Klaus Mann
Mephisto
Klaus Mann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII
Der Pakt mit dem Teufel

Wehe, der Himmel über diesem Lande ist finster geworden. Gott hat sein Antlitz weggewendet von diesem Lande, ein Strom von Blut und Tränen ergießt sich durch die Straßen aller seiner Städte.

Wehe, dieses Land ist beschmutzt, und niemand weiß, wann es wieder rein werden darf – durch welche Buße und durch welch gewaltigen Beitrag zum Glück der Menschheit wird es sich entsühnen können von so riesiger Schande? Mit dem Blut und den Tränen spritzt der Dreck von allen Straßen aller seiner Städte. Was schön gewesen ist, wurde besudelt, was wahr gewesen ist, wurde niedergeschrien von der Lüge.

Die dreckige Lüge maßt sich die Macht an in diesem Lande. Sie brüllt in den Versammlungssälen, aus den Mikrophonen, aus den Spalten der Zeitungen, von der Filmleinwand. Sie reißt das Maul auf und aus ihrem Rachen kommt ein Gestank wie von Eiter und Pestilenz: der vertreibt viele Menschen aus diesem Lande, wenn sie aber gezwungen sind zu bleiben, dann ist das Land ein Gefängnis für sie geworden – ein Kerker, in dem es stinkt.

Wehe, die apokalyptischen Reiter sind unterwegs, hier haben sie sich niedergelassen und aufgerichtet ein gräßliches Regiment. Von hier aus wollen sie die Welt erobern: denn dahin geht ihre Absicht. Sie wollen herrschen über die Länder und über die Meere auch. Überall soll ihre Mißgestalt verehrt und angebetet werden. Ihre Häßlichkeit soll bewundert sein als die neue Schönheit. Wo man heute noch über sie lacht, soll man morgen vor ihnen auf dem Bauche liegen. Sie sind entschlossen, die Welt anzufallen mit ihrem Kriege, um sie dann demütigen und verderben zu können 231 – so wie sie heute schon das Land, das sie beherrschen, demütigen und verderben: Unser Vaterland, über dem der Himmel finster geworden ist und von dem Gott sein Antlitz zürnend weggewendet hat. Es ist Nacht in unserem Vaterlande. Die schlechten Herren reisen durch seine Gaue – in großen Automobilen, in Flugzeugen oder in Extrazügen. Sie reisen eifrig umher. Auf allen Marktplätzen plappern sie ihren Schwindel. An jedem Orte, wo sie oder ihre niedrigen Helfer erscheinen, erlöscht das Licht der Vernunft, und es wird finster.

 

Der Schauspieler Hendrik Höfgen befand sich in Spanien, als, dank den Intrigen im Palais des ehrwürdigen Reichspräsidenten und Generalfeldmarschalls, jener Mann mit der bellenden Stimme, den Hans Miklas und mit ihm eine große Anzahl unwissender und verzweifelter Menschen ihren »Führer« nannten, Reichskanzler wurde. Der Schauspieler Hendrik Höfgen spielte den eleganten Hochstapler in einem Detektivfilm, zu dem die Außenaufnahmen in der Nähe von Madrid gedreht wurden. Nach einem anstrengenden Tage kam er abends müde ins Hôtel zurück, kaufte sich beim Concierge Zeitungen, und erschrak. Wie – der großsprecherische Geselle, über den man sich so häufig lustig gemacht hatte im Kreise geistvoller und fortschrittlich gesinnter Genossen – er sollte nun plötzlich der mächtigste Mann im Staate sein?! – ›Das ist ja scheußlich,‹ dachte der Schauspieler Höfgen. ›Eine scheußliche Überraschung! Und ich war fest davon überzeugt gewesen, diese Nazis brauchte man nicht ernst zu nehmen! So ein Reinfall!‹

Er stand in seinem schönen, beigefarbenen Frühlingsanzug in der Halle des Hotel Ritz, wo ein internationales Publikum die unheilschwangeren deutschen Vorkommnisse und die Reaktion der Börse auf sie 232 besprach. Dem armen Hendrik wurde es heiß und kalt, wenn er bedachte, was ihm nun bevorstehen mochte. Zahlreiche Personen, denen er immer nur Böses angetan, würden jetzt vielleicht die Möglichkeit haben, sich an ihm zu rächen. Cäsar von Muck zum Beispiel: ach, hätte er sich doch nur ein wenig besser mit dem Blut-und-Boden-Dichter gestellt, anstatt alle seine Stücke abzulehnen! Was für unverzeihliche Fehler hatte man gemacht – nun begriff man es, und es war zu spät. Es war zu spät, man hatte bei den Nazis lauter unversöhnliche Feinde. Sogar an den kleinen Hans Miklas mußte der erschütterte Hendrik denken – was hätte er nun drum gegeben, jenen unseligen Zwischenfall im Hamburger Künstlertheater ungeschehen machen zu können! Welche Bagatelle war denn damals der Anlaß gewesen für einen Zank, der sich nachträglich als so beklagenswert herausstellte? Eine Aktrice namens Lotte Lindenthal: sehr wohl möglich, daß selbst aus dieser plötzlich eine Person geworden war, die im entscheidenden Grade nützen oder schaden konnte . . .

Mit wankenden Knien betrat Hendrik den Lift. Eine Verabredung, die er für den Abend mit einigen Kollegen getroffen hatte, sagte er ab. Er ließ sich das Diner auf seinem Zimmer servieren. Nachdem er eine halbe Flasche Champagner getrunken hatte, wurde seine Stimmung etwas zuversichtlicher.

Man mußte kühl und gefaßt bleiben, sich vor Panikstimmungen hüten. Dieser sogenannte »Führer« war also Reichskanzler – schlimm genug. Immerhin war er noch nicht Diktator, und würde es aller Wahrscheinlichkeit nach niemals werden. ›Die Leute, die ihn an die Macht geholt haben, diese Deutschnationalen, werden schon dafür sorgen, daß er ihnen nicht gar zu sehr über den Kopf wächst,‹ dachte Hendrik. Dann fielen auch die großen Oppositionsparteien ihm ein, die doch 233 schließlich noch existierten. Die Sozialdemokraten und die Kommunisten würden Widerstand leisten – vielleicht bewaffneten Widerstand –: so beschloß Hendrik Höfgen in seinem Hotelzimmer und bei seiner halben Flasche Sekt, nicht ohne lustvolles Gruseln. Nein, bis zur nationalsozialistischen Diktatur war es noch weit! Vielleicht würde die Situation sogar überraschend schnell umschlagen: der Versuch, das deutsche Volk dem Fascismus auszuliefern, konnte enden mit der sozialistischen Revolution. Dergleichen war sehr wohl möglich, und dann würde sich herausstellen, daß der Schauspieler Höfgen ungemein schlau und weitblickend spekuliert hatte. – Angenommen aber sogar, die Nazis blieben an der Regierung: was hatte er, Höfgen, schließlich von ihnen zu fürchten? Er gehörte keiner Partei an, er war kein Jude. Vor allem dieser Umstand – daß er kein Jude war – erschien Hendrik mit einem Mal ungeheuer tröstlich und bedeutungsvoll. Was für ein unverhoffter und bedeutender Vorteil, man hatte es früher gar nicht so recht bedacht! Er war kein Jude, also konnte ihm alles verziehen werden, selbst die Tatsache, daß er sich im Kabarett »Sturmvogel« als »Genosse« hatte feiern lassen. Er war ein blonder Rheinländer. Auch sein Vater Köbes war ein blonder Rheinländer gewesen, ehe die finanziellen Sorgen ihn grau werden ließen. Und seine Mutter Bella wie seine Schwester Josy waren einwandfrei blonde Rheinländerinnen.

»Ich bin ein blonder Rheinländer,« trällerte Hendrik Höfgen, vom Sektgenuß wie vom Resultat seiner Überlegungen erheitert, und er ging guter Dinge zu Bett.

Am nächsten Morgen freilich war ihm wieder viel beklommener zumute. Wie würden die Kollegen ihn behandeln, die ihrerseits nie im »Sturmvogel« aufgetreten, und die vom Dichter Muck niemals als 234 »Kulturbolschewisten« bezeichnet worden waren? Wirklich schien ihm, daß sie sich etwas frostig gegen ihn zeigten, als man gemeinsam zu den Außenaufnahmen fuhr. Nur der jüdische Komiker begann eine längere Unterhaltung mit ihm, was eher als ein besorgniserregendes Zeichen zu nehmen war. Da Hendrik sich isoliert und schon ein wenig als Märtyrer fühlte, wurde er trotzig und unbeherrscht. Dem Komiker gegenüber gab er der Meinung Ausdruck, daß die Nazis sehr bald abgewirtschaftet und sich lächerlich gemacht haben würden. Der kleine Humorist aber sagte ängstlich: »Ach nein – wenn die erst einmal dran sind, dann bleiben sie lange. Gebe Gott, daß sie ein bißchen Vernunft annehmen und etwas Nachsicht üben gegen unsereinen. Wenn man sich ganz ganz still verhält, kann einem ja wohl nicht viel passieren,« hoffte der Drollige, und Hendrik hoffte es im Grund mit ihm, war jedoch zu stolz es auszusprechen. –

Schlechtes Wetter hinderte die deutsche Schauspielertruppe mehrere Tage lang, Aufnahmen im Freien zu machen; man war genötigt, bis zum Ende des Februar in Madrid zu bleiben. Die Nachrichten, die aus der Heimat kamen, waren widerspruchsvoll und erregend. Außer jedem Zweifel schien zu sein, daß Berlin sich in einem wahren Delirium der Begeisterung für den nationalsozialistischen Reichskanzler befand. Ganz anders standen die Dinge – wenn man den Berichten der Zeitungen und den privaten Informationen glauben durfte – in Süddeutschland und besonders in München. Man wollte wissen, daß die Lostrennung Bayerns vom Reich und die Ausrufung der Wittelsbacher-Monarchie zu erwarten sei. Vielleicht waren aber das nur hohle Gerüchte, oder doch Übertreibungen tendenziöser Natur. Jedenfalls tat man besser daran, sich auf sie nicht gar zu fest zu verlassen und die Sympathie mit der neuen Macht demonstrativ 235 zu betonen. So hielten es denn auch die deutschen Schauspieler, die in Madrid versammelt waren, um einen Detektivfilm zu drehen. Der jugendliche Liebhaber – ein schöner Mann mit einem langen, slawisch lautenden Namen – prahlte plötzlich damit, daß er schon seit Jahren Mitglied der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei sei, was er bis dahin konsequent verschwiegen hatte; seine Partnerin, deren weiche, dunkle Augen und sanft gebogene Nase zu Zweifeln an ihrer germanischen Reinrassigkeit berechtigten, gab zu verstehen, daß sie mit einem hohen Funktionär derselben Partei so gut wie verlobt sei; den jüdischen Komiker aber sah man immer bedrückter werden.

