, haben mitgeduldet, mitverschuldet, daß unser Land zu dem werden konnte, was es heute ist,‹ mußte er denken. Er legte die Briefe beiseite, und er öffnete wieder sein Manuskript, das langsam wuchs und reich ward an Liebe und an Erkenntnis, an Gram und Trotz, an tiefem Zweifel und einer noch hinter tausend Vorbehalten starken Zuversicht. –

Bruckner wußte, daß in einer anderen südfranzösischen kleinen Stadt, die von dem Orte seines Aufenthalts noch keine fünfzig Kilometer entfernt war, Theophil Marder mit Nicoletta wohnte. Die beiden Männer hatten sich einmal auf einem Spaziergang getroffen und begrüßt, es war aber zu keiner Verabredung und zu keinem Wiedersehen zwischen ihnen gekommen. Marder war ebenso wenig wie Bruckner gestimmt zum Gespräch und zur Geselligkeit. Dem Satiriker war die aufgeräumte, aggressive Schnoddrigkeit vergangen. Ihn hatte das Entsetzen über die deutsche Katastrophe verstummen lassen. Wie Bruckner saß er stundenlang in einem Gärtchen, wo es Palmen und blühende Gebüsche gab, und starrte aufs Meer. Aber Marders Augen hatten nicht den stillen, sinnenden Blick; sie waren unruhig, sie flackerten, sie irrten ratlos und trostlos über die schimmernd ausgebreitete Fläche. Seine bläulich gefärbten Lippen hatten ihre saugende und schmatzende Beweglichkeit behalten; nur bildeten sie jetzt keine Worte mehr, sondern lautlose Klagen.

Theophil, der den Kopf so aufrecht getragen hatte, saß nun in sich zusammengesunken. Die bleifarbenen Hände lagen ihm auf den mageren Knien und sahen so müde aus, als ob er sie niemals mehr würde rühren können. Er kauerte regungslos, nur seine Augen irrten und seine Lippen führten ihre jammervoll stumme Sprache. Manchmal zuckte er zusammen, als hätte 315 ein gar zu grauenhaftes Gesicht ihn erschreckt. Dann richtete er sich mühsam auf und schrie mit einer Stimme, die nicht mehr schnarrte, sondern greisenhaft krächzte. »Nicoletta! Komm' Ich bitte dich, komm sofort!« verlangte Theophil, zugleich jammernd und drohend. Und Nicoletta trat aus dem Hause.

In ihrem Gesichte gab es jetzt einen Zug von Müdigkeit und melancholischer Geduld, der zu der kühn gebogenen Nase, dem scharfen Mund und der gewölbten Stirne nicht passen wollte. Ihre Wangen waren breiter und weicher geworden, ihre schönen und weiten Augen hatten nicht mehr jene herausfordernde Blankheit, durch die sie früher fasziniert und beunruhigt hatten. Nicoletta schien nicht mehr das eigensinnige und hochmütige Mädchen zu sein, sondern eine Frau, die viel geliebt und viel gelitten hat. Sie hatte ihre Jugend geopfert –: besessen von einem Gefühl, in dem sich krampfhafte Hysterie mit einer echten Glut, einer kostbaren Ergriffenheit des Herzens verband, hatte sie ihre Jugend verschenkt an den Mann, der dort als ein Gebrochener im Sessel vor ihr lag.

»Was fehlt dir, Theophil?« fragte sie. Die musterhafte Aussprache hatte sie sich bewahrt, was sonst ihr auch verloren gegangen sein mochte in all den Jahren. »Womit kann ich dir helfen, mein Lieber?«

Er aber stöhnte, wie aus schlimmen Träumen. »Nicoletta – Nicoletta, mein Kind . . . Es ist so grauenhaft . . . Es ist viel zu grauenhaft . . . Ich höre die Schreie derer, die man in Deutschland foltert . . . Ich höre sie ganz deutlich, der Wind trägt sie über das Meer . . . Die Folterknechte spielen Grammophon während der infernalischen Prozeduren, das ist ein gemeiner Trick, sie stopfen ihren Opfern Kissen vor den Mund, damit die Schreie erstickt werden . . . Aber ich höre sie doch . . . Ich muß alles hören. Gott hat mich gestraft, indem er mir das empfindlichste Ohr unter den Sterblichen gab . . . 316 Ich bin das Weltgewissen, und ich höre alles. Nicoletta, mein Kind!« Er klammerte sich an sie. Seine gepeinigten Augen irrten über die südliche Landschaft, deren Frieden sich ihm mit schauerlichen Figuren belebte. Nicoletta legte ihm die Hand auf die heiße und nasse Stirn. »Ich weiß es, mein Theophil,« sprach sie mit der sanftesten Exaktheit. »Du hörst alles und du durchschaust alles. Du mußt der Welt Rechenschaft geben von deinem Wissen: das würde für dich und für die Welt sehr von Vorteil sein. Du solltest schreiben, Theophil! Du mußt schreiben!«

Seit einem Jahr flehte sie ihn an, er solle arbeiten. Sie litt unter seiner Erstarrung, sie ertrug nicht seine verzweifelt grübelnde Tatenlosigkeit. Sie bewunderte ihn, sie hielt ihn für den Größten unter den Lebenden, sie wollte ihn nicht am Rande der Geschehnisse sehen, sondern in ihrem Zentrum: wirkend, eingreifend, die Welt zur Besinnung rufend, alarmierend. Aber er antwortete ihr:

