Klaus Mann
Mephisto
Klaus Mann

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VIII
Über Leichen

Am nächsten Morgen wußte es die ganze Stadt: der Ministerpräsident hatte in seiner Loge den Schauspieler Höfgen empfangen und fünfundzwanzig Minuten lang mit ihm geplaudert. Die Vorstellung hatte nach der Pause mit einer wesentlichen Verspätung wieder begonnen, das Publikum mußte warten, und übrigens wartete es mit Vergnügen. Die Szene, die sich ihm in der Minister-Loge bot, war viel spannender als der »Faust«.

Hendrik Höfgen, der im »Sturmvogel« als »Genosse« aufgetreten war, den man schon beinahe aufgegeben und zum Auswurf der Nation, nämlich zu den Emigranten gezählt hatte: da saß er vor aller Augen, Seite an Seite mit dem gewaltigen Dicken, der in äußerst animierter Stimmung schien. Mephistopheles flirtete und scherzte mit dem Mächtigen, der ihm mehrfach auf die Schulter klopfte und beim Abschied seine Hand gar nicht mehr losließ. Das Auditorium des Staatstheaters murmelte ergriffen angesichts solchen Schauspiels. Noch in derselben Nacht wurde das sensationelle Vorkommnis leidenschaftlich besprochen und kommentiert, in den Cafés, Salons und auf den Redaktionen. Den Namen Höfgens, den man während der letzten Monate nie ohne Skepsis – mit einem schadenfrohen Grinsen oder mit einem bedauernden Achselzucken – ausgesprochen hatte, nannte man nun mit einer neuen Ehrfurcht. Auf ihn war ein Schimmer von dem ungeheuren Glanz gefallen, der die Macht umgibt.

Denn der kolossale Fliegeroffizier, den man gerade erst zum General gemacht hatte, gehörte zur allerobersten Spitze des autoritären und totalen Staates. Über ihm gab es nur noch den »Führer« – den man 270 kaum mehr zu den Sterblichen rechnen durfte. Wie der Herr der Himmel von den Erzengeln, so war der Diktator umgeben von seinen Paladinen. Rechts neben ihm stand der bewegliche Kleine mit der Raubvogel-Physiognomie, der verwachsene Prophet, der Lobredner, Einflüsterer und Propagandist, der die gespaltene Zunge der Schlange besaß und in jeder Minute eine Lüge ersann. Zur Linken des Gebieters aber hatte seinen Platz der famose Dicke: er stand breitbeinig da, eine majestätische Erscheinung, gestützt auf sein Richtschwert, glitzernd von Orden, Bändern und Ketten, jeden Tag in einer anderen prächtigen Vermummung. Während der Kleine, zur Rechten des Thrones, die Lügen ersann, dachte der Dicke sich täglich neue Überraschungen aus, – zur eigenen Unterhaltung und zur Unterhaltung des Volkes –: Feste, Hinrichtungen oder Prunkkostüme. Er sammelte Ordenssterne, phantastische Kleidungsstücke und phantastische Titel. Natürlich sammelte er auch Geld. Sein Lachen war behaglich grunzend, wenn er von den vielen Witzen erfuhr, die das Volk über seine Prunksucht zu machen wagte. Manchmal, wenn er schlechter Laune war, ließ er jemanden einsperren und peitschen, der sich gar zu keck geäußert hatte. Meistens aber grinste er wohlwollend. Gegenstand des öffentlichen Humors zu sein, schien ihm ein Zeichen von Popularität – und gerade die wollte er haben. Da er nicht so faszinierend zu schwatzen verstand wie sein Konkurrent, der Dämon von der Reklame-Abteilung, mußte er sie sich verschaffen mittels massiver und enorm kostspieliger Extravaganzen. Er freute sich seines Ruhmes und seines Lebens. Er schmückte seinen gedunsenen Leib, er ritt auf Jagden, er fraß und er soff. Er ließ die Bilder aus den Museen stehlen und sie aufhängen in seinem Palast. Er verkehrte mit reichen und feinen Leuten, sah Prinzen und große Damen an seinem Tisch. 271 Er war arm und verkommen gewesen, das war noch nicht lange her; umso intensiver genoß er es, daß er jetzt Geld und schöne Dinge haben konnte, soviel er nur irgend mochte. ›Ist mein Leben nicht wie ein Märchen?!‹ dachte er häufig. Er hatte eine Neigung zum Romantischen. Deshalb liebte er das Theater, mit Wollust schnupperte er die Luft hinter den Kulissen und mit Vergnügen saß er in seiner samtenen Loge, wo er seinerseits vom Publikum bewundert wurde, ehe er selber etwas Nettes zu sehen bekam.

Sein Leben, wie es war, schien ihm angenehm; ganz nach seinem abenteuerlichen und exzessiven Geschmack aber würde es erst werden, wenn der Krieg wieder losging. Der Krieg – so fand dieser Dicke – war ein Amusement von noch intensiverer Art, als alle Genüsse, die er sich nun gönnte. Auf den Krieg freute er sich, wie ein Kind auf Weihnachten, und er sah seine wesentlichste Pflicht darin, ihn mit sorgfältiger Schlauheit vorzubereiten. Mochte der Reklamezwerg das Seine dafür tun, indem er die Zeitungen im Ausland dutzendweise kaufte, Millionen für Bestechungen ausgab, ein Netz von Spionen und Provokateuren über die fünf Erdteile organisierte, den Äther füllte mit frechen Drohungen oder noch frecheren Friedensbeteuerungen –: er, der Dicke, kümmerte sich um die Flugzeuge. Denn Flugzeuge vor allem mußte Deutschland haben. Schließlich war die Vergiftung durch Infamien doch nur vorbereitendes Spiel. Eines Tages – von dem der Dicke sehnlichst hoffte, daß er nicht mehr gar zu ferne wäre, – sollte die Luft der europäischen Städte in einem nicht mehr gleichnishaften Sinn vergiftet werden: dafür wollte der Fliegergeneral sorgen, der durchaus nicht seine ganze Zeit damit verbrachte, in Theatern zu sitzen oder sich umzukleiden.

Da steht er auf seinen Beinen, die wie Säulen sind; 272 streckt den enormen Bauch vor und strahlt. Auf ihn und auf den geschäftigen Herrn der Reklame fällt fast ebensoviel Licht wie auf den »Führer«, den sie in ihrer Mitte haben. Dieser scheint seinerseits beinah nichts zu sehen, seine Augen sind blicklos und stumpf, wie die eines Blinden. Schaut er nach innen? Lauscht er in sich hinein? Und was hört er dort? Singen und sagen die Stimmen in seinem Herzen nur immer wieder dasselbe, was der Propagandaminister und alle von ihm dirigierten Zeitungen nicht müde werden, ihm zu bestätigen: Daß er der von Gott Gesandte sei, und immer nur seinem Stern zu folgen brauche, damit Deutschland, und mit ihm die Welt, unter seiner Führung glücklich werde? Hört er dies wirklich? Glaubt er dies in der Tat? – Sein Gesicht, – das aufgeschwemmte Kleinbürgergesicht mit dem Ausdruck einer selbstgefälligen Ekstase – könnte vermuten lassen, daß er dies wirklich hört, daß er dies wirklich glaubt. – Aber überlassen wir ihn seinen Wonnen oder seinen Zweifeln. Dieses Gesicht birgt kein Geheimnis, das uns lange reizen oder fesseln könnte. Er hat nicht die Würde des Geistes, und es ist nicht geadelt durch Leiden. Wenden wir uns von ihm.