Höfgen seinerseits hatte sich zu der einfachsten und wirkungsvollsten Taktik entschlossen: er hüllte sich in ein geheimnisvolles Schweigen. Niemand sollte ahnen, wieviel Sorgen er zu verbergen hatte. Denn die Mitteilungen, die er von Fräulein Bernhard und anderen Ergebenen aus Berlin erhielt, waren niederschmetternd. Rose schrieb, man müsse auf das Schlimmste gefaßt sein. Sie erging sich in finsteren Andeutungen über »schwarze Listen«, die von den Nazis schon seit Jahren geführt wurden, und auf denen weder Geheimrat Bruckner, noch der Professor, noch Hendrik Höfgen fehlten. Der Professor befand sich in London und gedachte, vorläufig nicht nach Berlin zurückzukehren. Fräulein Bernhard legte ihrem Hendrik nahe, sich auch seinerseits zunächst fern zu halten von der deutschen Hauptstadt – ihm lief es eiskalt über den Rücken, als er es las. Gerade noch war er einer der Feinsten gewesen, und nun sollte er plötzlich ein Verbannter sein! Es fiel ihm nicht leicht, vor den argwöhnischen Kollegen eine kühle Miene zu wahren und bei den Aufnahmen so flott und »aasig« zu sein, wie man es von ihm erwartete. 236

Als die Truppe sich zur Heimreise anschickte und selbst der jüdische Komiker mit besorgter Miene seine Koffer packte, behauptete Hendrik, wichtige Besprechungen in Filmangelegenheiten riefen ihn nach Paris. Sein Gedanke war: Ich muß Zeit gewinnen. Es dürfte kaum ratsam sein, sich gerade jetzt in Berlin zu zeigen. In einigen Wochen hat man sich wahrscheinlich beruhigt . . .

Hingegen standen die fulminanten Überraschungen erst bevor. Als Höfgen in Paris eintraf, war das Erste, was er erfuhr, die Nachricht vom Brande des deutschen Reichstags. Hendrik, durch seine langjährige Tätigkeit als Schurkenspieler geübt im Erraten krimineller Zusammenhänge und nicht ohne natürlichen Instinkt für die niedrigen Kombinationen der Unterwelt, begriff sofort, wer diese provokatorische Untat ersonnen und ausgeführt hatte: die ruchlose und dabei infantile Schlauheit der Nazis hatte sich ja eben an jenen Filmen und Theaterstücken geübt und entzündet, in denen Hendrik die Hauptrollen zu spielen pflegte. Höfgen konnte sich nicht verbergen, daß sich in den Schauer, den er über den rohen Trick dieser Brandstiftung empfand, ein anderes Gefühl mischte, welches Behagen und beinahe Wollust war. Die verderbte Phantasie von Abenteurern entschloß sich zu dem frechen, leicht durchschaubaren Betrug, der nur deshalb Erfolg haben konnte, weil in Deutschland selber niemand mehr wagen durfte, die Stimme gegen ihn zu erheben, und weil die übrige Welt, auf ihre eigene Ruhe mehr bedacht als auf die Sittlichkeit europäischen Lebens, nicht geneigt schien, sich in die unheimlichen Affären dieses tief verdächtigen Reiches zu mischen.

›Wie stark das Böse ist!‹ dachte der Schauspieler Höfgen unter ehrfürchtigen Schauern. ›Was es sich alles leisten und ungestraft herausnehmen darf! – Es geht in der Welt wirklich zu wie in den Filmen und 237 Stücken, deren Held ich so häufig gewesen bin.‹ Dies war für den Augenblick das Kühnste, was er zu denken wagte. Aber ahnungsweise und ohne es sich noch eingestehen zu wollen, empfand er zum ersten Male einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem eigenen Wesen und jener anrüchigen, verderbten Sphäre, in der vulgäre Schurkenstreiche, wie diese Brandstiftung, ersonnen und ausgeführt wurden.

Zunächst freilich war Hendrik kaum geneigt, über die Psychologie der deutschen Missetäter und über das, was ihn etwa mit diesen Unterwelt-Typen verbinden mochte, lange nachzugrübeln; er hatte Anlaß, sich über die nächste Zukunft ernste Sorgen zu machen. Nach dem Reichstagsbrand waren in Berlin mehrere Personen verhaftet worden, mit denen er auf vertrautem Fuße gestanden hatte, darunter auch Otto Ulrichs. Rose Bernhard hatte ihren Posten an den Kurfürstendamm-Bühnen verlassen und war überstürzt nach Wien abgereist. Von dort aus beschwor sie brieflich ihren Freund Höfgen, er solle unter keinen Umständen deutschen Boden betreten. »Dein Leben wäre gefährdet!« So alarmierend schrieb Rose aus dem Hôtel Bristol in Wien.

Hendrik meinte, dies dürfe er für romantische Übertreibung halten. Trotzdem war er beunruhigt. Von Tag zu Tag verschob er seine Abreise. Unbeschäftigt und nervös schlenderte er durch die Pariser Straßen. Er kannte die Stadt nicht, war aber keineswegs in der Stimmung, sich an ihrem Zauber jetzt zu erfreuen oder ihn auch nur zu bemerken.

Das waren bittere Wochen, die bittersten vielleicht, die er jemals durchgemacht hatte. Er sah keinen Menschen. Zwar wußte er, daß einige seiner Bekannten in Paris eingetroffen waren, aber er wagte es nicht, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen. Was gab es zu sprechen, zwischen ihm und jenen? Sie würden ihn 238 enervieren mit pathetischen Ausbrüchen des Entsetzens über die deutschen Geschehnisse – die in der Tat immer toller, immer grauenerregender wurden. Gewiß hatten diese Leute schon alle Brücken abgebrochen zu einer Heimat, deren Tyrannen sie so unversöhnlich haßten. Sie waren schon Emigranten. Bin auch ich einer? – mußte Hendrik Höfgen sich angstvoll fragen. Aber alles in ihm wehrte sich dagegen, dies zuzugeben.

Andererseits begann in den vielen einsamen Stunden, die er in seinem Hotelzimmer, auf den Brücken, Straßen, in den Cafés der Stadt Paris verbrachte, ein dunkler Trotz in ihm zu wachsen – ein guter Trotz, das beste Gefühl, das er jemals aufgebracht hatte. – Habe ich es nötig, das Mordgesindel um Verzeihung anzubetteln? – dachte er dann. Bin ich denn auf sie angewiesen? Hat mein Name nicht schon internationalen Klang? Ich könnte mich überall durchbringen – es würde wohl nicht ganz leicht sein, aber es müßte gehen. Welche Erleichterung, ja, welche Erlösung würde es bedeuten: stolz und freiwillig mich zurückzuziehen von einem Lande, wo die Luft verpestet ist; mit lauter Stimme die Solidarität zu erklären mit jenen, die kämpfen wollen gegen das blutbefleckte Regime! Wie rein würde ich mich fühlen dürfen, könnte ich mich durchringen zu solchem Entschluß! Was für einen neuen Sinn, welch neue Würde bekäme mein Leben!

Mit diesen Stimmungen, die sehr heftig und auf eine düstere Art genußreich waren, aber nie lange standhielten, stellte sich regelmäßig das Bedürfnis ein, Barbara wiederzusehen und lange mit ihr zu sprechen – Barbara, die er seinen guten Engel genannt hatte: wie dringend brauchte er sie gerade jetzt! Aber er war seit Monaten ohne Nachricht von ihr, er wußte gar nicht, wo sie sich befand. ›Wahrscheinlich sitzt sie auf dem Gut der Generalin und kümmert sich um nichts!‹ dachte er bitter. ›Ich habe es ihr ja vorausgesagt, sie 239 werde noch dem fascistischen Terror interessante Seiten abgewinnen. So mußte es kommen: Ich bin der Märtyrer, ich irre durch die Straßen dieser fremden Stadt; sie aber plaudert vielleicht gerade mit einem von diesen Mördern und Folterknechten, wie sie mit Hans Miklas zu plaudern pflegte . . .‹

Da seine Einsamkeit anfing, ihm unerträglich zu werden, spielte er mit dem Gedanken, Prinzessin Tebab aus Berlin nach Paris kommen zu lassen. Welche Erfrischung und Kräftigung würde es sein, ihr grollendes Lachen wieder zu hören, ihre starke Hand, deren Haut sich rauh anfühlte wie die Rinde eines Baumes, wieder zu berühren! Deutschland den Rücken kehren und ein neues, wildes Leben mit Prinzessin Tebab beginnen: ach, wie schön und richtig wäre dies! Konnte es denn nicht sein? War es nicht im Bereich des Möglichen? Man brauchte nur nach Berlin zu telegraphieren, und am nächsten Tage würde die Schwarze Venus eintreffen, mit ihren grünen Schaftstiefeln und der roten, geflochtenen Peitsche im Koffer. Hendrik hatte süße und rebellische Träume, in deren Mittelpunkt Prinzessin Tebab stand. In krassen und erregenden Farben malte er sich das Leben aus, das er gemeinsam mit ihr führen würde. Man könnte damit beginnen, als Tanzpaar in Paris, London oder New York sein Brot zu verdienen: Hendrik und Juliette, die zwei besten Step-Tänzer der Welt. Beim Tanzen jedoch würde es wahrscheinlich nicht bleiben. Hendrik erwog kühnere Möglichkeiten. Aus dem Tanzpaar könnte ein Hochstaplerpaar werden – wie lustig würde es sein, die Rolle des mondänen Kriminellen, die man so oft in Filmen oder Theaterstücken verkörpert hatte, auch einmal in der Wirklichkeit zu spielen, mit allen Gefahren, allen Konsequenzen! Seite an Seite mit dieser herrlichen Wilden, eine verhaßte Gesellschaft, die nun im Fascismus ihr wahres, greuliches Gesicht enthüllte, zu betrügen und 240 zu brüskieren – was für eine bezaubernde Vorstellung! Mehrere Tage lang war Hendrik ganz besessen von ihr. Vielleicht hätte er wirklich den ersten Schritt zu ihrer Realisierung getan und der dunklen Fürstentochter depeschiert – wenn nicht eine Nachricht bei ihm eingetroffen wäre, durch die seine Situation mit einem Schlage verändert wurde.