»Was soll ich noch schreiben? Ich habe alles gesagt. Ich habe alles vorausgewußt. Ich habe den Schwindel entlarvt. Ich habe die Fäulnis gerochen. Wenn du ahntest, mein Kind, wie schwer erträglich es ist, so furchtbar recht zu behalten. Meine Bücher sind so vergessen, als seien sie nie geschrieben worden. Meine gesammelten Werke hat man verbrannt. Meine ungeheuren Prophetien scheinen im Wind verhallt – und doch ist alles, was heute geschieht, der ganze unsägliche Jammer, nichts als ein geringes Nachspiel, ein Satyrspiel zu meinem prophetischen Werk. In meinem Werk steht schon alles, in ihm ist alles vorweggenommen, auch das, was sich erst noch zutragen wird – das Schlimmste, die finale Katastrophe –: ich habe es schon durchlitten, ich habe es schon geformt. Was soll ich denn jetzt noch schreiben? Ich trage das Leid der Welt. In meinem Herzen spielen alle Zusammenbrüche sich ab, 317 die gegenwärtigen wie die zukünftigen. Ich – ich – ich . . .« Über diesen drei Buchstaben, über diesem »Ich«, in dem sein halb verwirrter Geist sich verfing wie in einer Falle, verstummte er. Sein Haupt, das die furchtbaren Leiden verschönt hatten, – es schien jetzt feiner, zarter und strenger gebildet; genauer durchgearbeitet als ehemals – sank ihm nach vorne. Theophil war plötzlich eingeschlafen.

Nicoletta trat ins Haus zurück. Sie blieb in dem dunklen und kühlen Vorplatz stehen. Langsam hob sie die Arme und legte sich die beiden Hände vors Gesicht. Sie wollte schluchzen, aber es kamen keine Tränen; sie hatte zu viel geweint. In ihre Hände hinein flüsterte Nicoletta:

»Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich muß weg von hier. Ich halte es nicht mehr aus.« –

 

Über die Länder verstreut, in vielen Städten lebten die Menschen, die Hendrik seine Freunde genannt hatte. Einigen von ihnen ging es gut, der »Professor« zum Beispiel hatte nicht zu klagen, ein Weltruhm wie der seine verbraucht sich nicht, er konnte wohl damit rechnen, daß er bis zu seinem Lebensende in Schlössern mit Barockmöbeln und Gobelins oder in den fürstlichen Appartements der ersten internationalen Hotels wohnen würde. Man wollte ihn in Berlin nicht mehr inszenieren lassen, weil er Jude war? Gut – oder vielmehr: umso schlimmer für die Berliner. Der Professor bewegte die Zunge majestätisch in seinen Backen, knarrte und knurrte ein paar Tage lang verärgert, und fand schließlich, er habe ohnedies in letzter Zeit etwas reichlich zu tun gehabt, mochten die Berliner sich also ihr Theater allein machen, sollte doch »dieser Höfgen« seinem »Führer« Komödie vorspielen – er, der Professor, hatte während dieser Saison noch eine große Operette in Paris, zwei Shakespearsche Lustspiele in 318 Rom und Venedig und eine Art von religiöser Revue in London zu inszenieren. Außerdem gab es eine Tournee mit »Kabale und Liebe« und der »Fledermaus« durch Holland und Skandinavien zu erledigen, und im Frühling mußte er in Hollywood sein, denn er hatte einen großen Filmvertrag unterschrieben.

Seine beiden Theater in Wien verwalteten Fräulein Bernhard und Herr Katz: auch um diese Beiden brauchte man sich keine Sorgen zu machen. Manchmal dachte Herr Katz mit Wehmut an die lustigen Zeiten, als er die Berliner mit seinem abgründigen Drama »Die Schuld« hereingelegt und sich als den spanischen Nervenarzt ausgegeben hatte. »Das sind doch noch Scherze von Format gewesen!« sagte er und spielte mit der Zunge im Mund, fast genau so majestätisch, wie sein Herr und Meister. Jetzt war nichts mehr mit der Dostojewski-Seele anzufangen und Herr Katz war endgültig verbannt in die niedrige geschäftliche Sphäre. – Wehmütig wurde auch Fräulein Bernhard, wenn sie an den Kurfürstendamm, besonders aber, wenn sie an Höfgen dachte. »Was für herrlich böse Augen er hat!« erinnerte sie sich träumerisch. »Meinen Hendrik – den gönne ich den Nazis am allerwenigsten, so was Schönes verdienen die wirklich nicht.« Übrigens ließ sie sich jetzt von einem jungen Wiener Bonvivant, der zwar nicht so dämonisch war wie Höfgen, dafür aber galanter und anspruchsloser als dieser, »Rose« nennen und am Kinn kraulen. –