Lassen wir ihn stehen, den großen Mann, inmitten seines höchst verdächtigen Olymps. Was drängt sich da noch alles um ihn? Eine schöne Versammlung von Göttern! Eine reizende Gruppe grotesker und gefährlicher Typen, vor der ein gottverlassenes Volk sich im Delirium der Verehrung windet! Der geliebte Führer hat die Arme verschränkt, unter der tückisch geduckten Stirn geht sein blinder, grausam-sturer Blick über die Menge hin, die zu seinen Füßen Gebete murmelt. Der Propagandachef kräht und der Flugzeugminister grinst. Was stimmt ihn denn so besonders munter, was läßt ihn denn so aufgeräumt erscheinen? Denkt er an Hinrichtungen, gaukelt seine angeregte Phantasie ihm 273 neue, unerhörte Methoden der Vernichtung vor? Seht, er hebt langsam den massiven Arm! Das Auge des Gewaltigen ist auf einen aus der Menge gefallen. Soll der Unglückliche gleich abgeführt, gefoltert und umgebracht werden? Im Gegenteil: ihm geschieht Gnade, und Erhöhung ist ihm zugedacht. Wer ist es denn? Ein Schauspieler? Man weiß ja, daß die großen Herren Sympathie haben für Komödianten. Er tritt bescheidenen, aber festen Schrittes nach vorne. Gebt es zu: er paßt nicht übel in diese Gesellschaft, er hat ihre falsche Würde, ihren hysterischen Elan, ihren eitlen Zynismus und die billige Dämonie. – Der Schauspieler reckt das Kinn und läßt Juwelenaugen schillern. Nun streckt der Dicke fast liebevoll die beiden Arme nach ihm aus. Der Schauspieler ist ganz nahe herangekommen an die Göttergruppe. Schon darf er sich baden in ihrem Glanze. Und mit der perfekten Anmut des höfischen Kavaliers beugt er Haupt und Knie vor dem fetten Riesen.

 

In Hendriks Wohnung am Reichskanzlerplatz hörte das Telephon nicht mehr auf zu läuten. Der kleine Böck saß mit einem Notizbuch neben dem Apparat, um die Namen derer aufzuschreiben, die angerufen hatten. Es waren die Direktoren der Theater und Filmgesellschaften, es waren Schauspieler, Kritiker, Schneider, Autofirmen und Autogrammsammlerinnen. Höfgen ließ sich nicht sprechen. Er lag im Bett und war hysterisch vor Glück. Der Ministerpräsident hatte ihn zu einem intimen Abendessen ins Palais gebeten: »Es werden nur ein paar Freunde da sein,« hatte er gesagt. Nur ein paar Freunde! Hendrik rechnete also schon zu den Vertrauten! Er zappelte und jauchzte zwischen seinen seidenen Kissen und Decken, er besprengte sich mit Parfum, zerschmetterte eine kleine Vase, schleuderte einen Pantoffel gegen die Wand. Er jubilierte: »Es 274 ist doch nicht zu schildern! Jetzt werde ich ganz groß!! Der Dicke läßt mich ganz ganz groß werden!«

Plötzlich machte er ein besorgtes Gesicht und rief Böck herbei. »Böckchen – hör doch mal Böckchen!« sagte er gedehnt und warf schiefe Blicke. »Bin ich eigentlich ein sehr großer Schurke?«

Böck hatte verständnislose, wasserblaue Augen. »Wieso – ein Schurke?« fragte er. »Warum denn ein Schurke, Herr Höfgen? Sie haben doch nur Erfolg.«

»Ich habe doch nur Erfolg,« wiederholte Hendrik und schaute schillernd zur Decke. Er dehnte sich wollüstig. »Nur Erfolg . . . Ich werde ihn gut verwenden. Ich werde Gutes tun. Böckchen, glaubst du mir das?«

Und Böckchen glaubte es ihm. –

 

Dieses war Hendrik Höfgens dritter Aufstieg. Der erste war der solideste und der verdienteste gewesen; denn in der Stadt Hamburg hatte Hendrik gute Arbeit getan, das Publikum mußte ihm für manchen schönen Abend dankbar sein. – Die zweite Konjunktur, im Berlin der »System-Zeit«, hatte schon ein fiebrig übertriebenes Tempo und viele Zeichen des hektisch Ungesunden gehabt. – Diese dritte Konjunktur aber hatte den Charakter einer Beförderung, sie kam »schlagartig« wie alle Aktionen, die von der nationalsozialistischen Regierung ausgingen. Vor kurzem war Hendrik Höfgen noch ein Emigrant gewesen; gestern noch die halbverdächtige Figur, mit der man sich nicht gern öffentlich zeigte; buchstäblich über Nacht war er zum großen Mann avanciert: ein Wink des dicken Ministers hatte dies zuwege gebracht.

Der Intendant der Staatstheater machte ihm sofort ein großes Angebot. Vielleicht tat er es nicht ganz spontan, vielleicht nicht einmal gern, sondern handelte auf höheren Befehl; jedenfalls zeigte er die biederste Miene beim fatalen Spiel, streckte dem neu 275 engagierten Künstler beide Hände hin und sprach sächsisch vor lauter Herzlichkeit. »Prachtvoll, daß Sie jetzt ganz in unseren Kreis gehören sollen, mein lieber Höfgen. Es liegt mir daran, Ihnen zu sagen, wie sehr ich Ihre Entwicklung bewundere. Sie haben sich aus einem etwas spielerischen Menschen zu einem ganz ernsten, ganz vollwertigen entwickelt.«

Cäsar von Muck wußte sehr wohl, warum er Entwicklungskurven von jener Art, die er gerade so euphemistisch beschrieben hatte, verständnisvoll und günstig beurteilte. Er selber hatte eine ähnliche durchgemacht; freilich lag seine »spielerische« – das heißt: politisch anstößige – Vergangenheit weiter hinter ihm, als hinter Höfgen seine Sünden lagen. Ehe Cäsar von Muck zum Freund des Führers und zum literarischen Star des Nationalsozialismus aufstieg, war er schon berühmt gewesen als Autor von Dramen, die voll pazifistisch-revolutionärem Pathos waren.

Vielleicht dachte der Dramatiker, der sich von so tadelnswerter Gesinnung zu einem heroischen Weltbild und zu einem Intendantenposten durchgerungen hatte, an die literarischen Sünden seiner schwärmerischen Jugendzeit, als er jetzt von seinem besonderen Respekt für die Entwicklung des Hendrik Höfgen sprach. Mit warmem Blick fügte er noch hinzu:

»Übrigens werde ich heute abend eine Gelegenheit haben, Sie dem Herrn Propagandaminister vorzustellen. Er hat seinen Besuch im Theater angekündigt.« –

Hendrik lernte die Halbgötter kennen, und es erwies sich, daß mit ihnen ebenso wohl auszukommen war wie mit irgendeinem Oskar H. Kroge, und sogar entschieden besser als mit dem ehrfurchtgebietenden »Professor«. ›Sie sind ja gar nicht so schlimm,‹ dachte Hendrik und fühlte sich ehrlich erleichtert.

Dieser kleine, agile Herr also war der Meister über den enormen Reklameapparat des Dritten Reiches, der 276 Mann, der sich vor den Arbeitern »euer alter Doktor« zu nennen liebte, der mit seiner Energie, seiner Rednergabe und seinen bewaffneten Banden die skeptische und aufgeweckte Stadt Berlin, die sich doch nicht so leicht etwas vormachen ließ, dem Nationalsozialismus erobert hatte. Das also war der schlaue Kopf der Partei, der sich alles ausdachte: wann es einen Fackelzug geben sollte, wann man gegen die Juden zu schimpfen hatte und wann gegen die Katholiken. Während der Intendant sächsisch sprach, redete der Minister mit einem rheinischen Akzent, wodurch Hendrik sich gleich angeheimelt fühlte. Übrigens schien der elastische Kleine, mit dem vom vielen Schwatzen gleichsam ausgefransten Mund, voll interessanter und moderner Ideen zu stecken: er sprach von »revolutionärer Dynamik«, dem »mystischen Lebensgesetz der Rasse«, und dann einfach vom Presseball, wo Höfgen etwas vortragen sollte.