Der bedeutungsvolle Brief war von der kleinen Angelika Siebert – wer hätte gedacht, daß gerade sie, die von Hendrik stets grausam-hochmütig übersehen worden war, noch einmal eine so entscheidende Funktion in seinem Leben haben sollte! Wie lange hatte Höfgen nicht an die kleine Siebert gedacht, und da er nun versuchte, sich ihr Antlitz vorzustellen – dieses liebenswürdige und ängstliche Gesichtchen eines dreizehnjährigen Buben, mit den kurzsichtig zusammengekniffenen, hellen Augen – kam ihm vor, als ob es immer tränenüberströmt gewesen wäre. Hatte die kleine Angelika nicht beinah unaufhörlich geweint? Und hatte man ihr nicht recht häufig Anlaß zum Weinen gegeben? Hendrik erinnerte sich sehr wohl, wie gemein er sie meistens behandelt hatte . . . Ihr eigensinnig-zärtliches Herz aber war ihm, trotz allem, treu geblieben. Darüber war Hendrik verwundert. Aus guten Gründen – indem er nämlich von sich auf die anderen schloß – rechnete er stets mit der selbstsüchtigen Infamie seiner Mitmenschen. Die gute Handlung, die brave und zärtliche Tat machte ihn fassungslos. In seinem öden Hotelzimmer, dessen Wände und Möbel er schon so gut kannte, daß er sie zu hassen und zu fürchten begann, mußte er weinen, als er den Brief Angelikas gelesen hätte. Nicht nur Nervosität und Überreiztheit ließen ihn schluchzen, sondern auch eine echte Rührung machte ihm die Augen naß. Welche Seligkeit, welche Entschädigung für so viel Erlittenes wäre es für die kleine Angelika gewesen, hätte sie sehen dürfen, daß 241 er, um dessentwillen sie unendliche Tränen vergossen hatte, nun seinerseits weinte, und daß es schließlich doch noch ihre Liebe war, die seine kostbaren, gefährlichen und kalten Augen füllte mit den salzigen Tropfen.

Angelika berichtete in ihrem Brief, daß sie in Berlin sei, ein bißchen filmen dürfe, und daß es ihr leidlich gut gehe. Ein erfolgreicher junger Regisseur habe es sich in den Kopf gesetzt, sie zu heiraten, »aber natürlich denke ich nicht daran,« schrieb sie, und Hendrik mußte lächeln, als er es las: Ja, so war sie – spröde und ablehnend gegen Werbungen und Angebote, mochten sie noch so verlockend sein; eigensinnig versessen auf das Unerreichbare, und ihr Gefühl immer dorthin verschwendend, wo es übersehen und mißachtet wurde. – Bei den Aufnahmen zu einem großen Biedermeier-Lustspiel hatte sie die Bekanntschaft der Aktrice Lindenthal gemacht – eben jener Dame, die in Jena erste Sentimentale, gleichzeitig aber die Freundin eines nationalsozialistischen Fliegeroffiziers gewesen war. Hendrik, der die deutschen Ereignisse mit Gier und Haß in den Zeitungen verfolgte, wußte, daß der Fliegeroffizier zu den Mächtigsten des neuen Reiches gehörte. Also war auch Lotte Lindenthal eine einflußreiche Person geworden. Bei ihr hatte sich Angelika Siebert mit Erfolg für Hendrik verwendet.

In schwärmerischen Tönen schilderte der Brief den überlegenen Charme, die Klugheit, Sanftmut und Würde der Lindenthal. Man durfte – nach Angelikas Meinung – sicher sein, daß diese herzensgute und liebliche Dame ihren mächtigen Freund in jeder Hinsicht auf das günstigste beeinflussen werde. Sie tat es jetzt schon, besonders in allen Dingen, die das Theater betrafen. Der große Mann hatte ein huldvolles Interesse für Schauspiel, Operette und Oper. Seine Geliebten – oder die Damen, denen seine besondere Verehrung 242 galt – waren meist Bühnenkünstlerinnen vom üppigen und sentimentalen Typ. Ihnen tat er gerne jeglichen Gefallen, solange es sich um nichts Ernsthaftes handelte, sondern nur um heitere Nebensächlichkeiten, wie etwa um die Karriere eines Schauspielers. – Lotte Lindenthal war von der kleinen Siebert darauf aufmerksam gemacht worden, daß Hendrik Höfgen in Paris sitze und sich nicht nach Deutschland traue. Hierüber hatte die Favoritin des Gewaltigen gutmütig lachen müssen. Was fürchtete dieser Mensch? – wollte sie wissen, und machte naive Augen. Höfgen war doch kein Jude, vielmehr ein blonder Rheinländer, und einer Partei hatte er niemals angehört. Übrigens war er ein bedeutender Künstler – Fräulein Lindenthal hatte ihn als Mephisto gesehen. »Leute wie ihn können wir gar nicht entbehren,« sagte die kostbare Frau, und sie versprach, noch am gleichen Tage mit ihrem mächtigen Freund über den Fall zu reden. »Männe ist doch durch und durch liberal,« versicherte die erste Sentimentale aus Jena, die es wissen mußte – und alle Anwesenden spürten einen ehrfürchtigen Schauer, weil sie sich dazu herbeiließ, von dem gefürchteten Riesen auf so traulich-intime Art zu reden. »Er ist auch gar nicht nachträgerisch. Mag dieser Höfgen sich früher allerlei Extravaganzen und kleine Torheiten geleistet haben – für so was bringt Männe Verständnis auf, wenn es sich um einen Künstler von Qualitäten handelt. Hauptsache ist schließlich der gute Kern,« sprach Lotte ein wenig sinnlos, aber mit herzhafter Betonung. Und sie tat, wie sie verheißen hatte. Als der Mächtige seine Abendvisite machte, bettelte sie: »Männe, sei lieb!« Sie habe sich's nun mal in den Kopf gesetzt: in dem Lustspiel, mit dem sie am Berliner Staatstheater debutieren solle, müsse Hendrik Höfgen ihr Partner sein. »Keiner eignet sich so für die Rolle wie er,« schwatzte die Sentimentale. »Schließlich liegt 243 doch auch dir daran, daß ich einen netten Partner habe, wenn ich das erste Mal hintrete vor die Berliner Volksgenossen!« Der General erkundigte sich, ob Höfgen ein Jude sei. Da er erfuhr, daß es sich, ganz im Gegenteil, um einen garantiert blonden Rheinländer handelte, versprach er, »diesem Burschen« solle nichts geschehen, was immer er auch früher angestellt haben mochte.

Vom freundlichen Verlauf ihrer Unterredung mit Männe machte die Lindenthal ihrer kleinen Kollegin, der Siebert, sofort Mitteilung, und diese wieder konnte es kaum erwarten, Hendrik von der schönen Wendung der Dinge zu unterrichten.

So war die trübe Leidenszeit in Paris beendet! Keine einsamen Spaziergänge mehr, den Boulevard St. Michel hinunter, am Seine-Ufer oder durch die Champs Elysées, für deren Schönheit man so blind gewesen war. Hatte Hendrik Höfgen jemals kühnen und rebellischen Träumen in einem öden Hotelzimmer nachgehangen? Hatte er irgendwann das heftige und auf eine düstere Art genußvolle Bedürfnis gespürt, sich zu reinigen, sich zu befreien, aufzubrechen zu einem neuen und wilden Leben? Er wußte es schon nicht mehr; während er die Koffer packte, war es vergessen. Trällernd vor Vergnügen und sehr in Versuchung, jähe Luftsprünge zu machen, eilte er zum Reisebureau Thos. Cook and Son bei der Madeleine, um sich die Schlafwagenkarte für den Zug nach Berlin zu bestellen.

Beim Rückweg zu seinem Hôtel, das in der Nähe des Boulevard Montparnasse lag, kam Hendrik am Café du Dôme vorüber. Das Wetter war milde, viele Leute saßen im Freien, die Tische und Stühle waren, unter einem leichten Zeltdach, bis weit auf das Trottoir hinaus gerückt. Hendrik, dem vom Gehen warm geworden war, hatte Lust, sich hier für eine Viertelstunde niederzulassen und ein Glas Orangensaft zu trinken. Er blieb 244 stehen; aber während er einen hochmütigen Blick über die schwatzende Menge gleiten ließ, überlegte er es sich anders. Sein Gedanke war: ›Wer weiß, was für Leute man hier treffen könnte. Vielleicht sind alte Bekannte darunter, die ich lieber vermeide. Ist dieses Café du Dôme nicht ein Treffpunkt der Emigranten? Nein nein, es ist wohl besser, weiterzugehen.‹ Er war schon im Begriff, sich abzuwenden, als sein Blick an einer Gruppe von Personen hängen blieb, die schweigend an einem der runden kleinen Tische saß. Hendrik fuhr zusammen. Er erschrak so sehr, daß er einen Stich in der Magengegend empfand und sich einige Sekunden lang nicht bewegen konnte.

Zuerst erkannte er Frau von Herzfeld; dann erst bemerkte er, daß neben ihr Barbara saß. Barbara war in Paris, sie war die ganze Zeit in seiner Nähe gewesen, er hatte Sehnsucht nach ihr gehabt, er hatte sie gebraucht wie noch nie, und sie hatte in derselben Stadt, im selben Viertel wie er, vielleicht nur ein paar Häuser entfernt von ihm, gewohnt! Barbara hatte Deutschland verlassen, und da saß sie auf der Terrasse des Café du Dôme, da saß sie neben Hedda von Herzfeld, mit der sie doch in Hamburg keineswegs befreundet gewesen war. Nun aber hatten besondere und harte Umstände diese Beiden zueinander geführt . . . Sie saßen an einem Tisch. Beide schweigend, Beide mit dem gleichen schwermütig sinnenden und tiefen Blick, der an den Gegenständen vorbei ins Ferne zu gehen schien.