Einen zweiten Aufstieg, einen neuen Triumph, der alle ihre Berliner Erfolge übertraf und in den Schatten stellte, erlebte Dora Martin in London und New York. Sie hatte englisch gelernt mit dem Eifer eines ehrgeizigen Schulkindes oder eines Abenteurers, welcher sich ein fremdes Land erobern will. Nun konnte sie sich, in der neuen Sprache, alle jene eigenwilligen Extravaganzen leisten, mit denen sie früher Berlin bezaubert und 319 überrascht hatte. Sie zerdehnte die Vokale, sie girrte, klagte, kicherte, jubelte, sang. Sie war scheu und ungelenk wie ein dreizehnjähriger Junge, schwerelos und federleicht wie eine Elfe. Sie schien nachlässig und kapriziös zu improvisieren; in Wahrheit berechnete ihre große Intelligenz jede der Nuancen der kleinen, aber sorgfältig verteilten Effekte, mit denen sie ihr gebanntes Publikum zum Lächeln oder zum Schluchzen brachte. Sie war schlau, sie wußte, was die Angelsachsen lieben. Mit genauer Absicht war sie um eine Note sentimentaler, um eine Spur weiblicher und sanfter geworden, als sie es in Deutschland gewesen war. Sie erlaubte sich nun seltener die rauhen und heiseren Töne; dafür rührte sie häufiger mit dem unschuldig kindlichen, hilflosen, weit geöffneten Blick. »Ich habe meinen Typ ein ganz ganz klein bißchen verändert,« stellte sie fest, wobei sie den Kopf kokett zwischen die Schultern steckte. »Nur gerade so viel, wie es nötig war, damit ich den Engländern und Amerikanern gefalle.« Sie reiste zwischen London und New York hin und her, in jeder der beiden Städte spielte sie dasselbe Stück hunderte von Malen hintereinander. Tags filmte sie. Es war erstaunlich, was sie physisch leistete und aushielt. Ihr schmaler, kindlicher Körper schien unermüdlich, als wäre er besessen von einer dämonischen Kraft. Die amerikanischen und englischen Zeitungen priesen sie als die größte Bühnenkünstlerin der Erde. Wenn sie nach der Vorstellung für eine Viertelstunde im Hôtel Savoy erschien, schmetterte die Kapelle einen Tusch, und alle Anwesenden erhoben sich ihr zu Ehren. Der jüdischen Schauspielerin, die man aus Berlin vertrieben hatte, huldigte die Gesellschaft der beiden angelsächsischen Kapitalen. Sie wurde von der englischen Königin empfangen, der Prince of Wales schickte ihr Rosen in die Garderobe, junge amerikanische Dichter schrieben Stücke 320 für sie. Manchmal fragten Journalisten sie, die aus Wien oder aus Budapest herbeigereist kamen, um sie zu interviewen, ob sie nicht Lust hätte, einmal wieder in deutscher Sprache zu spielen. Sie erwiderte: »Nein. Ich habe keine Lust dazu. Ich bin keine deutsche Schauspielerin mehr.« Aber zuweilen dachte sie doch: Was man wohl in Berlin zu meinen neuen Erfolgen sagt? Ob man von ihnen erfährt? Natürlich erfährt man von ihnen. Ich darf hoffen, daß man sich ein wenig ärgert. Denn freuen wird sich dort niemand über meine Siege. Diese hunderttausend Menschen, die mit mir angegeben haben, als ob sie mich glühend liebten: ärgern sollen sie sich doch jetzt wenigstens über mich, damit sie mich nicht ganz und gar vergessen.

Ein großer englischer Film, in dem sie die Hauptrolle spielte, wurde in Berlin vorgeführt. Aber nur ein paar Tage lang, dann gab es Krach. Der Propagandaminister befahl »spontane Empörung«. S.A.-Leute wurden in Zivil gesteckt und ins Kino geschickt. Als das Gesicht der Dora Martin in Großaufnahme auf der Leinwand erschien, begannen die Burschen, die man im ganzen Saale verteilt hatte, zu pfeifen, zu johlen und mit Stinkbomben zu werfen. »Wir wollen keine verdammten Jüdinnen mehr in einem deutschen Kino,« brüllten die als Publikum verkleideten Rowdies. Das Licht mußte angedreht und die Vorstellung abgebrochen werden. In panischem Schrecken verließen die Neugierigen und Verwegenen, die sich zu der suspekten Darbietung eingefunden hatten, das Haus. Wer von den Fliehenden jüdisch wirkte – und es waren ziemlich viele Juden gekommen, um Dora Martin zu sehen – wurde festgehalten und verprügelt. Das Propagandaministerium ließ in London die Nachricht verbreiten, die liberal gesinnte deutsche Regierung hätte den Film passieren lassen, das Berliner Publikum aber dulde dergleichen nicht mehr. Die öffentliche Entrüstung 321 sei unmittelbar, heftig und übrigens sehr begreiflich gewesen. Von nun ab müsse jeder Film, in dem die Schauspielerin Martin auftrete, verboten werden. – Da sie erfuhr, daß man um ihretwillen – oder doch anläßlich ihres bewegten Schattenbildes – Juden mißhandelt hatte, krümmte sich Dora Martin vor Ekel, als wäre ihr übel von einer vergifteten Speise. »Diese Schufte,« murmelte sie, und aus ihren Augen schlugen die schwarzen Flammen eines großen Zornes. »Diese gemeinen, niederträchtigen Schufte!« Und wie sie die Fäuste schüttelte, glich sie – das Gesicht von der rötlichen Mähne umweht – einer jener heroischen Frauengestalten ihres Volkes, die zur Rache rufen. –