Diese repräsentative Veranstaltung war die erste, bei der Hendrik sich öffentlich im Kreise der Halbgötter zeigen durfte. Er hatte die ehrenvolle Pflicht, Fräulein Lindenthal in den Saal zu geleiten, da der Ministerpräsident sich wieder einmal verspätete. Lotte trug ein wundervolles Gewand, aus Purpur- und Silberfäden gewirkt; Hendrik seinerseits sah vor Feinheit und Würde beinah leidend aus. Im Laufe des Abends wurde er nicht nur mit dem Fliegergeneral, sondern auch im Gespräche mit dem Propagandaminister photographiert: dieser hatte selbst den Wink dazu gegeben. Er zeigte sein berühmtes, unwiderstehlich charmantes Grinsen, mit dem er auch die beschenkte, die einige Monate später geopfert wurden. Das boshafte Funkeln der Augen freilich vermochte er nicht völlig zu unterdrücken. Denn er haßte Höfgen – das Geschöpf der Konkurrenz, des Ministerpräsidenten. Doch war der Propagandachef nicht der Mann, seinen Gefühlen 277 nachzugeben und seine Handlungen von ihnen bestimmen zu lassen. Vielmehr blieb er kalt und berechnend genug, um zu denken: Wenn dieser Schauspieler schon einmal zu den kulturellen Größen des Dritten Reiches gehören soll, dann wäre es ein taktischer Fehler, dem Dicken ganz allein den Ruhm seiner Entdeckung zu überlassen. Man beißt die Zähne zusammen und stellt sich grinsend neben ihn vor die Linse.

Wie leicht alles ging! Wie glücklich sich alles fügte: Hendrik empfand, daß er ein Glückskind war. ›All diese große Gunst,‹ so dachte er, ›sie ist mir einfach in den Schoß gefallen. Hätte ich so viel Glanz ausschlagen sollen? Niemand würde das an meiner Stelle tun – wer es von sich behauptet, den nenne ich einen Schwindler und einen Heuchler. Zu mir hätte es nicht gepaßt, in Paris als Emigrant zu leben – es hätte eben einfach nicht zu mir gepaßt!‹ beschloß er mit einem trotzigen Übermut. Angesichts all des Trubels, in dem er sich nun wieder befand, dachte er flüchtig, aber mit intensivem Ekel an die Einsamkeit seiner trostlosen Promenaden über die Pariser Plätze und Avenuen. Gott sei es gedankt – nun umgaben ihn wieder Menschen!

Wie hieß noch dieser elegante Graukopf mit den vorquellenden blauen Augen, der da so eifrig auf ihn einredete? Richtig: es war Müller-Andreä, der berühmte Plauderer des »Interessanten Journals«. Ob er immer noch so viel Geld verdiente mit seiner aufschlußreichen Artikelserie: »Hatten Sie davon eine Ahnung?« Nicht doch, das »Interessante Journal« ist eingegangen. Herr Müller-Andreä jedoch lebt, er ist sogar obenauf, ein flottes Haus, eine fidele Nummer. Schon im Jahre 1931 hatte er ein Buch publiziert, »Die Getreuen des Führers« – damals freilich unter einem Pseudonym. Inzwischen aber hat er sich zu diesem Werke bekannt, und die höchsten Stellen sind auf ihn aufmerksam 278 geworden. Herr Müller-Andreä ist fein heraus, er braucht dem »Interessanten Journal« nicht nachzutrauern, das Propagandaministerium zahlt besser, und am Propagandaministerium ist der lustige alte Herr jetzt beschäftigt. Mit Herzlichkeit schüttelt er dem Schauspieler Höfgen die Hand, so sieht man sich wieder, ja ja, die Zeiten ändern sich, aber wir Beide, wir haben Glück – Herr Müller-Andreä war ja immer ein Verehrer des Schauspielers Höfgen gewesen.

Und hier, der Kleine, der mit seinem Notizbüchlein winkte wie mit einer Fahne, das war Pierre Larue – nun gab es keinen »jeune camerade communiste« mehr an seiner Seite, vielmehr nur noch schmucke und stramme Burschen in der zugleich verführerischen und einschüchternden S.S.-Uniform. Monsieur Larue fand es auf den Festen und Empfängen der hohen Nazi-Funktionäre noch amüsanter, als er es auf den Veranstaltungen der jüdischen Bankiers gefunden hatte. Er blühte auf, so viele interessante Menschen durfte er nun kennen lernen: sehr nette Mörder, die jetzt große Stellungen ausfüllten bei der Geheimen Staatspolizei; einen Oberlehrer, der, erst unlängst aus dem Irrenhaus entlassen, jetzt schon Kultusminister war; Juristen, die das Recht für ein liberales Vorurteil, Mediziner, welche die Heilkunst für einen jüdischen Schwindel, Philosophen, welche die »Rasse« für die einzig objektive Wahrheit hielten: all diese feinen Typen bat Monsieur Larue ins »Esplanade« zum Abendessen. Ja, die Nazis wußten seine Gastlichkeit und sein zartes Wesen zu schätzen. Er durfte sogar auf den Botschaften ein wenig für sie intrigieren, und zum Lohne dafür ließ man ihn im Sportpalast sprechen: die Leute lachten zunächst, als das bleiche Knochenbündelchen aufs Podium trat und etwas von dem tiefen Verständnis des »echten Frankreich für das Dritte Reich« zu piepsen begann; aber dann wurden sie ernster, denn ihr »alter Doktor«, 279 der Propagandaminister selber, hatte zornig zur Ruhe gemahnt, und nun deklamiert Pierre Larue eine Art von amoureuser Hymne an Horst Wessel, den verunglückten Zuhälter und Märtyrer des neuen Deutschland, den er als den Garanten eines ewigen Friedens zwischen den beiden großen Nationen, Deutschland und Frankreich, bezeichnete.

Monsieur Larue wäre dem Schauspieler Höfgen fast um den Hals gefallen, so sehr freute er sich, ihn wieder zu sehen. »Oh oh, mon très cher ami! Enchanté, charmé de vous revoir!« Händeschütteln und das herzlichste Gelächter. Ist es nicht eine Freude zu leben in diesem Deutschland? Sieht mein neuer Liebling, in seiner kleidsamen S.S.-Uniform, nicht viel hübscher aus, als einer von diesen schmutzigen Kommunistenjungens es je getan hat? Bon soir, mon cher, je suis tout à fait ravi, es lebe der Führer, noch heute abend berichte ich nach Paris, wie lustig und pazifistisch man in Berlin ist, niemand denkt an irgend etwas Böses, wie reizend Fräulein Lindenthal aussieht, da kommt ja auch Doktor Ihrig, Prost!

Neues Händeschütteln, denn Doktor Ihrig war hinzugetreten. Auch er schien trefflich gelaunt, wozu aller Anlaß bestand: seine Beziehungen zum nationalen Regime, so gespannt sie am Anfang gewesen waren, verbesserten sich jetzt von Tag zu Tag. Servus, Ihrig, wie geht's, alter Kunde! Höfgen und Ihrig lachten sich an, wie zwei Biedermänner. Nun durften sie sich wieder ungeniert in der Öffentlichkeit miteinander zeigen, sie kompromittierten sich nicht mehr gegenseitig, auch schämten sie sich nicht mehr voreinander: der Erfolg, diese sublime, unwiderlegbare Rechtfertigung jeglicher Infamie, hatte die Beiden alle Scham vergessen lassen.

Strahlend und lächelnd verneigten sich alle vier – Monsieur Larue und die Herren Ihrig, Müller-Andreä 280 und Höfgen –; denn der Ministerpräsident, sich im Walzerschritt mit Lotte Lindenthal schwingend, war vorübergekommen, und er hatte ihnen zugewinkt.

 

Die Beziehungen zwischen Hendrik und Lotte Lindenthal gewannen an menschlicher Wärme. Mit der Komödie »Das Herz« hatten sie beide einen großen Erfolg gehabt. Lottens Befürchtungen, die Strenge der Berliner Presse betreffend, hatten sich als unbegründet erwiesen. Im Gegenteil waren alle Kritiken des Lobes voll gewesen über ihre »frauliche Anmut«, ihre herbe Schlichtheit und die echt deutsche Innigkeit ihres Spieles. Niemand hatte die heikle Frage an sie gerichtet, warum sie immer auf so komische Art den kleinen Finger von sich strecke. Hingegen hatte Dr. Ihrig in seiner großen Rezension der Ansicht Ausdruck verliehen, Lotte Lindenthal sei die »wahrhaft repräsentative Menschendarstellerin des neuen Deutschland«. »Sehen Sie, Hendrik, das habe ich nun hauptsächlich Ihnen zu verdanken,« sprach die gutmütige Ährenblonde. »Wenn Sie nicht so energisch und so kameradschaftlich mit mir gearbeitet hätten, dann wäre mir dieser schöne Erfolg nicht beschieden gewesen.« – Hendrik dachte sich, daß sie ihren schönen Erfolg viel mehr dem dicken Fliegergeneral als ihm zu verdanken habe, sprach es aber nicht aus.