›Wie blaß Barbara aussieht!‹ dachte Hendrik, dem zumute war, als säßen die Personen ihm gegenüber gar nicht in Wirklichkeit hier, sondern wären das Produkt seines erregten Hirnes, existierten nur in seiner Vorstellung und als seine Vision. Wenn sie lebten, warum bewegten sie sich dann nicht? Warum saßen sie so stumm und regungslos und hatten so traurige Augen?

Barbara hielt ihr schmales und bleiches Gesicht in 245 die Hand gestützt. Zwischen ihren dunklen, zusammengezogenen Brauen trat ein Zug hervor, den Hendrik früher nicht an ihr bemerkt hatte: er mochte vom angestrengten, erbitterten Nachdenken kommen und gab ihrem Gesicht einen grüblerischen, beinah zornigen Ausdruck. Sie trug einen grauen Regenmantel, zwischen dessen hochgeschlagenem Kragen ein grellroter Shawl sichtbar wurde. Durch diese Tracht, wie durch die leidvoll gespannte Miene, bekam ihre Erscheinung etwas Wildes und beinahe Fürchterliches.

Bleich war auch Frau von Herzfeld; aber auf der breiten und weichen Fläche ihres Gesichtes fehlte der drohende Zug, es zeigte nur sanfte Betrübtheit. Außer Barbara und Hedda gab es an dem Tisch noch ein Mädchen, das Hendrik nie gesehen hatte, und zwei junge Männer, von denen der eine Sebastian war: Höfgen erkannte ihn an der vorgestreckten Haltung des Kopfes, an den verschleierten, weich und nachdenklich schauenden Augen und an der Strähne aschblonden Haars, das ihm auf die gesenkte Stirne fiel.

Hendrik wollte etwas rufen, wollte grüßen, sein spontanes Bedürfnis war, Barbara zu umarmen, mit ihr zu sprechen – über alles mit ihr zu sprechen, wie er es sich so oft gewünscht und vorgestellt hatte in all den einsamen Tagen. In seinem Kopf aber jagten sich die Überlegungen. ›Wie werden sie mich empfangen? Man wird Fragen an mich richten – wie könnte ich sie beantworten? Hier, in meiner Brusttasche, habe ich die Schlafwagenkarte nach Berlin, durch die Vermittlung von zwei blonden, freundlichen Damen bin ich schon so gut wie ausgesöhnt mit dem Regime, das diese Menschen da vertrieben hat und dem ich, Barbara gegenüber, so oft unversöhnliche Feindschaft geschworen habe. Was für ein verächtliches Lächeln würde dieser Sebastian mir zeigen! Und wie könnte ich Barbaras 246 Blick ertragen, ihren dunklen, spöttischen, unbarmherzigen Blick? . . . Ich muß fliehen – keiner von ihnen scheint mich noch bemerkt zu haben – sie schauen ja alle auf eine so sonderbare Art ins Leere. Ich muß machen, daß ich davonkomme, diese Begegnung ginge über meine Kräfte . . .

Die am Tisch rührten sich immer noch nicht, sie schienen durch Hendrik Höfgen hindurch zu schauen wie durch Luft. Sie saßen unbeweglich, als hätte ein großer Schmerz sie versteinert, während Hendrik davoneilte, mit kleinen und steifen Schritten, so wie jemand geht, der sich in großer Angst von einer Gefahr entfernen aber doch verbergen möchte, daß er flieht.

 

Nach der ersten Probe sagte Lotte Lindenthal zu Höfgen: »Es ist ein Jammer, daß der General jetzt gerade so ungeheuer beschäftigt ist. Wenn er es irgend einrichten könnte, würde er sicher einmal auf die Probe kommen und uns ein bißchen bei der Arbeit zuschauen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für glänzende Ratschläge er uns Schauspielern manchmal gibt. Ich glaube, er versteht von Theater ebenso viel wie von seinen Flugzeugen – und das will etwas heißen!«

Hendrik konnte es sich vorstellen, und er nickte respektvoll. Dann fragte er Fräulein Lindenthal, ob er sie in seinem Wagen nach Hause bringen dürfe. Sie gestattete es mit einem huldvollen Lächeln. Während er ihr den Arm bot, sagte er leise: »Es bedeutet eine so große große Freude für mich, mit Ihnen spielen zu dürfen. In den letzten Jahren habe ich gar zu viel unter den Manieriertheiten meiner Partnerinnen zu leiden gehabt. Dora Martin hat die deutschen Schauspielerinnen durch das schlechte Beispiel ihres krampfhaften Stils verdorben – das war ja kein Theaterspielen mehr, sondern hysterisches Gemauschel. Und nun höre ich von 247 Ihnen wieder einen klaren, einfachen, seelenvollen und warmen Ton!«

Sie schaute ihn dankbar an aus ihren etwas hervortretenden, veilchenblauen und dummen Augen. »Ich bin so froh, daß Sie mir das sagen,« flüsterte sie und drückte seinen Arm ein wenig fester an ihren. »Denn ich weiß, daß Sie mir nicht schmeicheln. Ein Mensch, der seinen Beruf so heilig ernst nimmt wie Sie, schmeichelt nicht in künstlerischen Dingen.« Hendrik seinerseits entsetzte sich geradezu bei dem Gedanken, daß er geschmeichelt haben könnte. »Aber ich bitte Sie!« Er legte die Hand aufs Herz. »Ich – und schmeicheln! Meine Freunde pflegen mir vorzuwerfen, daß ich den Menschen gar zu gerne unangenehme Wahrheiten ins Gesicht sage.« Die Lindenthal freute sich, dies zu hören. »Ich mag aufrichtige Menschen gut leiden,« erklärte sie schlicht. – »Schade, daß wir schon da sind,« sagte Hendrik, der seinen Wagen vor einem stillen, eleganten Haus in der Tiergartenstraße halten ließ; denn hier wohnte Lotte Lindenthal. Er beugte sich über ihre Hand, um sie zu küssen, wobei er den grauledernen Handschuh ein wenig zurückstreifte, auf daß er mit seinen Lippen ihre milchig weiße Haut berühren könne. Sie schien diese kleine Keckheit zu übersehen, oder doch jedenfalls nicht zu mißbilligen, ihr Lächeln blieb strahlend. »Tausend Dank dafür, daß ich Sie begleiten durfte!« sprach er über ihre Hand geneigt. Während sie auf die Türe ihres Hauses zuging, dachte er: ›Wenn sie sich noch einmal umdreht, dann wird alles gut. Wenn sie aber gar winkt, dann ist es ein Triumph und ich kann es weit bringen.‹ – Sie überquerte in aufrechter Haltung die Straße. Als sie vor der Haustür angekommen war, wendete sie den Kopf, zeigte eine verklärte Miene, und – welche Wonne! – sie hob winkend die Hand. Hendrik spürte einen Glücksschauer; denn Lotte Lindenthal rief schalkhaft: »Ta ta!« 248 Das war mehr als er zu hoffen gewagt hatte. Mit einem großen Seufzer der Erleichterung lehnte er sich zurück in die Lederpolster seines Mercedes-Wagens. –

Hendrik hatte es gewußt, ehe er noch in Berlin angekommen war: Ohne die Protektion der Lindenthal war er verloren. Die kleine Angelika, die ihn an der Bahn abholte, hätte ihn nicht noch eigens darauf hinweisen müssen, ihm war die Situation ohnedies klar. Er hatte furchtbare Feinde, unter ihnen so einflußreiche wie den Dichter Cäsar von Muck, den der Propagandaminister zum Intendanten des Staatstheaters gemacht hatte. Der Dramatiker hatte Höfgen, von dem seine Stücke immer abgelehnt waren, einen eisigen Empfang bereitet. Sein Gesicht mit den Stahlaugen und dem verkniffenen Mund hatte den Ausdruck unnahbarer Strenge und Würde gehabt, während er sagte: »Ich weiß nicht, ob Sie sich wieder bei uns einleben werden, Herr Höfgen. Hier herrscht nun ein anderer Geist, als der, den Sie in diesem Hause gewöhnt waren. Mit dem Kulturbolschewismus ist Schluß.« Hierbei reckte der Dichter des »Tannenberg«-Dramas sich drohend. »In den Stücken Ihres Freundes Marder oder in den bei Ihnen so beliebten französischen Farcen werden Sie nicht mehr Gelegenheit haben aufzutreten. Jetzt wird hier weder semitische noch gallische, sondern deutsche Kunst gemacht. Sie werden zu beweisen haben, Herr Höfgen, ob Sie dazu im Stande sind, uns bei so erhabener Arbeit behilflich zu sein. Mir schien, offen gesagt, kein besonderer Anlaß zu bestehen, Sie aus Paris wieder hierher zu rufen.« Bei dem Wort »Paris« ließ Cäsar von Muck die Augen erschreckend blitzen. »Aber Fräulein Lindenthal wünscht Sie als Partner in dem kleinen Lustspiel, mit dem sie hier debutiert.« Dies sagte Muck etwas wegwerfend. »Ich wollte nicht ungefällig gegen die Dame sein,« fuhr er mit einer falschen Biederkeit 249 fort, und schloß hochmütig: »Übrigens bin ich davon überzeugt, daß Ihnen die Rolle des eleganten Hausfreundes und Verführers keinerlei Schwierigkeiten bereiten wird.« Mit einer militärisch knappen Geste schloß der Intendant die Unterredung.