In vielen Städten lebten sie, in vielen Ländern suchten sie Zuflucht: Oskar H. Kroge, zum Beispiel, hatte sich vorläufig in Prag niedergelassen. Er war kein Jude und kein Kommunist, aber ein alter Vorkämpfer der Literatur: er glaubte an das Theater als moralische Anstalt und an die ewigen Ideale der Gerechtigkeit und der Freiheit, so vielen Enttäuschungen zum Trotz wollte er nicht lassen von seinem naiven und zuversichtlichen Pathos – für ihn war kein Platz gewesen im neuen Deutschland. Entschlossen, an die edlen Traditionen seiner guten Frankfurter Zeit wieder anzuknüpfen, machte er sich in Prag sofort auf die Suche nach Menschen, die für seinen Enthusiasmus Verständnis hatten und ihm ein paar tausend Tschechenkronen zur Verfügung stellten; denn er wollte in einem Vorstadtkeller eine literarische Bühne eröffnen. Er fand die Geldgeber – sie gaben wenig genug –; er fand den Keller und ein paar junge Schauspieler und ein Stück, in dem sehr viel von der »Menschheit« und von der »Morgenröte einer besseren Zeit« die Rede war, und er arbeitete mit den jungen Schauspielern, und das Stück kam heraus. Schmitz, der seinem Freunde treu geblieben war, hatte sich um das Finanzielle 322 zu kümmern, während Kroge – hartnäckiger Idealist, eigensinniger Schwärmer für das Höchste und Schönste – unbehelligt in der reinen Sphäre der Kunst bleiben wollte. Ach, nicht immer durfte Schmitz ihn dort oben lassen. Es fehlte am Nötigsten, niemals hätte Kroge – bürgerlicher alter Bohemien, der wohl Geldschwierigkeiten, aber nie die wirkliche Armut gekannt hatte – es für möglich gehalten, daß man mit so lächerlich geringen Summen auch nur das bescheidenste Theater halten könnte. Es ging – vorläufig ging es noch, obwohl zu den ökonomischen Schwierigkeiten auch noch politische kamen; denn die deutsche Gesandtschaft in Prag intrigierte bei den Behörden gegen den emigrierten Hamburger Theaterdirektor, dessen pazifistische Verstiegenheiten ihr lästig waren. Kroge und Schmitz wehrten sich, waren standhaft, gaben nicht nach. Dabei fielen beide vom Fleische und alterten. Schmitz sah gar nicht mehr rosig aus, und Kroge bekam immer stärkere Falten auf der sorgenvollen Stirn und um den Katermund. –

In vielen Städten und in vielen Ländern . . .

Juliette Martens, genannt Prinzessin Tebab, die Königstochter vom Kongo, hatte in einem kleinen Kabarett am Montmartre Stellung gefunden: zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens durfte sie den Amerikanern – die immer seltener in Paris wurden, seitdem der Dollar gesunken war –, ein paar angeheiterten Herren aus der französischen Provinz und einigen Zuhältern ihren schönen Körper und ihre kunstvollen Steps zeigen. Sie trat beinahe nackt auf, angetan nur mit einem kleinen Büstenhalter aus grünen Glasperlen, einem knappen dreieckigen Badehöschen aus grünem Atlas und mit sehr viel grünen Straußenfedern am Hinterteil. Auf diese Federnpracht anspielend, behauptete sie, daß sie ein Vögelchen sei. Sie wiederholte es mehrfach: Ich bin ein Vögelchen und über den 323 Ozean herbeigeflogen, um mir hier, am Montmartre, ein Nest zu bauen. In Wahrheit hatte sie kaum Ähnlichkeit mit einem Vögelchen. Ihr trauriges Zimmer in der rue des Martyres erinnerte auch keineswegs an ein Nest. Es war finster und hatte den Blick auf einen engen, schmutzigen Hof. Der einzige Schmuck an den kahlen, fleckigen Wänden war eine Photographie des Schauspielers Hendrik Höfgen: Juliette hatte sie einst, während eines Zornes- und Schmerzensanfalls, zerrissen, aber dann hatte sie die Fetzen sorgfältig wieder aneinander geklebt – Hendriks Mund saß nun ein wenig schief und gab seinem Gesicht einen hämischen Ausdruck; quer über seine Stirn lief ein Streifen von Leim wie eine Narbe; aber sonst war seine Schönheit ziemlich tadellos wiederhergestellt.

An jedem Monatsersten holte sich Juliette beim Portier eines Hauses, dessen Inhaber sie nicht kannte, die kleine Geldsumme ab, welche Hendrik ihr zukommen ließ. Die Gage vom Montmartre-Kabarett und die Unterstützung aus Berlin machten zusammen gerade soviel aus, daß Juliette leben konnte, ohne auf den Strich gehen zu müssen. Sie sah wenig Menschen, einen Geliebten hatte sie nicht. Über ihre Berliner Abenteuer sprach sie mit niemandem: teils aus Angst, ihr Leben oder doch mindestens die kleine Monatsrente zu verlieren; teils um Hendrik keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Denn ihr Herz hing an ihm.

Sie hatte nichts vergessen und nichts verziehen. Täglich mindestens einmal erinnerte sie sich mit Haß und Grauen der halbdunklen Zelle, in der sie so viel gelitten hatte. Sie dachte an Rache, aber es sollte eine Rache von großer und süßer Art sein, keine schäbige und mesquine. Lange Stunden des langen Tages ruhte Prinzessin Tebab auf ihrem schmutzigen Bett und träumte. Sie würde nach Afrika zurückkehren, alle Schwarzen um sich sammeln, die Königin und 324 kriegerische Fürstin aller Schwarzen werden – um ihr Volk zum großen Aufstand, zum großen Kriege gegen Europa zu führen. Der weiße Erdteil war reif zum Untergang: seitdem Juliette die Beamten der Berliner Geheimen Staatspolizei bei sich empfangen hatte, wußte sie es ganz sicher und ganz genau. Der weiße Erdteil mußte zu Grunde gehen, mit ihren dunklen Brüdern wollte Prinzessin Tebab den Siegeszug antreten durch die Hauptstädte Europas. Ein Blutbad ohnegleichen sollte die Schande wegwaschen, mit welcher der weiße Erdteil sich bedeckt hatte. Die frechen Herren mußten Sklaven werden. Als ihren Lieblingssklaven sah die träumende Königstochter Hendrik zu ihren Füßen. Ach, wie würde sie ihn quälen! Ach, wie würde sie ihn verwöhnen! Die kahle Stirne wollte sie ihm mit Blumen bekränzen, aber den Kranz hatte er kniend zu tragen. Gedemütigt und geschmückt, als das kostbarste Beutestück, sollte der Niederträchtige, der Geliebte, in ihrem Gefolge schreiten.