Er spielte die Komödie »Das Herz« zusammen mit Lotte auch in mehreren großen Provinzstädten, in Hamburg, Köln, Frankfurt und München: im ganzen Lande trat er auf als Partner der »repräsentativen Menschendarstellerin des neuen Reiches«. Bei den Gesprächen während der langen Eisenbahnfahrten gewährte ihm die hohe Frau tiefere Einblicke in ihr Innenleben, als sie es im allgemeinen zu tun für nützlich hielt. Sie sprach nicht nur von ihrem Glück, sondern auch von den Sorgen. Ihr Dicker war oft so heftig. 281 »Haben Sie eine Ahnung, was ich manchmal auszustehen habe,« sagte Lotte; aber im Grunde, so versicherte sie, war er ein guter Mensch. »Was auch seine Feinde von ihm reden mögen – im Grunde ist er die Güte selbst! Und so romantisch!« Lotte hatte Tränen in den Augen, da sie berichtete, wie ihr Ministerpräsident zuweilen, um Mitternacht, im Bärenfell und mit dem blanken Schwert an der Seite, eine kleine Andacht vor dem Porträt seiner verschiedenen Gattin verrichtete. »Sie war doch Schwedin,« sagte die Lindenthal, als ob dies alles erklärte. »Eine Nordländerin, und sie hat Männe im Auto durch ganz Italien gefahren, damals als er bei dem Münchener Putsch verwundet worden war. Natürlich kann ich verstehen, daß er da an ihr hängt – wo er sowieso so kolossal romantisch ist. – Aber schließlich hat er jetzt mich,« fügte sie, nun doch ein wenig pikiert, hinzu. –

Der Schauspieler Höfgen durfte Anteil nehmen am Privatleben der Götter. Wenn er abends, nach der Vorstellung, bei Lotte in ihrem schönen Heim am Tiergarten saß und Schach oder Karten mit ihr spielte, geschah es zuweilen, daß der Ministerpräsident unangemeldet, laut und polternd das Zimmer betrat. Wirkte er da nicht wie der Gutmütigste? War ihm anzusehen, was für greuliche Geschäfte hinter ihm lagen und welche er für den nächsten Tag plante? Er scherzte mit Lotte, er trank sein Glas Rotwein, streckte die enormen Beine von sich, und mit Höfgen sprach er über ernste Dinge, am liebsten über den Mephistopheles.

»Sie haben mich diesen Kerl erst so richtig verstehen lassen, mein Lieber,« sagte der General. »Das ist ja ein toller Bursche! Und haben wir nicht alle was von ihm? Ich meine: steckt nicht in jedem rechten Deutschen ein Stück Mephistopheles, ein Stück Schalk und Bösewicht? Wenn wir nichts hätten als die Faustische Seele – wo kämen wir denn da hin? Das könnte 282 unseren vielen Feinden so passen! Nein nein – der Mephisto, das ist auch ein deutscher Nationalheld. Man darf es nur den Leuten nicht sagen,« schloß der Minister des Flugwesens und grunzte behaglich.

Die trauten Abendstunden im Hause der Lindenthal benutzt Hendrik dazu, um bei seinem Gönner, dem Freund der schönen Künste und der Bombengeschwader, allerlei, was ihm am Herzen lag, durchzusetzen. Er hatte es sich, zum Beispiel, in den Kopf gesetzt, auf der Bühne des Staatstheaters als Friedrich der Große von Preußen zu erscheinen – das war so eine Laune von ihm. »Ich will nicht immer nur Dandies und Verbrecher spielen,« erklärte er schmollend dem Dicken. »Das Publikum fängt ja schon an, mich mit diesen Typen zu identifizieren, wenn ich sie immer wieder darstelle. Nun brauche ich einmal eine große patriotische Rolle. Dieses schlechte Stück über den alten Fritz, das unser Freund Muck da angenommen hat, kommt mir gerade recht. Das wäre eine Sache für mich!« Der General mochte einwenden, daß Höfgen dem berühmten Hohenzollern doch überhaupt nicht ähnlich sehe – Hendrik bestand auf seiner vaterländischen Caprice, in der er übrigens von Lotte Lindenthal unterstützt wurde. »Aber ich kann doch Maske machen!« rief er aus. »Ich habe in meinem Leben schon ganz andre Dinge fertiggebracht, als mal ein bißchen auszusehen wie der Alte Fritz!« – Der Dicke hatte volles Zutrauen zu den Maskierungskünsten seines Schützlings. Er befahl, daß Höfgen den Alten Fritz spiele. Cäsar von Muck, der schon eine andere Besetzung angeordnet hatte, biß sich zuerst die Lippen, schüttelte dann Hendrik beide Hände und sprach sächsisch vor Herzlichkeit. Hendrik bekam seinen Preußenkönig, klebte sich eine falsche Nase, ging am Krückstock und sprach mit krächzender Stimme. Doktor Ihrig schrieb, er entwickle sich mehr und mehr zum 283 repräsentativen Schauspieler des neuen Reiches. Pierre Larue berichtete an eine fascistische Revue in Paris, das Berliner Theater habe jetzt eine Vollkommenheit erreicht, die es in den vierzehn Jahren der Schmach und der Versöhnungspolitik niemals besessen.

Bei seinem gewaltigen Protektor setzte Hendrik noch ganz anderes durch als derlei Harmlosigkeiten. An einem besonders gemütlichen Abend – Lotte hatte eine Bowle gebraut und der Dicke hatte Kriegserinnerungen erzählt – entschloß sich Höfgen dazu, völlig offen zu werden und von seiner schlimmen Vergangenheit zu sprechen. Es war eine große Beichte, und der Gewaltige nahm sie gnädig auf. »Ich bin ein Künstler!« rief Hendrik mit glimmenden Augen, und er eilte wie ein nervöser Sturmwind durchs Zimmer. »Und wie jeder Künstler, habe ich manche Torheit begangen.« Er blieb stehen, ließ den Kopf in den Nacken sinken, breitete ein wenig die Arme und erklärte pathetisch:

»Sie können mich vernichten, Herr Ministerpräsident. Nun gestehe ich alles.«

Er gestand, daß er von den zersetzenden bolschewistischen Strömungen nicht unberührt geblieben sei und mit der »Linken« kokettiert habe. »Das war Künstlerlaune!« erklärte er mit leidendem Stolz. »Oder Künstlertorheit – wenn Sie es so nennen wollen!«

Natürlich hatte der Dicke all dies, und noch viel mehr, schon seit langem gewußt und sich nie darüber aufgeregt. Im Lande mußte eiserne Zucht herrschen, und möglichst Viele sollten hingerichtet werden. Was seine engere Umgebung betraf, war der große Mann liberal. »Na ja,« sagte er nur. »Jeder kann sich mal in was Blödes verrennen. Es waren eben schlechte, unordentliche Zeiten.«

Hendrik aber war noch keineswegs fertig. Nun ging er dazu über, dem General auseinanderzusetzen, daß 284 andere verdienstvolle Künstler die gleichen Torheiten begangen hätten wie er selbst. »Diese aber büßen noch für Sünden, die man mir so großmütig vergeben hat. Sehen Sie, Herr Ministerpräsident, und das quält mich. Ich bitte für einen bestimmten Menschen. Für einen Kameraden. Ich kann versprechen, daß er sich gebessert hat. Herr Ministerpräsident – ich bitte für Otto Ulrichs. Man hat schon gesagt, er sei tot. Aber er lebt. Und er verdient es, in der Freiheit zu leben.« Dabei hatte er, mit unwiderstehlich schöner Gebärde, seine beiden ausgestreckten Hände, die wirkten, als wären sie spitz und gotisch, etwa in die Höhe der Nase gehoben.