Dies war ein beängstigender Anfang – umso beängstigender für Hendrik, wenn er bedachte, daß hinter dem rachsüchtigen und arrivierten Poeten die Person des Propagandaministers stand. Dieser war in kulturellen Dingen beinah allmächtig, und er wäre es ganz gewesen, hätte es sich der zum Preußischen Ministerpräsidenten avancierte Fliegeroffizier nicht in den Kopf gesetzt, auch sein Wörtchen mitzureden, was die Staatstheater betraf. An diesen war der Dicke, schon Lottens wegen, stark interessiert. So kam es zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen den zwei Gewaltigen – dem Herrn der Propaganda und dem Herrn der Flugzeuge. Hendrik hatte noch keinen von den beiden Halbgöttern mit Augen gesehen; aber er wußte, daß er die Feindschaft des einen nur dann eine Zeit lang würde aushalten können, wenn er der Protektion des anderen sicher war. Der Weg zum Ministerpräsidenten ging über die Schauspielerin. Hendrik mußte Lotte Lindenthal gewinnen.

In den ersten Wochen seines neuen Berliner Aufenthalts hatte er keinen anderen Gedanken im Kopf als nur diesen: Lotte Lindenthal muß mich lieben. Juwelenaugen und aasigem Lächeln hat noch keine widerstehen können, und schließlich ist auch sie nur ein Mensch. Diesmal geht es ums Ganze, ich muß alle meine Künste spielen lassen – Lotte soll erobert werden wie eine Festung. Mag sie hochbusig und kuhäugig sein, mag sie noch so provinziell und hausbacken aussehen mit ihrem Doppelkinn und ihren blonden Dauerwellen: für mich ist sie begehrenswerter als eine Göttin.

Und Hendrik kämpfte. Er war blind und taub für 250 alles, was um ihn herum geschah, sein Wille, seine Intelligenz waren konzentriert auf das eine Ziel: die Kaptivierung der blonden Lotte. Nur für sie hatte er Augen, alle anderen übersah er. Die kleine Angelika war gründlich im Irrtum gewesen, wenn sie geglaubt hatte, Höfgen würde sie nun, aus Dankbarkeit, einer gewissen Aufmerksamkeit würdigen. Nur in den ersten Stunden nach seiner Ankunft war er nett zu ihr. Kaum aber, daß sie ihn der Lindenthal vorgestellt hatte, schien Angelika nicht mehr für ihn zu existieren. Sie mußte sich ausweinen bei ihrem Filmregisseur, Hendrik aber ging auf sein Ziel los, es hieß Lotte.

Bemerkte er, wie die Straßen von Berlin sich verändert hatten? Sah er die braunen und die schwarzen Uniformen, die Hakenkreuzfahnen, die marschierende Jugend? Hörte er die kriegerischen Lieder, die auf den Straßen, aus den Radioapparaten, von der Filmleinwand klangen? Achtete er auf die Führerreden mit ihren Drohungen und Prahlereien? Las er die Zeitungen, die beschönigten, verschwiegen, logen, und doch noch genug des Entsetzlichen verrieten? Kümmerte er sich um das Schicksal der Menschen, die er früher seine Freunde genannt hatte? Er wußte nicht einmal, wo sie sich befanden. Vielleicht saßen sie an irgendeinem Caféhaustisch in Prag, Zürich oder Paris, vielleicht wurden sie in einem Konzentrationslager geschunden, vielleicht hielten sie sich in einer Berliner Dachkammer oder in einem Keller versteckt. Hendrik legte keinen Wert darauf, über diese düsteren Einzelheiten unterrichtet zu sein. ›Ich kann ihnen doch nicht helfen‹: dies war die Formel, mit der er jeden Gedanken an die Leidenden von sich wies. ›Ich bin selbst in ständiger Gefahr – wer weiß, ob nicht Cäsar von Muck morgen schon meine Verhaftung durchsetzen wird. Erst wenn ich meinerseits definitiv gerettet bin, werde ich anderen vielleicht nützlich sein können!‹ 251

Nur widerwillig und mit einem Ohr hörte Hendrik zu, als man ihm von den Gerüchten Mitteilung machte, die über das Schicksal Otto Ulrichs' im Umlauf waren. Der kommunistische Schauspieler und Agitator, der sofort nach dem Reichstagsbrand verhaftet worden war, habe mehrere jener grauenhaften Prozeduren, die man »Verhöre« nannte und die in Wahrheit unbarmherzige Folterungen waren, auszustehen gehabt –: »Das hat mir jemand erzählt, der im Columbiahaus in der Zelle neben Ulrichs untergebracht war.« So berichtete, mit angstvoll gedämpfter Stimme der Theaterkritiker Ihrig, der bis zum 30. Januar 1933 zur radikalen Linken gehört hatte und aggressiver Vorkämpfer einer streng marxistischen, nur dem Klassenkampf dienenden Literatur gewesen war. Nun stand er im Begriff, seinen Frieden mit dem neuen Regime zu machen. Wie sehr hatten alle Schriftsteller, die einer bürgerlich-liberalen oder gar einer nationalistischen Gesinnung verdächtig waren, einst vor Doktor Ihrig gezittert! Er, der wachsamste und unnachsichtigste Priester einer marxistischen Orthodoxie, hatte sie mit dem großen Bannspruch belegt, hatte sie verdammt und vernichtet, indem er sie als ästhetizistische Söldlinge des Kapitalismus denunzierte. Der rote Literaturpapst war nicht geneigt gewesen, zu nuancieren und feine Unterscheidungen zu treffen, seine Meinung war: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, wer nicht nach den Rezepten schreibt, die ich für die gültigen halte, der ist ein Bluthund, ein Feind des Proletariats, ein Fascist – und wenn er es noch nicht weiß, dann wird er es von mir, dem Feuilletonchef des »Neuen Börsenblattes«, erfahren. – Doktor Ihrigs kategorische Urteile wurden von allen, die sich zur linken Avantgarde rechneten, heilig ernst genommen, obwohl sie in den Spalten einer schwer kapitalistischen Zeitung erschienen. Denn zu jener Zeit liebten es die Börsenblätter, 252 sich den Scherz eines marxistischen Feuilletons zu leisten – es gab eine pikante Note und konnte niemanden ernstlich stören. Des Lebens Ernst herrschte im Handelsteil. Unter dem Strich – wohin kein seriöser Geschäftsmann jemals schaute – durfte ein roter Papst sich austoben.

Doktor Ihrig hatte sich Jahre lang ausgetobt und war zu einer der entscheidenden Instanzen in allen Dingen marxistischer Kunstbetrachtung geworden. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, legte der jüdische Chefredakteur des »Neuen Börsenblattes« sein Amt nieder. Doktor Ihrig aber durfte bleiben, da er nachweisen konnte, daß alle seine Ahnen, väterlicher- wie mütterlicherseits, »arisch« waren und daß er niemals einer der sozialistischen Parteien angehört hatte. Ohne lange zu zaudern, verpflichtete er sich, das Feuilleton des »Neuen Börsenblattes« von nun ab im selben streng nationalen Geiste zu redigieren, der jetzt die Spalten des politischen Teils erfüllte und noch bis in die »Gemischten Nachrichten aus aller Welt« spürbar war. »Gegen die Bürger und Demokraten bin ich ja sowieso immer gewesen,« sprach Doktor Ihrig schlau. Wirklich konnte er, wie bisher, weiter gegen den »reaktionären Liberalismus« wettern – nur die Vorzeichen seiner antiliberalen Gesinnung hatten sich geändert.

»Scheußlich, diese Geschichte mit Otto,« sagte der wackere Doktor Ihrig und sah kummervoll aus. Er hatte das revolutionäre Kabarett »Sturmvogel« in vielen Artikeln als das einzige theatralische Unternehmen der Hauptstadt, das Zukunft habe und überhaupt der Beachtung wert sei, bezeichnet. Ulrichs hatte zum intimsten Kreise des berühmten Kritikers gehört. »Scheußlich, scheußlich,« murmelte der Doktor und nahm nervös seine Hornbrille ab, um ihre Gläser zu putzen. 253

Auch Höfgen war der Ansicht, daß es scheußlich sei. Sonst hatten sich die beiden Herren nicht viel zu sagen. Sie fühlten sich nicht recht wohl, der eine in der Gesellschaft des andern. Als Ort ihres Zusammentreffens hatten sie ein abgelegenes, wenig besuchtes Café gewählt. Sie waren Beide kompromittiert durch ihre Vergangenheit, Beide standen vielleicht immer noch im Verdacht einer oppositionellen Gesinnung, und es könnte fast wie eine Verschwörung wirken, sähe man sie zusammen.

Sie schwiegen und schauten sinnend ins Leere, der eine durch seine Hornbrille, der andere durch sein Monokel. »Ich kann natürlich im Augenblick gar nichts für den armen Kerl tun,« ließ Höfgen sich endlich vernehmen. Ihrig, der dasselbe hatte sagen wollen, nickte. Dann schwiegen sie wieder. Höfgen spielte mit seiner Zigarettenspitze. Ihrig räusperte sich. Vielleicht schämten sie sich voreinander. Der eine wußte, was der andere dachte. Höfgen dachte von Ihrig, wie Ihrig von Höfgen: ›Ja ja, mein Lieber, du bist ein genau so großer Schuft wie ich selber.‹ Diesen Gedanken errieten sie, einer aus den Augen des andern. Deshalb schämten sie sich.

Da das Schweigen unerträglich wurde, stand Höfgen auf. »Man muß Geduld haben,« sagte er leise und zeigte dem revolutionären Kritiker sein fahles Gouvernantengesicht. »Es ist nicht leicht, aber man muß Geduld haben. Leben Sie wohl, lieber Freund.«

 

Hendrik hatte allen Grund zur Zufriedenheit: Lotte Lindenthals Lächeln wurde immer süßer, immer vielversprechender. Wenn sie eine intime Szene miteinander probierten – und die Komödie »Das Herz« bestand fast nur aus intimen Szenen zwischen der Gattin eines großen Geschäftsmannes, die Lottens Rolle war, und dem galanten Hausfreund, den Hendrik 254 darstellte –, dann geschah es wohl, daß sie ihren Busen seufzend an den Partner drückte und feuchte Blicke warf. Höfgen seinerseits blieb von einer Zurückhaltung, die melancholisch-disziplinierten Charakter hatte, und hinter der sich fiebernde Begehrlichkeit zu verbergen schien. Er behandelte Fräulein Lindenthal mit fein akzentuierter Reserviertheit, meistens nannte er sie »Gnädige Frau«, in seltenen Augenblicken »Frau Lotte«, und nur während der Arbeit, im Eifer des gemeinsamen Probierens ließ er sich einmal zum vertraulich-kollegialen Du hinreißen. Seine Augen aber schienen immer sagen zu wollen: Ach, wenn ich nur könnte, wie ich möchte! Wie würde ich dich umfangen, du Süße! Wie würde ich dich pressen, du Holde! Zu meinem Leidwesen muß ich mich bezwingen, aus Loyalität gegen einen deutschen Helden, der dich die Seine nennt . . . Solche zugleich brünstigen und männlich-gefaßten Gedanken verrieten die schönen Augen des Schauspielers Höfgen. In Wirklichkeit dachte er nur: ›Warum – um Gotteswillen, warum hat sich der Ministerpräsident, der doch jede haben könnte, gerade die ausgesucht?! Sie mag ja eine ganz brave Person und eine vortreffliche Hausfrau sein, aber sie ist doch schrecklich dick, und dabei so lächerlich affektiert. Eine schlechte Schauspielerin ist sie übrigens auch . . .'