So träumte die Schwarze Venus, und ihre kraftvollen, rauhen Finger spielten mit der roten Peitsche aus geflochtenem Leder.

Einmal, als sie ihre abendliche Promenade machte, sah Juliette in dem Strom von Menschen, der sich von der Madeleine zur Place de la Concorde bewegte, Barbara an sich vorübergehen. Hendriks Gattin, die so lang der Gegenstand von Juliettens eifersüchtigen oder mitleidigen Betrachtungen gewesen war, schritt eilig und in Gedanken vertieft. Juliette berührte ganz leicht mit den Fingerspitzen ihren Ärmel und sagte mit ihrer tiefen, rauhen Stimme: »Bon soir, Madame.« Dabei neigte sie ein wenig das Haupt. Als die Angeredete verwundert aufblickte, war die Negerin schon vorüber. Barbara sah nur noch ihren breiten Rücken, und auch der wurde schnell durch andere Rücken, andere Leiber zugedeckt. – – 325

In vielen Städten und in vielen Ländern . . . Manche lebten in Dänemark, manche in Holland, manche in London oder in Barcelona oder in Florenz. Andere waren nach Argentinien oder nach China verschlagen worden.

Nicoletta von Niebuhr aber, Nicoletta Marder, fand sich eines Tages wieder in Berlin ein. Mit ihren roten Hutkoffern, die recht rissig und brüchig geworden waren, erschien sie in Hendrik Höfgens Wohnung am Reichskanzlerplatz. »Hier bin ich,« sagte sie, und versuchte ihre Augen so blank zu machen, wie es nur irgend ging. »Ich konnte es nicht mehr aushalten, dort unten. Theophil ist wunderbar, ein Genie, ich liebe ihn mehr denn je. Aber er hat sich außerhalb der Zeit und ihrer realen Gegebenheiten gestellt. Er ist ein Träumer geworden, ein Parsifal – ich ertrage das nicht. Verstehst du es, Hendrik, daß ich das nicht ertrage?«

Hendrik verstand es. Er war ganz und gar gegen Träumer und besaß seinerseits durchaus den notwendigen Kontakt zu der Zeit und ihren Gegebenheiten. »Diese ganze Emigration ist eine Angelegenheit für Schwächlinge,« erklärte er streng. »Diese Leute in ihren südfranzösischen Badeorten kommen sich wie Märtyrer vor, sind aber nur Deserteure. Wir hier stehen an der Front, die dort draußen drücken sich in die Etappe.«

»Ich will unbedingt wieder Theater spielen,« sprach Nicoletta, die ihren Gatten verlassen hatte.

Hendrik meinte, das werde ohne gar zu viel Schwierigkeiten einzurichten sein. »Am Staatstheater kann ich ziemlich alles durchsetzen, wozu ich Lust habe. Cäsar von Muck – nun ja, er ist noch der Intendant. Aber der Ministerpräsident mag ihn nicht, und der Propagandaminister deckt ihn nur noch aus Prestigegründen. Es hat sich herumgesprochen, daß unser Cäsar ein miserabler Theaterleiter ist. Er macht ein 326 langweiliges Repertoire, am liebsten möchte er immer nur seine eigenen Stücke aufführen lassen. Von Schauspielern versteht er auch nichts. Das Einzige, was er kann, ist ein enormes Defizit machen.«

Die wiedergekehrte Nicoletta durfte damit rechnen, am Staatstheater ein Engagement zu bekommen. Zunächst aber wollte Hendrik in Hamburg mit ihr gastieren, und zwar in dem Stück, das nur zwei Personen hatte und mit dem die Beiden auf Tournee in den Ostsee-Badeorten gewesen waren, unmittelbar vor der Hochzeit Höfgens mit Barbara Bruckner. Das Hamburger Künstlertheater war stolz, sein ehemaliges Mitglied, das inzwischen so berühmt und ein Freund der Macht geworden war, nun als Gast bei sich zu empfangen. Der neue Leiter des Institutes, Kroges Nachfolger, ein Herr namens Baldur von Totenbach, erwartete Höfgen und seine Begleiterin auf dem Bahnhof. Herr von Totenbach war aktiver Offizier gewesen, hatte viele Schmisse im Gesicht und stahlblaue Augen wie Herr von Muck, sprach auch sächsisch wie dieser. Er rief: »Willkommen, Kamerad Höfgen!« – als ob auch Hendrik die ehrenwerte Vergangenheit eines Offiziers hätte, anstatt die verdächtige eines Kulturbolschewisten. »Willkommen!« riefen auch verschiedene andere Menschen, die mit Herrn von Totenbach zur Bahn geeilt waren, um den Kollegen Höfgen zu begrüßen. Unter ihnen war die Motz, sie umarmte Hendrik und hatte Tränen echter Ergriffenheit in den Augen. »Wieviel Zeit vergangen ist!« rief die wackere Frau und ließ Gold im Inneren des Mundes funkeln. »Und was wir alles erlebt haben!« – Sie ihrerseits hatte ein Kind bekommen, Nicoletta und Hendrik erfuhren es bald: ein kleines Mädchen – späte, eigentlich schon etwas überraschende Frucht ihrer langjährigen Beziehung zum Väterspieler Petersen. »Ein deutsches Mädelchen,« sagte sie, »wir haben es Walpurga genannt.« 327