Lotte Lindenthal war zusammengezuckt. Der Ministerpräsident knurrte: »Otto Ulrichs . . . wer ist das?« Dann fiel ihm ein, daß es der Leiter des kommunistischen Kabaretts »Der Sturmvogel« war. »Aber das ist doch wohl wirklich ein ziemlich übler Kerl,« sagte er verdrossen.

Ach nein, doch kein übler Kerl! Hendrik beschwor den General, dies bitte ja nicht zu glauben. Ein wenig leichtsinnig – das wollte er zugeben –, ein bißchen unbedacht war sein Freund Otto. Aber doch kein übler Kerl. Und übrigens hatte er sich ja geändert. »Er ist ein ganz neuer Mensch geworden,« behauptete Hendrik, der seit Monaten ohne jeden Kontakt zu Ulrichs war.

Da Lotte Lindenthal selbst in dieser heiklen Sache Hendrik ihren Beistand lieh, gelang es schließlich, das Unglaubliche beim Dicken durchzusetzen: Ulrichs wurde freigelassen, und man offerierte ihm sogar ein kleines Engagement am Staatstheater – selbst dies Äußerste und Unwahrscheinlichste hatten Hendrik und Lotte mit vereinten Kräften erreicht. Ulrichs aber sagte: »Ich weiß nicht, ob ich mich darauf einlassen kann. Ich ekle mich davor, von diesen Mördern eine Gnade zu empfangen und den reuigen Sünder zu spielen – und ich ekle mich überhaupt.« 285

Mußte Hendrik seinem alten Freund einen Vortrag über revolutionäre Taktik halten? »Aber Otto,« rief er aus, »dein Verstand scheint gelitten zu haben! Wie willst du denn heute durchkommen, ohne List und Verstellung? Nimm dir ein Beispiel an mir!«

»Ich weiß es schon,« sagte Ulrichs, gutmütig und bekümmert. »Du bist schlauer. Aber mir fallen diese Dinge so verdammt schwer . . .«

Mit Emphase versetzte Hendrik: »Du wirst dich zwingen müssen. Ich habe mich auch gezwungen.« Und er belehrte den Freund darüber, wieviel Selbstüberwindung es ihn gekostet habe, so mit den Wölfen zu heulen, wie er es nun leider tue. »Aber wir müssen uns einschleichen in die Höhle des Löwen,« erklärte er. »Wenn wir draußen bleiben, können wir nur schimpfen, aber nichts erreichen. Ich bin mitten drin. Ich erreiche was.« Dies war eine Anspielung darauf, daß Hendrik die Freilassung Ulrichs' durchgesetzt hatte. »Wenn du engagiert am Staatstheater bist, kannst du deine alten Verbindungen wieder aufnehmen und politisch ganz anders arbeiten als aus irgendeinem obskuren Versteck.« Dieses Argument leuchtete Ulrichs ein. Er nickte. »Und überhaupt,« gab Hendrik noch zu bedenken, »wovon willst du leben, wenn du kein Engagement hast? Gedenkst du den ›Sturmvogel‹ wieder aufzumachen?« fragte er höhnisch. »Oder willst du verhungern?«

Sie befanden sich in Höfgens Wohnung am Reichskanzlerplatz. Hendrik hatte dem Freunde, der erst seit einigen Tagen wieder in Freiheit war, ein kleines Zimmer in der Nachbarschaft gemietet. »Es wäre unvorsichtig, dich bei mir wohnen zu lassen,« sagte er. »Das könnte uns Beiden schaden.« Ulrichs war mit allem einverstanden. »Du wirst es schon so machen, wie es am richtigsten ist.«

Sein Blick war traurig und zerstreut, sein Gesicht 286 war viel magerer geworden. Übrigens klagte er oft über Schmerzen. »Es sind die Nieren. Man hat mich eben doch arg hergenommen.« Wenn Hendrik aber dann, mit einer etwas lüsternen Neugierde, Genaueres wissen wollte, winkte Otto ab und verstummte. Er sprach nicht gerne von dem, was ihm im Konzentrationslager widerfahren war. Wenn er irgendeine Einzelheit erwähnte, schien er sich gleich zu schämen und zu bereuen, daß er sie ausgesprochen hatte. Als er mit Hendrik im Grunewald spazieren ging, deutete er auf einen Baum und sagte: »So sah der Baum aus, auf den ich mal klettern mußte. Es war ziemlich schwer raufzukommen. Als ich oben saß, warfen sie mit Steinen nach mir. Einer hat mich an der Stirn getroffen – da ist noch die Narbe. Von oben mußte ich hundertmal rufen: Ich bin ein dreckiges Kommunistenschwein. Als ich endlich wieder runterklettern durfte, warteten sie schon auf mich mit den Peitschen . . .«

Otto Ulrichs – sei es aus Müdigkeit und Apathie, sei es, weil Hendriks Argumente ihn überzeugt hatten – ließ sich an das Staatstheater engagieren. Höfgen war sehr zufrieden. ›Ich habe einen Menschen gerettet,‹ dachte er stolz. ›Das ist eine gute Tat.‹ Mit solchen Betrachtungen beruhigte er sein Gewissen, das immer noch nicht völlig abgestorben war, trotz allem was ihm zugemutet wurde. Übrigens war es nicht nur das Gewissen, welches ihm zuweilen zu schaffen machte, sondern auch ein anderes Gefühl: die Angst. Würde dieses ganze Treiben, an dem er sich jetzt so emsig beteiligte, ewig dauern? Konnte nicht ein Tag der großen Veränderung und der großen Rache kommen? Für solchen Fall war es günstig und sogar notwendig, Rückversicherungen zu haben. Die gute Tat an Ulrichs bedeutete eine besonders kostbare Rückversicherung. Hendrik freute sich ihrer.

Alles stand glänzend, Hendrik hatte Anlaß zur 287 Zufriedenheit. Leider gab es eine Sache, die ihm Sorge machte. Er wußte nicht, wie er seine Juliette loswerden sollte.

Im Grunde wollte er sie gar nicht loswerden, und wenn es nach seinen Wünschen gegangen wäre, hätte er sie ewig behalten; denn er liebte sie noch. Vielleicht hatte er sich noch niemals so heftig nach ihr gesehnt, wie eben jetzt. Er begriff, daß keine andere Frau sie ihm je würde ganz ersetzen können. Aber er wagte es nicht mehr, sie zu besuchen. Das Risiko war zu groß. Er hatte damit zu rechnen, daß Herr von Muck und der Propagandaminister ihn durch Spione bewachen ließen – dergleichen war sehr wohl möglich, obwohl der Intendant meistens sächsisch vor lauter Herzlichkeit mit ihm sprach und der Minister sich mit ihm photographieren ließ. Wenn sie herausbekamen, daß er mit der Negerin ein Verhältnis hatte und sich obendrein von ihr hauen ließ, dann war er verloren. Eine Schwarze: das war mindestens ebenso arg wie eine Jüdin. Es war ganz genau das, was man jetzt allgemein »Rassenschande« nannte und äußerst verwerflich fand. Ein deutscher Mann hatte mit einem blonden Weibe Kinder zu machen; denn der Führer brauchte Soldaten. Keinesfalls durfte er bei einer Prinzessin Tebab Tanzstunden nehmen, die eigentlich makabre Lustbarkeiten waren. Kein Volksgenosse, der auf sich hielt, tat so was. Auch Hendrik konnte es sich nicht mehr leisten.