Auf den Proben hatte er zuweilen große Lust, die Lindenthal anzuschreien. Jeder anderen Kollegin hätte er ins Gesicht gesagt: Was Sie da machen, meine Gute, ist schlimmstes Provinztheater. Daß Sie eine feine Dame spielen, ist kein Anlaß, mit einer so hohen, verstellten Stimme zu sprechen und auf so groteske Art ständig den kleinen Finger wegzustrecken, wie Sie das zu tun belieben. Feine Damen haben längst nicht immer diese Gewohnheit. Und wo steht geschrieben, daß die Gattin eines großen Geschäftsmannes, wenn sie mit ihrem Hausfreund flirtet, die Ellenbogen vom Körper 255 entfernt halten muß, als habe sie sich die Bluse mit einer stinkenden Flüssigkeit beschmiert und fürchte sich nun, die Ärmel mit ihr in Berührung zu bringen? Lassen Sie doch bitte diese Albernheiten!

Natürlich hütete sich Hendrik sehr wohl, dergleichen Lotten gegenüber auszusprechen. Auch ohne daß sie die verdienten Grobheiten gesagt bekam, schien sie aber zu spüren, daß sie sich auf den Proben blamierte. »Ich fühle mich noch so unsicher,« klagte sie und machte ihr naives Kleinmädchen-Gesicht. »Es ist das Berliner Milieu – das bringt mich ganz durcheinander. Ach, gewiß werde ich schrecklich durchfallen und miserable Presse bekommen!« Sie tat, als wäre sie irgendeine kleine Debütantin, die ernsthaft Angst vor den Berliner Kritikern haben müßte. »Oh bitte bitte, Hendrik, sagen Sie mir!« – dabei patschte sie babyhaft in die erhobenen Händchen –, »wird man mich recht grausam behandeln? Wird man mich zerzausen und verreißen?« Hendrik konnte mit dem Brustton echter Überzeugtheit erklären, daß er dies für gänzlich ausgeschlossen halte. –

Während Höfgen und die Lindenthal noch die Komödie »Das Herz« probierten, wurde bekannt, daß der »Faust« wieder ins Repertoire des Staatstheaters aufgenommen werden sollte. Zu seinem Entsetzen mußte Hendrik erfahren, daß Cäsar von Muck – sicherlich im Einverständnis mit dem Propagandaminister – beschlossen hatte, die Rolle des Mephisto mit einem Schauspieler zu besetzen, der schon seit langen Jahren der Nationalsozialistischen Partei angehörte und den man, vor einigen Wochen, aus der Provinz nach Berlin berufen hatte. Dieses war die Rache des »Tannenberg«-Dichters an Höfgen, der seine Stücke abgelehnt hatte. Hendrik spürte: Ich bin erledigt, wenn Muck durchkommt mit seinem scheußlichen Plan. Der Mephisto ist meine große Rolle. Darf ich ihn nicht spielen, dann 256 ist es erwiesen, daß ich in Ungnade bin. Dann ist es deutlich, daß die Lindenthal ihren Einfluß beim Ministerpräsidenten nicht für mich geltend macht, oder daß sie den großen Einfluß gar nicht besitzt, den man ihr zuschreibt. Mir bliebe dann nichts mehr übrig, als meine Koffer zu packen und nach Paris zurück zu reisen – wo ich vielleicht überhaupt hätte bleiben sollen; denn hier ist es eigentlich scheußlich. Meine Stellung ist eine traurige, besonders wenn man sie mit der vergleicht, die ich früher hatte. Alle sehen mich mißtrauisch an. Man weiß, daß der Intendant und der Propagandaminister mich hassen, und man hat noch nicht den kleinsten Beweis dafür, daß ich beim Fliegergeneral wirklich in Gunst stehe. Eine feine Situation, in die ich da geraten bin! Der Mephisto könnte alles retten, von ihm hängt jetzt alles ab . . .

Vor Beginn einer Probe trat Höfgen mit festen Schritten auf Lotte Lindenthal zu, und das Beben seiner Stimme war ausnahmsweise keineswegs künstlich, als er sagte: »Frau Lotte – ich habe eine große große Bitte an Sie.« Sie lächelte etwas angstvoll: »Ich bin meinen Kollegen und Freunden immer gerne behilflich – wenn ich kann.« Da sprach er, mit tiefem, hypnotisierenden Blick in ihre Augen hinein:

»Ich muß den Mephisto spielen. Verstehen Sie mich, Lotte? Ich muß.«

Sein großer, dringlicher Ernst erschreckte sie, und übrigens fühlte sie sich erregt durch die andrängende Nähe seines Körpers, der ihr längst nicht mehr gleichgültig war. Sanft errötend, die Augen niedergeschlagen – wie ein junges Mädchen, dem man den Antrag macht, und das verheißt, sie werde sich mit den Eltern beraten – flüsterte sie: »Ich will versuchen, was ich machen kann. Ich spreche noch heute mit ihm

Hendrik hatte ein tiefes Aufatmen der Erleichterung.

Am nächsten Morgen rief das Sekretariat der 257 Staatstheater-Intendanz ihn an, um mitzuteilen, er werde am Nachmittag zur Arrangierprobe der neuen »Faust«-Einstudierung erwartet. Das war der Sieg. Der Ministerpräsident hatte sich für ihn verwendet. ›Ich bin gerettet,‹ dachte Hendrik Höfgen. – Er schickte einen großen Strauß gelber Rosen an Lotte Lindenthal; den schönen Blumen legte er einen Zettel bei, auf dem er in großen, pathetisch eckigen Buchstaben das Wort »Danke« schrieb.

Es erschien ihm beinahe schon selbstverständlich, daß der Intendant Cäsar von Muck ihn, vor Beginn der Probe, in sein Bureau bitten ließ. Der nationale Dichter zeigte die einfachste Herzlichkeit – die eine viel beachtenswertere schauspielerische Leistung war, als die feine Zurückhaltung, die Hendrik an den Tag legte.

»Ich freue mich darauf, Sie als Mephisto zu sehen,« sprach der Dramatiker, ließ die stahlblauen Augen warm aufblitzen und ergriff mit männlicher Innigkeit die Hände des Menschen, den er hatte vernichten wollen. »Wie ein Kind freue ich mich darauf, Sie in dieser ewigen, tief deutschen Rolle zu sehen.« – Es war deutlich: .der Intendant hatte sich entschlossen, sein Verhalten Höfgen gegenüber mit einem Schlage und total zu ändern, seitdem der Ministerpräsident sich für diesen Schauspieler eingesetzt hatte. Natürlich hatte Cäsar von Muck, nach wie vor, die unerbittliche Absicht, den fatalen Burschen nicht gar zu groß werden zu lassen und ihn, wenn irgend möglich, recht bald vom Staatstheater zu entfernen. Es schien ihm aber geraten, seinen Kampf gegen den alten Feind von jetzt ab auf eine heimlichere und schlauere Art zu führen. Herr von Muck war durchaus nicht geneigt, sich Höfgens wegen mit dem mächtigen Ministerpräsidenten oder mit der Lindenthal zu überwerfen. Als Intendant der Preußischen Staatstheater hatte man allen Grund, 258 sich mit dem Ministerpräsidenten ebenso gut zu stellen wie mit dem Propagandaminister . . .

»Unter uns gesagt,« fuhr der Intendant mit der Miene kameradschaftlicher Vertraulichkeit fort, »Sie haben es mir zu verdanken, daß Sie den Mephisto wieder spielen werden.« In seiner Aussprache machte sich der sächsische Akzent, mit dem er vielleicht seine markige Biederkeit betonen wollte, heute stark bemerkbar. »Es gab da gewisse Bedenken,« – er dämpfte die Stimme und schnitt eine Grimasse des Bedauerns –, »gewisse Bedenken in ministeriellen Kreisen – Sie verstehen, mein lieber Höfgen . . . Man fürchtete, Sie könnten den Geist der vorigen ›Faust‹-Inszenierung – einen etwas kulturbolschewistischen Geist, wie man sich ausdrückte – in unsere neue Einstudierung tragen. Nun, es ist mir gelungen, diese Befürchtungen zu widerlegen und zu überwinden!« schloß der Intendant fröhlich, und er schlug dem Schauspieler herzhaft auf die Schulter. –

Einen argen Schrecken hatte Höfgen an diesem sonst erfolgreichen Tage noch auszustehen. Als er die Probebühne betrat, stieß er mit einem jungen Menschen zusammen, es war Hans Miklas, Hendrik hatte seit Wochen nicht mehr an ihn gedacht. Natürlich, Miklas lebte, er war sogar am Staatstheater engagiert, und er sollte in der neuen »Faust«-Inszenierung den Schüler spielen. Auf dieses Zusammentreffen war Hendrik nicht vorbereitet; um die Besetzung der kleineren Rollen hatte er sich, bei all den Aufregungen, die es auszustehen gab, noch nicht gekümmert. Nun überlegte er sich blitzschnell: Wie verhalte ich mich? Dieser renitente Bursche haßt mich noch – wenn es nicht selbstverständlich wäre: der bleiche und böse Blick, den er mir gerade zugeworfen hat, müßte es mir verraten. Er haßt mich, er hat nichts vergessen, und er kann mir schaden, wenn er Lust dazu hat. Was hindert ihn, Lotte Lindenthal zu erzählen, warum es damals zu dem Auftritt 259 zwischen uns im H. K. gekommen ist. Ich wäre verloren, wenn er sich das einfallen ließe. Aber er wagt es nicht, so weit wird er wahrscheinlich nicht gehen – Hendrik beschloß: Ich werde ihn fast übersehen und ihn mit meinem Hochmut einschüchtern. Dann denkt er, ich sei schon wieder ganz obenauf, habe alle Trümpfe in der Hand und man könne nichts gegen mich ausrichten. – Er klemmte sich das Monokel vors Auge, machte ein spöttisches Gesicht und sprach durch die Nase: »Herr Miklas – sieh da! Daß es Sie auch noch gibt!« Dabei betrachtete er seine Fingernägel, lächelte aasig, hüstelte und schlenderte weiter.