Petersen hatte sich gar nicht verändert. Sein Gesicht wirkte immer noch etwas nackt, da ihm der Schifferbart fehlte. Seinem unternehmungslustigen Wesen war anzumerken, daß er es sich keineswegs abgewöhnt hatte, das sauer verdiente Geld zu verschwenden und den jungen Mädchen nachzusteigen. Wahrscheinlich liebte ihn die Motz immer noch mehr als er sie. – Der schöne Bonetti erschien in schwarzer S.S.-Uniform und sah blendend aus: es ließ sich verstehen, daß er nun noch zahlreichere Liebesbriefe aus dem Publikum erhielt als früher. – Die Mohrenwitz war nicht mehr beim Theater. »Sie hat ja jüdisches Blut,« zischelte die Motz hinter der vorgehaltenen Hand und wurde dann von einem lasterhaften kleinen Lachen geschüttelt, als hätte sie etwas Obszönes geäußert. Rolf Bonetti machte ein sehr angewidertes Gesicht – vielleicht weil er an all die Rassenschande dachte, die er einst mit Rahel getrieben hatte. Das dämonische junge Mädchen – so viel wurde Hendrik noch mitgeteilt – hatte einen Selbstmordversuch gemacht, als die Unreinheit ihres Blutes bekannt geworden war, und schließlich einen tschechoslowakischen Schuhfabrikanten geheiratet. »Was das Materielle betrifft, wird es ihr wohl ganz gut gehen, da drüben – im Ausland . . .« vermutete die Motz mit dem Akzent der Verachtung, und ihr Daumen deutete nach hinten, über die Schulter, als läge dort, in irgendeiner häßlichen Ferne, »das Ausland«.

Die neuen Mitglieder des Ensembles – blonde, etwas ungeschlachte Burschen und Mädel, die eine derbe Lustigkeit mit straffer militärischer Disziplin wacker vereinigten – ließen sich dem großen Höfgen vorstellen und bezeigten ihm jede nur denkbare Devotion. Er war der Märchenprinz, der schöne Verzauberte, der Neid und Bewunderung einsteckt als den Tribut, der ihm zukommt. Ja, er war herniedergestiegen, für eine kleine Weile zurückgekehrt zu der 328 niedrigen Stätte, von welcher er ausgegangen. Übrigens zeigte er sich leutselig und ließ sich dazu herbei, der Motz den Arm um die Schulter zu legen. »Ach, du bist doch ganz der Alte geblieben,« schwärmte sie und preßte seine Hand. Petersen ließ sich vernehmen: »Hendrik war immer ein famoser Kamerad,« – während Herr von Totenbach abschließend, nicht ohne eine gewisse Strenge erklärte: »Im neuen Deutschland gibt es nur Kameraden, auf welchem Platz sie auch immer stehen mögen.«

Hendrik äußerte den Wunsch, Herrn Knurr zu begrüßen – eben jenen Bühnenportier, der immer schon das Hakenkreuz unter dem Rockaufschlag versteckt getragen hatte, und an dessen Loge Höfgen, der »Kulturbolschewist«, so ungern und mit so schlechtem Gewissen vorübergegangen war. Würde das alte Parteimitglied nicht vor Freude beben, wenn es nun dem Freund und Favoriten des Ministerpräsidenten die Hand schütteln durfte? – Zu seiner Überraschung wurde Höfgen von Herrn Knurr ziemlich kühl empfangen. In der Portiersloge war kein Führer-Bild zu entdecken, obwohl es doch nun statthaft und sogar erwünscht gewesen wäre. Als Hendrik sich bei Herrn Knurr nach seinem Befinden erkundigte, murmelte dieser etwas zwischen den Zähnen, was unfreundlichen Klang hatte, und der Blick, den er auf Höfgen richtete, schien voll Gift. Es war deutlich: Herr Knurr war im Tiefsten enttäuscht von seinem Führer-Erlöser und der ganzen herrlichen nationalen Bewegung – in all seinen Hoffnungen bitterlich betrogen, wie so viele. Für Höfgen, Freund des Fliegergenerals, bedeutete es also eine Peinlichkeit, wie eh und je, an der Portiersloge vorbeizugehen: sein Verhältnis zu Herrn Knurr hatte sich nicht gebessert.

Eine Erleichterung empfand Hendrik, als er feststellen durfte, daß von den kommunistischen 329 Bühnenarbeitern, denen er früher gern mit geballter Faust und dem Rot-Front-Gruß begegnet war, sich keiner mehr im Theater befand. Er wagte es nicht, sich nach ihrem Verbleib zu erkundigen. Vielleicht waren sie erschlagen, vielleicht eingesperrt, vielleicht in der Emigration . . .

Abends war das Haus ausverkauft, die Hamburger jubelten ihrem alten Liebling zu, der in Berlin so gewaltig Karriere gemacht hatte: erst unter dem Professor, dann unter dem dicken Ministerpräsidenten. Von Nicoletta war man allgemein enttäuscht. Man fand sie starr, unnatürlich und sogar etwas unheimlich. Wirklich hatte sie das Theaterspielen ziemlich verlernt. Ihre Haltung war steif geworden und ihre Stimme hatte einen merkwürdig hohlen, klagenden Klang bekommen. Es war, als ob etwas in ihr zugleich erfroren und zerbrochen wäre. Übrigens nahm das Publikum jetzt auch an ihrer großen Nase Anstoß. Ob sie nicht doch etwas jüdisches Blut hat? flüsterte man im Parkett. Aber nein, sagten andere – dann würde doch Höfgen sich nicht öffentlich mit ihr zeigen! –

Am nächsten Morgen hatte Hendrik die kuriose Idee, Frau Konsul Mönkeberg einen Besuch abzustatten. Auch sie sollte ihn in seinem Glanze sehen – gerade sie, die ihn jahrelang gedemütigt hatte durch ihr vornehm patrizisches Wesen. Barbara, die Geheimratstochter, war gleich von ihr zum Tee in den ersten Stock geladen worden. Ihn aber hatte man nur fein und spöttisch angelächelt. Jetzt wollte er im Mercedeswagen bei der alten Dame vorfahren.