Eine Zeitlang nährte er die törichte Hoffnung, Juliette würde nicht herausbekommen, daß er in Berlin war. Aber natürlich hatte sie es noch am Tag seiner Ankunft erfahren. Geduldig wartete sie auf seinen Besuch. Da er stumm blieb, ging sie ihrerseits zum Angriff über. Sie rief ihn an. Hendrik ließ durch Böck erklären, er sei nicht zu Hause. Juliette tobte, rief wieder an und drohte, sie werde kommen. Was, um des 288 Himmels willen, sollte Hendrik tun? Ihr einen Brief zu schreiben, schien ihm nicht ratsam: sie könnte das Papier zur Erpressung benutzen. Er entschloß sich endlich dazu, sie in jenes stille Café zu bestellen, in dem er sein diskretes Rendezvous mit dem Kritiker Ihrig gehabt hatte.

Juliette trug keine grünen Stiefel und kein kurzes Jäckchen, vielmehr ein sehr einfaches graues Kleid, als sie zur ausgemachten Stunde im Lokal erschien. Ihre Augen waren rot und verschwollen. Sie hatte geweint. Prinzessin Tebab, die Königstochter vom Kongo, hatte Tränen vergossen um ihren ungetreuen weißen Freund. Auf ihrer niedrigen Stirne, die zu zwei kleinen Buckeln gewölbt war, lag ein drohender Ernst. – ›Sie hat vor Zorn geweint,‹ dachte Hendrik; denn er glaubte kaum, daß Juliette andere Gefühle kannte, als Zorn, Habgier, Naschsucht oder Sinnlichkeit.

»Du schickst mich also weg,« sagte das dunkle Mädchen und hielt die Lider gesenkt über ihren beweglichen und gescheiten Augen.

Hendrik versuchte, ihr die Situation auf vorsichtige, aber eindringliche Weise klarzumachen. Er zeigte sich väterlich besorgt um ihre Zukunft und gab ihr mit sanfter Stimme den Rat, möglichst bald nach Paris zu fahren. Dort werde sie Arbeit als Tänzerin finden. Übrigens versprach er, ihr monatlich etwas Geld zukommen zu lassen. Verführerisch lächelnd legte er einen großen Geldschein vor sie hin auf den Tisch.

»Ich will aber nicht nach Paris,« sagte eigensinnig Prinzessin Tebab. »Mein Vater war ein Deutscher. Ich fühle mich ganz als Deutsche. Ich habe auch blonde Haare – wirklich, sie sind nicht gefärbt. Und überhaupt, ich kann kein Wort französisch. Was soll ich denn in Paris?«

Hendrik mußte über ihren Patriotismus lachen, worüber sie zornig wurde. Nun schlug sie ihre wilden 289 Augen auf und ließ sie rollen. »Dir wird das Lachen schon noch vergehen,« schrie sie ihn an. Sie hob die dunklen und rauhen Hände, sie streckte sie gegen ihn, als wollte sie ihm ihre hellen Innenflächen zeigen. Hendrik blickte sich entsetzt nach der Kellnerin um; denn Juliette ließ mit lauter, jammernder, fast heulender Stimme Vorwürfe und Anklagen hören. »Du hast niemals irgend etwas ernst genommen,« behauptete sie in ihrem schmerzvollen Zorn. »Nichts, nichts, gar nichts auf dieser Welt, außer deiner dreckigen Karriere! Mich hast du nicht ernst genommen, und deine Politik auch nicht, von der du mir immer vorerzählt hast! Wenn du wirklich zu den Kommunisten gehalten hättest, könntest du dich dann jetzt so gut mit den Leuten vertragen, die alle Kommunisten totschießen lassen?«

Hendrik war bleich wie das Tischtuch geworden. Er stand auf. »Genug!« sagte er leise. Sie aber hatte ein höhnisches Lachen, das durchs Lokal gellte, in dem, zu Hendriks Glück, niemand saß. »Genug!!« äffte sie ihn nach, wobei sie die Zähne bleckte. »Genug – ja, das könnte dir so passen: genug! Jahre lang habe ich die wilde Frau spielen müssen, obwohl ich gar keine Lust dazu hatte, und nun willst du plötzlich der starke Mann sein! Genug – genug –: ja, jetzt brauchst du mich nicht mehr – vielleicht weil jetzt im ganzen Land so viel geprügelt wird? Da kommst du wohl auch ohne mich auf deine Kosten?! . . . Ach, ein Schuft bist du! Ein ganz gemeiner Schuft!« Sie hatte das Gesicht in die Hände geworfen, ihr Körper wurde vom Schluchzen geschüttelt. »Ich kann es schon verstehen, daß deine Frau, daß diese Barbara es bei dir nicht ausgehalten hat,« brachte sie noch zwischen den nassen Fingern hervor. »Ich habe sie mir ja angeschaut. Die war viel zu schade für dich . . .«

Hendrik hatte die Türe erreicht. Der Geldschein war auf dem Tisch, vor Juliette, liegen geblieben. – – 290

Ach nein, so leicht ließ sich die Prinzessin Tebab nicht wegschicken, freiwillig wich sie nicht. Wenn sie dieses Mal nachgab – das begriff sie sehr wohl –, dann hatte sie ihn ganz verloren, ihren Hendrik, ihren weißen Sklaven, ihren Herrn, ihren Heinz – und sie besaß ja niemanden außer ihm. Damals, als er diese Barbara geheiratet hatte, das Bürgermädchen, da war Juliette zuversichtlich und furchtlos geblieben: sie hatte gewußt, daß er zu ihr, zu seiner Schwarzen Venus zurückkehren würde. Jetzt stand es anders. Jetzt ging es um seine Karriere. Er schickte sie nach Paris. Sie hieß aber doch Martens, und ihr Vater würde heute ein sehr angesehener Nationalsozialist sein, wenn er sich nicht am Kongo die Malaria geholt hätte . . .

Juliette wollte nicht weichen. Aber Hendrik war stärker als sie. Er war mit der Macht im Bunde.

Das arme Mädchen belästigte und beunruhigte ihn noch eine Zeitlang durch Briefe und telephonische Anrufe. Dann lauerte sie ihm vorm Theater auf. Als er nach der Vorstellung das Haus verließ – durch einen guten Zufall war er alleine – stand sie da, mit grünen Stiefeln, kurzem Röckchen, vorgerecktem Busen und gräßlich blitzenden Zähnen. Hendrik machte panische Armbewegungen, als gäbe es ein Gespenst zu verscheuchen. Mit großen Sprüngen erreichte er seinen Mercedes. Juliette lachte gellend hinter ihm drein. »Ich komme wieder!« schrie sie, während er schon im Wagen saß. »Von jetzt ab komme ich jeden Abend,« verhieß sie ihm mit grauenhafter Munterkeit. Vielleicht war sie wahnsinnig geworden aus Schmerz und Enttäuschung über seinen Verrat. Vielleicht war sie auch nur betrunken. Sie hatte die rote Peitsche bei sich, das Wahrzeichen ihres Bundes mit Hendrik Höfgen.

Ein so furchtbarer Auftritt durfte sich keinesfalls wiederholen. Es blieb Hendrik nichts anderes übrig: er mußte sich auch in dieser peinlichen 291 Angelegenheit seinem dicken Gönner, dem Ministerpräsidenten, anvertrauen. Der allein konnte helfen. Freilich, es war ein riskantes Spiel: der Gewaltige konnte die Geduld verlieren und ihm seine ganze Gnade entziehen. Etwas Einschneidendes aber hatte zu geschehen, sonst wurde der öffentliche Skandal unvermeidlich.