Hans Miklas hatte die Zähne aufeinandergebissen und geschwiegen. Sein Gesicht war unbewegt geblieben, aber da Hendrik es nicht mehr beobachten konnte, verzerrte es sich vor Haß und vor Schmerz. Niemand kümmerte sich um den Knaben, der trotzig und einsam an einer Kulisse lehnte. Niemand sah, daß er die Fäuste ballte und daß seine hellen Augen sich mit Tränen füllten. Hans Miklas zitterte an seinem schmalen, mageren Körper, der an den Körper eines unterernährten Gassenbuben, zugleich an den eines übertrainierten Akrobaten erinnerte. Warum zitterte der Hans Miklas? Und warum weinte er denn?

Begann er einzusehen, daß er betrogen worden war – betrogen in einem fürchterlichen, riesenhaften und nie mehr gut zu machenden Ausmaß? Ach, er war noch nicht an dem Punkte, dies zu begreifen. Indessen stellten vielleicht doch die ersten Ahnungen sich ein. Schon diese Ahnungen waren von der Art, daß seine Hände sich zusammenkrampften und seine Augen sich mit Tränen füllten.

Die ersten Wochen nach der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten und ihren »Führer«, hatte dieser junge Mensch sich gefühlt wie im Himmel. Der schöne und große Tag, der Tag der Erfüllung, auf den 260 man so lange und mit so viel Sehnsucht gewartet hatte, nun war er da! Was für ein Jubel! Der junge Miklas hatte vor Seligkeit geschluchzt und getanzt. Damals hatte sein Gesicht gestrahlt im Licht der echten Begeisterung: auf seiner Stirne war Glanz gewesen, und Glanz in seinen Augen. Als man den Reichskanzler, den Führer, den Erlöser mit dem Fackelzug feierte – wie hatte er da auf der Straße gebrüllt und gleich einem Besessenen die Glieder geworfen, mitergriffen von dem Taumel, in den eine Millionenstadt, in den ein ganzes Volk sich schleuderte. Nun würden alle Versprechungen umgesetzt werden in die Tat. Ohne Frage: ein goldenes Zeitalter war im Begriff anzubrechen. Deutschland hatte seine Ehre wieder, und bald würde auch seine Gesellschaft sich verwandeln und sich zur wahren Volksgemeinschaft wunderbar erneuern: denn so hatte es der Führer hundert Mal versprochen und die Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung hatten sein Versprechen besiegelt mit ihrem Blut.

Die vierzehn Jahre der Schmach waren vorüber. Alles bis dahin war nur Kampf und Vorbereitung gewesen, jetzt fing das Leben erst an. Nun durfte man endlich arbeiten – mitarbeiten am Wiederaufbau eines geeinigten, machtvollen Vaterlands. Hans Miklas bekam ein schlecht bezahltes Engagement am Staatstheater: ein höherer Parteifunktionär hatte es ihm verschafft. Höfgen saß in Paris, Höfgen war Emigrant – und Miklas hatte eine Stellung an der Preußischen Staatsbühne: der Zauber dieser Situation war so mächtig, daß er den jungen Menschen manches übersehen ließ, was er sonst vielleicht als enttäuschend empfunden hätte.

War es wirklich eine neue, eine bessere Welt, in der er sich jetzt bewegte? Hatte sie nicht viele Gebrechen der alten, die man so bitter gehaßt hatte, und noch manch anderen Fehler dazu, der bis dahin unbekannt 261 gewesen war? Dergleichen wagte Hans Miklas noch nicht sich einzugestehen. Aber zuweilen bekam sein junges, angegriffenes, bleiches Antlitz, mit den zu roten Lippen und den dunklen Rändern um den hellen Augen, doch schon wieder jenen verschlossenen, leidvollen Ausdruck des Trotzes, der ihm früher eigentümlich gewesen war. Hochmütig und böse wandte der widerspenstige Knabe den Kopf, wenn er beobachten mußte, wie man jetzt den Intendanten Cäsar von Muck umschmeichelte, auf eine noch viel schamlosere Manier, als die es gewesen war, auf die man früher den »Professor« umschmeichelt hatte. Und wie Cäsar von Muck seinerseits zusammenknickte und in demutsvoller Liebedienerei zerfließen zu wollen schien, wenn der Propagandaminister das Theater betrat! Das war äußerst peinlich anzusehen. Der Zustand, den die nationalistischen Agitatoren als »Bonzenwirtschaft« zu bezeichnen liebten, hatte also nicht aufgehört, sondern nur noch schlimmere und ausschweifendere Formen angenommen. Auch unter den Schauspielern gab es noch die »Prominenten«, die herabsahen auf die Kleineren, in schweren Limousinen am Bühneneingang vorfuhren und kostbare Pelzmäntel trugen. Die große Diva hieß nicht mehr Dora Martin, sondern Lotte Lindenthal; sie war keine gute Schauspielerin mehr, sondern eine schlechte, dafür aber die Favoritin eines mächtigen Mannes. Miklas hätte sich, um ihrer Ehre willen, einmal fast geprügelt – wie lang war das her? –, und er hatte seine Stellung für sie verloren. Aber das wußte sie nicht, und er war zu stolz, um darauf anzuspielen. Er schob trotzig die Lippen vor, machte sein abweisendes Gesicht und ließ sich übersehen von der großen Dame.

Deutschland hatte seine Ehre wieder, da die Kommunisten und Pazifisten nun in den Konzentrationslagern saßen, teilweise auch schon getötet waren, und die Welt anfing, sich sehr zu ängstigen vor einem Volk, 262 daß einen so besorgniserregenden »Führer« sein eigen nannte. Die Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens hingegen ließ auf sich warten: vom Sozialismus war noch nichts zu merken. ›Alles kann nicht auf einmal geschafft werden,‹ dachte ein junger Mensch wie Hans Miklas, der zu innig geglaubt hatte, als daß er sich jetzt schon zur Enttäuschung hätte entschließen mögen. ›Nicht einmal mein Führer bringt es fertig. Wir sollen Geduld haben. Erst muß Deutschland sich einmal erholen von den langen Jahren der Schmach.‹

So vertrauensvoll war dieser Knabe noch immer. Den entscheidenden Chock aber empfing er, als er auf dem Probezettel las, daß Hendrik Höfgen den Mephisto spielen würde. Der alte Feind, der höchst Geschickte, ganz Gewissenlose – da war er wieder, der Zyniker, der überall durchkommt, sich bei allen beliebt macht: Höfgen, der ewige Widersacher! Die Frau, um derentwillen man sich fast mit ihm geprügelt hätte, sie hatte ihn selber herbeigeholt, weil sie ihn in der mondänen Komödie als Partner brauchte. Und nun hatte sie ihm auch noch die klassische Rolle verschafft, und mit ihr die große Erfolgschance . . . Konnte er, Miklas, nicht hingehen und dieser Lotte Lindenthal erzählen, was Höfgen damals, in der Kantine, über sie geäußert hatte?! Wer hinderte ihn daran? – Aber war es der Mühe wert? Würde man ihm denn glauben? Konnte er sich nicht auch noch lächerlich machen? Und hatte schließlich Höfgen so ganz unrecht gehabt, als er diese Lindenthal eine blöde Kuh nannte? War sie nicht eine?

Miklas schwieg, ballte die Fäuste und wandte den Kopf der Dunkelheit zu, damit niemand die Tränen sähe in seinen Augen.

Eine Stunde später mußte er seine Szene mit Höfgen-Mephistopheles probieren. In demütiger Haltung hatte er sich dem Schriftgelehrten, der eigentlich der Teufel war, zu nahen, und vorzubringen: 263

»Ich bin allhier erst kurze Zeit
Und komme voll Ergebenheit,
Einen Mann zu sprechen und zu kennen,
Den alle mir mit Ehrfurcht nennen.«

Die Stimme des Schülers klang rauh und sie wurde zu einem Stöhnen, als der Jüngling auf all die verwirrenden Weisheiten, die höhnischen Sophismen des maskierten Satans zu erwidern hatte:

»Mir wird von alle dem so dumm
Als ging' mir ein Mühlrad im Kopf herum.«

Der »Faust«-Aufführung des Staatstheaters wohnte der Ministerpräsident und Fliegergeneral in Begleitung seiner Freundin Lotte Lindenthal bei. Die Vorstellung begann mit einer Viertelstunde Verspätung, weil der große Herr auf sich warten ließ. Aus seinem Palais wurde telephoniert, er sei festgehalten durch eine Besprechung mit dem Reichswehrminister. Die Schauspieler in ihren Garderoben aber flüsterten sich spöttisch zu, daß er einfach wieder einmal nicht rechtzeitig fertig werde mit seiner Toilette. »Er braucht doch immer eine Stunde, um sich umzuziehen,« kicherte die Darstellerin des Gretchens, die so blond war, daß sie sich kleine Aufsässigkeiten leisten durfte. Übrigens vollzog sich der Eintritt des hohen Paares dann mit betonter Dezenz. Der Ministerpräsident hielt sich im Hintergrund seiner Loge, solange Licht im Saal war. Nur die Leute in den ersten Parkettreihen bemerkten ihn und schauten ehrfurchtsvoll auf seine geschmückte Uniform, die einen purpurnen Kragen und breite silberne Manschetten zeigte, und auf das blitzende Brillantendiadem seiner hochbusigen, ährenblonden Freundin. Erst als der Vorhang sich hob, setzte sich der Minister, wobei er ein leises Ächzen hören ließ, denn es bereitete Mühe, die Fettmassen seines Leibes auf dem 264 relativ schmalen Fauteuil in Ordnung zu bringen. Während des Prologs im Himmel machte der illustre Zuschauer ein pflichtgemäß ergriffenes Gesicht. Die folgenden Szenen der Tragödie, ihr Ablauf bis zu jenem Moment, da Mephistopheles als Pudel sich in Faustens Studierzimmer geschlichen hat, schienen ihn etwas zu langweilen; während des ersten großen Faust-Monologs konnte man ihn mehrfach gähnen sehn, und auch der »Osterspaziergang« unterhielt ihn nicht: er flüsterte der Lindenthal etwas zu, was wahrscheinlich unfreundlichen Sinn hatte.