Zu seiner Enttäuschung mußte er in der Villa von einem fremden Hausmeister erfahren, daß Frau Konsul Mönkeberg gestorben war. Das sah ihr ähnlich! Einer Begegnung, die peinlich für sie gewesen wäre, entzog sie sich durch die Flucht. Diese Bürger vornehmen alten Stils – diese Patrizier ohne Geld, aber mit nobler Vergangenheit und mit zarten, vergeistigten Gesichtern –: 330 blieben sie denn unerreichbar, waren sie nie zu treffen? Sollte es dem mephistophelisch gewordenen Kleinbürger, der mit der blutigen Macht paktierte, niemals vergönnt sein, seine Triumphe über sie zu genießen?

Hendrik ärgerte sich. Ein Coup war ihm mißglückt, von dem er sich viel Spaß versprochen hatte. Im übrigen war er recht zufrieden mit seiner Hamburger Visite. Herr von Totenbach hatte zum Abschied gesagt: »Ich und meine ganze Spielgemeinschaft – wir sind stolz darauf, daß Sie bei uns gewesen sind, Kamerad Höfgen!« – und die Motz hatte ihm ihre kleine Walpurga gereicht, mit der dringlichen Bitte, er müßte das schreiende Geschöpf segnen. »Segne sie, Hendrik!« forderte die Motz. »Dann wird etwas Rechtes aus ihr werden! Segne meine Walpurga!« Und auch Petersen war sehr dafür gewesen. –

Als Hendrik von seinem Ausflug zurückkam, berichtete ihm Lotte Lindenthal, daß um seine Person in den höchsten Kreisen heftige Debatten im Gang seien. Der Ministerpräsident – »mein Bräutigam«, sagte Lotte jetzt schon von ihm – war unzufrieden mit Cäsar von Muck: das wußte jeder. Noch nicht so allgemein bekannt war, wen der Fliegergeneral als Nachfolger für den Intendanten der Preußischen Staatstheater ausersehen hatte: es war Hendrik Höfgen. Hiergegen sträubte sich der Propagandaminister und, mit ihm, alle jene hohen Würdenträger der Partei, die von »radikaler Gesinnung«, »hundertprozentige Nationalsozialisten« und jedem Kompromiß, besonders in kulturellen Dingen, unerbittlich abgeneigt waren. »Es geht nicht an, auf einen derart prominenten, repräsentativen Posten einen Mann zu setzen, der nicht zur Partei gehört und die ärgste kulturbolschewistische Vergangenheit hat,« erklärte der Propagandaminister. – »Es ist mir gleichgültig, ob ein Künstler Parteimitglied ist oder nicht. Die Hauptsache ist, daß er etwas kann,« 331 erwiderte der Ministerpräsident, der sich, in seiner großen Macht und Herrlichkeit, oft erschreckend liberale Launen gönnte. »Unter Höfgen werden die Preußischen Staatstheater Kasse machen. Die Intendanz des Herrn von Muck ist ein zu großer Luxus für unsere Steuerzahler.« Wenn es um die Karriere seiner Protegés und Lieblinge ging, dachte der General sogar plötzlich an die Steuerzahler, was sonst selten geschah.

Der Propagandaminister wandte ein, Cäsar von Muck sei ein Freund des Führers, ein altbewährter Mitkämpfer: es sei unmöglich, ihn einfach vor die Türe zu setzen. Der Fliegergeneral schlug munter vor, man solle den Autor des »Tannenberg«-Dramas zum Präsidenten der Dichterakademie machen – »dort stört er niemanden« – und ihn zunächst auf eine schöne Reise schicken.

Der Propagandaminister verlangte telephonisch vom Führer, der zur Erholung in den bayrischen Bergen weilte, er müsse ein Machtwort sprechen und es verhindern, daß man einen zwar talentierten und routinierten, moralisch aber denkbar schlecht qualifizierten Komödianten wie Höfgen zum ersten Theatermann des Reiches erhebe. – Der Ministerpräsident hatte schon zwei Tage vorher einen Boten in die bayrischen Alpen geschickt. Der Führer, der Entscheidungen gerne auswich, ließ antworten: Ihn interessiere der Fall nicht, er habe größere und bedeutungsvollere Dinge im Kopf, die Herren Kameraden möchten das gefälligst unter sich ausmachen.

Die Götter zankten sich. Aus der ganzen Angelegenheit war eine Macht- und Prestigefrage zwischen dem Propagandaminister und dem Ministerpräsidenten, zwischen dem Hinkenden und dem Dicken geworden. Hendrik wartete ab – und wußte kaum, welchen Ausgang er dem Götterstreit wünschen sollte. Einerseits reizte die Aussicht auf die Intendanz gewaltig seine 332 Eitelkeit und Wirkungssucht; auf der anderen Seite gab es Bedenken. Wenn er einen hohen öffentlichen Posten in diesem Staate bekleidete, identifizierte er sich ganz und für immer mit dem Regime: auf Gedeih und Verderben verband er das eigene Schicksal mit dem der blutbefleckten Abenteurer. Wollte er das? War dies seine Absicht gewesen? Gab es nicht Stimmen in seinem Herzen, die ihn vor solchem Schritt warnten? Die Stimmen des schlechten Gewissens, und mit ihnen die Stimmen der Angst? . . .