Höfgen bat um Audienz und legte, wieder einmal, eine umfassende Beichte ab. Übrigens zeigte der General ein überraschend großes und fast amüsiertes Verständnis für die erotischen Extravaganzen, die seinen Günstling jetzt in so bedrohliche Unannehmlichkeiten brachten. »Wir sind ja alle keine Unschuldsengel,« sprach der Dicke, von dessen Güte Hendrik dieses Mal aufrichtig ergriffen war. »Ein Negerweib fuchtelt mit der Peitsche vor dem Staatstheater herum!« Der Ministerpräsident lachte herzlich. »Das ist ja eine schöne Geschichte! – Ja, was machen wir da? Das Mädel muß weg, soviel ist sicher . . .«

Hendrik, der doch nicht geradezu wollte, daß Prinzessin Tebab umgebracht würde, bat leise: »Aber daß ihr nichts zu Leid geschieht!« Hieraufhin wurde der Staatsmann neckisch. »Na na,« machte er fingerdrohend. »Sie scheinen der schönen Dame immer noch etwas hörig zu sein! – Lassen Sie mich nur machen!« fügte er väterlich beruhigend hinzu. –

Noch am selben Tag erschienen bei der unglücklichen Königstochter zwei diskret aber unerbittlich auftretende Herren, die ihr mitteilten, daß sie verhaftet sei. Prinzessin Tebab kreischte: »Wieso?!« Aber die beiden Herren sagten gleichzeitig, mit leisen und harten Stimmen, die keinen Widerspruch duldeten: »Folgen Sie uns!« Da schluchzte sie nur noch: »Ich habe nichts Böses getan . . .«

Vor dem Hause stand ein geschlossener Wagen, mit schauerlicher Höflichkeit forderten die Herren Juliette auf, einzusteigen. Während der Fahrt, die ziemlich 292 lange dauerte, schluchzte und plapperte sie; sie stellte Fragen, sie verlangte zu wissen, wohin sie entführt werde. Da man ihr nicht antwortete, begann sie zu schreien. Aber sie verstummte, als sie den entsetzlich harten Griff eines ihrer Begleiter am Arme spürte. Sie verstand: Alles Reden, alles Klagen war sinnlos, und das Schreien konnte vielleicht ihr Leben gefährden. Oder war ihr Leben ohnedies verloren? Hendrik hatte die Macht gegen sie aufgerufen. Hendrik bediente sich der unbarmherzigen Macht, um sie, ein schutzloses Mädchen, aus dem Wege zu räumen . . . Mit Augen, die sich vor Entsetzen weiteten und blind zu werden schienen, starrte sie vor sich hin.

Nun folgten für sie lange Tage des Schweigens – waren es zehn Tage, oder vierzehn, oder nur sechs? Man hatte sie in einer halbdunklen Zelle untergebracht; sie wußte nicht, in welchem Hause sich die Zelle befand. Niemand gab ihr Auskunft darüber, wo sie war, und warum, und wie lange sie würde bleiben müssen. Sie fragte schon gar nicht mehr. Drei Mal am Tage stellte ihr eine stumme Frau in einer blauen Schürze etwas zu essen hin. Manchmal weinte Juliette. Meistens aber saß sie regungslos und starrte die Wand an. Sie wartete darauf, daß die Türe sich öffnen und jemand erscheinen würde, der sie zu ihrem letzten Gang – zu einem unbegreiflichen, bitteren, aber doch erlösenden Tode führte.

Als sie eines Nachts aus ihrem schweren, traumlosen Schlafe geweckt wurde, empfand sie sofort und beinah mit Erleichterung: Nun ist es soweit. Vor ihr aber stand nicht der Uniformierte, der beauftragt war, sie zu töten, sondern Hendrik. Sein Gesicht war sehr bleich und hatte den gespannten Leidenszug an den Schläfen. Juliette schaute ihn an, als wäre er ein Gespenst.

»Freust du dich, mich zu sehen?« fragte er leise. 293

Prinzessin Tebab antwortete nicht. Sie schaute ihn an.

»Du schweigst,« konstatierte er bekümmert. Und mit der wehleidig singenden Stimme fügte er hinzu – wobei er sie mit einem zauberhaften Edelsteinblick beschenkte –: »Ich – meine Liebe – ich habe mich auf diesen Augenblick gefreut. – Du bist frei,« sagte er und machte eine schöne Armbewegung.

Während Prinzessin Tebab regungslos blieb und ihn immer nur anschaute, setzte er ihr auseinander, daß sie sofort nach Paris abreisen dürfe . . . Es sei alles geregelt: in ihrem Paß befinde sich schon das französische Visum, ihr Gepäck erwarte sie auf der Bahn, in Paris könne sie sich an jedem Monatsersten eine bestimmte Summe an einer bestimmten Adresse abholen. »Nur eine Bedingung ist an diese große Gnade geknüpft,« sprach Höfgen, der Freiheitsbringer, und dabei wurden seine süßen Augen plötzlich strenge. »Du mußt schweigen! – Wenn du den Mund nicht halten kannst,« sagte er, nun mit einem veränderten, recht groben Ton, »dann ist es aus mit dir. Du würdest deinem Schicksal auch in Paris nicht entgehen. – Versprichst du mir, meine Liebe, daß du schweigen wirst?« Hier wurde seine Stimme beschwörend, und er neigte sich zärtlich zu seinem Opfer. Juliette widersprach nicht. Ihr Trotz war zerbrochen während der langen Tage in halbdunkler Zelle. Sie nickte stumm. – »Du bist vernünftig geworden,« stellte Hendrik fest und lächelte erleichtert. Dabei dachte er: ›Mein hartes Verfahren hat sie gefügig gemacht. Von ihr habe ich nichts mehr zu fürchten. Aber wie schade, wie unendlich schade, daß ich sie verlieren muß . . .‹

 

Prinzessin Tebab war abgereist: Hendrik durfte aufatmen, die Verfinsterung war vom Himmel seines Glückes gewichen. Keine schrecklichen Telephonanrufe 294 störten ihn mehr aus dem Schlaf. War es aber nur Erleichterung, was er spürte?

Juliette war aus seinem Leben verschwunden. Barbara war aus seinem Leben verschwunden. Beiden hatte er geschworen, er werde sie immer lieben. Hatte er Barbara nicht seinen guten Engel genannt? »Sie ist viel zu schade für dich gewesen«: dieses waren die Worte der Prinzessin Tebab. – ›Was weiß das rohe Negermädchen von mir und den komplizierten Vorgängen in meiner Seele?‹ versuchte Hendrik zu denken. Aber nicht immer gestattete sein Herz ihm so billige Ausrede. Manchmal schämte er sich: vielleicht vor sich selber; vielleicht vor Juliette, deren Blick in der halbdunklen Zelle so jammervoll, so vorwurfsvoll, so drohend auf ihn gerichtet gewesen war. Nun, da er sie verloren, weggeschickt und verraten hatte, gab es Augenblicke, da Hendrik wirklich nachdenken mußte über seine Schwarze Venus. Er hatte sie genossen als die ruchlose, unbeseelte Kraft, an der seine Energien sich erfrischten und erneuerten. Er hatte das Götzenbild aus ihr gemacht, vor dem er schwärmte: »Viens-tu du ciel profond ou sors-tu de l'abîme, o Beauté?« Und er hatte ihr in seiner egoistischen Ekstase zugerufen: »Tu marches sur des morts, dont tu te moques . . .« Aber vielleicht war sie gar kein Dämon. Am Ende lag es gar nicht in ihrer Art, über Leichen zu spazieren. Nun war sie, ganz allein und bitterlich weinend, in eine fremde Stadt abgereist –: warum denn? Weil ein anderer dazu im Stande gewesen wäre, über Tote zu gehen . . .?

 

»Der geht über Leichen«: auf so despektierliche Art pflegte der junge Hans Miklas sich über seinen berühmten Kollegen, den Staatsschauspieler Hendrik Höfgen zu äußern. Der renitente Knabe nahm keinerlei Rücksicht darauf, daß sein alter Todfeind unter dem besonderen Protektorat des Ministerpräsidenten und der 295 großen Lindenthal stand. Miklas ließ sich auf das unvorsichtigste gehen: er schimpfte nicht nur über den Kollegen Höfgen, sondern auch über Herren, die noch höher gestellt waren als dieser. Wußte er denn nicht, was er riskierte mit seinen frechen, unbedachten Redereien? Oder wußte er es, scherte sich aber nicht darum? War er denn gesonnen, alles aufs Spiel zu setzen? War ihm alles egal?