Hingegen wurde der Gewaltige animiert, sowie Höfgen-Mephistopheles die Szene betrat. Als der Doktor Faust ausrief: »Das also war des Pudels Kern! Ein fahrender Scolast? Der Casus macht mich lachen« –: da lachte auch der hohe Würdenträger, und zwar so laut und herzlich, daß niemand es überhören konnte. Lachend neigte sich der schwere Mann nach vorne, indem er seine beiden Arme auf die rotsamtene Brüstung der Loge stützte, und von nun ab verfolgte er mit amüsierter Aufmerksamkeit die Handlung – genauer gesagt: das tänzerisch gewandte, durchtrieben anmutige, ruchlos charmante Spiel Hendrik Höfgens.

Lotte Lindenthal, die ihren Männe kannte, begriff sofort: Dies ist Liebe auf den ersten Blick. Höfgen hat es meinem Dicken angetan – was ich nur zu gut begreife. Denn der Bursche ist ja auch zauberhaft, und in seinem schwarzen Kostüm, mit der diabolischen Pierrotmaske, wirkt er unwiderstehlicher als je. Ja, er ist sowohl drollig als bedeutend, er macht die reizendsten Sprünge wie ein Tänzer, zuweilen aber bekommt er drohende, tiefe und erschreckend flammende Augen, zum Beispiel nun, da er ausspricht:

»So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.« 265

An dieser Stelle nickte der Ministerpräsident bedeutungsvoll. Später, bei der Schüler-Szene – in der Hans Miklas übrigens eine auffallend steife und befangene Figur machte – schien der große Mann sich zu unterhalten, wie in der drolligsten Posse. Seine gute Laune steigerte sich noch während der burlesken Vorgänge in Auerbachs Keller zu Leipzig, als Höfgen mit bösartigem Übermut das Lied vom König und dem Floh zum Besten gab, und schließlich den süßen Tokayerwein, den moussierenden Champagner aus dem Tisch für die besoffenen Rüpel bohrte – und ganz außer sich vor Vergnügen geriet der Dicke, als in der Finsternis der Hexenküche Höfgen die scharfe, klirrende Stimme des Höllenfürsten vernehmen ließ:

»Erkennst du mich? Gerippe! Scheusal du!
Erkennst du deinen Herrn und Meister?
Was hält mich ab, so schlag' ich zu,
Zerschmettre dich und deine Katzengeister!
Hast du vorm roten Wams nicht mehr Respekt?
Kannst du die Hahnenfeder nicht erkennen?
Hab' ich dies Angesicht versteckt?
Soll ich mich etwa selber nennen?«

Dies galt der Hexe, dem Schauerweib, die denn auch entsetzt in sich zusammenknickte. Der Fliegergeneral aber schlug sich vor Vergnügen die Schenkel: das blitzende Selbstbewußtsein des Bösen, der Stolz des Satans auf seinen gräßlichen Rang amüsierten ihn gar zu sehr. Sein fettes, grunzendes Gelächter wurde begleitet vom silbrigen Lachen der Lindenthal. – Nach der Hexenküchen-Szene war die Pause. Der Ministerpräsident ließ den Schauspieler Höfgen zu sich in die Loge bitten.

Hendrik wurde ganz weiß und mußte mehrere Sekunden lang die Augen schließen, als der kleine Böck ihm die bedeutsame Bestellung ausrichtete. Der große 266 Augenblick war gekommen. Er würde dem Halbgott von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehn . . . Angelika, die sich bei ihm in der Garderobe befand, brachte ihm ein Glas Wasser. Nachdem er es hastig geleert hatte, war er wieder dazu im Stande, halbwegs aasig zu lächeln. Er konnte sogar sagen: »Das geht ja alles wunschgemäß und nach dem Programm!« – als machte er sich lustig über den entscheidenden Vorgang; aber seine Lippen waren blaß, da er dies spöttisch vorbrachte.

Als Hendrik die Loge der hohen Herrschaften betrat, saß der Dicke vorne an der Brüstung, seine fleischigen Finger spielten auf dem roten Samt. Hendrik blieb an der Türe stehen. ›Wie lächerlich, daß mein Herz so stark klopft!,‹ dachte er, und verhielt sich einige Sekunden lang stille. Dann hatte Lotte Lindenthal ihn bemerkt. Sie flötete: »Männe – du erlaubst, daß ich dir meinen hervorragenden Kollegen Hendrik Höfgen vorstelle« – und der Riese wandte sich um. Hendrik hörte seine ziemlich hohe, fette und dabei scharfe Stimme: »Aha, unser Mephistopheles . . .« Dieser Feststellung folgte ein Lachen.

Noch niemals in seinem Leben war Hendrik derartig verwirrt gewesen, und daß er sich seiner Aufregung schämte, steigerte sie vielleicht noch. Seinem getrübten Blick erschien auch die Kollegin Lindenthal phantastisch verändert. War es nur das blitzende Geschmeide, das ihr ein einschüchternd fürstliches Aussehen verlieh, oder war es der Umstand, daß sie sich in so vertrauter Nähe mit ihrem kolossalen Herrn und Beschützer zeigte? Jedenfalls wirkte sie auf Hendrik plötzlich wie eine Fee, und zwar wie eine üppig-liebliche, aber durchaus nicht ganz ungefährliche. Ihr Lächeln, das ihm sonst immer nur gutmütig und etwas blöde vorgekommen war, schien ihm nun auch rätselhafte Tücke zu enthalten.

Von dem fetten Riesen in der bunten Uniform aber, 267 von dem pompösen Halbgott sah Hendrik in seiner Angst und zitternden Gespanntheit so gut wie nichts. Vor der ausladenden Gestalt des Gewaltigen schien ein Schleier zu hängen – jener mystische Nebel, der seit eh und je das Bild der Mächtigen, der Schicksalsbestimmenden, der Götter dem bangen Blick der Sterblichen verbirgt. Nur ein Ordensstern blitzte durch den Dunst, die beängstigende Kontur eines wulstigen Nackens ward sichtbar, und dann ließ wieder die zugleich scharfe und fette Kommandostimme sich vernehmen:

»Treten Sie doch ein bißchen näher, Herr Höfgen.«

Die Leute, die plaudernd im Parkett geblieben waren, begannen aufmerksam zu werden auf die Gruppe in der Loge des Ministerpräsidenten. Man tuschelte, man drehte die Hälse. Keine Bewegung, die der Gewaltige machte, entging den Gaffenden, die sich zwischen den Stuhlreihen drängten. Man stellte fest, daß der Gesichtsausdruck des Fliegergenerals immer wohlwollender, immer vergnügter wurde. Nun lachte er, mit Rührung und Ehrfurcht konstatierte es das Volk im Parkett – der große Mann lachte laut, herzlich und mit weit geöffnetem Mund. Auch Lotte Lindenthal ließ ein perlendes Koloraturgelächter hören und der Schauspieler Höfgen – höchst dekorativ in sein schwarzes Cape gewickelt – zeigte ein Lächeln, das auf seiner Mephisto-Maske wie ein triumphales und dabei schmerzliches Grinsen schien.

Die Unterhaltung zwischen dem Mächtigen und dem Komödianten wurde immer angeregter. Ohne Frage: der Ministerpräsident amüsierte sich. Was für wunderbare Anekdoten erzählte Höfgen, der es erreichte, daß der Fliegergeneral geradezu trunken schien vor Wohlgelauntheit? Alle im Parkett suchten von den Worten, die Hendriks blutrot gefärbte und künstlich verlängerte Lippen sprachen, einige zu erhaschen. Aber Mephisto 268 sprach leise, nur der Mächtige vernahm seine erlesenen Scherze.

Mit schöner Gebärde breitete Höfgen die Arme unter dem Cape, so daß es wirkte, als wüchsen ihm schwarze Flügel. Der Mächtige klopfte ihm auf die Schulter: niemandem im Parkett entging es, und das respektvolle Murmeln schwoll an. Jedoch verstummte es, wie die Musik im Zirkus vor der gefährlichsten Nummer, – angesichts des Außerordentlichen, was nun geschah.

Der Ministerpräsident hatte sich erhoben: da stand er in all seiner Größe und funkelnden Fülle, und er streckte dem Komödianten die Hand hin. Gratulierte er ihm zu seiner schönen Leistung? Es sah aus, als wollte der Mächtige einen Bund schließen mit dem Komödianten.

Im Parkett riß man Mund und Augen auf. Man verschlang die Gesten der drei Menschen dort oben in der Loge, als das außerordentliche Schauspiel, als die zauberhafte Pantomime, deren Titel lautet: Der Schauspieler verführt die Macht. Noch nie war Hendrik so heftig beneidet worden. Wie glücklich mußte er sein!

Ahnte irgend jemand von den Neugierigen, was wirklich vorging in Hendriks Brust, während er sich tief über die fleischige und behaarte Hand des Mächtigen neigte? Waren es Glück und Stolz allein, die ihn erschauern ließen? Oder spürte er auch noch etwas anderes – zur eigenen Überraschung? Und was war dieses Andere? War es Angst? Es war beinah Ekel . . . ›Jetzt habe ich mich beschmutzt,‹ war Hendriks bestürztes Gefühl. ›Jetzt habe ich einen Flecken auf meiner Hand, den bekomme ich nie mehr weg . . . Jetzt habe ich mich verkauft . . . Jetzt bin ich gezeichnet!‹ 269

 


 << zurück weiter >>