Die Götter kämpften, die Entscheidung fiel: der Dicke hatte gesiegt. Er befahl Höfgen zu sich und trug ihm in aller Form die Intendanz der Staatstheater an. Da der Schauspieler mehr verwirrt als entzückt schien und fast Bestürzung anstatt Enthusiasmus zeigte, wurde der Ministerpräsident zornig.

»Ich habe meinen ganzen Einfluß für Sie eingesetzt! Machen Sie jetzt keine Geschichten, Mensch! – Übrigens ist auch der Führer sehr dafür, daß Sie Intendant werden,« log der General.

Hendrik zögerte immer noch, teils wegen der inneren Stimmen, die nicht schweigen wollten, teils weil er es genoß, sich bitten zu lassen von der blutbefleckten Macht. ›Sie brauchen mich,‹ jubelte es in ihm. ›Beinah war ich schon Emigrant, und jetzt bettelt der Gewaltige, ich solle ihm seine Theater vor der Pleite retten!‹

Er bat sich vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit aus. Der Dicke entließ ihn murrend.

Nachts besprach Hendrik sich mit Nicoletta.

»Ich weiß nicht,« klagte er und schickte unter halbgesenkten Lidern kokette Juwelenblicke ins Leere. »Soll ich – soll ich nicht . . .? Es ist alles so gräßlich schwierig . . .« Er ließ den Kopf in den Nacken sinken und hielt das edle, überanstrengte Gesicht der Decke zugewandt.

»Aber natürlich sollst du!« redete Nicoletta mit 333 einer hohen, scharfen und süßen Stimme. »Du weißt doch selbst ganz genau, daß du sollst – daß du mußt. Dies ist der Sieg, mein Liebling,« girrte sie, wobei sie nicht nur den Mund, sondern den ganzen Körper schlängelte. »Es ist der Triumph! Ich habe immer gewußt, daß er für dich kommen würde.«

Er fragte sie – immer noch den kalten, schimmernden Blick der Decke zugewandt –: »Wirst du mir helfen, Nicoletta?«

Sie kauerte vor ihm, zwischen den Kissen des Lagers. Während sie ihn aus ihren schönen, weiten Katzenaugen anstrahlte, antwortete sie, und formte jede Silbe wie eine Kostbarkeit:

»Ich werde stolz auf dich sein.«

 

Am nächsten Tag war leuchtend schönes Wetter; Hendrik beschloß, zu Fuß von seiner Wohnung zum Palais des Ministerpräsidenten zu gehen. Das ungewöhnliche Ereignis dieser ausführlichen Promenade sollte den festlichen Charakter des Tages unterstreichen. Denn war der Tag, an dem Hendrik Höfgen sein Talent, seinen Namen, seine Person ganz und gar der blutbefleckten Macht zur Verfügung stellte, kein festlicher?

Nicoletta begleitete ihren Freund. Es war ein netter Spaziergang. Die Stimmung der beiden Lustwandelnden war zugleich gehoben und munter; leider wurde sie ein wenig getrübt durch eine Begegnung, die Hendrik und Nicoletta unterwegs hatten.

In der Nähe des Tiergartens erging sich eine alte Dame, die durch aufrechte Haltung und ein schönes, weißes, hochmütiges Gesicht imponierte. Zu einem perlengrauen Kostüm von etwas altmodischem, aber elegantem Schnitt trug sie einen dreieckigen Hut aus glänzendem, schwarzen Material. Unter dem Hut kamen, an den Schläfen, steif gedrehte, runde weiße 334 Locken zum Vorschein. Das Haupt der alten Dame glich dem eines Adligen aus dem XVIII. Jahrhundert. Sie ging sehr langsam, mit kleinen aber sicheren Schritten. Um ihre gebrechliche, zarte, jedoch durch Energie gestraffte Figur war die melancholische Würde versunkener Epochen, in denen die Menschen von sich wie von den anderen eine schönere und strengere Haltung verlangt hatten, als sie in unseren betriebsam aufgeregten, aber ziemlich hohlen und fahrlässigen, der totalen Entwürdigung bedenklich zugeneigten Tagen üblich ist.

»Es ist die Generalin,« sagte Nicoletta ehrfurchtsvoll leise; dabei blieb sie stehen. Sie war etwas rot geworden. Auch Hendrik errötete, während er seinen leichten grauen Hut zog und sich tief verneigte.

Die Generalin hob die Lorgnette, die ihr an einer langen Kette aus blauen Halbedelsteinen auf der Brust hing. Durch das Glas musterte sie, ausführlich und gelassen, das junge Paar, welches nur noch einige Schritte von ihr entfernt stand. Das Gesicht der schönen Greisin blieb unbewegt. Sie erwiderte den Gruß des Schauspielers Höfgen und seiner Begleiterin nicht. War ihr bekannt, wohin diese beiden gingen – welchen Vertrag Hendrik, der mit Barbara verheiratet gewesen war, in einer Stunde unterschreiben würde? Vielleicht ahnte sie es, oder sie ahnte doch etwas von dieser Art. Sie wußte, was sie von Hendrik und Nicoletta zu halten hatte. Sie verfolgte ihre Entwicklung, und sie war entschlossen, nichts mehr zu tun zu haben mit diesen beiden.

Die Lorgnette der Generalin sank leise klappernd herab. Die alte Dame wandte Hendrik und Nicoletta den Rücken. Sie entfernte sich von ihnen, mit kleinen, etwas mühsamen Schritten, denen Energie und eine stolze innere Haltung Festigkeit und selbst einen gewissen Elan verliehen. 335

 


 << zurück weiter >>