Seinem Gesicht waren solche Gefühle und innere Entschlüsse dieser Art zuzutrauen. Niemals, auch nicht in der Hamburger Zeit, hatte er so böse und so schrecklich trotzig dreingeschaut wie eben jetzt. Damals waren doch noch Hoffnungen und ein großer Glaube in ihm gewesen. Jetzt hatte er gar nichts mehr. Er ging herum und sagte: »Es ist alles Scheiße.« »Wir sind betrogen worden,« sagte er. »Der Führer wollte die Macht, sonst gar nichts. Was hat sich denn in Deutschland gebessert, seitdem er sie hat? Die reichen Leute sind nur noch ärger geworden. Jetzt reden sie patriotischen Quatsch, während sie ihre Geschäfte machen – das ist der einzige Unterschied. Die Intriganten sind immer noch obenauf.« Miklas dachte an Höfgen. »Ein anständiger Deutscher kann verrecken, ohne daß sich jemand drum kümmert,« behauptete er in seinem großen und leidvollen Zorn. »Den Bonzen aber – denen geht es besser als je. Schaut euch doch den Dicken an, wie der herumfährt in seinen goldenen Uniformen und in seiner Luxuslimousine! Und der Führer selber ist auch nicht besser – das haben wir jetzt erfahren! Könnte er denn sonst all das dulden? Die furchtbar vielen Ungerechtigkeiten?! – Unsereiner hat für die Bewegung gekämpft, als sie noch gar nichts war, und jetzt will man uns links liegen lassen. Ein alter Kulturbolschewist aber, wie der Höfgen, der ist wieder die große Nummer . . .«

So zügellose und verwerfliche Reden führte der 296 junge Miklas, jeder konnte sie hören. Kein Wunder, daß die Mitglieder des Staatstheaters anfingen, ihn zu meiden. Der Intendant ließ ihn einmal zu sich kommen und verwarnte ihn. »Ich weiß es, Sie sind seit Jahren in der Partei,« sprach Cäsar von Muck. »Gerade deshalb sollten Sie Disziplin gelernt haben, und wir müssen besonders hohe Anforderungen an Ihre politische Vernunft stellen.« Miklas machte sein bockiges Gesicht. Er senkte die trotzige Stirn, schob die Lippen vor, die ein ungesundes, viel zu rotes Leuchten hatten, und sagte mit leiser, heiserer Stimme: »Ich werde aus der Partei austreten.« – Wollte er es bis aufs Äußerste treiben?

Während Muck dem jungen Schauspieler empört den Rücken drehte, bekam Miklas einen Hustenanfall. Der Husten schüttelte seinen mageren Körper, dem er seit Jahren zu viel zugemutet hatte. Hustend verließ er das Bureau des Intendanten. Sein Gesicht war grau, mit schwarzen Löchern unterhalb der Backenknochen. Zwischen grauschwarzen Schatten hatten die Augen ein helles und böses Licht. – Zornig, aber nicht ohne Erstaunen, auch nicht ganz ohne Mitleid, schaute der Intendant dem jungen Menschen nach. ›Der ist verloren!‹ dachte Cäsar von Muck.

Du bist verloren, armer junger Hans Miklas! Nach so viel Anstrengungen, so viel verschwendetem Glauben: Was bleibt dir nun? Nur noch Haß, nur noch Traurigkeit, und die wilde Lust, den eigenen Untergang zu beschleunigen. Ach, er kommt von allein schnell genug, er wenigstens ist dir sicher, du wirst nicht mehr lange hassen, nicht mehr lange trauern müssen. Du wagst es, dich gegen Mächte und Personen aufzulehnen, von denen du immer sehnlich gewünscht hast, sie möchten herrschen. Aber du bist schwach, junger Miklas, und du hast keinen Beschützer.

Die Macht, die du geliebt hast, ist grausam. Sie 297 duldet keine Kritik, und wer sich auflehnt, der wird zerschmettert. – Du wirst zerschmettert, Knabe, von den Göttern, zu denen du so innig gebetet hast. Du stürzest hin, aus einer kleinen Wunde sickert ein wenig Blut in das Gras, und nun sind deine Lippen ebenso weiß, wie deine leuchtende Stirn.

Weint denn niemand über deinen Sturz, über dies Ende einer so großen, so glühenden und so bitter betrogenen Hoffnung? Wer sollte denn weinen? Du warst beinah immer allein. An deine Mutter hast du schon seit Jahren nicht mehr geschrieben, sie hat einen fremden Mann geheiratet, dein Vater ist ja tot, er ist im Weltkrieg gefallen. Wer sollte denn weinen? Wer sollte denn das Antlitz verhüllen über deine jammervoll vergeudete Jugend, über deinen jammervollen jammervollen Tod? – So drücken wir dir denn die Augen zu, auf daß sie nicht länger offen stehen und mit dieser stummen Klage, diesem unsäglichen Vorwurf zum Himmel starren. Bist du nachsichtiger, armes Kind, jetzt im Tode, als dich ein hartes Leben es sein ließ? Dann wirst du es uns vielleicht verzeihen können, daß wir es sind – deine Feinde –, die sich als die Einzigen über deine Leiche neigen.

Denn dein Schicksal hat sich erfüllt, es ging schnell. Du hast das Ende provoziert, du hast es herbeigerufen. Hättest du sonst andere Knaben – noch unwissendere, noch jüngere, als du selbst einer gewesen bist – um dich versammelt und Verschwörung mit ihnen gespielt? Wem wolltet ihr denn ans Leben? Eurem »Führer« selbst, oder nur einem seiner Satrapen? Ihr meintet, alles müsse »ganz anders« werden – dies war ja von jeher euer großer Wunsch. Die nationale Revolution – so meintet ihr –, die wirkliche, echte, kompromißlose Revolution, um die man euch so schmählich betrogen hatte: nun sei sie fällig und überfällig. Ging nicht sogar ein Brief von euch ab an einen Mann in der 298 Emigration, der ehemals ein Freund eures Führers gewesen war und sich von ihm enttäuscht gefunden hatte, wie ihr?

Alles wurde verraten, natürlich wurde alles verraten, und eines Morgens erschienen uniformierte Burschen in deinem Zimmer, du hattest früher schon mit ihnen zu tun gehabt, es waren alte Bekannte – und sie forderten dich auf, in einen Wagen zu steigen, der unten wartete. Du sträubtest dich auch nicht lange. Man fuhr dich ein paar Kilometer vor die Stadt, in ein Wäldchen. Der Morgen war frisch, du frorst, aber keiner von den alten Kameraden gab dir eine Decke oder einen Mantel. Der Wagen hielt und man befahl dir, ein paar Schritte spazieren zu gehen. Du gingst die paar Schritte. Du spürtest noch einmal den Geruch des Grases, und ein morgendlicher Wind berührte deine Stirn. Du hieltest dich aufrecht. Vielleicht wären die im Wagen erschrocken über den unsagbar hochmütigen Ausdruck deines Gesichtes; aber sie sahen ja dein Gesicht nicht, sie sahen nur deinen Rücken. Dann krachte der Schuß.

Dem Staatstheater, dessen Bühne du schon seit Wochen nicht mehr hattest betreten dürfen, wurde mitgeteilt, du hättest ein Autounglück gehabt. Man nahm die Nachricht mit Fassung auf und war keineswegs geneigt, ihre Richtigkeit nachzuprüfen. Fräulein Lindenthal meinte: »Schrecklich, ein so junger Bursch! Übrigens hatte ich nie besondere Sympathie für ihn. Er sah irgendwie beunruhigend aus – finden Sie nicht auch, Hendrik? Er hatte so böse Augen . . .«

Dieses Mal gab Hendrik seiner einflußreichen Freundin keine Antwort. Ihm graute davor, sich das Gesicht des jungen Hans Miklas vorzustellen. Es erschien ihm aber, ob er es wollte oder nicht. Da stand es vor ihm, ganz deutlich in der Dämmerung des Korridors. Die Augen waren geschlossen, auf der Stirne lag Glanz. 299 Die trotzig vorgeschobenen Lippen bewegten sich. Was sprachen sie denn? Hendrik wendete sich ab und floh – rettete sich in den Betrieb des Tages –, um die Botschaft nicht vernehmen zu müssen, die für ihn dieses strenge, vom Tode zauberhaft verschönte Antlitz hatte. 300

 


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